Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 26. Okt. 2012 - 11 S 278/12

bei uns veröffentlicht am26.10.2012

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 25.03.2011 - 3 K 2796/10 - geändert.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2010 wird aufgehoben.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung.
Er ist am … 1980 als jüngstes von sechs Kindern in Karlsruhe geboren und türkischer Staatsangehöriger. Seine Eltern und seine fünf älteren Schwestern leben noch heute in Deutschland. Sein Vater war bereits Mitte der 1970-er Jahre eingereist; bis zu seiner Verrentung war er als Arbeitnehmer tätig. Nach dem Besuch der Grund- und Hauptschule und einem Berufsvorbereitungsjahr erlangte der Kläger 1997 den Hauptschulabschluss. Eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur gab er Ende des zweiten Lehrjahres auf. In der Folge ging er wechselnden Tätigkeiten nach, zwischendurch war er arbeitslos. In den Jahren 2003 bis 2005 war der Kläger bei einer Firma in Karlsruhe angestellt, verlor die Arbeitsstelle jedoch wegen des Verlusts der Fahrerlaubnis. Danach war er längere Zeit arbeitslos. Ab Sommer 2008 war der Kläger als Geschäftsführer in einem Wettbüro des Ö.A. in Karlsruhe tätig. Er erhielt dafür unregelmäßige Zahlungen; die Arbeitsstelle war nicht angemeldet.
Ab dem 23.02.1996 war der Kläger im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.
Am 06.08.2001 heiratete er in der Türkei die türkische Staatsangehörige E.A., welche anschließend nach Deutschland zog. Die beiden gemeinsamen Kinder, der am 25.10.2002 geborene E. und die am 30.04.2004 geborene S. haben sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit. Die Ehe wurde am 23.04.2010 geschieden. Die elterliche Sorge des Klägers ruhte zunächst aufgrund eines beim Amtsgericht Karlsruhe-Durlach geschlossenen Vergleichs vom 23.04.2010. Inzwischen hat der Kläger, welcher derzeit bei seinen Eltern wohnt, lediglich ein Umgangsrecht. Jedes zweite Wochenende, von Freitagabend bis Sonntag, und außerdem etwa die Hälfte der Schulferien verbringen die Kinder beim Kläger.
Seit 1996 ist der Kläger immer wieder im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln und wegen Straftaten wie Körperverletzung u.a. aufgefallen. Das Bundeszentralregister enthält Eintragungen ab dem Jahr 2000:
- Verurteilung vom 09.03.2000 durch das Amtsgericht Karlsruhe-Durlach wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen;
- Verurteilung durch Strafbefehl vom 04.02.2002 durch das Amtsgericht Karlsruhe wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 133 Fällen zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen;
- Verurteilung vom 30.06.2009 durch das Landgericht Karlsruhe wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und 10 Monaten.
Wegen der der Verurteilung vom 30.06.2009 zugrundeliegenden Straftat war der Kläger am 18.12.2008 in Untersuchungshaft genommen worden. Mit dem angeführten Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - wurden neben ihm auch die Mitangeklagten B.A., Ö.A. und E.G. der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der Mitangeklagte T.K. der Beihilfe zur Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Der Mitangeklagte B.A. wurde zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, die Mitangeklagten Ö.A. sowie E.G. von drei Jahren und sechs Monaten und T.K. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde hinsichtlich T.K. zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten wurden außerdem verurteilt, an die Nebenklägerin N.G. Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,--EUR nebst Zinsen zu zahlen, wobei die seitens B.A. und dem Kläger bereits erbrachten Beträge in Höhe von 2.500,-- EUR (B.A.) bzw. 3.000,-- EUR (Kläger) auf den Schmerzensgeldbetrag anzurechnen seien. Das Urteil wurde nach Verwerfung unter anderem der Revision des Klägers am 10.12.2009 diesem gegenüber rechtskräftig.
Nach den Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 war der Kläger als Geschäftsführer in dem von Ö.A. betriebenen Wettbüro beschäftigt und hätte Anfang des Jahres 2009 als Teilhaber einsteigen sollen. B.A. war bei einer Automatenaufstellerfirma tätig und für die Wartung der im Wettbüro aufgestellten Spielautomaten zuständig. Das Opfer der Straftaten, N.G., war auf Empfehlung des B.A. seit September 2008 als Aushilfe angestellt. Nachdem am 29.11.2008 zwischen 2.00 Uhr und 2.30 Uhr in das Wettbüro eingebrochen und aus Spielautomaten und einem offenen Tresor insgesamt Bargeld in Höhe von etwa 2.500,-- EUR entwendet worden war, verdächtigten die Angeklagten die im Wettbüro angestellte N.G. und deren Freund der Beteiligung an dem Einbruch. Anlass war unter anderem, dass ein Augenzeuge etwa zum Zeitpunkt des Einbruchs ein Auto bemerkt hatte, das dem des Freundes von N.G. ähnelte. Außerdem hatte N.G. wenige Stunden nach dem Einbruch per SMS mitgeteilt, sie könne am Morgen nicht zur Arbeit erscheinen, weil ihr Schwiegervater gestorben sei, was aber - wie sich nach und nach herausstellte - tatsächlich nicht stimmte. Um N.G. zu einem Geständnis zu zwingen, brachten die fünf Angeklagten diese am 30.11.2008 gegen 12.30 Uhr dazu, mit ihnen in den Keller des Wettbüros zu gehen. Dort versetzte B.A. dieser zunächst zwei derart heftige Ohrfeigen, dass sie ein Loch im linken Trommelfell erlitt. Danach hielt B.A. ihr eine von ihm - ohne Wissen der anderen - mitgeführte, nicht ausschließbar ungeladene Schreckschusswaffe, die er zuvor mehrfach durchgeladen hatte, an die Stirn, so dass N.G. befürchtete, erschossen zu werden, und Todesangst verspürte. Unter Ausnutzung der Todesangst von N.G. versuchten die Angeklagten in den nächsten Stunden - allerdings vergeblich -, von dieser ein Geständnis zu erpressen. B.A. drückte ihr ein Kissen auf das Gesicht und tat so, als ob er dieses als Schalldämpfer verwenden würde. B.A. oder E.G. drohten später damit, N.G. mit einer Handsäge einen Finger abzusägen. Als N.G. darum bat, auf Toilette gehen zu dürfen, wurde ihr dies mit dem Hinweis verweigert, sie solle „in die Hose pissen“. Bei diesen Übergriffen und Bedrohungen leistete T.K. lediglich psychische Beihilfe, während die anderen aktiv beteiligt waren. Nachdem B.A. und E.G. zwischen 14.30 Uhr und 15.00 Uhr den Keller verlassen hatten, wurde N.G. gegen 16.00 Uhr von Ö.A., dem Kläger und T.K. freigelassen und von T.K. nach Hause gefahren. N.G. leidet noch heute erheblich unter den psychischen Folgen der Tat. Bezüglich der Strafzumessung wird in dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe hinsichtlich des Klägers unter anderem dargelegt: Die Kammer sei davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB vorlägen, weil sich der Kläger ernsthaft darum bemüht habe, einen Ausgleich mit der Geschädigten N.G. zu erreichen, um seine Tat wieder gutzumachen. So habe er bereits am 05.02.2009 über seinen Verteidiger der anwaltlichen Vertreterin der Geschädigten einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 3.000,-- EUR zur Verfügung gestellt, den diese auch angenommen habe. Er habe zudem in der Hauptverhandlung ein umfassendes Geständnis abgelegt und dadurch gezeigt, dass er bereit sei, die Verantwortung für seine Tat in vollem Umfang zu übernehmen. Weiter sei die Kammer davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der tätigen Reue im Sinne von §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 4 StGB vorliegen, weil der Kläger N.G. unter Verzicht auf die Weiterverfolgung des Nötigungsziels in ihren Lebenskreis habe zurückgelangen lassen. Die Kammer habe geprüft, ob die Annahme eines minderschweren Falles gemäß §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 2 StGB in Betracht komme. Dafür spreche, dass der Kläger bereits im Ermittlungsverfahren ein umfassendes Geständnis abgelegt und dieses in der Hauptverhandlung aufrechterhalten habe, wobei das Geständnis ersichtlich von Einsicht und Reue getragen gewesen sei. Wenn der Kläger nicht aus freien Stücken eingeräumt hätte, dass er am Vorabend der Tat die Idee gehabt habe, N.G. im Rahmen der für den kommenden Tag vorgesehenen Befragung zwei oder drei Ohrfeigen zu versetzen, hätte ihm dies nicht nachgewiesen werden können. Für einen minderschweren Fall sprächen auch die familiären Bindungen des Klägers an seine Ehefrau und seine beiden Kinder. Andererseits sei er bereits mehrfach, auch einschlägig wegen Gewaltdelikten, vorbestraft, wobei die Kammer nicht übersehen habe, dass die letzte Vorverurteilung im Jahr 2002 erfolgt sei und die letzte einschlägige Verurteilung noch länger zurückliege. Weiter spreche gegen das Vorliegen eines minderschweren Falls, dass der Kläger bereits Jugendarrest verbüßt habe, er am Vorabend Initiator der Tat und der beabsichtigten Gewaltanwendung in Form von Ohrfeigen gewesen sei, er bei der Tatbegehung verbal die Hauptrolle übernommen und - trotz eines entsprechenden Hinweises durch die Polizei am Abend des 29.11.2008, dies zu unterlassen, - Selbstjustiz geübt habe, er tateinheitlich zum Verbrechen der Geiselnahme ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung begangen habe und durch die Tatbegehung bei der Geschädigten N.G. nicht nur ein erheblicher körperlicher Schaden eingetreten sei, sondern vor allem massive psychische Auswirkungen vorhanden seien. Unter Abwägung aller für und gegen den Kläger sprechenden Umstände sei die Kammer davon überzeugt, dass der vorliegende Fall nicht in einem solchen Maß vom Normalfall der Geiselnahme abweiche, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens der §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 2 StGB angezeigt gewesen wäre. Nur unter Berücksichtigung der weiteren vertypten Strafmilderungsgründe des § 46a Nr. 1 StGB und der tätigen Reue gemäß §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 4 StGB sei es nach Überzeugung der Kammer möglich, das Vorliegen eines minderschweren Falles zu bejahen.
Im Anschluss an die Untersuchungshaft verbüßte der Kläger vom 10.12.2009 bis zu seiner Entlassung am 30.04.2012 Strafhaft, ab dem 12.03.2010 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bruchsal. Zwei Drittel der Strafe waren am 07.03.2012 verbüßt, Endstrafentermin wäre der 17.10.2013 gewesen. In dieser Zeit erhielt der Kläger regelmäßig Besuch von seinen Kindern - zunächst noch in Begleitung von seiner Ehefrau, später als Langzeitbesuch in Begleitung von seinen Eltern - sowie von anderen Verwandten. Er arbeitete regelmäßig und übernahm auch anstaltsinterne Hilfstätigkeiten ("Kammerschänzer" bzw. "Hilfsschänzer"). Vom 21.06.2010 bis zum 08.10.2010 nahm er an einem Qualifizierungsprogramm zur Logistikfachkraft mit sehr gutem Erfolg teil, vom 11.10.2010 bis zum 17.12.2010 besuchte er den IHK-Lehrgang EDV-Anwendungen (PC-Kurs) und schloss diesen ebenfalls erfolgreich ab. Außerdem nahm er vom 15.09.2010 bis zum 20.12.2010 an einem Anti-Gewalt-Training teil.
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Bereits mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Außerdem wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht (Ziff. 2 und 3). Zur Begründung wurde dargelegt: Es sei davon auszugehen, dass der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 innehabe. Deshalb sei seine Ausweisung nur im Ermessenswege nach § 55 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG und unter Berücksichtigung von Art. 14 ARB 1/80 denkbar. Er genieße besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, weil er eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Dem Ausweisungsanlass komme ein besonderes Gewicht zu, weil die von ihm aufgrund von Selbstjustiz begangene Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ausgesprochen schwer wiege. Vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr sei auszugehen. Die vom Kläger begangene Straftat verdeutliche eindrucksvoll, dass dieser ein erhebliches Maß an krimineller Energie besitze, welches bei verständiger Würdigung aller für und gegen ihn sprechenden Umstände der Tatbegehung die Grenzen der Bagatellkriminalität bei weitem überschreite. Massive körperliche und psychische Schädigungen des Opfers seien bei der Straftat billigend in Kauf genommen worden. Der gesamte Geschehensablauf unterstreiche, dass der Kläger ein ausgesprochen hohes Aggressionspotential besitze und über eine gesteigert rücksichtslose Einstellung gegenüber Dritten verfüge. Bei Verurteilungen wegen Gewalttaten, zu denen die Geiselnahme und die gefährliche Körperverletzung gehörten, seien an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten nur geringe Anforderungen zu stellen. Die Ausländerbehörden übten hier ihr Ermessen einwandfrei aus, wenn sie sich darauf stützten, dass eine Wiederholungsgefahr (im weiteren Sinne) nicht ausgeschlossen werden könne. Die Ausweisung sei auch verhältnismäßig. Der Kläger sei im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Sein langjähriger und rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland wiege deshalb im Rahmen der Prüfung der Ausweisung besonders schwer. Er könne diese jedoch im Ergebnis nicht verhindern. Die elterliche Sorge über die Kinder ruhe aus tatsächlichen Gründen. Die Ehe sei geschieden worden. Beruflich sei es dem Kläger nicht gelungen, sich im Bundesgebiet zu integrieren. Er spreche noch die Sprache seines Heimatlandes. Auch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stünden der Ausweisung nicht entgegen. Im Übrigen könnte er auch einen Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung stellen. Dem Umstand, dass der Kläger ein Assoziationsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 genieße, sei bereits insoweit Rechnung getragen worden, als über seine Ausweisung im Ermessenswege entschieden und keine generalpräventive Motivation zugrundegelegt worden sei. In seinem Fall liege auch eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre.
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Am 15.10.2010 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage, zu deren Begründung er im Wesentlichen vortrug: Er sei im Bundesgebiet geboren. Er akzeptiere die Verurteilung wegen der Straftat als in der Sache vollauf gerechtfertigt. Er schäme sich dieser Straftat. Er habe, obzwar Haupttäter, mit dem Tatopfer schließlich Mitleid gehabt und vollumfänglich gestanden, wobei er von sich aus sogar eingeräumt habe, dass die Tat bereits am Vorabend geplant worden sei. Eine Wiederholungsgefahr sei deshalb zu verneinen. Das zeige nun auch der beanstandungsfreie Haftverlauf. Schließlich sei vermerkt, dass das Wohl seiner Kinder der Ausweisung widerspreche. Wegen des ihm zustehenden Assoziationsrechts seien zudem alle Umstände zu berücksichtigen, darunter auch die Gefahr, durch eine Ausweisung seine Resozialisierung zu gefährden. Der Kläger sei im Bundesgebiet aufgewachsen. Deutsch sei seine Muttersprache. Hier lebe seine ganze Familie. Allein und ohne ausreichende Sprachkenntnisse käme er in der Türkei nicht zurecht. Im Übrigen entbehre die Ausweisung auch der gebotenen Befristung.
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Das beklagte Land trat der Klage unter Verweis auf den angefochtenen Bescheid entgegen.
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Mit Urteil vom 25.03.2011 - 3 K 2796/10 - wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung sei § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80, weil sein Vater dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe. Diese Rechtsposition habe der Kläger auch nicht verloren. Weder entfalle das Recht mit Eintritt der Volljährigkeit noch durch die Verbüßung einer Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Er könne daher nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Diese Schwelle werde hier erreicht. Hierbei fielen insbesondere die schwerwiegenden psychischen Folgen der begangenen Straftat für das Opfer ins Gewicht. Beim Kläger bestehe auch eine konkrete Wiederholungsgefahr. Bei Verurteilungen wegen Gewalttaten seien an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten nur geringe Anforderungen zu stellen, so dass es genüge, dass eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeschlossen werden könne. Hiervon sei beim Kläger aufgrund der bei Deliktbegehung gezeigten hohen kriminellen Energie auszugehen. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Das Regierungspräsidium habe auch die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange der Achtung des Privat- und Familienlebens in die Betrachtung eingestellt und abgewogen. Die Abschiebungsandrohung sowie die gesetzte Ausreisefrist begegneten ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
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Am 20.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegt und diese unter Stellung eines Antrags begründet: Die angegriffene Ausweisung verkenne den maßgeblichen Gefahrenbegriff. Unzutreffend bejahe die erste Instanz eine Wiederholungsgefahr. Im Übrigen sei die Ausweisung auch verfahrensfehlerhaft ergangen, weil kein Vorverfahren durchgeführt worden sei. Die „Standstill-Klausel“ gebiete die weitere Anwendung von Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG, welcher die Beteiligung einer unabhängigen Stelle vorschreibe. Soweit von Seiten des Regierungspräsidium die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bei dem Strafverfahren betont worden sei, rechtfertige dieser Gesichtspunkt keine Ausweisung. Schließlich seien generalpräventive Erwägungen unzulässig. Mit Schriftsatz vom 24.09.2012 wird ergänzend vorgetragen: Der Kläger sei inzwischen aufgrund eines positiven kriminalprognostischen Gutachtens aus der Haft entlassen worden. Er wohne wieder bei seinen Eltern und befinde sich in der Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, die er schon im offenen Strafvollzug begonnen habe. Diese solle im Februar 2014 abgeschlossen sein.
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Nachdem das Regierungspräsidiums Karlsruhe in der mündlichen Verhandlung die Sperrwirkungen der Ausweisung vom 12.10.2010 auf achtzehn Monate befristet hat, beantragt der Kläger,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 25.03.2011 - 3 K 2796/10 - zu ändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2010 aufzuheben,
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hilfsweise: das beklagte Land zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen.
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Das beklagte Land beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Es trägt ergänzend vor: Die Ausweisung sei nicht wegen Verstoßes gegen das "Vier-Augen-Prinzip" formell rechtswidrig. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe inzwischen - mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 25.04.2012 - zur Bewährung ausgesetzt worden sei, werde an der Ausweisung festgehalten. Die Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 seien nach wie vor gegeben. Der Kläger habe nach zahlreichen Bewährungsstrafen in seiner Jugend die zur Verurteilung gekommene schwere Straftat begangen, bei der er erneut ein massives Gewaltpotential offenbart habe. Das im geschützten Raum der JVA gezeigte beanstandungsfreie Verhalten und der Bewährungsbeschluss sowie das diesem zugrundeliegende kriminalprognostische Gutachten seien nicht geeignet, mit der erforderlichen Sicherheit zu belegen, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung in einer überschaubaren Zeit nicht mehr gegeben sei. Die „Geiselnahme von Durlach“ habe großes Medienecho und eine erhebliche Betroffenheit in der Bevölkerung ausgelöst - von der enormen seelischen Verletzung des Opfers ganz zu schweigen.
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Mit Beschluss des Senats vom 30.05.2011 wurde auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Berufungsverfahrens angeordnet; mit Schriftsatz des beklagten Landes vom 30.01.2012 wurde es wiederangerufen.
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Über das Verhalten des Klägers in der Justizvollzugsanstalt wurde in einer Fortschreibung des Vollzugsplans durch die JVA Bruchsal vom 12.05.2011 unter anderem dargelegt: Bei weiterhin positivem Vollzugsverlauf werde von einer Entlassung auf Bewährung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt ausgegangen. Der Kläger solle im September 2011 in die offene Abteilung verlegt werden. Sein Verhalten sei bislang nicht zu beanstanden gewesen. Er werde als freundlich, zugänglich und höflich beschrieben. Er habe zwar nicht am BPG-Programm, einem Behandlungsprogramm für Gewalttäter, teilgenommen, aber an einem Anti-Gewalt-Training. Seinen Angaben nach habe er lediglich bis 2005 „weiche Drogen“ konsumiert. Im Zeitraum von Juni 2010 bis September 2010 habe er seine Drogenabstinenz unter Beweis stellen können. Seine Bezugspersonen seien seine fünf älteren Schwestern sowie seine Eltern und zahlreiche weitere Familienmitglieder. Seine Ehefrau habe inzwischen das Scheidungsverfahren eingeleitet; sie habe einen neuen Freund aus Stuttgart. Er wolle den Kontakt zu seinen Kindern nicht verlieren und kämpfe um das Sorge- bzw. Umgangsrecht. In Stellungnahmen der JVA Bruchsal gegenüber der Staatsanwaltschaft Karlsruhe vom 20.10.2011 und vom 05.01.2012 wurde ergänzend berichtet: Der Kläger habe sich im geschlossenen wie auch im offenen Vollzug vorbildlich verhalten und erfolgreich am Vollzugsziel mitgearbeitet. Am 16.06.2011 sei er in die offene Abteilung verlegt worden. Ihm sei angeraten worden, die abgebrochene Ausbildung zum Sanitärinstallateur wieder aufzunehmen. Nach dreitägigem Probearbeiten habe er eine Lehrstelle bei der Firma Sch. erhalten und zum 01.09.2011 die Ausbildung dort aufgenommen. Der Arbeitgeber sei äußerst zufrieden. Der Kläger habe auch nach Verlegung in die offene Abteilung kontinuierlich an den ambulanten Gesprächen des Vereins für Jugendhilfe Karlsruhe e.V. (Antiaggressionstraining) teilgenommen. Vollzugslockerungen seien ohne Beanstandungen beim Vater des Klägers verbracht worden. Von einer Begutachtung könne abgesehen werden. Der Kläger scheine von seiner Inhaftierung nachhaltig beeindruckt. Es werde nicht angenommen, dass er erneut strafrechtlich in Erscheinung treten werde.
23 
Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe holte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe ein kriminalprognostisches Gutachten der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie - Zentrum für Psychiatrie - Wiesloch ein. Das daraufhin erstattete Gutachten von Herrn Dr. Sp..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Herrn S..., Facharzt für Psychiatrie, vom 03.03.2012 kommt zu dem Ergebnis, dass aus gutachterlicher Sicht die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit beim Kläger nicht mehr fortbestehe. Der Kläger sei zwar mehrfach vorbestraft wegen Diebstahls-, Körperverletzungs- und Verkehrsdelikten sowie unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln. In den Jahren nach 2000 scheine es aber zu einer Stabilisierung gekommen zu sein. Mit der der Verurteilung zugrundeliegenden Straftat sei er erstmals mit einem schweren Delikt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dabei habe es sich um ein Tatgeschehen gehandelt, welches sich in einer spezifischen Gruppendynamik abgespielt habe. Insofern komme den situativen Gegebenheiten (Empörung über die vermeintliche Untreue einer Angestellten, Dynamik der Tätergruppe) eine hohe Bedeutung bei dem deliktischen Geschehen zu. Der Kläger habe bereits bei der ersten Vernehmung durch die Polizei seine eigene Rolle bei dem Geschehen umfassend eingeräumt und im Wesentlichen nicht versucht, seinen Anteil am Tatgeschehen herunterzuspielen oder zu bagatellisieren. Es sei spürbar, dass er sich mit der Tat auseinandergesetzt habe und sich für sein damaliges Verhalten schäme. In der Gesamtwürdigung überwögen die prognostisch günstigen Aspekte bei weitem. Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer der Landgerichts Karlsruhe vom 25.04.2012 wurde die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt; der Kläger wurde der Leitung und Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Außerdem erhielt er die Weisung, bei seinem Vater Wohnung zu nehmen und seine Ausbildung bei der Firma Sch. in Karlsruhe fortzusetzen. Daraufhin wurde der Kläger am 30.04.2012 aus dem Strafvollzug entlassen.
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In einem Bericht der Bewährungshelferin vom 18.09.2012 wird ausgeführt: Der Kläger bewohne ein Zimmer im Haushalt seiner Eltern. Er befinde sich weiter bei der Firma Sch. in Ausbildung, voraussichtlich bis Frühjahr 2014. Er äußere, dass er sich dort sehr wohl fühle und ihm die Arbeit Freude mache. Die Berufsschule könnte noch besser laufen, er habe vor, viel zu lernen. Er verfüge über eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 680,-- EUR brutto. Bis zum Ende der Ausbildung sei er vom Jugendamt vorübergehend von den Unterhaltszahlungen für seine Kinder befreit. Seine Schulden beliefen sich auf rund 50.000,-- EUR, seit 2009 befinde er sich in Privatinsolvenz. Alle 14 Tage kämen die Kinder über das Wochenende von Freitag 18.00 Uhr bis Sonntag 19.00 Uhr zu ihm. Sämtliche Absprachen erfolgten mit Unterstützung des Jugendamtes. Der bisherige Bewährungsverlauf sei nicht zu beanstanden. In Gesprächen zeige sich der Kläger offen und mitteilsam.
25 
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist der Kläger angehört worden; der Facharzt für Psychiatrie Herr S... vom Zentrum für Psychiatrie Wiesloch ist als Sachverständiger zur Erläuterung und Ergänzung des gegenüber dem Landgericht Karlsruhe erstatteten Gutachtens vom 03.03.2012 vernommen worden. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
26 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe über das Ausweisungsverfahren (ein Heft), ausländerrechtliche Akten der Stadt Karlsruhe (zwei Hefte), die Gefangenenpersonalakten der JVA Bruchsal (3 Hefte), die Strafakten betreffend das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - (8 Hefte), das Bewährungsheft des Landgerichts Karlsruhe - 15 BWL 73/12 - und Akten des Amtsgerichts Karlsruhe-Durlach über Strafverfahren wegen Körperverletzung u.a. - 1 Cs 170 Js 6911/06 - und wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung - 1 Cs 250 Js 39507/03 - sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe über das Klageverfahren - 3 K 2796/10 - vor. Diese waren ebenso wie die Akten über das Berufungsverfahren - 11 S 278/12 - Gegenstand der mündlichen Verhandlung; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht insgesamt statthafte und auch sonst zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte und formell ordnungsgemäß begründete (vgl. § 124a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO) Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 25.03.2011 (3 K 2796/10) hat bereits mit dem Hauptantrag Erfolg. Die Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A)
28 
Die Ausweisung ist zwar entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht formell rechtswidrig, sie ist aber wegen materieller Rechtsfehler aufzuheben.
I.
29 
Rechtsgrundlage sind hier die §§ 55 Abs. 1, 56 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19.09.1980 - ARB 1/80. Denn der Kläger hat - wovon auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen - eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 inne, welche er auch nicht durch die mehrjährige Inhaftierung verloren hat. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angegriffenen Urteil vom 25.03.2011 verwiesen.
30 
Die Tatsache, dass die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, begründet keinen weitergehenden unionsrechtlichen Ausweisungsschutz (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
II.
31 
Die Entscheidung des Regierungspräsidiums ist nicht - mit Blick auf die assoziationsrechtliche Rechtsstellung des Klägers - deshalb als verfahrensfehlerhaft anzusehen, weil keine „unabhängige zweite Stelle“ eingeschaltet bzw. kein Vorverfahren durchgeführt worden ist.
32 
Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers folgt ein Anspruch auf Durchführung eines Widerspruchsverfahrens insbesondere nicht aus dem in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 normierten „Vier-Augen-Prinzip“. Denn diese Richtlinie ist gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 (Unionsbürgerrichtlinie) mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist auch deren Art. 9 nicht mehr – entsprechend – auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige anzuwenden (vgl. zur früheren Anwendung des „Vier-Augen-Prinzips“ BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - InfAuslR 2006, 110). Geltende unionsrechtliche Verfahrensgarantien begründen ebenfalls nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen. Aus den so genannten "Stillhalteklauseln" folgt keine andere Betrachtung. Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens. Im Übrigen gebietet Unionsrecht auch bei Ausweisungen von Unionsbürgern keine behördliche Kontrolle mehr nach dem "Vier-Augen-Prinzip" (vgl. stattdessen Art. 31 Abs. 1 Unionsbürgerrichtlinie; vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O.; Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -NVwZ-RR 2012, 492).
III.
33 
Die Ausweisung ist jedoch materiell-rechtlich rechtswidrig. Der Kläger hat zwar aufgrund seiner Verurteilung durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und 10 Monaten nach nationalem Recht den Tatbestand einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Sie genügt aber nicht den besonderen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
34 
1. Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gilt der Abschnitt 1 des Beschlusses (nur) vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Bei der Prüfung des daraus für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige abzuleitenden besonderen Ausweisungsschutzes ist nach der ständigen Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08, Ziebell - InfAuslR 2012, 43, m.w.N.). Allerdings sind die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie wegen der grundsätzlichen Unterschiede der durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers zu der eines Assoziationsberechtigten nicht anzuwenden. Vielmehr ist der Ausweisungsschutz - nach Aufhebung der bisher insoweit sinngemäß bzw. analog auch auf assoziationsrechtlich geschützte türkische Staatsangehörige angewandten Richtlinie 64/221/EWG - nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG vom 25.11.2003, der so genannten Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 08.12.2011, a.a.O.; Senatsurteile vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris, vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203, und vom 10.02.2012, a.a.O.).
35 
Gemäß Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie darf ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt (Abs. 1). Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen (Abs. 2). Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Abs. 3). Die entsprechende Anwendung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, welchen eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung zukommt, bedeutet für diese der Sache nach einen Ausweisungsschutz, der dem bislang geltenden entspricht (vgl. Senatsurteil vom 16.04.2012, a.a.O., m.w.N.; vgl. auch Bayer. VGH, Urteil vom 17.07.2012 - 19 B 12.417 - juris; zum Ausweisungsschutz vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2007 - C 349/06, Polat - juris). Soweit der Gerichtshof im Urteil vom 08.12.2011 in der Rechtssache Ziebell mehrmals erwähnt hat (a.a.O. Rn. 79, auch Rn. 46), dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, wird damit keine zusätzliche Voraussetzung für die entsprechende Anwendung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG bestimmt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegende Tatsache wiedergegeben (vgl. dazu Senatsurteile vom 16.04.2012, vom 07.03.2012 und vom 10.02.2012, jew. a.a.O.).
36 
Bei der Prüfung einer entsprechenden Ausweisung ist zudem zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen sind, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Das bedeutet, dass Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden dürfen, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention - um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken - angeordnet werden (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteile vom 08.12.2011, a.a.O., und vom 22.12.2010 - C-303/08, Bozkurt - NJW 2008, 2736, m.w.N.).
37 
2. Nach diesen Grundsätzen scheidet eine Ausweisung bereits deshalb aus, weil vom Kläger keine relevante, d.h. mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit drohende, Gefahr der Wiederholung von einschlägigen Straftaten mehr ausgeht (a). Selbst wenn man eine entsprechende Wiederholungsgefahr noch bejaht, folgt daraus jedenfalls keine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Daueraufenthaltsrichtlinie und der angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (b).
38 
a) Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 03.03.2012, der ergänzenden Erläuterungen des in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Sachverständigen angehörten Gutachters sowie aufgrund der Angaben des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom Kläger nicht mehr die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht.
39 
Bei der Prüfung, ob das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr darstellt, ist - anders als bei dem Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf das "Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“, abzustellen. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrundeliegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - C-482 und 493/01, Orfanopoulus und Oliveri - InfAuslR 2004, 268). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012, a.a.O., vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 - InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (vgl. auch Senatsurteil vom 23.10.2012 - 11 S 1470/12; einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012, a.a.O., und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung - wie der vorliegenden - für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O., m.w.N.). Vielmehr müssen - wie bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8; Senatsurteil vom 23.10.2012 - 11 S 1470/11) - Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr ausgeht. Eine weitere Absenkung der maßgeblichen Erheblichkeitsschwelle in der Weise, dass die Betroffenen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen hätten, dass die Begehung von Straftaten in Zukunft mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, würde diesen letztlich Unzumutbares, wenn nicht Unmögliches abverlangen.
40 
Im vorliegenden Fall kann zwar die Möglichkeit weiterer Straftaten, insbesondere von Gewaltdelikten, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, sie erscheint aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als derart fernliegend, dass sie die in Ansehung des bestehenden Assoziationsrechts des Klägers erforderliche Erheblichkeitsschwelle nicht übersteigt.
41 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst die Schwere des begangenen Delikts und die konkrete Tatausführung zu berücksichtigen. Der Ausweisungsanlass - die begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - ist besonders gravierend. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid außerdem zu Recht auf die besonderen Umstände der Straftat hingewiesen. Die Geiselnahme zog sich über dreieinhalb Stunden hin. Der Kläger und seine Mittäter haben dabei versucht, N.G. durch eine menschenunwürdige Befragung, insbesondere mit der Bedrohung, sie zu erschießen, wodurch diese in Todesangst versetzt wurde, dazu zu bringen, den angeblich unter Mitwirkung von ihr und ihrem Freund am Vortag begangenen Einbruch zu gestehen. Der Kläger selbst hatte am Vortag vorgeschlagen, N.G. zu befragen und ihr gegebenenfalls Ohrfeigen zu versetzen. Zwar hat dann der Haupttäter B.A. das Opfer geohrfeigt und nicht der Kläger. Auch hatte B.A. die Schreckschusspistole, mit der N.G. bedroht wurde, ohne Wissen der anderen mitgenommen. Die Mittäter schritten aber jedenfalls nicht gegen B.A. ein, sondern nutzten die durch dessen Vorgehen bewirkte Todesangst der N.G. weiter aus. Der Kläger bedrohte diese dann auch mit den Worten, dass sie nicht lebend aus dem Keller herauskommen würde, wenn sie die angebliche Straftat nicht zugeben würde. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Ö.A. und T.K. das Opfer zunächst weiter, bevor sie dieses freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat (vgl. dazu auch das Urteil im Parallelverfahren des Ö.A. vom 23.10.2012 - 11 S 1470/11 -).
42 
Beim Kläger kommt erschwerend hinzu, dass er in der Vergangenheit bereits mehrmals wegen Gewalt- und Betäubungsmitteldelikten bestraft wurde, vor der Geiselnahme zuletzt durch Strafbefehl des Amtsgerichts Karlsruhe vom 04.02.2002 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 133 Fällen. Bei den davor liegenden einschlägigen Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung vom 18.01.2001, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung vom 19.10.1998, sowie wegen gemeinschaftlicher Erpressung und versuchter Erpressung in Tateinheit mit Nötigung vom 28.03.1996 wurde jeweils Jugendstrafrecht angewandt.
43 
Selbst wenn man auch die lediglich im Jugendstrafregister eingetragenen Verurteilungen uneingeschränkt mit einstellt, ist aber heute davon auszugehen, dass keine Gefahr der Wiederholung entsprechender Straftaten mehr besteht. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Geiselnahme inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Er hat während der Strafhaft an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen, diverse Aus- bzw. Weiterbildungsangebote angenommen und schließlich eine Lehre als Gas- und Wasserinstallateur begonnen, welche noch nicht abgeschlossen ist. Ausweislich des vom Kläger vorgelegten Zwischenzeugnisses seines Arbeitgebers vom 22.10.2012 ist dieser weiter sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Er sei freundlich, pünktlich, vielseitig, flexibel und kundenorientiert. Der Kläger ist außerdem seit vielen Jahren nicht mehr drogen- oder spielsüchtig. Er hat enge Bindungen an seine Eltern, bei denen er zur Zeit wohnt, und an seine älteren Schwestern. Seine beiden Kinder, mit denen er jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Schulferien verbringt, sind ihm sehr wichtig. Wegen seiner Schulden läuft seit mehreren Jahren ein Privatinsolvenzverfahren, aufgrund dessen damit zu rechnen ist, dass er bald schuldenfrei sein wird. Die Berichte der Justizvollzugsanstalt über sein Verhalten während der Strafhaft waren durchgehend positiv. Darin wird insbesondere geschildert, dass er als freundlich, zugänglich und höflich beschrieben werde, sich im offenen wie im geschlossenen Vollzug vorbildlich verhalten und erfolgreich am Vollzugsziel mitgearbeitet sowie am Arbeitsleben regelmäßig und verlässlich teilgenommen habe, nicht wegen Drogen aufgefallen sei und seine Drogenabstinenz auch unter Beweis habe stellen können. In einer Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft vom 20.10.2011 wird dargelegt, dass der Kläger von seiner Inhaftierung nachhaltig beeindruckt erscheine. Es werde nicht angenommen, dass er erneut straffällig werde.
44 
Auch das kriminalprognostische Gutachten vom 03.03.2012 kommt zu dem Ergebnis, dass aus gutachterlicher Sicht die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit beim Kläger nicht mehr fortbestehe. Die Gutachter berücksichtigen dabei die Vorstrafen wegen Diebstahls-, Körperverletzungs- und Verkehrsdelikten sowie wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln, und weisen darauf hin, dass damals wohl Ansätze einer dissozialen Entwicklung bestanden haben könnten. In der Folge bis zu der Straftat Ende 2008 sei es jedoch zu einer zunehmenden Stabilisierung gekommen, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Gründung einer Familie und der Geburt der Kinder zu sehen sei. Den bis dahin noch regelmäßigen Cannabiskonsum habe der Kläger aus eigenem Antrieb 2006 vollständig eingestellt, auch das Spielen habe er im gleichen Zeitraum beendet. Mit dem der Verurteilung zugrundeliegenden Delikt sei er erstmals mit einem schweren Delikt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dabei habe es sich um ein Tatgeschehen gehandelt, welches sich in einer spezifischen Gruppendynamik abgespielt habe. Der Kläger habe zum damaligen Zeitpunkt einer Teilhaberschaft in dem Wettbüro entgegengesehen und sich dort in verantwortlicher Position gesehen. Er sei der festen Überzeugung gewesen, dass N.G. mit dem Einbruch in das Wettbüro zu tun gehabt habe, und habe sich subjektiv zunächst berechtigt gesehen, diese als quasi bei ihm Angestellte selbst einer diesbezüglichen Befragung zu unterziehen. Im Zuge des Geschehens sei es dann unter Mitwirkung der anderen Tatbeteiligten zu einer Dynamik gekommen, die vom Kläger in dieser Form ursprünglich gar nicht intendiert gewesen sein möge. Insgesamt sei festzuhalten, dass die Dynamik nicht ausschließlich der Initiative des Klägers anzulasten sei. Insofern komme den situativen Gegebenheiten (Empörung über die vermeintliche Untreue einer Angestellten, Dynamik der Tätergruppe) eine hohe Bedeutung bei dem deliktischen Geschehen zu. Daher knüpfe das zur Verurteilung führende Delikt nur in Teilen an die frühere Delinquenz des Klägers an, nämlich soweit der Wunsch, von den anderen durch sein Handeln Anerkennung und Geltung zu erlangen, auch eine Rolle gespielt haben möge. Der Kläger habe bereits bei der ersten Vernehmung durch die Polizei seine eigene Rolle bei dem Geschehen umfassend eingeräumt und im Wesentlichen nicht versucht, seinen Anteil am Tatgeschehen herunterzuspielen oder zu bagatellisieren. Auch habe er sich offensichtlich früh um eine partielle Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer bemüht. Es sei spürbar, dass er sich mit der Tat auseinandergesetzt habe und sich für sein damaliges Verhalten schäme. Er habe sogar selbst angegeben, dass er der Meinung sei, mit seiner damaligen Wut auf das Opfer die Mittäter quasi „angeheizt“ zu haben. Insofern habe er Verantwortung für sein damaliges Handeln übernommen. Zusätzlich habe er die Möglichkeit genutzt, im Rahmen der Haft an einem spezifischen Gruppenprogramm für aggressive Gewalttäter teilzunehmen. Insgesamt sei beim Kläger von einer zufriedenstellenden Tataufarbeitung auszugehen, was als ein prognostisch günstiger Faktor zu werten sei. Er habe sich zudem während der Haftzeit beruflich weiter qualifiziert, um dadurch die Perspektiven für eine verbesserte soziale Integration nach einer möglichen Entlassung aus der Haft zu verbessern. Dabei sei ihm durchgängig eine hohe Arbeitsmotivation bescheinigt worden. Er habe sich außerdem bereits in umfangreichen Lockerungen bewähren können. Es sei im Rahmen der Begutachtung erkennbar gewesen, dass er ernsthaft daran interessiert sei, ein straffreies Leben zu führen und sich sozial und beruflich zu integrieren. Er verfüge über tragfähige soziale Bindungen, die sich in erster Linie auf seine Eltern und Schwestern bezögen. Spürbar sei geworden, dass er auch ein starkes Interesse an den regelmäßigen Kontakten zu seinen Kindern habe und diese nicht gefährden wolle. Die von ihm geschilderten beruflichen und sozialen Perspektiven erschienen realistisch und tragfähig. Für das Vorliegen einer erheblichen dissozialen Akzentuierung in der Persönlichkeit des Klägers fänden sich keine ausreichenden Hinweise. In der Gesamtwürdigung überwögen somit trotz der einschlägigen Vordelinquenz die prognostisch günstigen Aspekte bei weitem.
45 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Sachverständiger angehörte Gutachter H. S... hat seine Prognose - nach Anhörung und Befragung des Klägers - weiter erläutert. Er hat überzeugend begründet, dass und warum gerade auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Klägers seit seiner Entlassung aus der Strafhaft nicht anzunehmen ist, dass von diesem noch eine relevante Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten ausgeht. Zwar war ihm zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht bekannt gewesen, dass gegen den Kläger auch wegen Vorfällen am 24.04.2003, am 24.12.2005, am 01.11.2006 und am 12.10.2008 strafrechtliche Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren unter anderem wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung liefen, welche eingestellt wurden. Er hat aber - nach Einsicht in die entsprechenden Akten bzw. Unterlagen - überzeugend dargelegt, dass dies im Ergebnis nicht zu einer anderen Einschätzung führt. Auf Nachfrage hat er allerdings erläutert, dass die Gefahr, dass eine Körperverletzung begangen werde, aufgrund der niedrigeren Hemmschwelle als größer einzuschätzen sei als die, dass der Kläger wieder ein schwereres Delikt wie die Geiselnahme begehen könnte. Der Gutachter hat aber deutlich gemacht, dass das Risiko der Begehung von Körperverletzungs- und Gewaltdelikten ebenfalls aufgrund der positiven Veränderungen geringer geworden sei - wenn es sich auch nicht ausschließen lasse. Für den Kläger sei maßgeblich der Wille, sein Leben zu ändern, in der Arbeit Fuß zu fassen, ein geregeltes Leben zu führen und regelmäßigen Kontakt zu seinen Kindern zu haben. Dies sei für ihn eine starke Motivation, sich nicht mehr in Situationen zu begeben, die zu körperlichen Auseinandersetzungen führen könnten.
46 
Dass der Kläger die Tat ernsthaft bereut und den festen Willen hat, den eingeschlagenen positiven Weg weiter zu gehen und nicht mehr straffällig zu werden, haben seine Angaben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft verdeutlicht. Gerade wegen seiner starken Bindungen an seine Kinder, seine Eltern und Schwestern ist die Gefahr, dass ihm dies nicht gelingen könnte, als gering einzuschätzen. Die Bewährungshelferin berichtet über den bisherigen Bewährungsverlauf in ihrer Stellungnahme vom 18.09.2012 ebenfalls nur Positives.
47 
b) Selbst wenn man von einer - die maßgebliche Erheblichkeitsschwelle (gerade) noch übersteigenden - Wiederholungsgefahr ausginge, ist die Ausweisung hier unzulässig. Denn auch dann fehlt es an einer hinreichend schweren Gefahr für ein "Grundinteresse der Gesellschaft".
48 
Wie ausgeführt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 08.12.2011, a.a.O., Rn. 85) bei der Entscheidung über eine Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen bzw. bei der Überprüfung einer entsprechenden Entscheidung eine umfassende Abwägung der angeführten Belange vorzunehmen. Anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen ist die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abzuwägen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Der Gerichtshof betont, dass bei der Prüfung des Vorliegens einer hinreichend schweren Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft sämtliche konkreten Umstände angemessen zu berücksichtigen seien, die für die Situation des Betreffenden kennzeichnend sind. Dazu zählt er nicht nur Tatsachen, die von Relevanz für die kriminalprognostische Beurteilung sind, sondern unabhängig davon die persönlichen Umstände des Betreffenden, seine Bindungen zur Gesellschaft des Landes, in welchem er sich aufhält, die Dauer seines Aufenthalts in diesem, die familiären Verhältnisse, seine Berufstätigkeit u.a. (vgl. Urteil vom 08.12.2011. a.a.O., Rn. 85). Die Maßnahme muss für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft "unerlässlich" sein (EuGH, Urteil vom 08.12.2011, a.a.O., Rn. 86), das bedeutet, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. Senatsurteil vom 10.02.2012, a.a.O., m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O.).
49 
aa) Nach diesen Grundätzen entspricht die Ausweisung hier schon deshalb nicht mehr einem Grundinteresse der Gesellschaft, weil mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe vom 25.04.2012 die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt und der Kläger daraufhin am 30.04.2012 aus der Strafhaft entlassen worden ist.
50 
Nach der Rechtsprechung des Senats kommt einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG nicht nur eine Indizwirkung bei der Prüfung zu, ob von der Gefahr der Wiederholung von Straftaten auszugehen ist. Vielmehr hat diese bei Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten regelmäßig zur Folge, dass eine Ausweisung ausscheiden muss (vgl. Senatsurteil vom 07.03.2012, a.a.O.). Denn mit der Aussetzung der Strafe bringt die Gesellschaft des Mitgliedstaats zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Etwas anderes kann zwar gelten, wenn die Aussetzungsentscheidung sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Das ist aber hier nicht der Fall. Aus den angeführten Gründen teilt der Senat vielmehr die Einschätzung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 03.03.2012 und damit auch die dem Gutachten folgende Bewertung der Wiederholungsgefahr durch die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe in deren Beschluss vom 25.04.2012.
51 
bb) Selbst wenn man dem Umstand, dass die Restfreiheitsstrafe aus dem Strafurteil vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, keine derart maßgebliche Bedeutung beimisst, scheidet eine Ausweisung hier aus. Denn die erforderliche Abwägung aller Umstände führt zu einem deutlichen Überwiegen der privaten Interessen des Klägers und der Interessen seiner Familienangehörigen, insbesondere seiner Kinder, gegenüber dem gesellschaftlichen Interesse an seiner Ausweisung.
52 
Dabei ist zunächst zu bedenken, dass selbst wenn in diesem Zusammenhang das Bestehen der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten unterstellt wird, es allenfalls um eine relativ geringe, die erforderliche Erheblichkeitsschwelle gerade noch übersteigende Gefahr geht. Allerdings sind zu Lasten des Klägers unter anderem Art und Schwere der begangenen Straftat, die vor 2008, vor allem in seiner Jugend begangenen Delikte und die früher bestehende Drogen- und Spielsucht zu berücksichtigen. Für den Kläger, der sich seit seiner Geburt rechtmäßig in Deutschland aufhält, sprechen aber die bereits angeführten Umstände wie die weitgehend erreichte Resozialisierung und die dabei von ihm unternommenen Anstrengungen sowie die Tatsache, dass er eine Lehre durchführt. Seinem berechtigten Interesse an einem positiven und erfolgversprechenden Resozialisierungsverlauf in seinem „Geburtsland“ ist hier besonderes Gewicht beizumessen (vgl. zur Erforderlichkeit der Berücksichtigung eines positiven Resozialisierungsprozesses im Rahmen der Abwägung auch Senatsurteil vom 16.04.2012, a.a.O). Die insgesamt sehr erfolgversprechende Entwicklung des Klägers würde gefährdet, wenn er Deutschland verlassen müsste. Ausschlaggebend für das Überwiegen der privaten Interessen des Klägers und seiner Familie sind aber hier seine gefestigten Bindungen an seine Eltern, seine älteren Schwestern und vor allem an seine 2002 und 2004 geborenen deutschen Kinder. Dem tatsächlich gelebten regelmäßigen Umgang eines Elternteils mit einem Kind kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu (vgl. zu Art. 6 GG nur BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - InfAuslR 2009, 150 und vom 22.12.2003 - 2 BvR 2108/00 - NVwZ 2004, 606, jew. m.w.N.), die durch dessen deutsche Staatsangehörigkeit noch verstärkt wird. Eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung hätte für die 2002 und 2004 geborenen Kinder erhebliche Auswirkungen. Die mit einer Ausweisung für den Kläger und dessen Familienangehörige, insbesondere für dessen Kinder, verbundenen Folgen sind deshalb auch mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen.
B)
53 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 12.10.2010 verfügte Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
54 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
55 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
56 
Beschluss vom 26. Oktober 2012
57 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
58 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht insgesamt statthafte und auch sonst zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte und formell ordnungsgemäß begründete (vgl. § 124a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO) Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 25.03.2011 (3 K 2796/10) hat bereits mit dem Hauptantrag Erfolg. Die Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A)
28 
Die Ausweisung ist zwar entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht formell rechtswidrig, sie ist aber wegen materieller Rechtsfehler aufzuheben.
I.
29 
Rechtsgrundlage sind hier die §§ 55 Abs. 1, 56 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19.09.1980 - ARB 1/80. Denn der Kläger hat - wovon auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen - eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 inne, welche er auch nicht durch die mehrjährige Inhaftierung verloren hat. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angegriffenen Urteil vom 25.03.2011 verwiesen.
30 
Die Tatsache, dass die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, begründet keinen weitergehenden unionsrechtlichen Ausweisungsschutz (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
II.
31 
Die Entscheidung des Regierungspräsidiums ist nicht - mit Blick auf die assoziationsrechtliche Rechtsstellung des Klägers - deshalb als verfahrensfehlerhaft anzusehen, weil keine „unabhängige zweite Stelle“ eingeschaltet bzw. kein Vorverfahren durchgeführt worden ist.
32 
Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers folgt ein Anspruch auf Durchführung eines Widerspruchsverfahrens insbesondere nicht aus dem in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 normierten „Vier-Augen-Prinzip“. Denn diese Richtlinie ist gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 (Unionsbürgerrichtlinie) mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist auch deren Art. 9 nicht mehr – entsprechend – auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige anzuwenden (vgl. zur früheren Anwendung des „Vier-Augen-Prinzips“ BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - InfAuslR 2006, 110). Geltende unionsrechtliche Verfahrensgarantien begründen ebenfalls nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen. Aus den so genannten "Stillhalteklauseln" folgt keine andere Betrachtung. Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens. Im Übrigen gebietet Unionsrecht auch bei Ausweisungen von Unionsbürgern keine behördliche Kontrolle mehr nach dem "Vier-Augen-Prinzip" (vgl. stattdessen Art. 31 Abs. 1 Unionsbürgerrichtlinie; vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O.; Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -NVwZ-RR 2012, 492).
III.
33 
Die Ausweisung ist jedoch materiell-rechtlich rechtswidrig. Der Kläger hat zwar aufgrund seiner Verurteilung durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und 10 Monaten nach nationalem Recht den Tatbestand einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Sie genügt aber nicht den besonderen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
34 
1. Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gilt der Abschnitt 1 des Beschlusses (nur) vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Bei der Prüfung des daraus für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige abzuleitenden besonderen Ausweisungsschutzes ist nach der ständigen Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08, Ziebell - InfAuslR 2012, 43, m.w.N.). Allerdings sind die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie wegen der grundsätzlichen Unterschiede der durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers zu der eines Assoziationsberechtigten nicht anzuwenden. Vielmehr ist der Ausweisungsschutz - nach Aufhebung der bisher insoweit sinngemäß bzw. analog auch auf assoziationsrechtlich geschützte türkische Staatsangehörige angewandten Richtlinie 64/221/EWG - nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG vom 25.11.2003, der so genannten Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 08.12.2011, a.a.O.; Senatsurteile vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris, vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203, und vom 10.02.2012, a.a.O.).
35 
Gemäß Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie darf ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt (Abs. 1). Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen (Abs. 2). Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Abs. 3). Die entsprechende Anwendung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, welchen eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung zukommt, bedeutet für diese der Sache nach einen Ausweisungsschutz, der dem bislang geltenden entspricht (vgl. Senatsurteil vom 16.04.2012, a.a.O., m.w.N.; vgl. auch Bayer. VGH, Urteil vom 17.07.2012 - 19 B 12.417 - juris; zum Ausweisungsschutz vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2007 - C 349/06, Polat - juris). Soweit der Gerichtshof im Urteil vom 08.12.2011 in der Rechtssache Ziebell mehrmals erwähnt hat (a.a.O. Rn. 79, auch Rn. 46), dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, wird damit keine zusätzliche Voraussetzung für die entsprechende Anwendung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG bestimmt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegende Tatsache wiedergegeben (vgl. dazu Senatsurteile vom 16.04.2012, vom 07.03.2012 und vom 10.02.2012, jew. a.a.O.).
36 
Bei der Prüfung einer entsprechenden Ausweisung ist zudem zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen sind, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Das bedeutet, dass Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden dürfen, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention - um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken - angeordnet werden (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteile vom 08.12.2011, a.a.O., und vom 22.12.2010 - C-303/08, Bozkurt - NJW 2008, 2736, m.w.N.).
37 
2. Nach diesen Grundsätzen scheidet eine Ausweisung bereits deshalb aus, weil vom Kläger keine relevante, d.h. mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit drohende, Gefahr der Wiederholung von einschlägigen Straftaten mehr ausgeht (a). Selbst wenn man eine entsprechende Wiederholungsgefahr noch bejaht, folgt daraus jedenfalls keine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Daueraufenthaltsrichtlinie und der angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (b).
38 
a) Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 03.03.2012, der ergänzenden Erläuterungen des in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Sachverständigen angehörten Gutachters sowie aufgrund der Angaben des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom Kläger nicht mehr die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht.
39 
Bei der Prüfung, ob das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr darstellt, ist - anders als bei dem Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf das "Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“, abzustellen. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrundeliegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - C-482 und 493/01, Orfanopoulus und Oliveri - InfAuslR 2004, 268). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012, a.a.O., vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 - InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (vgl. auch Senatsurteil vom 23.10.2012 - 11 S 1470/12; einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012, a.a.O., und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung - wie der vorliegenden - für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O., m.w.N.). Vielmehr müssen - wie bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8; Senatsurteil vom 23.10.2012 - 11 S 1470/11) - Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr ausgeht. Eine weitere Absenkung der maßgeblichen Erheblichkeitsschwelle in der Weise, dass die Betroffenen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen hätten, dass die Begehung von Straftaten in Zukunft mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, würde diesen letztlich Unzumutbares, wenn nicht Unmögliches abverlangen.
40 
Im vorliegenden Fall kann zwar die Möglichkeit weiterer Straftaten, insbesondere von Gewaltdelikten, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, sie erscheint aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als derart fernliegend, dass sie die in Ansehung des bestehenden Assoziationsrechts des Klägers erforderliche Erheblichkeitsschwelle nicht übersteigt.
41 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst die Schwere des begangenen Delikts und die konkrete Tatausführung zu berücksichtigen. Der Ausweisungsanlass - die begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - ist besonders gravierend. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid außerdem zu Recht auf die besonderen Umstände der Straftat hingewiesen. Die Geiselnahme zog sich über dreieinhalb Stunden hin. Der Kläger und seine Mittäter haben dabei versucht, N.G. durch eine menschenunwürdige Befragung, insbesondere mit der Bedrohung, sie zu erschießen, wodurch diese in Todesangst versetzt wurde, dazu zu bringen, den angeblich unter Mitwirkung von ihr und ihrem Freund am Vortag begangenen Einbruch zu gestehen. Der Kläger selbst hatte am Vortag vorgeschlagen, N.G. zu befragen und ihr gegebenenfalls Ohrfeigen zu versetzen. Zwar hat dann der Haupttäter B.A. das Opfer geohrfeigt und nicht der Kläger. Auch hatte B.A. die Schreckschusspistole, mit der N.G. bedroht wurde, ohne Wissen der anderen mitgenommen. Die Mittäter schritten aber jedenfalls nicht gegen B.A. ein, sondern nutzten die durch dessen Vorgehen bewirkte Todesangst der N.G. weiter aus. Der Kläger bedrohte diese dann auch mit den Worten, dass sie nicht lebend aus dem Keller herauskommen würde, wenn sie die angebliche Straftat nicht zugeben würde. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Ö.A. und T.K. das Opfer zunächst weiter, bevor sie dieses freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat (vgl. dazu auch das Urteil im Parallelverfahren des Ö.A. vom 23.10.2012 - 11 S 1470/11 -).
42 
Beim Kläger kommt erschwerend hinzu, dass er in der Vergangenheit bereits mehrmals wegen Gewalt- und Betäubungsmitteldelikten bestraft wurde, vor der Geiselnahme zuletzt durch Strafbefehl des Amtsgerichts Karlsruhe vom 04.02.2002 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 133 Fällen. Bei den davor liegenden einschlägigen Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung vom 18.01.2001, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung vom 19.10.1998, sowie wegen gemeinschaftlicher Erpressung und versuchter Erpressung in Tateinheit mit Nötigung vom 28.03.1996 wurde jeweils Jugendstrafrecht angewandt.
43 
Selbst wenn man auch die lediglich im Jugendstrafregister eingetragenen Verurteilungen uneingeschränkt mit einstellt, ist aber heute davon auszugehen, dass keine Gefahr der Wiederholung entsprechender Straftaten mehr besteht. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Geiselnahme inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Er hat während der Strafhaft an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen, diverse Aus- bzw. Weiterbildungsangebote angenommen und schließlich eine Lehre als Gas- und Wasserinstallateur begonnen, welche noch nicht abgeschlossen ist. Ausweislich des vom Kläger vorgelegten Zwischenzeugnisses seines Arbeitgebers vom 22.10.2012 ist dieser weiter sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Er sei freundlich, pünktlich, vielseitig, flexibel und kundenorientiert. Der Kläger ist außerdem seit vielen Jahren nicht mehr drogen- oder spielsüchtig. Er hat enge Bindungen an seine Eltern, bei denen er zur Zeit wohnt, und an seine älteren Schwestern. Seine beiden Kinder, mit denen er jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Schulferien verbringt, sind ihm sehr wichtig. Wegen seiner Schulden läuft seit mehreren Jahren ein Privatinsolvenzverfahren, aufgrund dessen damit zu rechnen ist, dass er bald schuldenfrei sein wird. Die Berichte der Justizvollzugsanstalt über sein Verhalten während der Strafhaft waren durchgehend positiv. Darin wird insbesondere geschildert, dass er als freundlich, zugänglich und höflich beschrieben werde, sich im offenen wie im geschlossenen Vollzug vorbildlich verhalten und erfolgreich am Vollzugsziel mitgearbeitet sowie am Arbeitsleben regelmäßig und verlässlich teilgenommen habe, nicht wegen Drogen aufgefallen sei und seine Drogenabstinenz auch unter Beweis habe stellen können. In einer Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft vom 20.10.2011 wird dargelegt, dass der Kläger von seiner Inhaftierung nachhaltig beeindruckt erscheine. Es werde nicht angenommen, dass er erneut straffällig werde.
44 
Auch das kriminalprognostische Gutachten vom 03.03.2012 kommt zu dem Ergebnis, dass aus gutachterlicher Sicht die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit beim Kläger nicht mehr fortbestehe. Die Gutachter berücksichtigen dabei die Vorstrafen wegen Diebstahls-, Körperverletzungs- und Verkehrsdelikten sowie wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln, und weisen darauf hin, dass damals wohl Ansätze einer dissozialen Entwicklung bestanden haben könnten. In der Folge bis zu der Straftat Ende 2008 sei es jedoch zu einer zunehmenden Stabilisierung gekommen, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Gründung einer Familie und der Geburt der Kinder zu sehen sei. Den bis dahin noch regelmäßigen Cannabiskonsum habe der Kläger aus eigenem Antrieb 2006 vollständig eingestellt, auch das Spielen habe er im gleichen Zeitraum beendet. Mit dem der Verurteilung zugrundeliegenden Delikt sei er erstmals mit einem schweren Delikt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dabei habe es sich um ein Tatgeschehen gehandelt, welches sich in einer spezifischen Gruppendynamik abgespielt habe. Der Kläger habe zum damaligen Zeitpunkt einer Teilhaberschaft in dem Wettbüro entgegengesehen und sich dort in verantwortlicher Position gesehen. Er sei der festen Überzeugung gewesen, dass N.G. mit dem Einbruch in das Wettbüro zu tun gehabt habe, und habe sich subjektiv zunächst berechtigt gesehen, diese als quasi bei ihm Angestellte selbst einer diesbezüglichen Befragung zu unterziehen. Im Zuge des Geschehens sei es dann unter Mitwirkung der anderen Tatbeteiligten zu einer Dynamik gekommen, die vom Kläger in dieser Form ursprünglich gar nicht intendiert gewesen sein möge. Insgesamt sei festzuhalten, dass die Dynamik nicht ausschließlich der Initiative des Klägers anzulasten sei. Insofern komme den situativen Gegebenheiten (Empörung über die vermeintliche Untreue einer Angestellten, Dynamik der Tätergruppe) eine hohe Bedeutung bei dem deliktischen Geschehen zu. Daher knüpfe das zur Verurteilung führende Delikt nur in Teilen an die frühere Delinquenz des Klägers an, nämlich soweit der Wunsch, von den anderen durch sein Handeln Anerkennung und Geltung zu erlangen, auch eine Rolle gespielt haben möge. Der Kläger habe bereits bei der ersten Vernehmung durch die Polizei seine eigene Rolle bei dem Geschehen umfassend eingeräumt und im Wesentlichen nicht versucht, seinen Anteil am Tatgeschehen herunterzuspielen oder zu bagatellisieren. Auch habe er sich offensichtlich früh um eine partielle Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer bemüht. Es sei spürbar, dass er sich mit der Tat auseinandergesetzt habe und sich für sein damaliges Verhalten schäme. Er habe sogar selbst angegeben, dass er der Meinung sei, mit seiner damaligen Wut auf das Opfer die Mittäter quasi „angeheizt“ zu haben. Insofern habe er Verantwortung für sein damaliges Handeln übernommen. Zusätzlich habe er die Möglichkeit genutzt, im Rahmen der Haft an einem spezifischen Gruppenprogramm für aggressive Gewalttäter teilzunehmen. Insgesamt sei beim Kläger von einer zufriedenstellenden Tataufarbeitung auszugehen, was als ein prognostisch günstiger Faktor zu werten sei. Er habe sich zudem während der Haftzeit beruflich weiter qualifiziert, um dadurch die Perspektiven für eine verbesserte soziale Integration nach einer möglichen Entlassung aus der Haft zu verbessern. Dabei sei ihm durchgängig eine hohe Arbeitsmotivation bescheinigt worden. Er habe sich außerdem bereits in umfangreichen Lockerungen bewähren können. Es sei im Rahmen der Begutachtung erkennbar gewesen, dass er ernsthaft daran interessiert sei, ein straffreies Leben zu führen und sich sozial und beruflich zu integrieren. Er verfüge über tragfähige soziale Bindungen, die sich in erster Linie auf seine Eltern und Schwestern bezögen. Spürbar sei geworden, dass er auch ein starkes Interesse an den regelmäßigen Kontakten zu seinen Kindern habe und diese nicht gefährden wolle. Die von ihm geschilderten beruflichen und sozialen Perspektiven erschienen realistisch und tragfähig. Für das Vorliegen einer erheblichen dissozialen Akzentuierung in der Persönlichkeit des Klägers fänden sich keine ausreichenden Hinweise. In der Gesamtwürdigung überwögen somit trotz der einschlägigen Vordelinquenz die prognostisch günstigen Aspekte bei weitem.
45 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Sachverständiger angehörte Gutachter H. S... hat seine Prognose - nach Anhörung und Befragung des Klägers - weiter erläutert. Er hat überzeugend begründet, dass und warum gerade auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Klägers seit seiner Entlassung aus der Strafhaft nicht anzunehmen ist, dass von diesem noch eine relevante Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten ausgeht. Zwar war ihm zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht bekannt gewesen, dass gegen den Kläger auch wegen Vorfällen am 24.04.2003, am 24.12.2005, am 01.11.2006 und am 12.10.2008 strafrechtliche Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren unter anderem wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung liefen, welche eingestellt wurden. Er hat aber - nach Einsicht in die entsprechenden Akten bzw. Unterlagen - überzeugend dargelegt, dass dies im Ergebnis nicht zu einer anderen Einschätzung führt. Auf Nachfrage hat er allerdings erläutert, dass die Gefahr, dass eine Körperverletzung begangen werde, aufgrund der niedrigeren Hemmschwelle als größer einzuschätzen sei als die, dass der Kläger wieder ein schwereres Delikt wie die Geiselnahme begehen könnte. Der Gutachter hat aber deutlich gemacht, dass das Risiko der Begehung von Körperverletzungs- und Gewaltdelikten ebenfalls aufgrund der positiven Veränderungen geringer geworden sei - wenn es sich auch nicht ausschließen lasse. Für den Kläger sei maßgeblich der Wille, sein Leben zu ändern, in der Arbeit Fuß zu fassen, ein geregeltes Leben zu führen und regelmäßigen Kontakt zu seinen Kindern zu haben. Dies sei für ihn eine starke Motivation, sich nicht mehr in Situationen zu begeben, die zu körperlichen Auseinandersetzungen führen könnten.
46 
Dass der Kläger die Tat ernsthaft bereut und den festen Willen hat, den eingeschlagenen positiven Weg weiter zu gehen und nicht mehr straffällig zu werden, haben seine Angaben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft verdeutlicht. Gerade wegen seiner starken Bindungen an seine Kinder, seine Eltern und Schwestern ist die Gefahr, dass ihm dies nicht gelingen könnte, als gering einzuschätzen. Die Bewährungshelferin berichtet über den bisherigen Bewährungsverlauf in ihrer Stellungnahme vom 18.09.2012 ebenfalls nur Positives.
47 
b) Selbst wenn man von einer - die maßgebliche Erheblichkeitsschwelle (gerade) noch übersteigenden - Wiederholungsgefahr ausginge, ist die Ausweisung hier unzulässig. Denn auch dann fehlt es an einer hinreichend schweren Gefahr für ein "Grundinteresse der Gesellschaft".
48 
Wie ausgeführt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 08.12.2011, a.a.O., Rn. 85) bei der Entscheidung über eine Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen bzw. bei der Überprüfung einer entsprechenden Entscheidung eine umfassende Abwägung der angeführten Belange vorzunehmen. Anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen ist die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abzuwägen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Der Gerichtshof betont, dass bei der Prüfung des Vorliegens einer hinreichend schweren Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft sämtliche konkreten Umstände angemessen zu berücksichtigen seien, die für die Situation des Betreffenden kennzeichnend sind. Dazu zählt er nicht nur Tatsachen, die von Relevanz für die kriminalprognostische Beurteilung sind, sondern unabhängig davon die persönlichen Umstände des Betreffenden, seine Bindungen zur Gesellschaft des Landes, in welchem er sich aufhält, die Dauer seines Aufenthalts in diesem, die familiären Verhältnisse, seine Berufstätigkeit u.a. (vgl. Urteil vom 08.12.2011. a.a.O., Rn. 85). Die Maßnahme muss für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft "unerlässlich" sein (EuGH, Urteil vom 08.12.2011, a.a.O., Rn. 86), das bedeutet, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. Senatsurteil vom 10.02.2012, a.a.O., m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 10.07.2012, a.a.O.).
49 
aa) Nach diesen Grundätzen entspricht die Ausweisung hier schon deshalb nicht mehr einem Grundinteresse der Gesellschaft, weil mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe vom 25.04.2012 die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt und der Kläger daraufhin am 30.04.2012 aus der Strafhaft entlassen worden ist.
50 
Nach der Rechtsprechung des Senats kommt einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG nicht nur eine Indizwirkung bei der Prüfung zu, ob von der Gefahr der Wiederholung von Straftaten auszugehen ist. Vielmehr hat diese bei Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten regelmäßig zur Folge, dass eine Ausweisung ausscheiden muss (vgl. Senatsurteil vom 07.03.2012, a.a.O.). Denn mit der Aussetzung der Strafe bringt die Gesellschaft des Mitgliedstaats zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Etwas anderes kann zwar gelten, wenn die Aussetzungsentscheidung sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Das ist aber hier nicht der Fall. Aus den angeführten Gründen teilt der Senat vielmehr die Einschätzung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 03.03.2012 und damit auch die dem Gutachten folgende Bewertung der Wiederholungsgefahr durch die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe in deren Beschluss vom 25.04.2012.
51 
bb) Selbst wenn man dem Umstand, dass die Restfreiheitsstrafe aus dem Strafurteil vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, keine derart maßgebliche Bedeutung beimisst, scheidet eine Ausweisung hier aus. Denn die erforderliche Abwägung aller Umstände führt zu einem deutlichen Überwiegen der privaten Interessen des Klägers und der Interessen seiner Familienangehörigen, insbesondere seiner Kinder, gegenüber dem gesellschaftlichen Interesse an seiner Ausweisung.
52 
Dabei ist zunächst zu bedenken, dass selbst wenn in diesem Zusammenhang das Bestehen der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten unterstellt wird, es allenfalls um eine relativ geringe, die erforderliche Erheblichkeitsschwelle gerade noch übersteigende Gefahr geht. Allerdings sind zu Lasten des Klägers unter anderem Art und Schwere der begangenen Straftat, die vor 2008, vor allem in seiner Jugend begangenen Delikte und die früher bestehende Drogen- und Spielsucht zu berücksichtigen. Für den Kläger, der sich seit seiner Geburt rechtmäßig in Deutschland aufhält, sprechen aber die bereits angeführten Umstände wie die weitgehend erreichte Resozialisierung und die dabei von ihm unternommenen Anstrengungen sowie die Tatsache, dass er eine Lehre durchführt. Seinem berechtigten Interesse an einem positiven und erfolgversprechenden Resozialisierungsverlauf in seinem „Geburtsland“ ist hier besonderes Gewicht beizumessen (vgl. zur Erforderlichkeit der Berücksichtigung eines positiven Resozialisierungsprozesses im Rahmen der Abwägung auch Senatsurteil vom 16.04.2012, a.a.O). Die insgesamt sehr erfolgversprechende Entwicklung des Klägers würde gefährdet, wenn er Deutschland verlassen müsste. Ausschlaggebend für das Überwiegen der privaten Interessen des Klägers und seiner Familie sind aber hier seine gefestigten Bindungen an seine Eltern, seine älteren Schwestern und vor allem an seine 2002 und 2004 geborenen deutschen Kinder. Dem tatsächlich gelebten regelmäßigen Umgang eines Elternteils mit einem Kind kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu (vgl. zu Art. 6 GG nur BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - InfAuslR 2009, 150 und vom 22.12.2003 - 2 BvR 2108/00 - NVwZ 2004, 606, jew. m.w.N.), die durch dessen deutsche Staatsangehörigkeit noch verstärkt wird. Eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung hätte für die 2002 und 2004 geborenen Kinder erhebliche Auswirkungen. Die mit einer Ausweisung für den Kläger und dessen Familienangehörige, insbesondere für dessen Kinder, verbundenen Folgen sind deshalb auch mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen.
B)
53 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 12.10.2010 verfügte Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
54 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
55 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
56 
Beschluss vom 26. Oktober 2012
57 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
58 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

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(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anh

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot


(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 6


(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinsc

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 8


(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 55 Bleibeinteresse


(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer 1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 53 Ausweisung


(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 56 Überwachung ausreisepflichtiger Ausländer aus Gründen der inneren Sicherheit


(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei de

Strafgesetzbuch - StGB | § 57 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe


(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,2. dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der

Strafgesetzbuch - StGB | § 46a Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung


Hat der Täter 1. in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder2. in einem Fall, in welchem die

Strafgesetzbuch - StGB | § 239b Geiselnahme


(1) Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu ein

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 88 Aussetzung des Restes der Jugendstrafe


(1) Der Vollstreckungsleiter kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des

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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 26. Okt. 2012 - 11 S 278/12 zitiert oder wird zitiert von 7 Urteil(en).

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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 23. Okt. 2012 - 11 S 1470/11

bei uns veröffentlicht am 23.10.2012

Tenor Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - geändert.Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wird aufgehoben.Das beklagte Land trägt die Kosten des Ve

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 16. Apr. 2012 - 11 S 4/12

bei uns veröffentlicht am 16.04.2012

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.Die Revision wird zugelassen. Tatbestand  1 Der 1988 in Stuttga

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2012 - 11 S 3269/11

bei uns veröffentlicht am 07.03.2012

Tenor Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29. April 2009 - 4 K 1175/08 - aufgehoben.Der Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27. März 2008 wird aufgehoben.Der Beklagte trägt die Kosten des V

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 10. Feb. 2012 - 11 S 1361/11

bei uns veröffentlicht am 10.02.2012

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.Die Revision wird zugelassen. Tatbestand   1 Der am

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. Dez. 2011 - 11 S 897/11

bei uns veröffentlicht am 07.12.2011

Tenor Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2011 - 11 K 2424/10 - ist unwirksam, soweit dami

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 04. Mai 2011 - 11 S 207/11

bei uns veröffentlicht am 04.05.2011

Tenor Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2010 - 1 K 1516/08 - geändert. Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Die Revision wird zugela
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 26. Okt. 2012 - 11 S 278/12.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 14. Mai 2014 - 11 S 2224/13

bei uns veröffentlicht am 14.05.2014

Tenor Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17.05.2013 - 11 K 563/12 - geändert.Ziffer 2 der Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.02.2014 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage

Referenzen

Hat der Täter

1.
in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder
2.
in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt,
so kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen.

(1) Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Nötigung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) § 239a Abs. 2 bis 4 gilt entsprechend.

Hat der Täter

1.
in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder
2.
in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt,
so kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen.

(1) Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Nötigung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) § 239a Abs. 2 bis 4 gilt entsprechend.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

1.
vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder
2.
auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2) Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

(3) Er kann verpflichtet werden, in einem anderen Wohnort oder in bestimmten Unterkünften auch außerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde zu wohnen, wenn dies geboten erscheint, um

1.
die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden und die Einhaltung vereinsrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Auflagen und Verpflichtungen besser überwachen zu können oder
2.
die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden.

(4) Um die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5, zu einer Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 oder zu einer Abschiebungsanordnung nach § 58a geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden, kann der Ausländer auch verpflichtet werden, zu bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen und bestimmte Kommunikationsmittel oder Dienste nicht zu nutzen, soweit ihm Kommunikationsmittel verbleiben und die Beschränkungen notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Um die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden, können Beschränkungen nach Satz 1 angeordnet werden, soweit diese notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwenden.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen 1 bis 4 ruhen, wenn sich der Ausländer in Haft befindet. Eine Anordnung nach den Absätzen 3 und 4 ist sofort vollziehbar.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

Tenor

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2011 - 11 K 2424/10 - ist unwirksam, soweit damit Ziffer 2 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10. Juni 2010 aufgehoben worden ist.

Im Übrigen wird auf die Berufung des beklagten Landes das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2011 - 11 K 2424/10 - geändert. Die Klage gegen Ziffern 1 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10. Juni 2010 wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung sowie gegen eine ihm auferlegte räumliche Aufenthaltsbeschränkung und eine Meldeauflage.
Der am ... in .../Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 19.12.1995 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung trug er unter anderem vor, er und seine Ehefrau hätten in der Türkei die PKK unterstützt. So hätten sie z.B. Uniformen gewaschen und den Guerillas ab und zu Lebensmittel gegeben. Sie seien deshalb verfolgt worden. Auf die vom Kläger gegen den seinen Asylantrag ablehnenden Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – (im Folgenden: Bundesamt) vom 21.03.1996 erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 01.07.1998 die Bundesrepublik Deutschland festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. In der Folge erhielt der Kläger befristete Aufenthaltsbefugnisse bzw. Aufenthaltserlaubnisse, erstmals zum 01.09.1998. Zuletzt wurde ihm am 13.09.2006 eine bis zum 12.09.2007 geltende Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt.
Der Kläger ist mit der am ... geborenen M... A..., geb. G..., verheiratet. Sie haben sieben gemeinsame Kinder: B... (* ...1988), Ex ... (* ...1990), C... (* ...1992), K... (* ...1993), E... (* ...1996), M... (* ...1998) und A... A... (* ...2005). Mit Bescheid des Bundesamts vom 09.07.1996 wurden die Ehefrau des Klägers und die fünf älteren Kinder, mit denen diese am 28.05.1996 nach Deutschland eingereist war, als Asylberechtigte anerkannt. Bezüglich M..., C..., K... ... und E... wurden die Asylanerkennungen mit Bescheid des Bundesamts vom 02.03.2007 widerrufen. Die Ehefrau und die fünf älteren Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, M... ist Inhaber einer bis zum 07.01.2014 befristeten Aufenthaltserlaubnis. Der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsangehöriger.
Bis auf einen Zeitraum vom 24.04.2006 bis zum 01.03.2007, in welchem der Kläger in L... gewohnt hatte, war er durchgehend mit Hauptwohnsitz in H... gemeldet. Er und seine Familie bezogen zunächst (ergänzende) Sozialleistungen. In den ersten Jahren war er gelegentlich geringfügig beschäftigt, danach bei wechselnden Arbeitgebern, überwiegend in H... Er war wie folgt tätig: vom 01.07.2002 bis zum 30.11.2002 bei einer Gebäudereinigung, vom 13.03.2004 bis zum 31.03.2005 bei C.M.A. Télécafé, vom 01.04.2005 bis zum 31.01.2006 bei M.S.A. Télécafé, dann - nach Bezug von Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 01.05.2005 bis zum 30.04.2006 - vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 bei einer Vertriebs GmbH in W..., vom 17.07.2006 bis zum 31.07.2006 bei B... K., Abbruch und Demontage, vom 01.08.2006 bis zum 31.01.2007 bei M... K., Abbruch und Demontage, beide in L... und vom 01.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei Ü.S. Paletten-Depot in H... Seit dem 01.07.2009 ist der Kläger bei einer Gebäudereinigung tätig.
Am 25.01.1997 wurde der Kläger in einer Sitzung der Mitglieder des Vereins „Kurd... V... e.V.“, H..., - als Zuständiger für die Bücherei - in den Vorstand gewählt. Die Mitglieder des Vereins „Gebetshaus E... ... ...“, H..., wählten ihn am 12.12.1998 als zweiten Vertreter für den Bereich Sport und am 19.05.2002 als zweiten Vorsitzenden in den Vorstand. Mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 - KLs 71 Js 1603/96 - wurde der Kläger wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Geldstrafe von 35 Tagesätzen zu je 15,-- DM verurteilt. Am 16.02.1999 wurde er aus Anlass der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Stuttgart (nach der Festnahme von Öcalan) gemeinsam mit 176 anderen Kurden einen Tag lang in „Vorbeugewahrsam“ nach § 28 PolG genommen. In einem gegen ihn wegen der Selbsterklärung „Auch ich bin ein PKK´ler“ eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 30.05.2003 von der Verfolgung abgesehen (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Mit Bescheid vom 16.04.2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 27.08.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Die dagegen vom Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage - A 17 K 480/07 - wurde von ihm am 25.09.2007 zurückgenommen.
Bereits am 17.07.2007 hatte der Kläger (zum wiederholten Mal) die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beantragt. Unter anderem im Hinblick auf ein Schreiben des Ministeriums des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz vom 13.11.2006, mit welchem die damals zuständige Ausländerbehörde der Stadt L... über die Wahl des Klägers in den Vorstand des Kurd... V... e.V. am 25.01.1997 und zum stellvertretenden Vorstandsmitglied des Gebetshauses „E... ...“ am 12.12.1998 sowie über diverse exilpolitische Aktivitäten des Klägers informiert worden war, forderte die Ausländerbehörde der Stadt H... den Kläger auf, an einer sog. Sicherheitsbefragung gemäß §§ 54 Nr. 6 i.V.m. § 82 Abs. 4 AufenthG teilzunehmen. Bei der daraufhin am 08.08.2007 durchgeführten Befragung verneinte der Kläger die Frage, ob er bestimmte Gruppen oder Organisationen, darunter die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) alias KADEK alias KONGRA-GEL, unterstütze oder für diese tätig geworden sei. Die Zusatzfrage, welcher Art diese Unterstützungshandlungen oder Tätigkeiten (z.B. Spenden) gewesen seien, beantwortete er sinngemäß wie folgt: Er sei nur Kurde; die PKK und die KONGRA-GEL interessierten ihn nicht. Er sei auch nicht Mitglied in einem kurdischen Verein.
Mit Schreiben des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg an das Innenministerium Baden-Württemberg vom 26.02.2008 und an das Regierungspräsidium Stuttgart vom 18.11.2008 wurde mitgeteilt, dass der Kläger dem Landesamt im Zusammenhang mit der im November 1993 verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – welche 2002 in „Freiheit- und Demokratiekongress Kurdistans“ (KADEK) und 2003 in „Volkskongress Kurdistans“ (KONGRA-GEL) umbenannt worden sei – bekannt geworden sei. Neben den Vorstandstätigkeiten in den PKK-nahen Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ... - ...“ in H... lägen folgende Erkenntnisse vor: Der Kläger habe an einer Vielzahl von Versammlungen, Demonstrationen oder Feiern von KADEK bzw. KONRAG-GEL-Anhängern teilgenommen, so am 06.04.2003 in H... an einer Versammlung anlässlich des Geburtstags von Abdullah Öcalan, am 05.02.2005 an einer Solidaritätsdemonstration für den am 22.01.2005 in Nürnberg festgenommenen stellvertretenden Vorsitzenden dieser Organisation, R... K..., am 03.04.2005 an einer Versammlung anlässlich des Geburtstags von Öcalan, am 27.11.2005 in I... (bei H...) an einer Veranstaltung zum 27. Gründungsjahrestag der PKK, am 17.12.2005 an einer Versammlung in H..., am 28.01.2006 an einer Demonstration in Mannheim, am 11.02.2006 an einer Demonstration von KONGRA-GEL-Anhängern anlässlich des 7. Jahrestages der Festnahme Öcalans in Straßburg/Frankreich, am 16.02.2007 an einer Demonstration zu den Haftbedingungen Öcalans sowie zuvor stattgefundenen Exekutivmaßnahmen der deutschen und französischen Behörden gegen mutmaßliche KONGRA-GEL-Strukturen in H..., am 27.10.2007 an einer weiteren Demonstration in H..., am 24.11.2007 an einer Versammlung anlässlich einer Feier zum Parteigründungstag der PKK in H..., am 30.03.2008 an einer weiteren Versammlung von KONGRA-GEL-Anhängern und am 18.05.2008 an einer Märtyrer-Veranstaltung in H...
Nachdem das Regierungspräsidiums Stuttgart den Kläger mit Schreiben vom 20.08.2008 unter anderem auf die Möglichkeit einer Ausweisung hingewiesen hatte, erklärte der Kläger in einem Schreiben vom 26.08.2008, er wolle zunächst feststellen, dass er kein Terrorist und kein Verbrecher sei, sondern ein einfacher Arbeiter. Jede Veranstaltung und Demonstration, an der er teilgenommen habe, sei bei den Behörden angemeldet und genehmigt gewesen. Die Vereine, in deren Vorstand er gewählt worden sei, seien Kulturvereine von Kurden für Kurden. Sicher habe auch er, als er noch in der Türkei gelebt habe, die PKK unterstützt, aber eher mit humanitären als mit militärischen Mitteln. Seit die PKK als terroristische Vereinigung gelte, habe er diese Hilfe komplett eingestellt. Er unterstütze als Kurde die kurdische Sache. Er distanziere sich aber von jeder kriminellen Handlung, die im Namen des kurdischen Volkes begangen werde, somit auch von der PKK als terroristischer Vereinigung.
10 
Am 10.02.2009 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart (Untätigkeits-) Klage gegen die Stadt H... mit dem Antrag, diese zu verpflichten, ihm eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen (8 K 487/09). Diese Klage wurde 25.05.2009 zurückgenommen; stattdessen erhob er Klage gegen das Land Baden-Württemberg (11 K 2004/09).
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Mit Schreiben vom 09.04.2009 und vom 01.02.2010 berichtete das Landesamt für Verfassungsschutz, es seien noch die folgenden gerichtsverwertbaren Erkenntnisse angefallen: Ausweislich eines Fotos und eines Zeitungsartikels in der der KONGRA-GEL nahestehenden türkischen Tageszeitung „Yeni Özgür Politika“ vom ...2008 habe er am ...2008 an einer Märtyrer-Gedenkveranstaltung von KONGRA-GEL-Anhängern in H... und außerdem am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestags der Gründung des militärischen Arms der PKK an einem Grillfest von KONGRA-GEL-Anhängern bei Bad Wimpfen sowie am 25.10.2008 an einer Demonstration gegen die angebliche Misshandlung von Öcalan in H... teilgenommen. Am 23.11.2008 und am 27.11.2009 sei der Kläger in I... (bei H...) Teilnehmer von Versammlungen zur Feier des 30. bzw. 31. Gründungsjahrestages der PKK gewesen, am 20.03.2009 habe er an der „Newroz“-Veranstaltung in H... teilgenommen.
12 
Mit Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Er wurde außerdem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland spätestens innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise innerhalb der Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Ziff. 2). Außerdem wurde sein Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abgelehnt (Ziff. 3). Der Kläger wurde verpflichtet, sich einmal wöchentlich unter Vorlage eines amtlichen Identifikationspapiers bei dem Polizeirevier H... zu melden. Sein Aufenthalt sei bis zu seiner Ausreise bzw. Abschiebung auf das Stadtgebiet des Stadtkreises H... beschränkt (Ziff. 4). Die sofortige Vollziehung der Ausweisung unter Ziffer 1 des Bescheids und der Meldeauflage sowie der Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids wurde angeordnet (Ziff. 5). In den Gründen des Bescheids wurde im Wesentlichen dargelegt: Die Voraussetzungen der Ausweisungstatbestände des § 55 AufenthG i.V.m. §§ 54 Nr. 5, Nr. 5a und Nr. 6 AufenthG seien gegeben. Der Kläger sei nicht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats/EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) privilegiert. Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 und/oder des Art. 7 ARB 1/80 lägen nicht vor. Der Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG sei erfüllt. Die PKK sei als eine terroristische Vereinigung zu qualifizieren. Der Kläger habe diese tatbestandsmäßig im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützt. Er sei bereits vor seiner Einreise ins Bundesgebiet 1995 fünf bis sechs Jahre in der Türkei für die PKK tätig gewesen. Bereits Anfang 1996 habe er an einer verbotenen und gewalttätigen PKK-Demonstration in Dortmund teilgenommen und sei deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Außerdem habe er im Jahr 1999 an der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Stuttgart anlässlich der Gefangennahme des PKK-Führers Öcalan teilgenommen und zudem im Jahr 2001 die PKK-Selbsterklärung unterzeichnet. Hinzu kämen die ab 1997 bis zumindest 2002 ausgeübten Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen. In der Folge habe er kontinuierlich ab dem Jahr 2003 bis Ende des Jahres 2009 an zahlreichen politisch-extremistischen und auch gewaltbereiten Veranstaltungen der PKK alias KADEK alias KONGRA-GEL aktiv teilgenommen. Die vorliegenden Erkenntnisse und Tatsachen rechtfertigten in ihrer wertenden Gesamtbetrachtung die Schlussfolgerung, dass er der PKK „angehöre“. Zudem seien die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5a und 6 AufenthG erfüllt. Da der Kläger und seine Ehefrau mit ihrem minderjährigen deutschen Kind A... A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebten, genieße er allerdings besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG. Seine Ausweisung sei daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässig. Solche lägen jedoch in den Fällen des § 54 Nr. 5 und Nr. 5a AufenthG, also auch hier, vor. Im vorliegenden Fall seien auch keine besonderen Umstände gegeben, die zur Annahme eines Ausnahmefalls führen könnten. Nach dem Grundsatz der Herabstufung sei daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG über die Ausweisung des Klägers nach Ermessen zu entscheiden. Hierbei seien nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sämtliche für und gegen die Ausweisung sprechenden Gründe in die Entscheidung einzubeziehen, zu gewichten und gegeneinander abzuwägen und zu prüfen, ob die Ausweisung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei. Im Ergebnis überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung das private Interesse des Klägers an einem weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Es bestehe ein gewichtiges öffentliches Sicherheitsinteresse, die vom Kläger persönlich ausgehende nicht unerhebliche und extremistische Gefahr für höchste Rechtsgüter durch seine Ausweisung mit dem Entzug seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet abzuwehren. Zudem verfolge die Ausweisung general- und spezialpräventive Zwecke. Außerdem sei von einer gesteigerten Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hätten Berücksichtigung gefunden. Auch seien die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Klägers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebten, gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG bedacht worden. Es handle sich um eine schutzwürdige Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG. Auch seien die Interessen der Kinder, insbesondere des jüngsten deutschen Kindes, an der Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung und Abwägung des jeweiligen Interesses habe jedoch der Schutz der Ehe und Familie hinter das höher einzuschätzende Sicherheitsinteresse des Staates und seiner Bevölkerung vor Unterstützungshandlungen für terroristische Vereinigungen zurückzutreten. Die Ausweisungsentscheidung stehe auch mit Art. 8 EMRK im Einklang. Der Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sei abzulehnen, weil dieser bereits die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG entgegenstehe. Aufgrund der Ausweisungsverfügung, deren sofortige Vollziehung angeordnet worden sei, sei der Kläger nach §§ 50 Abs. 1 und 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Gemäß § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG unterliege er der gesetzlichen Verpflichtung, sich einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden. Gemäß § 54a Abs. 2 AufenthG sei sein Aufenthalt kraft Gesetzes auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde beschränkt.
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Mit am 01.07.2010 beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangenem Schriftsatz vom 28.06.2010 machte der Kläger den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 im Wege der Klageänderung bzw. -erweiterung zum Gegenstand des bereits anhängigen Verfahrens 11 K 2004/09. In der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2010 wurde die Klage insoweit abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 11 K 2424/10 fortgesetzt, als sie auf Anfechtung von Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidium Stuttgart vom 10.06.2010 gerichtet ist. Im Übrigen (bezüglich der Niederlassungserlaubnis) ist nach entsprechenden Anträgen der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
14 
Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen vorgetragen: Obwohl der Kläger offensichtlich seit Jahren intensiv und engmaschig vom Verfassungsschutz beobachtet werde, könne das beklagte Land nicht einen konkreten Anhaltspunkt für eine objektive oder subjektive Unterstützungsleistung des Klägers benennen außer der schlichten Teilnahme an diversen, wohl gemerkt angemeldeten und erlaubten Versammlungen. Weder aus der Tatsache, dass er an diversen Kundgebungen teilnehme, noch daraus, dass er eine Zeitlang und bis 2002 in kurdischen Kulturvereinen in den Vorstand gewählt worden sei, habe er jemals einen Hehl gemacht. Er könne nicht für die Äußerungen irgendwelcher Redner auf irgendwelchen Veranstaltungen im Sinne einer Sippenhaft verantwortlich gemacht werden. Insgesamt bemühe sich das Land geradezu krampfhaft, eine über ein Jahrzehnt zurückliegende strafrechtliche Verurteilung und sogar ein von der Staatsanwaltschaft eingestelltes Ermittlungsverfahren, welches ebenfalls Jahre zurückliege, zur Begründung eines vermeintlichen Versagungsgrundes heranzuziehen. Tatsache sei, dass er weder Mitglied einer terroristischen Vereinigung sei noch eine solche unterstützt habe. Insoweit werde auf seine Erklärung vom 26.08.2008 Bezug genommen. Obwohl es nicht darauf ankomme, werde bestritten, dass die PKK eine terroristische Organisation im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG sei. Die Aufnahme einer Vereinigung in die EU-Terrorliste entbinde weder Behörden noch Gerichte von der eigenständigen Prüfung. Eine Ausweisung könne zudem nur erfolgen, wenn vom Ausländer persönlich eine Gefahr für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgehe. Er habe lediglich sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Information wahrgenommen. Dass er sich einen eigenen Staat wünsche und auch das Recht habe, als Kurde seine Auffassung kundzutun, dürfte auf der Hand liegen. Die Entscheidung verstoße im Übrigen gegen Art. 6 GG.
15 
Das Regierungspräsidium Stuttgart trat der Klage entgegen. Zur Begründung verwies es auf den angefochtenen Bescheid. Entgegen dem Vortrag des Klägers habe dieser nachweisbar im dargelegten Umfang an Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen. Seine Teilnahme an den Veranstaltungen der PKK alias KONGRA-GEL vom 06.04.2003 bis zum 27.11.2009 sei durch offene und gerichtsverwertbare Tatsachen des Landesamts für Verfassungsschutz belegt, die vor Gericht durch einen Zeugen vom Hörensagen nachgewiesen werden könnten. Die PKK/KADEK/KONGRA-GEL sei auch als terroristische Vereinigung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG einzustufen. Dass das „Gebetshaus E... ... - ... e.V.“ in H..., in dessen Vorstand der Kläger in den Jahren 1998 und 2002 gewählt worden sei, der PKK nahestehe, folge aus einem beigefügten Bericht des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006. Die PKK-Nähe des Vereins Kurdx ... V... e.V.“ in H..., in dessen Vorstand der Kläger 1997 gewählt worden sei, ergebe sich aus Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz. Unerheblich sei, dass die Wahl des Klägers in den Vorstand der genannten Vereinigungen bereits 1997, 1998 und 2002 erfolgt sei, da die Annahme einer Unterstützung der PKK durch den Kläger auf einer wertenden Gesamtbetrachtung beruhe und maßgeblich auch auf die bereits zu Beginn seines Aufenthalts in der Bundesrepublik erfolgten Tätigkeiten im Funktionärsstatus abzustellen sei, denen sich in den folgenden Jahren weitere politische Aktivitäten für die PKK angeschlossen hätten, und die sich bis in die Gegenwart fortsetzten. Selbst wenn es nur um die „bloße Teilnahme“ an Veranstaltungen und Demonstrationen gehen würde, könnte auch diese unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorfeldunterstützung des Internationalen Terrorismus darstellen. Die Versammlungen und Demonstrationen, an denen der Kläger teilgenommen habe, hätten entgegen seinem Vorbringen auch keinen „legalen und friedlichen“, sondern einen politisch-militanten Grundcharakter. Die Ausweisung verstoße auch nicht im Hinblick auf die eheliche Lebensgemeinschaft mit der Ehefrau des Klägers und mit den minderjährigen Kindern gegen Art. 6 GG. An dem Übergewicht des öffentlichen Interesses vermöge ein mögliches Abschiebungshindernis aufgrund familiärer Belange nichts zu ändern. Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei nicht ausgeschlossen, dass auch unter Berücksichtigung selbst eines strikten Abschiebungsverbotes - nach § 60 Abs. 1 AufenthG - und bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Duldung eine Ausweisung ermessensfehlerfrei ausgesprochen werden könne. Die Behörde habe dann das Abschiebungsverbot in die Ermessenserwägungen einzustellen. In Anwendung dieser Grundsätze werde ergänzend vorgetragen, dass zwar die Familienschutzvorschriften des Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gewähren und einer Abschiebung entgegenstehen könnten. Selbst wenn von einem solchen Abschiebungshindernis ausgegangen werde, führe dies aber nicht zur Unzulässigkeit der Ausweisung, sondern sei gemäß seiner Bedeutung zu werten und in die Ermessenserwägungen einzustellen. Im Ergebnis könne von einem Überwiegen des staatlichen Sicherheitsinteresses ausgegangen werden, so dass die Ausweisung des Klägers trotz eines - möglichen - Abschiebungshindernisses nicht unverhältnismäßig sei.
16 
Auf einen am 01.07.2010 vom Kläger gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO stellte das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - die aufschiebende Wirkung der Klage - 11 K 2424/10 - gegen die Ziffern 1, 2 und 3 im Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 wieder her. Bezüglich Ziffer 4 des Bescheids wurde der Antrag abgelehnt.
17 
Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 - 11 K 2424/10 - wurden die Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen dargelegt: Alle Vorgänge vor 2002 lägen derart weit in der Vergangenheit, dass sich aus ihnen eine gegenwärtige Gefährlichkeit nicht ablesen lasse. In der Zeit nach 2002 habe der Kläger lediglich an 13 Versammlungen, Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen - was er auch nicht bestritten habe. Im angefochtenen Bescheid seien allerdings keinerlei Ausführungen dazu enthalten, was der Kläger bei den Veranstaltungen konkret gemacht haben solle. Allein seine Anwesenheit könne noch nicht als Unterstützungshandlung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG gewertet werden, von der auf eine gegenwärtige Gefährlichkeit des Klägers geschlossen werden dürfe. Der Kläger erfülle aber auch nicht den Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 6 AufenthG. Zwar dürfte die Beantwortung zahlreicher Fragen zur Nähe zur PKK durch den Kläger anlässlich des mit ihm durchgeführten Sicherheitsgesprächs am 08.08.2007 falsch gewesen sein. Es gebe keine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen. Der Kläger hätte daher vor Beginn des Sicherheitsgesprächs auf diese Freiwilligkeit hingewiesen werden müssen. Da dies nicht geschehen sei, sei das Ergebnis rechtlich nicht verwertbar. Damit erwiesen sich auch die Abschiebungsandrohung und die unter Ziffer 4 des Bescheids angeordneten Überwachungsmaßnahmen als rechtswidrig.
18 
Am 14.03.2011 hat das beklagte Land die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das am 21.02.2011 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegt und diese mit am 19.04.2011 eingegangenem Schriftsatz begründet. Ergänzend wird unter anderem dargelegt: Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass es nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2005 für die Annahme einer Unterstützungshandlung nach § 54 Nr. 5 AufenthG genügen könne, wenn der Betreffende an einschlägigen Versammlungen und Kundgebungen teilnehme. In diesem Zusammenhang sei vorab richtig zu stellen, dass der Kläger ab dem Jahr 2002 nicht lediglich an 13, sondern an 18 bzw. 19 Versammlungen, Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen habe. Die jeweiligen Veranstaltungen seien terrorgeneigt und politisch-militant orientiert gewesen, woraus sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts das objektiv Vorteilhafte der Teilnahme des Klägers an den Veranstaltungen ohne weiteres ergebe. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Aufteilung der Gesamtaktivitäten des Klägers in solche vor und solche nach dem Jahr 2002 unter Außerachtlassung der älteren Aktivitäten sei rechtlich nicht haltbar. Im Übrigen habe der Kläger nach den aktuellen sicherheitsrelevanten Stellungnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.12.2010 und vom 18.04.2011 noch am 28.02.2010 an einer „Volksversammlung“ mit qualitativ hochstehendem Gefährdungspotential teilgenommen. Die Voraussetzungen des § 54 Nr. 5a und Nr. 6 AufenthG seien ebenfalls gegeben. Die Ausweisungsentscheidung sei auch ermessensfehlerfrei erfolgt. Die familiären Bindungen des Klägers seien im Rahmen der Ermessensausübung vollständig berücksichtigt worden. Im Falle des Klägers sei davon auszugehen, dass aus familiären Gründen ein Abschiebungsverbot bestehe, weshalb es bei ihm nicht um eine Beendigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik gehe. Eine Ausweisung sei gleichwohl möglich.
19 
Nachdem das Regierungspräsidium Stuttgart in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 aufgehoben hat, haben die Beteiligten den Rechtstreit insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.
20 
Das beklagte Land beantragt,
21 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 - 11 K 2424/10 - zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit sie sich gegen Ziffern 1 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 richtet.
22 
Der Kläger beantragt,
23 
die Berufung zurückzuweisen.
24 
Zur Begründung wird auf das bisherige Vorbringen Bezug genommen und ergänzend unter anderem vorgetragen: Er habe eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 inne. In der Zeit vom 01.04.2007 bis einschließlich Mai 2009 sei er durchgehend bei demselben Arbeitgeber in L... tätig gewesen. M... K. habe den Betrieb von B... K. übernommen. Nach einmonatiger Arbeitslosigkeit habe er dann zum 01.07.2009 seine Tätigkeit bei einer Gebäudereinigungsfirma angetreten, bei der er heute noch beschäftigt sei. Er lebe weiter mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zusammen, auch mit den volljährigen. Die minderjährigen Kinder befänden sich noch in der allgemeinen Schulausbildung. Die Tochter K... nehme seit dem 22.11.2011 an einem Berufsvorbereitungslehrgang teil. C... habe eine Ausbildungsstelle zur Kauffrau im Einzelhandel und arbeite seit einigen Jahren in Nebentätigkeit bei einem Schnellimbiss.
25 
In weiteren Stellungnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz an das Regierungspräsidium vom 17.12.2010, vom 18.04.2011 und vom 12.09.2011 wird mitgeteilt: Wie bereits am 17.12.2005 und am 30.03.2008 habe der Kläger auch am 28.02.2010 an einer „Volksversammlung“ in den Räumlichkeiten des PKK-nahen Vereins „Kurd... G...“ H... – dem Nachfolgeverein des „Kurd... V...“ – teilgenommen. Volksversammlungen gehörten zum organisatorischen Rahmen der PKK. Dabei bestehe der Teilnehmerkreis zu annähernd 100 % aus PKK-Anhängern. Sie dienten in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Am 20.11.2010 habe sich der Kläger außerdem an einer „Kurdistan Solidaritätsdemonstration“ in H... beteiligt, bei der Transparente/Plakate mit den Aufschriften „Freiheit für Öcalan - Frieden für Kurdistan“ u.ä. skandiert worden seien.
26 
In der mündlichen Verhandlung sind der Kläger und – informatorisch – Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg angehört worden. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung ein Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 02.12.2011 übergeben, in welchem erklärt wird, dass der Kläger bis auf Weiteres eine Duldung aus familiären Gründen erhalte.
27 
Dem Senat liegen die ausländerrechtlichen Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart (5 Hefte) und der Stadt H... (2 Hefte), die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart über Asylverfahren des Klägers (A 3 K 12680/98 und A 17 K 480/07), bezüglich Klagen wegen Niederlassungserlaubnis gegen die Stadt H... (8 K 487/09), wegen Niederlassungserlaubnis u.a. gegen das beklagte Land (11 K 2004/09, mit Beiakte) und wegen Ausweisung u.a. gegen das beklagte Land (11 K 2424/10, 2 Bände) sowie über das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (11 K 2430/10) vor. Der Inhalt dieser Akten ist ebenso wie der Inhalt der Gerichtsakten zum vorliegenden Verfahren (11 S 897/11) Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
28 
Soweit die Beteiligten - nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 in der mündlichen Verhandlung - den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit unwirksam (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entspr.).
29 
Im Übrigen ist die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage gegen die Ausweisung unter Ziffer 1 (dazu unter A) und die Meldeauflage sowie die Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (B) abweisen müssen. Denn diese Verfügungen sind zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20) rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
30 
Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 55 i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG (I.). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG liegen vor (II.), die Ausweisungsentscheidung lässt sich auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden (III.).
I.
31 
Das Regierungspräsidium hat diese rechtsfehlerfrei auf § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt. Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob als Rechtsgrundlage daneben § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5a oder Nr. 6 AufenthG herangezogen werden könnten.
32 
Diese Regelungen sind hier uneingeschränkt anwendbar.
33 
1. Aus der Tatsache, dass der Kläger Vater eines minderjährigen deutschen Kindes – dem am ...2005 geborenen A... A... – ist, folgt nicht, dass er wie ein Unionsbürger oder nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu behandeln wäre.
34 
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C-34/09 - InfAuslR 2011, 179) entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines minderjährigen Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann. Ausschlaggebend war ausweislich der Gründe der Umstand, dass die Kinder, welche Unionsbürger waren, bei einer „Verweigerung von Aufenthalt und Arbeitserlaubnis“ ihrer drittstaatsangehörigen Eltern gezwungen gewesen wären, das Unionsgebiet zu verlassen. Art. 20 AEUV sei daher dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehre, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzstaat und eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, da derartige Entscheidungen diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehren würden. Folge eines entsprechenden Aufenthaltsrechts wäre eine allenfalls eingeschränkte Anwendbarkeit der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG (vgl. dazu Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; allgemein zum Urteil des EuGH vom 08.03.2011: OVG NRW, Beschluss vom 29.04.2011 - 18 B 377/11 -; Hess. VGH, Beschluss vom 27.10.2011 - 6 D 1633/11 - juris). Wie auch inzwischen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 05.05.2011 in der Rechtssache McCarthy (C-434/09 - InfAuslR 2011, 268) und vom 15.11.2011 in der Rechtssache Dereci (C-256/11 - juris) deutlich machen, ist ein Aufenthaltsanspruch des Drittstaatsangehörigen aus der Unionsbürgerschaft seines Kindes – oder auch seines Ehepartners – aber nur abzuleiten, wenn der betreffende Unionsbürger andernfalls zwingend das Unionsgebiet verlassen müsste (weitergehend noch Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - a.a.O., und Beschluss des Senats vom 12.05.2011 - 11 S 765/11 - NVwZ 2011, 1213). Vorliegend kann aber das jüngste deutsche Kind des Klägers zusammen mit dessen Ehefrau, welche im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, in Deutschland bleiben und wäre daher nicht gezwungen, das Unionsgebiet zu verlassen. Ob gegebenenfalls eine Trennung des Klägers von seiner Familie, insbesondere seinem minderjährigen deutschen Kind zulässig ist, ist somit keine unionsrechtliche Fragestellung, sondern nach den allgemeinen Maßstäben (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) zu beantworten.
35 
2. Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Der Kläger verfügt über kein Aufenthaltsrecht gemäß der - hier allein in Betracht kommenden - Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.
36 
Nach dem gestuften Regelungssystem des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 kann im Rahmen der ersten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 1) ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht bei einjähriger Beschäftigung nur zum Zwecke der Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses bei dem gleichen Arbeitgeber erworben werden. Im Rahmen der zweiten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 2) wird nach dreijähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung das Recht erworben, Stellenangebote eines anderen Arbeitgebers im gleichen Beruf zu akzeptieren. Erst im Rahmen der dritten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 3), d.h. nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung, erwirbt der türkische Arbeitnehmer gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht nur das Recht, auf ein bereits existierendes Stellenangebot einzugehen, sondern auch das unbedingte Recht, Arbeit zu suchen und jede beliebige Beschäftigung aufzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.01.1997 - C-171/95 - [Tetik] InfAuslR 1997, 146). Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 berühren Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Entsprechendes gilt auch bei einem „unverschuldeten Arbeitgeberwechsel“ (vgl. Renner, AufenthG, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 124 f.), und zwar selbst dann, wenn keine Unterbrechung der Beschäftigung eingetreten ist. Voraussetzung ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 allerdings, dass die Zeiten der unverschuldeten Arbeitslosigkeit „von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind“, das bedeutet, dass sich der Betreffende arbeitslos gemeldet und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat.
37 
Nach diesen Grundsätzen verfügt der Kläger nicht über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. Seine Arbeitstätigkeit in einer Gebäudereinigung im Jahr 2002 war zu kurz, um zum Erwerb von Ansprüchen nach dem ARB 1/80 zu führen. Selbst wenn man die sozialversicherungsfreien (Neben-)Tätigkeiten in einem Internetcafé in H... vom 13.03.2004 bis zum 31.01.2006 und die Tätigkeit bei einer Vertriebs GmbH vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 insgesamt anerkennen und die damaligen Unterbrechungen durch – ordnungsgemäß festgestellte – Arbeitslosigkeit sowie den Wechsel der Arbeitgeber wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit als unschädlich ansehen würde, wäre der Kläger danach zum 15.06.2006 maximal 2 Jahre 3 Monate und 2 Tage ordnungsgemäß beschäftigt gewesen. Die damit allenfalls erreichte Rechtsposition nach dem ersten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wäre durch die anschließende beschäftigungslose Zeit bis zur Aufnahme einer Arbeit bei einem Abbruchunternehmen in L... unterbrochen gewesen. Denn ausweislich der vorliegenden Auskünfte der Deutschen Rentenversicherung (vgl. den vom Kläger mit Schriftsatz vom 30.06.2011 vorgelegten Versicherungsverlauf vom 06.06.2011) war er in dieser Zeit nicht arbeitslos gemeldet. Letztlich kommt es aber darauf nicht an. Selbst wenn man – trotz des Betriebsinhaberwechsels – die anschließende Beschäftigung bei den Abbruchunternehmen in L... vom 17.07.2006 bis zum 31.01.2007 hinzurechnen würde, wäre der Kläger seit dem 13.03.2004 noch keine drei Jahre beschäftigt gewesen, hätte also nur die Rechtsposition der ersten Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht gehabt. Diese hätte er durch die anschließende Kündigung und die folgende zweimonatige Arbeitslosigkeit aber wieder verloren gehabt. Denn diese Kündigung erfolgte nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung durch ihn. Da seine Kinder sich geweigert hätten, zu ihm nach L... zu ziehen, habe er wieder zu seiner Familie ziehen wollen.
38 
Im Anschluss war der Kläger zwar noch vom 02.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei einer Firma in H... beschäftigt und ist seit dem 01.07.2009 bei einer Gebäudereinigung angestellt. Die Beschäftigungszeiten als Fahrer können aber schon deshalb nicht mehr zum Erreichen eines Rechts nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 führen, weil der Kläger seinen Angaben nach zwar entlassen wurde, sich aber nicht unmittelbar anschließend bei der Arbeitsverwaltung gemeldet hat. Abgesehen davon war er seit dem 13.09.2007 nicht mehr „ordnungsgemäß beschäftigt“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Denn seine letzte Aufenthaltserlaubnis lief am 12.09.2007 aus und galt lediglich aufgrund seines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Grundsätzlich setzt aber eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt voraus (vgl. nur EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], NVwZ 1991, 255). Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige verfahrenssichernde Rechtsstellung hat ein türkischer Arbeitnehmer während des Zeitraums, in dem sein Widerspruch oder seine Klage aufschiebende Wirkung gegen eine die Erteilung oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ablehnende behördliche Entscheidung entfaltet (vgl. EuGH, Urteil vom 16.12.1992 - C-237/91 - [Kus], InfAuslR 1993, 41). Dies gilt auch in Bezug auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG (vgl. Renner, a.a.O., § 4 AufenthG, Rn. 117 m.w.N.). Etwas anderes folgt hier auch nicht daraus, dass über die am 25.05.2009 gegen das Land Baden-Württemberg erhobene Klage des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (11 K 2004/09) noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Zwar können Zeiten der Arbeitstätigkeit, in denen der Betreffende lediglich über ein fiktives Aufenthaltsrecht verfügt hat, später - rückwirkend - doch wieder als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zu berücksichtigen sein, wenn in der Folge eine positive behördliche oder gerichtliche Entscheidung getroffen wird. Denn dann werden die zurückliegenden Beschäftigungszeiten anrechnungsfähig (EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], a.a.O.), und zwar gegebenenfalls selbst dann, wenn während kurzer Zeiträume kein Aufenthaltstitel und auch keine Fiktionswirkung bestand, etwa weil der Betreffende eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erst kurz nach Ablauf der geltenden Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte (EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - [Ergat], InfAuslR 2000, 217). Diese Fragen können hier jedoch dahingestellt bleiben. Denn es ist wegen des vom Kläger verwirklichten Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 5 AufenthG (dazu unten) offensichtlich, dass er keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis oder auf Verlängerung der früher bestehenden Aufenthaltserlaubnis hat (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Abgesehen davon kommt es darauf auch deshalb nicht an, weil die Fiktionswirkung entsprechend § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG jedenfalls mit Bekanntgabe der Ausweisung vom 10.06.2010 – und damit vor Ablauf eines Jahres seit Beginn der Tätigkeit am 01.07.2009 und Erreichen einer Position nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 – erloschen ist. Zwar kommt der vom Kläger gegen die Ausweisung erhobenen Klage aufschiebende Wirkung zu, weil das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - auch insoweit die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt hat. Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lassen jedoch Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit unter anderem der Ausweisung unberührt, solange diese nicht unanfechtbar aufgehoben worden ist.
II.
39 
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG sind erfüllt.
40 
Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, wobei die Ausweisung auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen nur gestützt werden kann, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Vereinigung oder ihre Unterstützung muss danach nicht erwiesen sein, es genügt das Vorliegen von Tatsachen, die die entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen. Dass es sich dabei um eine Vereinigung handelt, die den Terrorismus unterstützt, muss hingegen feststehen (Bay.VGH, Urteil vom 22.02.2010 - 19 B 09.929 - juris, bestätigt mit Urteil des BVerwG vom 25.10.2011 - 1 C 13.10 -).
41 
1. Zunächst sind das Verwaltungsgericht und das Regierungspräsidium Stuttgart zu Recht davon ausgegangen, dass die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und ihre Nachfolgeorganisationen KADEK (Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans), KONGRA-GEL (Volkskongress Kurdistans), KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) oder KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) - im Folgenden PKK - dem Terrorismus zuzurechnen und damit jedenfalls als eine den Terrorismus im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützende Vereinigung anzusehen sind (vgl. hierzu Urteile des Senats vom 29.09.2010 - 11 S 597/10 - VBlBW 2011, 478, und vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris sowie Beschlüsse des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vom 16.12.2010 - 11 S 2374/10 - und vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - InfAuslRAuslR 2011, 105). Eine Vereinigung unterstützt den Terrorismus, wenn sie selbst ihre Ziele auch mit terroristischen Mitteln – wie dem Einsatz gemeingefährlicher Waffen und mit Angriffen auf das Leben Unbeteiligter zur Durchsetzung politischer Ziele – verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - juris, m.w.N.; vgl. im Einzelnen zum Begriff des Terrorismus GK-AufenthG, Stand: Sept. 2011, § 54 Rn. 436 ff.). Das ist bei der PKK in dem hier maßgeblichen Zeitraum von 1997 bis heute der Fall. Insbesondere verzichtete die PKK auch während der Phase des 1999 ausgerufenen und 2004 wieder beendeten „Friedenskurses“ nicht auf Gewalt. Das seit vielen Jahren weitgehend friedliche Auftreten der PKK in Europa ist Teil einer „Doppelstrategie“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 53; OVG Bremen, Beschluss vom 26.10.2010 - 1 A 111/09 - InfAuslR 2011, 37) und ändert nichts an deren grundsätzlich bestehender Gewaltbereitschaft und der Anwendung von terroristischen Mitteln, etwa bei Anschlägen in der Türkei (so etwa am 22.06.2010 in Istanbul, vgl. ZEIT-ONLINE vom 23.06.2010: www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/kurden-tuerkei-politik; WELT ONLINE vom 22.06.2010 www.welt.de/politik/ausland/ article8142791/Tuerkei-Touristen-im-Fadenkreuz-kurdischen-Terrors.html; am 27. und 28.08 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, vgl. SPIEGEL ONLINE vom 28.08.2006 www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,434039,00.html) oder der Entführung Unbeteiligter (vgl. zur Entführung von drei deutschen Staatsangehörigen am Berg Ararat am 08.07.2008 SPIEGEL ONLINE vom 09.07.2011: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,564783,00.html). Insoweit wird ergänzend auf die ausführliche und zutreffende Darstellung im angefochtenen Bescheid des Regierungspräsidiums vom 10.06.2010 verwiesen (vgl. auch Landesamt für Verfassungsschutz Bad.-Württ., „Ausländerextremismus“, August 2007, S. 9 ff., sowie Bundesamt für Verfassungsschutz, „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL)“, März 2007). Abgesehen davon ist die PKK seit Mai 2002 auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt (vgl. Ziff. 2.9 des Anhangs zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 02.05.2002 betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GSAP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus - 2002/340/GSAP – ABl. L 116, S. 75). Entgegen der Auffassung des Klägers erlaubt eine solche Aufnahme die Feststellung, dass die Vereinigung terroristischer Art ist (EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - InfAuslR 2011, 40; vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 07.12.2010 - 1 B 24.10 - juris; noch offengelassen im Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - juris).
42 
2. Ob der Kläger der PKK „angehört“ im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, kann hier offen bleiben. Denn aus den vorliegenden Tatsachen ist jedenfalls die Folgerung gerechtfertigt, dass er diese seit vielen Jahren in mehrfacher Weise unterstützt hat und weiter unterstützt.
43 
Als tatbestandserhebliches Unterstützen ist jede Tätigkeit des Ausländers anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, auswirkt. Dazu zählt zum Beispiel auch jedes Tätigwerden eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial stärkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings kann nicht jede Handlung, die sich zufällig als für die betreffende Vereinigung bzw. den Terrorismus objektiv vorteilhaft erweist, als tatbestandsmäßiges Unterstützen verstanden werden. Vielmehr muss die eine Unterstützung der Vereinigung bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auch fehlt es an einem Unterstützen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet - und sich hiervon gegebenenfalls deutlich distanziert - und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach außen vertritt. Dienen solche Veranstaltungen allerdings erkennbar dazu, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch die Vereinigung vertritt, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme jedenfalls auch diese Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen (beispielsweise wegen des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt) zu fördern, dann liegt ein im Hinblick auf den Normzweck potenziell gefährliches Unterstützen im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG vor, der die Freiheit der Meinungsäußerung insoweit verhältnismäßig beschränkt. Eine Unterstützung kann ferner dann in Betracht kommen, wenn durch zahlreiche Beteiligungen an Demonstrationen und Veranstaltungen im Umfeld einer Vereinigung - wie der verbotenen PKK - bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststeht, dass der Ausländer auch als Nichtmitglied in einer inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst steht, die er durch sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringt, und damit deren Stellung in der Gesellschaft (vor allem unter Landsleuten) begünstigend beeinflusst, ihre Aktionsmöglichkeiten und eventuell auch ihr Rekrutierungsfeld erweitert und dadurch insgesamt zu einer Stärkung ihres latenten Gefahrenpotenzials beiträgt. Dabei muss allerdings die terroristische oder den Terrorismus unterstützende Tätigkeit der Vereinigung im In- oder Ausland zum jeweiligen Zeitpunkt feststehen und das Verhalten des Einzelnen auch unter Berücksichtigung etwaiger glaubhafter Distanzierungen von der Unterstützung des Terrorismus (oder das Fehlen jeglicher Distanzierung) gewürdigt werden. Eine darüber hinausgehende konkrete oder persönliche Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit ist dagegen nicht erforderlich. Ebenso wenig ist ein "aktives Tätigwerden" erforderlich (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -BVerwGE 123, 114 - zur früheren Regelung des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG; vgl. auch Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O., m.w.N.; Beschluss des Senats vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O.; Urteile des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - juris und vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.).
44 
Nach diesen Grundsätzen liegen hier eine Vielzahl von Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger die PKK und damit den Terrorismus unterstützt im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, so die Mitgliedschaft und die Übernahme von Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen (a) und die über Jahre hinweg fortgesetzte Teilnahme an den unterschiedlichsten PKK-nahen Aktionen und Veranstaltungen (b). Dabei sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch die länger zurückliegenden Tatsachen noch zu berücksichtigen (c).
45 
a) Zunächst steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die kurdischen Vereine in H..., in denen der Kläger Vorstandsmitglied war, den Terrorismus unterstützen. Dabei zu berücksichtigen, dass - wie dargelegt - bereits jede Tätigkeit als tatbestandliches Unterstützen anzusehen ist, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der betreffenden Vereinigung, hier der PKK, auswirkt.
46 
aa) Der Verein „Kurd... V...“ e.V. wurde in den 1990-er Jahren gegründet und im Jahr 2000 wieder aufgelöst. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich deutlich gemacht, dass er in dem im Anschluss gegründeten „Kurd... K...“ und in dem derzeit bestehenden Verein „Kurd... G...“ Nachfolgevereine des Vereins Kurdx ... V...“ sieht. Es handle sich um „den Verein“, in welchem er bis heute Mitglied sei und mit seinen Familienangehörigen jedes Wochenende verbringe. Er hat damit die entsprechende Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, die in der mündlichen Verhandlung von dem angehörten Mitarbeiter I.V. weiter erläutert worden ist, bestätigt. Der Kläger ist in einer Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 in den Vorstand des Vereins „K... V...“ gewählt worden und war als solcher für die Bücherei des Vereins zuständig. Darauf hat er sich auch in seinem Asylverfahren berufen und geltend gemacht, dass ihm deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgung drohe (Schriftsatz vom 01.07.1997 zum Verfahren A 3 K 12680/98).
47 
Für eine PKK-Nähe des Vereins spricht schon der Umstand, dass dieser Mitglied bei der YEK-KOM, der „Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V.“ war. Dies lässt sich dem vom Kläger im Asylverfahren vorgelegten Protokoll über die Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 entnehmen, in welcher die Vereinsmitglieder – nach Darstellung der Arbeit und der Bedeutung der YEK-KOM – für eine Mitgliedschaft des Vereins in dieser Dachorganisation gestimmt haben. Die YEK-KOM, deren Sitz in Düsseldorf ist und der deutschlandweit etwa 60 kurdische Vereine angeschlossen sind, unterstützt die PKK durch eine Vielzahl von Aktionen. Dies wird in der überzeugenden „Einschätzung“ des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.06.2010“ im Einzelnen ausführlich dargelegt. Die YEK-KOM sei ihrerseits Mitglied der „Konföderation der Kurdischen Vereine in Europa“ (KON-KURD). Sie betreibe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, darunter immer wieder Aktionen und Aufrufe mit dem Ziel der Aufhebung des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei in Deutschland. Auch mobilisiere sie jedes Jahr aus Anlass der Newroz-Feier die kurdische Bevölkerung in Europa zu zentralen Kundgebungen. Dabei würden Grußworte von Öcalan oder von anderen PKK-Führungsmitgliedern vorgelesen bzw. ausgestrahlt. Im Zentrum stünden dann die aktuellen politischen Interessen der PKK. Auf der Agenda der vergangenen Jahre hätten Themen gestanden wie „Freiheit für Öcalan“ und „Frieden für Kurdistan“. In einer zusammenfassenden Bewertung heißt es, im Arbeitsprogramm der YEK-KOM sei die „logistische Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes Kurdistans“ verankert. Die von der YEK-KOM sowohl in ihren Publikationen als auch bei ihren Veranstaltungen und Aktionen aufgegriffenen Themen lägen im Interessenbereich der PKK. Zu nennen seien insbesondere die Aufhebung des PKK-Verbots und die Freilassung Abdullah Öcalans. Der Verein biete der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen eine Plattform, indem er ihre Erklärungen und Äußerungen von Funktionären unkommentiert, d.h. auch unkritisch veröffentliche. Auf Maßnahmen der Sicherheitsbehörden oder der Justiz gegen Personen und Einrichtungen mit dem Verdacht eines PKK-Bezugs reagiere die YEK-KOM stets mit einer verurteilenden Erklärung. Hochrangige YEK-KOM-Funktionäre beteiligten sich an PKK-Aktionen und träten auf PKK-Veranstaltungen als Redner auf. Zusammenfassend lasse sich daher sagen, dass eine eindeutige Nähe des Vereins YEK-KOM zur PKK bzw. zu ihren Nachfolgeorganisationen KADEK und KONGRA-GEL vorliege.
48 
Hinzu kommen die Veranstaltungen, die vom Verein „Kurd... V...“ durchgeführt wurden, so zum Beispiel aus der Zeit, in der der Kläger Vorstandsmitglied war, eine Demonstration zum Newroz-Fest am 20.03.1998. In einem Bericht der Stadt H... vom 29.04.1998 über diese Demonstration wird dargelegt, dass Fahnen mit Symbolen der PKK gezeigt worden seien. Nach Einschätzung der Polizei und der Stadt H... habe nicht das Thema „Newroz-Fest“ im Vordergrund gestanden, sondern das Thema „Politische Lösung der kurdischen Frage und Aufhebung des Verbots der PKK“. Wie sich außerdem einem Bescheid der Stadt H... vom 14.05.1998 über das Verbot einer für den 17.05.1998 im Schlachthof in H... geplanten Veranstaltung entnehmen lässt, wurde zu dieser angeblichen „Folkloreveranstaltung“ mit Flugblättern der ENRK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans, eine Organisation der PKK) eingeladen. In den Räumen des Vereins wurde dafür mit einem Aushang mit dem Text „Sieg im Frieden, Freiheit im Leben, Volksversammlung wird stattfinden. Ort = Schlachthof“ geworben. Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz hat zudem in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren überzeugend dargelegt, dass „der Verein“ in H... – derzeit die „Kurd... G...“ – seit Jahren durch regelmäßige PKK-Veranstaltungen auffalle. Er rufe immer wieder zu Veranstaltungen und zu Kundgebungen auf, die inhaltlich die PKK, Abdullah Öcalan als PKK-Führer u.ä zum Thema hätten. Insofern trete der Verein immer wieder aktiv auf und führe diese Kundgebungen durch. Bei den Veranstaltungen würden PKK-Slogans skandiert, es werde die Freilassung Öcalans und die Aufhebung des PKK-Verbots gefordert und die Türkei werde als terroristischer Staat bezeichnet. Das alles seien für das Landesamt für Verfassungsschutz Indizien, um die entsprechende Veranstaltung – anders als normale kulturelle Veranstaltungen von Kurden – als „PKK-nah“ anzusehen. Schließlich existierten auch zahlreiche andere kurdische Vereine, die vom Verfassungsschutz nicht als „PKK-nah“ eingestuft würden, etwa solche, die dem Dachverband der KOMKAR (Verband der Vereine aus Kurdistan) angehörten. Es gebe also eine Alternative. Der Verein in H... wie auch andere PKK-nahe Vereine fielen dadurch auf, dass sie sich stets und immer wieder PKK-spezifischen Themen annähmen. Das ziehe sich seit den 1980er-Jahren wie ein „roter Faden“ durch die Betätigung des Vereins.
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bb) Dass sich auch der Verein „Gebetshaus E... ... - I... ... e.V., H...“ – in dessen Vorstand der Kläger erstmals im Dezember 1998 (als stellvertretendes Vorstandsmitglied) und erneut im Mai 2002 (als 2. Vorsitzender des Vorstands) gewählt worden war – der PKK verbunden gefühlt hat, folgt bereits aus dem Formular zur Anmeldung des Vereins am 29.04.1998 bei der Stadt H... Darin wird ausgeführt, „Wir glauben, dass die kurdische Sache unter Führung der PKK gelöst wird“ und „Abgrenzung zum Kurd... V... e.V. durch Schwerpunkt Religion“. Auch wird als Zweck des Vereins angegeben „Versammlung von allen Kurden, auch revolutionäre Kurden, unter einem Dach“. Außerdem verdeutlicht die vorliegende Stellungnahme des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006, „Religiöse Vereinigungen innerhalb der PKK“ die Anbindung auch dieses Vereins an die PKK. Danach sei im Zuge des 4. Parteikongresses der PKK im Dezember 1990 die Gründung der Union der patriotischen Gläubigen aus Kurdistan (kurz: YOWK, ab 1991 YDK), einem Dachverband von Muslimen, beschlossen worden. 1993 sei die Umbenennung in „Islamischer Bund Kurdistans - HIK“ bzw. „Islamische Bewegung Kurdistans - KIH“ erfolgt. Die regionale Aufteilung sei in drei Funktionsbereiche, darunter eine Föderation in Süddeutschland mit Sitz in Heilbronn, erfolgt. Im Mai 2005 sei eine erneute Umbenennung, diesmal in „Islamische Gesellschaft Kurdistans - CIK“ beschlossen worden. Nach Auffassung des Bundesamts für Verfassungsschutz sei die CIK/HIK eine Massenorganisation der PKK, über die muslimische Kurden an die PKK gebunden werden sollen. In der Herbstausgabe der Baweri, dem seit 1995 erscheinenden Publikationsorgan der CIK/HIK, werde diese als eine religiös-politische Kampfesbewegung bezeichnet, die den nationalen Befreiungskampf Kurdistans unterstütze. In diesem Rahmen rufe sie regelmäßig zu Spenden oder Kampagnen auf, wie beispielsweise zur Sammlung von Spenden für kurdische Bedürftige und Waisen oder der Opferkampagne. Zu den der CIK/HIK angehörenden Moschen gehöre u.a. die „Mizgevta E... ...“ in H... ... Die Anbindung der CIK/HIK an die PKK und deren Abhängigkeit von der Organisation werde auch durch verschiedene Asservate belegt. In einem Fazit heißt es, die PKK unterhalte eine Vielzahl von Organisationen, mit deren Hilfe sie ihren Einfluss auf alle Lebensbereiche auszudehnen versuche. In ihrem Bestreben, auch die religiösen Gruppierungen der Kurden in ihren Strukturen einzubinden, habe sie die Gruppe der Muslime durch die CIK/HIK an ihre Organisation angebunden. Die Verlautbarungen führender Parteikader sowie die Organisationsbeschlüsse belegten die strukturelle Anbindung an die CDK (Nachfolgeorganisation der YDK) und damit an eine in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte Organisation.
50 
Ist danach davon auszugehen, dass beide ausländerrechtlichen Vereine, in deren Vorstand der Kläger gewählt war, die PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen unterstützt haben, so ist dem Kläger diese Unterstützung bereits aufgrund seiner Stellung als Vorstandsmitglied zuzurechnen, ohne dass der Frage seiner tatsächlichen inneren Einstellung weiter nachgegangen werden müsste (vgl. zu § 11 StAG: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.06.2008 - 13 S 2613/03 - VBlBW 2009, 29, m.w.N). Davon abgesehen greift § 54 Nr. 5 AufenthG auch in Fällen, in denen der Betreffende einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, hier dem Verein „Kurdx... V...“ und der „E... ...“, d.h. es kommt auch deshalb nicht darauf an, ob und in welchem Umfang er persönlich Unterstützung geleistet hat.
51 
b) Hinzu kommt, dass schon allein wegen der Teilnahme des Klägers an diversen PKK-nahen Veranstaltungen davon auszugehen ist, dass er die PKK unterstützt hat und bis heute unterstützt. Denn er war bei einer Reihe von Veranstaltungen, die geeignet sind, den ideologischen und emotionalen Zusammenhalt der PKK, ihrer Nachfolgeorganisationen und Organisationen im politischen Umfeld zu stärken. Diese Teilnahmen sind daher bereits für sich genommen ohne Weiteres als selbstständige Unterstützungshandlungen zu qualifizieren, die zum Vorliegen des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG führen. Umso mehr gilt dies bei einer Gesamtschau aller festgestellten Aktivitäten des Klägers einschließlich der Vorstandstätigkeiten in den Vereinen.
52 
Zu den Veranstaltungen, deren Besuch als Unterstützung der PKK anzusehen ist, gehören insbesondere die Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK. Nach den Mitteilungen des Landesamts für Verfassungsschutz hat der Kläger in den Jahren 2005, 2007, 2008 und 2009, jeweils in I... bei H..., den 27., 29., 30. und den 31. Gründungsjahrestag der PKK mitgefeiert. Dies wurde von ihm in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt. Nach den Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz seien bei diesen Feiern Fahnen der KONGRA-GEL bzw. der KCK oder der KKK und Bilder Öcalans aufgehängt gewesen bzw. entrollt worden (27.11.2005, 23.11.2008 und 27.11.2009), Filme über das Leben des Öcalan (27.11.2005 und 23.11.2008) oder die Guerilla (27.11.2009) vorgeführt und jeweils Reden über die PKK gehalten worden – zum Beispiel mit einem Überblick über die Entwicklung der PKK seit deren Gründung (23.11.2008). Regelmäßig werde die Bedeutung der PKK für die Kurden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervorgehoben. Zudem werde regelmäßig die PKK-Guerilla positiv herausgestellt, wenn nicht gar glorifiziert, indem zum Beispiel - wie im Jahr 2009 - ein Film über diese gezeigt werde (vgl. Bericht des LfV vom 17.12.2010). Solche Veranstaltungen haben in spezifischer Weise Propagandacharakter und dienen erkennbar der Förderung und Stärkung der PKK. Mit dem Besuch zeigt der Teilnehmer seine Anhängerschaft und fördert den Zusammenhalt der Organisation und ihrer Anhänger (vgl. Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -). Typisch für PKK-nahe Veranstaltungen ist auch der Personenkult um den in der Türkei inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan. Seiner Person kommt nach wie vor ein Symbolgehalt auch für den bewaffneten Kampf der PKK gegen den Staat zu (BVerwG, Beschluss vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - a.a.O.). Es ist daher auch bezeichnend, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen zu dem vom Landesamt für Verfassungsschutz geschilderten Ablauf der Veranstaltung zum 31. Gründungsjahrestag der PKK am 27.11.2009 und nach dem Hinweis darauf, dass dort auch ein Film über den Guerilla-Kampf und Öcalan vorgeführt worden sei, entgegnete: Man brauche ihm nicht zu sagen, dass in diesem Saal ein Bild von Öcalan angebracht gewesen sei; Öcalan sei in seinem Herzen.
53 
Ebenso als Unterstützung der PKK zu werten ist der Besuch einer Veranstaltung am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestages der Gründung des militärischen Arms der PKK, bei welchem in einer Rede Öcalan und die PKK gewürdigt worden seien.
54 
Besonders ins Gewicht fallen auch die vom Kläger nicht in Abrede gestellten Besuche bei so genannten Volksversammlungen in den Räumlichkeiten des „Kurd... K...“ bzw. der „Kurd... G... H...“ am 17.12.2005, 30.03.2008 und am 28.02.2010. Den vorliegenden Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz (vgl. vor allem Bericht vom 17.12.2010) lässt sich entnehmen, dass es – anders als bei Vereinsversammlungen, die sich schwerpunktmäßig mit Vereinsthemen beschäftigten – bei Volksversammlungen thematisch im Wesentlichen um den mit einem Betätigungsverbot belegten und deshalb streng konspirativ arbeitenden Teil der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen gehe. Demgemäß dienten Volksversammlungen in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Meist halte ein hochrangiger PKK-Funktionär eine „emotionalisierende“ Rede, die durchaus ein bis zwei Stunden dauern könne. Dabei würden die Zuhörer über alle Aspekte, die die PKK beträfen, ausführlich informiert, insbesondere über Verlautbarungen, Haftbedingungen und Gesundheitszustand des PKK-Führers Öcalan, Anweisungen der Organisation, Lageentwicklung in der Türkei, in Deutschland und in Europa und aktuelle Kampagnen. Sie würden außerdem unter Hinweis auf die angebliche patriotische Verpflichtung zur Teilnahme an entsprechenden Aktionen aufgerufen. Häufig legten in Volksversammlungen Frontarbeiter und Aktivisten Rechenschaft gegenüber höherrangigen Funktionären ab und übten dabei gegebenenfalls – bei Schlechterfüllung ihrer Pflichten – entsprechende Selbstkritik. Bei der Versammlung am 28.02.2010 sei nach einer Gedenkminute für die verstorbenen „PKK-Märtyrer“ die aktuelle Lage in der Türkei thematisiert und ein Bericht des Volksgebietsrats verlesen worden. Anschließend hätten die Vertreter verschiedener Kommissionen (Justiz, Außenkontakte u.ä.) des Volksgebietsrats über ihre Arbeit berichtet. Danach seien der Leiter des Volksgebietsrats und die Vertreter dieser Kommissionen neu gewählt worden. Eine Ausnahme gelte für zwei Kommissionen: Die „Vereinskommission“ bestehe „automatisch“ aus dem Vorstand der „Kurd... G...“. Die „Organisationskommission“ verfüge über 25 „Frontarbeiter“; diese Aktivisten hätten gute Arbeit geleistet.
55 
Hinzu kommt die Teilnahme des Klägers an Treffen, bei denen der gefallenen und verstorbenen PKK-Kämpfer oder -Aktivisten gedacht wird (18.05.2008 und ...2008). Wie dem Senat aus einer Reihe anderer Verfahren bekannt ist, sind gerade auch solche Märtyrergedenkveranstaltungen ein wesentliches Element zur Herstellung eines engeren ideologischen und emotionalen Zusammenhalts der PKK-Mitglieder und PKK-Sympathisanten und führen damit zur Verbreiterung und Stärkung der Basis der PKK (Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vgl. zum Märtyrerkult bei der PKK auch BVerwG, Beschluss vom 24.02.1010 - 6 A 7.08 - a.a.O.).
56 
Bezeichnend ist der Besuch von Versammlungen anlässlich des Geburtstages von Öcalan (06.04.2003, 03.04.2005). Auch hat der Kläger ausweislich der Feststellungen des Landesamts für Verfassungsschutz an mehreren Demonstrationen zu verschiedenen Anlässen (05.02.2005, 28.01.2006, 16.02.2007, 27.10.2007, 25.10.2008, 20.11.2010) teilgenommen, bei denen jeweils Rufe wie „ Es lebe Öcalan“, „Hoch leben Apo“ oder „PKK“ skandiert und „Freiheit für Öcalan“ gefordert wurde. Bei einer „Kurdistan-Solidaritätsdemonstration“ in H... am 20.11.2010 seien auch Parolen wie „Die PKK ist das Volk, das Volk ist hier“ gerufen und Plakate bzw. Transparente mit der Aufschrift „Freiheit für Öcalan – Frieden für Kurdistan“ mitgeführt worden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt, an dieser Veranstaltung vom 20.11.2010 teilgenommen zu haben, und darüber hinaus erklärt, er nehme an (allen) „offiziell genehmigten Demonstrationen“ teil. Es sei um die Freiheit der Kurden gegangen.
57 
Tatsächlich ist bei der Teilnahme an Demonstrationen besonders zu beachten, dass nicht unverhältnismäßig in das Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.; Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.). Zum einen können aber auch Aktivitäten, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, das Tatbestandsmerkmal des Unterstützens im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllen (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.). Zum anderen ging es bei diesen Demonstrationen nicht nur um Themen, die nicht ausschließlich von der PKK besetzt sind – wie die Forderung eines unabhängigen Kurdistans, die Kritik am Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdisches Zivilbevölkerung, die Anmahnung der Einhaltung von Menschenrechten, oder auch die Kritik an Haftbedingung politischer Gefangener einschließlich Öcalans – sondern um die Bekundung der Anhängerschaft zu Öcalan und der PKK durch entsprechende Parolen und Transparente. Damit bestand eine klare politisch-ideologische Verbindung zur PKK und ihren Zielen bzw. ihren Mitteln zur Durchsetzung dieser Ziele, zu denen auch der Terror zählte und zählt. Dies war und ist auch für den Kläger erkennbar. Er hat dazu in der mündlichen Verhandlung erklärt, es sei ihm egal, welche Parolen gerufen und welche Transparente getragen würden; er selbst habe weder Parolen gerufen noch Plakate getragen. Wie ausgeführt, kommt es darauf jedoch nicht an. Auch überzeugt die Erklärung des Klägers nicht, er habe die Plakate bzw. Transparente nicht lesen können, weil er dann von vorne gegen die Demonstration hätte laufen müssen. Jedenfalls konnte ihm die Solidarisierung mit der PKK schon vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen und den offensichtlich eindeutigen Parolen nicht entgehen, so dass ihm diese zuzurechnen ist.
58 
Vor dem Hintergrund des Charakters und der Vielzahl der vom Kläger besuchten anderen Veranstaltungen, wie den Volksversammlungen, den Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK und dem Geburtstag von Öcalan sowie den Märtyrergedenkfeiern, ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil, es wären zusätzliche Erkenntnisse darüber erforderlich, was der Kläger bei den Veranstaltungen getan habe, unzutreffend. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts waren bereits zum Zeitpunkt von dessen Entscheidung mehr als 13 Beteiligungen des Klägers an Veranstaltungen bekannt. Inzwischen sind es 20, die vom Landesamt für Verfassungsschutz benannt worden sind. Wie ausgeführt, kommt es zudem auf Anlass und Charakter der betreffenden Veranstaltungen an. In Anbetracht des konkreten Falles ist jedenfalls der Hinweis des Verwaltungsgerichts unverständlich, man könne einer Versammlung oder Veranstaltung auch „kopfschüttelnd“ zu Informationszwecken beiwohnen, ohne eine „unterstützende Haltung“ durch Applaus, Rufen von Parolen, Tragen von Schildern oder Transparenten einzunehmen. Dabei wird verkannt, dass bereits die regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen wie den angeführten, welche erkennbar auch dazu dienen, die PKK einschließlich ihrer terroristischen Aktionen zu fördern, eine Unterstützung der PKK darstellt. Die durch die – auch rein passive – Teilnahme ausgedrückte innere Nähe und Verbundenheit zur PKK kann deren Stellung in der Gesellschaft, hier insbesondere unter den in Deutschland lebenden Kurden, günstig beeinflussen, ihre Aktionsmöglichkeiten und ihr Rekrutierungsfeld erweitern und dadurch insgesamt dazu beitragen, das latente Gefährdungspotential der Vereinigung zu erhöhen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.).
59 
Soweit der Kläger vorträgt, die Vereine, bei denen er Mitglied gewesen und auch heute noch Mitglied sei und in deren Vorstand er gewesen sei, seien nicht verboten gewesen, er sei doch kein Terrorist und er habe auch nur an erlaubten Veranstaltungen teilgenommen, verkennt er, dass § 54 Nr. 5 AufenthG der effektiven Bekämpfung der Vorfeldunterstützung des internationalen Terrorismus durch Herabsetzen der Eingriffsschwelle dient. Sinn und Zweck ist die präventive Gefahrenabwehr. Für die Verwirklichung des Tatbestands kommt es danach weder darauf an, dass die in Frage stehende Vereinigung verboten ist noch darauf, dass die konkrete Unterstützungshandlung strafbar wäre (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.).
60 
In Anbetracht der bereits zur Überzeugung des Senats festgestellten Umstände kommt weiteren länger zurückliegenden Tatsachen wie etwa der Ingewahrsamnahme des Klägers anlässlich der Besetzung des griechischen Generalkonsulats nach der Festnahme von Öcalan am 16.02.1999 und der Unterzeichnung der PKK-Selbsterklärung im Jahr 2001 nur noch eine das Gesamtbild abrundende Bedeutung zu.
61 
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Übrigen keinen Zweifel an seiner Verehrung von Abdullah Öcalan und seiner Anhängerschaft zur PKK gelassen. Er hat deutlich gemacht, dass er auf Veranstaltungen wie die angeführten, auch solche zur Feier des Gründungsjahrestages der PKK, weiter gehen werde, solange diese nicht verboten seien. Seiner Meinung nach trete die PKK – wie auch er selbst – für die Freiheit der Kurden ein und sei nicht terroristisch. Wenn man die PKK als terroristisch ansähe, wäre er auch ein Terrorist. Soweit der Kläger mehrmals darauf hingewiesen hat, dass er aber kein „Vertreter“ der PKK sei, verkennt er, dass es darauf nicht ankommt.
62 
c) Die hiernach maßgeblichen Umstände – die Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeiten in den Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ...“ und die beschriebenen Teilnahmen an PKK-nahen Veranstaltungen – sind auch noch zu berücksichtigen, soweit sie bereits länger zurückliegen.
63 
Das Verwertungsverbot für getilgte Strafen nach § 51 Abs. 1 BZRG kann schon deshalb nicht greifen, weil der Kläger wegen der angeführten Umstände bzw. Aktivitäten nicht strafrechtlich verurteilt worden ist. Ob seine Teilnahme an einer Demonstration der PKK in Dortmund am 16.03.1996 noch berücksichtigt werden könnte, obwohl die deswegen gegen den Kläger mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot verhängte Geldstrafe bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt ist, kann hier offen bleiben. Denn auf diese Tat kommt es in Anbetracht der Vielzahl von sonstigen maßgeblichen Tatsachen – wie die Teilnahme an den angeführten Veranstaltungen 2002 bis 2010 und die Vorstandstätigkeit sowie die Mitgliedschaft in den kurdischen Vereinen in H... – hier nicht an. Jedenfalls ist weder bei Unterstützungshandlungen, die strafbar gewesen wären, aber nicht zu einer Verurteilung geführt haben, noch bei den nicht mit einer Strafe bewehrten Aktivitäten eine „fiktive Tilgung“ mit der Folge eines Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1 BZRG vorzunehmen (ausführlich dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 18.06.2010 - 3 Bs 2/10 - InfAuslR 2011, 193, m.w.N.; zu den Einbürgerungsvoraussetzungen des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.12.2010 - 19 A 1491/05 - AuAS 2011, 89; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.10.2011 - 5 N 30.08 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.05.2009 - 13 S 2428/08 -, juris – auch zum Fall einer möglichen Atypik im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
64 
Die länger zurückliegenden Tätigkeiten des Klägers sowie insbesondere seine Stellung als Vorstand in den Vereinen sind auch nicht aus anderen Gründen nicht mehr „verwertbar“. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte für einen „Verbrauch“, etwa weil die Ausländerbehörde dem Kläger in Kenntnis der Ausweisungsgründe einen Aufenthaltstitel erteilt hätte (vgl. dazu GK-AufenthG, a.a.O., § 5 AufenthG Rn. 106 ff., m.w.N.). Soweit im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.02.2011 die Aktivitäten des Klägers und seine Tätigkeiten in den Vereinsvorständen in solche bis zum Jahr 2002 und solche danach aufgeteilt und nur die neueren berücksichtigt worden sind, ist diese Aufteilung nicht nachvollziehbar. Da der Kläger noch im Mai Jahr 2002 als 2. Vorsitzender in den Vorstand des Vereins „E... ...“ gewählt wurde und diese Funktion danach mindestens ein Jahr lang - so seinen eigenen Angaben nach -, ausweislich des Vereinsregisters sogar bis zur Löschung des Vereins im Jahr 2007 innehatte, hätte diese Vorstandsmitgliedschaft ohnehin mit einbezogen werden müssen. Jedenfalls fehlt es schon in Anbetracht der bis heute andauernden Aktivitäten des Klägers in und für PKK-nahe Vereine in H... bzw. für die PKK und seiner fortdauernden Mitgliedschaft in den Nachfolgevereinen des Vereins „Kurd... V...“ an einer Zäsur, die zur Folge haben könnte, dass frühere Unterstützungshandlungen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
65 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die hier maßgebliche Bestimmung des § 54 Nr. 5 AufenthG (anders als die des § 54 Nr. 5a AufenthG) grundsätzlich weder vom Wortlaut noch nach deren Sinn und Zweck, aber auch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine vom Betroffenen ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefährdung voraussetzt. Eine “gegenwärtige Gefährlichkeit“ muss nur dann festgestellt werden, wenn eine vergangene Mitgliedschaft des Ausländers oder zurückliegende Unterstützungshandlungen (außerhalb einer Mitgliedschaft) zu beurteilen sind (ausführlich dazu Urteile des Senats vom 25.05.2011- 11 S 308/11 - und vom 21.04.2010 - 11 S 200/11 - jew. a.a.O.). Wegen der fortdauernden Unterstützungshandlungen des Klägers und seiner ständigen Präsenz bei lokalen PKK-Veranstaltungen liegt eine solche im Übrigen hier eindeutig vor.
III.
66 
Die Entscheidung, den Kläger wegen des Vorliegens des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG auszuweisen, lässt sich rechtlich nicht beanstanden.
67 
1. Das Regierungspräsidiums ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass es nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 55 AufenthG über die Ausweisung zu entscheiden hat.
68 
a) Offen bleiben kann, ob schon deshalb Ermessen auszuüben ist, weil eine Ausnahme von der Regel des § 54 AufenthG gegeben ist. Allerdings geht das Regierungspräsidium zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat selbst davon aus, dass der Kläger jedenfalls derzeit „aus familiären Gründen“ (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK), und zwar vor allem im Hinblick auf sein jüngstes, noch minderjähriges Kind A..., welches die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nicht abgeschoben werden kann. Mit Schreiben vom 02.12.2011 hat das dafür zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe erklärt, dass dem Kläger daher eine Duldung erteilt werde. Das Vorliegen eines Duldungsgrundes oder eines Abschiebungsverbots führt zwar nicht zur Unzulässigkeit einer Ausweisung, kann aber atypische Umstände in Bezug auf den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG begründen (so zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG: Beschluss des Senats vom 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19; Urteil des Senats vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - a.a.O., m.w.N.¸ vgl. zur Atypik auch GK-AufenthG, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 50 ff., 124 ff.) mit der Folge, dass der Betreffende nur nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Ob deshalb oder aus anderen Gründen von einer Atypik auszugehen ist, bedarf hier aber keiner anschließenden Klärung.
69 
b) Denn die Entscheidung über die Ausweisung des Klägers hat bereits mit Blick auf den dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nach Ermessen zu erfolgen.
70 
Zwar liegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unstreitig nicht vor, weil der Kläger nicht „im Besitz“ einer Niederlassungserlaubnis ist. Weil er mit seinem jüngsten, am ...2005 geborenen deutschen Sohn A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, kommt ihm aber nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG besonderer Ausweisungsschutz zu. Er kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen solche Gründe in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 54 AufenthG vorliegen, nach Ermessen über die Ausweisung zu entscheiden.
71 
Ein Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist hier nicht gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen Hailbronner, AuslR, Stand: Sept. 2011, § 56 AufenthG Rn. 23 ff., m.w.N.). Insbesondere liegen keine „tatbezogenen“ besonderen Umstände vor, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen. In Anbetracht der Hartnäckigkeit und Unbelehrbarkeit, mit der der Kläger trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter an PKK-nahen Veranstaltungen teilgenommen hat, und der in der mündlichen Verhandlung von ihm demonstrierten tiefen Verehrung von Öcalan und Anhängerschaft zur PKK ist damit zu rechnen, dass der Kläger weiter die PKK unterstützt.
72 
2. Die danach erforderliche Ermessensentscheidung ist vom Regierungspräsidium in rechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffen worden (§ 114 Satz 1 VwGO).
73 
Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - juris, m.w.N.). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Im Übrigen sind bei der nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zur Ermessensausweisung herabgestuften Regelausweisung die vom Ausländer ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einerseits und dessen private schutzwürdige Belange andererseits auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367, Beschluss vom 21.01.2011 - 1 B 17.10, 1 PKH 8/10 - juris, vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300).
74 
Danach sind hier zugunsten des Klägers in erster Linie seine Familie bzw. seine familiären Bindungen zu berücksichtigen. Seine Ehefrau und fast alle Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Nicht nur der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsgenhöriger; vielmehr hat sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat inzwischen auch seine älteste Tochter einbürgern lassen, bei einer anderen laufe derzeit das Einbürgerungsverfahren. Der Kläger hat berichtet, noch mit allen Kindern in einem Haushalt zu leben. Diesen Umständen, denen sicherlich eine aufenthaltsrechtlich erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, hat das Regierungspräsidium Stuttgart jedoch hinreichend Rechnung getragen. Im Rahmen der von ihm angestellten und in späteren Schriftsätzen sowie in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen hat es auch alle anderen relevanten Belange eingestellt und zutreffend gewichtet.
75 
Zwar hat das Regierungspräsidium in der Ausgangsentscheidung noch angenommen, dass der Kläger auch tatsächlich ausreisen müsse. Es hat aber später allein darauf abgestellt, dass er mit Rücksicht auf seine familiäre Situation nicht abgeschoben werden könne. Im Hinblick darauf ist dem Kläger inzwischen die Duldung aus familiären Gründen erteilt worden. In der mündlichen Verhandlung ist zudem die im Bescheid vom 10.06.2010 verfügte Abschiebungsandrohung aufgehoben worden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger bis auf Weiteres – das bedeutet jedenfalls solange seinen familiären Belangen insbesondere im Hinblick auf das jüngste deutsche Kind keine geringere Bedeutung einzuräumen ist oder sich andere maßgebliche Umstände ändern – zumindest geduldet wird und seine Familie nicht verlassen muss. Die Ausweisung ist damit schon deshalb auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als verhältnismäßig anzusehen.
76 
Die Entscheidung, den Kläger auszuweisen, begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil sich das in erster Linie mit einer Ausweisung verfolgte Ziel, die von dem betreffenden Ausländer ausgehende (Wiederholungs-) Gefahr mit der Ausreise zu bannen, hier bis auf Weiteres nicht verwirklichen lässt. Denn immerhin wird mit der Ausweisung zum einen konsequent jeder Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt, zum anderen werden dadurch die Aufenthaltsbeschränkungen des § 54a AufenthG ausgelöst bzw. der Erlass entsprechender Überwachungsmaßnahmen ermöglicht (Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.; vgl. auch Beschluss vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O., ebenso Bayer. VGH, Beschluss vom 10.07.2009 - 10 ZB 09.950 - juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49).
77 
Auch die sonstigen Ermessenserwägungen des Regierungspräsidiums sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die Ausweisungsverfügung selbstständig tragend auf den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt sei und dass für diese schon allein die angestellten spezialpräventiven Erwägungen ausschlaggebend seien. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers und schutzwürdige persönliche wirtschaftliche und sonstige Bindungen (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) wurden eingestellt und zutreffend gewürdigt. Dabei durfte zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass dieser nur sehr schlecht Deutsch spricht, lediglich wechselnden und unqualifizierten Berufstätigkeiten nachgegangen ist und offensichtlich bis heute nur im Umfeld seiner kurdischen Landsleute und „des Vereins“ Umgang und Bekanntschaften pflegt.
78 
Beim Kläger handelt es sich zwar um keine führende Persönlichkeit in der PKK. Angesichts seiner jahrelangen Unterstützung der PKK, der beschriebenen Hartnäckigkeit, mit der er trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter einschlägige Veranstaltungen besucht hat, und der deshalb weiter bestehenden gegenwärtigen Gefährlichkeit im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erweist sich die Ausweisung aber auch in Ansehung des langjährigen Aufenthalts des Klägers und insbesondere seiner familiären Bindungen nicht als unverhältnismäßig, und zwar selbst dann, wenn der Kläger nicht weiter geduldet würde (vgl. dazu auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - 41548/06 - [Trabelsi]).
IV.
79 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
80 
Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht odernicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
81 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/ Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
82 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
83 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).
84 
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
85 
Die hier vom Senat allein zu beurteilende Ausweisungsverfügung bleibt nach dem Vorgesagten aber hiervon unberührt.
B)
86 
Die Klage gegen die die Meldeauflage sowie die räumliche Beschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids vom 10.06.2010 ist vom Verwaltungsgericht zu Recht als zulässig angesehen worden. Beide Verfügungen stellen die gesetzlichen Pflichten des § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. § 54a Abs. 2 AufenthG konkretisierende Regelungen dar (ebenso Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.).
87 
Die Klage ist jedoch auch insoweit unbegründet. Zwar setzen beide Maßnahmen voraus, dass die Ausweisung sofort vollziehbar ist (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 29.11.2010 - 11 S 2481/10 - juris). Dementsprechend wurde auch unter Ziffer 5 des Bescheids vom 10.06.2011 die sofortige Vollziehung angeordnet, weshalb zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Verfügung unter dem hier zu behandelnden Aspekt nicht zu beanstanden war. Allerdings wurde mit Beschluss des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 19.11.2010 (11 K 2430/10 - juris) unter anderem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung nunmehr allein wegen der fehlenden Vollziehbarkeit der Ausweisung vorübergehend als rechtswidrig anzusehen wären. Denn mit Eintritt der Rechtskraft des Senatsurteils wäre die Erlassvoraussetzung der Vollziehbarkeit wieder erfüllt. Namentlich müsste in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden in einem von den Beteiligten angestrengten Revisionsverfahren das Bundesverwaltungsgericht, dessen Entscheidung mit ihrem Erlass notwendigerweise rechtkräftig wird, die Klage gegen die auf § 54a AufenthG gestützten Maßnahmen als unbegründet abweisen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung galt bzw. gilt lediglich vorläufig – bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft der Ausweisung. Dies legt ein Verständnis der aufschiebenden Wirkung nahe, nach welchem auch die Folgemaßnahmen nach § 54a AufenthG vom Wiedereintritt der aufschiebenden Wirkung bis zur Rechtskraft der Entscheidung bezüglich der Ausweisung in ihrer Wirksamkeit nur vorläufig suspendiert sind, selbst wenn die aufschiebende Wirkung insoweit nicht ausdrücklich angeordnet wurde (ebenso zu vergleichbaren verwaltungsverfahrensrechtlichen Konstellationen Kopp/ Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80 Rn. 31; Bader, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 80 Rn. 23). Schließlich würden die Meldepflicht und die räumliche Beschränkung nach § 54a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG auch ohne Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt, wie sie hier erfolgt ist, unmittelbar mit der Vollziehbarkeit der Ausweisung kraft Gesetzes (wieder) eintreten. Weitergehende Rechtswirkungen müssen der aufschiebenden Wirkung im Interesse des Betroffenen, insbesondere aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung, nicht beigemessen werden.
88 
In Anbetracht der Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der aktuell bestehenden Gefahr weiterer Unterstützung der PKK durch den Kläger lassen sich die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden; sie verstoßen insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
89 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 VwGO.
90 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
91 
Beschluss
92 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 und 39 Abs. 1 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
93 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
28 
Soweit die Beteiligten - nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 in der mündlichen Verhandlung - den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit unwirksam (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entspr.).
29 
Im Übrigen ist die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage gegen die Ausweisung unter Ziffer 1 (dazu unter A) und die Meldeauflage sowie die Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (B) abweisen müssen. Denn diese Verfügungen sind zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20) rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
30 
Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 55 i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG (I.). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG liegen vor (II.), die Ausweisungsentscheidung lässt sich auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden (III.).
I.
31 
Das Regierungspräsidium hat diese rechtsfehlerfrei auf § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt. Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob als Rechtsgrundlage daneben § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5a oder Nr. 6 AufenthG herangezogen werden könnten.
32 
Diese Regelungen sind hier uneingeschränkt anwendbar.
33 
1. Aus der Tatsache, dass der Kläger Vater eines minderjährigen deutschen Kindes – dem am ...2005 geborenen A... A... – ist, folgt nicht, dass er wie ein Unionsbürger oder nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu behandeln wäre.
34 
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C-34/09 - InfAuslR 2011, 179) entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines minderjährigen Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann. Ausschlaggebend war ausweislich der Gründe der Umstand, dass die Kinder, welche Unionsbürger waren, bei einer „Verweigerung von Aufenthalt und Arbeitserlaubnis“ ihrer drittstaatsangehörigen Eltern gezwungen gewesen wären, das Unionsgebiet zu verlassen. Art. 20 AEUV sei daher dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehre, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzstaat und eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, da derartige Entscheidungen diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehren würden. Folge eines entsprechenden Aufenthaltsrechts wäre eine allenfalls eingeschränkte Anwendbarkeit der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG (vgl. dazu Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; allgemein zum Urteil des EuGH vom 08.03.2011: OVG NRW, Beschluss vom 29.04.2011 - 18 B 377/11 -; Hess. VGH, Beschluss vom 27.10.2011 - 6 D 1633/11 - juris). Wie auch inzwischen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 05.05.2011 in der Rechtssache McCarthy (C-434/09 - InfAuslR 2011, 268) und vom 15.11.2011 in der Rechtssache Dereci (C-256/11 - juris) deutlich machen, ist ein Aufenthaltsanspruch des Drittstaatsangehörigen aus der Unionsbürgerschaft seines Kindes – oder auch seines Ehepartners – aber nur abzuleiten, wenn der betreffende Unionsbürger andernfalls zwingend das Unionsgebiet verlassen müsste (weitergehend noch Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - a.a.O., und Beschluss des Senats vom 12.05.2011 - 11 S 765/11 - NVwZ 2011, 1213). Vorliegend kann aber das jüngste deutsche Kind des Klägers zusammen mit dessen Ehefrau, welche im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, in Deutschland bleiben und wäre daher nicht gezwungen, das Unionsgebiet zu verlassen. Ob gegebenenfalls eine Trennung des Klägers von seiner Familie, insbesondere seinem minderjährigen deutschen Kind zulässig ist, ist somit keine unionsrechtliche Fragestellung, sondern nach den allgemeinen Maßstäben (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) zu beantworten.
35 
2. Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Der Kläger verfügt über kein Aufenthaltsrecht gemäß der - hier allein in Betracht kommenden - Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.
36 
Nach dem gestuften Regelungssystem des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 kann im Rahmen der ersten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 1) ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht bei einjähriger Beschäftigung nur zum Zwecke der Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses bei dem gleichen Arbeitgeber erworben werden. Im Rahmen der zweiten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 2) wird nach dreijähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung das Recht erworben, Stellenangebote eines anderen Arbeitgebers im gleichen Beruf zu akzeptieren. Erst im Rahmen der dritten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 3), d.h. nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung, erwirbt der türkische Arbeitnehmer gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht nur das Recht, auf ein bereits existierendes Stellenangebot einzugehen, sondern auch das unbedingte Recht, Arbeit zu suchen und jede beliebige Beschäftigung aufzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.01.1997 - C-171/95 - [Tetik] InfAuslR 1997, 146). Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 berühren Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Entsprechendes gilt auch bei einem „unverschuldeten Arbeitgeberwechsel“ (vgl. Renner, AufenthG, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 124 f.), und zwar selbst dann, wenn keine Unterbrechung der Beschäftigung eingetreten ist. Voraussetzung ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 allerdings, dass die Zeiten der unverschuldeten Arbeitslosigkeit „von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind“, das bedeutet, dass sich der Betreffende arbeitslos gemeldet und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat.
37 
Nach diesen Grundsätzen verfügt der Kläger nicht über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. Seine Arbeitstätigkeit in einer Gebäudereinigung im Jahr 2002 war zu kurz, um zum Erwerb von Ansprüchen nach dem ARB 1/80 zu führen. Selbst wenn man die sozialversicherungsfreien (Neben-)Tätigkeiten in einem Internetcafé in H... vom 13.03.2004 bis zum 31.01.2006 und die Tätigkeit bei einer Vertriebs GmbH vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 insgesamt anerkennen und die damaligen Unterbrechungen durch – ordnungsgemäß festgestellte – Arbeitslosigkeit sowie den Wechsel der Arbeitgeber wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit als unschädlich ansehen würde, wäre der Kläger danach zum 15.06.2006 maximal 2 Jahre 3 Monate und 2 Tage ordnungsgemäß beschäftigt gewesen. Die damit allenfalls erreichte Rechtsposition nach dem ersten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wäre durch die anschließende beschäftigungslose Zeit bis zur Aufnahme einer Arbeit bei einem Abbruchunternehmen in L... unterbrochen gewesen. Denn ausweislich der vorliegenden Auskünfte der Deutschen Rentenversicherung (vgl. den vom Kläger mit Schriftsatz vom 30.06.2011 vorgelegten Versicherungsverlauf vom 06.06.2011) war er in dieser Zeit nicht arbeitslos gemeldet. Letztlich kommt es aber darauf nicht an. Selbst wenn man – trotz des Betriebsinhaberwechsels – die anschließende Beschäftigung bei den Abbruchunternehmen in L... vom 17.07.2006 bis zum 31.01.2007 hinzurechnen würde, wäre der Kläger seit dem 13.03.2004 noch keine drei Jahre beschäftigt gewesen, hätte also nur die Rechtsposition der ersten Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht gehabt. Diese hätte er durch die anschließende Kündigung und die folgende zweimonatige Arbeitslosigkeit aber wieder verloren gehabt. Denn diese Kündigung erfolgte nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung durch ihn. Da seine Kinder sich geweigert hätten, zu ihm nach L... zu ziehen, habe er wieder zu seiner Familie ziehen wollen.
38 
Im Anschluss war der Kläger zwar noch vom 02.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei einer Firma in H... beschäftigt und ist seit dem 01.07.2009 bei einer Gebäudereinigung angestellt. Die Beschäftigungszeiten als Fahrer können aber schon deshalb nicht mehr zum Erreichen eines Rechts nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 führen, weil der Kläger seinen Angaben nach zwar entlassen wurde, sich aber nicht unmittelbar anschließend bei der Arbeitsverwaltung gemeldet hat. Abgesehen davon war er seit dem 13.09.2007 nicht mehr „ordnungsgemäß beschäftigt“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Denn seine letzte Aufenthaltserlaubnis lief am 12.09.2007 aus und galt lediglich aufgrund seines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Grundsätzlich setzt aber eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt voraus (vgl. nur EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], NVwZ 1991, 255). Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige verfahrenssichernde Rechtsstellung hat ein türkischer Arbeitnehmer während des Zeitraums, in dem sein Widerspruch oder seine Klage aufschiebende Wirkung gegen eine die Erteilung oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ablehnende behördliche Entscheidung entfaltet (vgl. EuGH, Urteil vom 16.12.1992 - C-237/91 - [Kus], InfAuslR 1993, 41). Dies gilt auch in Bezug auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG (vgl. Renner, a.a.O., § 4 AufenthG, Rn. 117 m.w.N.). Etwas anderes folgt hier auch nicht daraus, dass über die am 25.05.2009 gegen das Land Baden-Württemberg erhobene Klage des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (11 K 2004/09) noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Zwar können Zeiten der Arbeitstätigkeit, in denen der Betreffende lediglich über ein fiktives Aufenthaltsrecht verfügt hat, später - rückwirkend - doch wieder als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zu berücksichtigen sein, wenn in der Folge eine positive behördliche oder gerichtliche Entscheidung getroffen wird. Denn dann werden die zurückliegenden Beschäftigungszeiten anrechnungsfähig (EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], a.a.O.), und zwar gegebenenfalls selbst dann, wenn während kurzer Zeiträume kein Aufenthaltstitel und auch keine Fiktionswirkung bestand, etwa weil der Betreffende eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erst kurz nach Ablauf der geltenden Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte (EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - [Ergat], InfAuslR 2000, 217). Diese Fragen können hier jedoch dahingestellt bleiben. Denn es ist wegen des vom Kläger verwirklichten Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 5 AufenthG (dazu unten) offensichtlich, dass er keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis oder auf Verlängerung der früher bestehenden Aufenthaltserlaubnis hat (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Abgesehen davon kommt es darauf auch deshalb nicht an, weil die Fiktionswirkung entsprechend § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG jedenfalls mit Bekanntgabe der Ausweisung vom 10.06.2010 – und damit vor Ablauf eines Jahres seit Beginn der Tätigkeit am 01.07.2009 und Erreichen einer Position nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 – erloschen ist. Zwar kommt der vom Kläger gegen die Ausweisung erhobenen Klage aufschiebende Wirkung zu, weil das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - auch insoweit die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt hat. Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lassen jedoch Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit unter anderem der Ausweisung unberührt, solange diese nicht unanfechtbar aufgehoben worden ist.
II.
39 
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG sind erfüllt.
40 
Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, wobei die Ausweisung auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen nur gestützt werden kann, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Vereinigung oder ihre Unterstützung muss danach nicht erwiesen sein, es genügt das Vorliegen von Tatsachen, die die entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen. Dass es sich dabei um eine Vereinigung handelt, die den Terrorismus unterstützt, muss hingegen feststehen (Bay.VGH, Urteil vom 22.02.2010 - 19 B 09.929 - juris, bestätigt mit Urteil des BVerwG vom 25.10.2011 - 1 C 13.10 -).
41 
1. Zunächst sind das Verwaltungsgericht und das Regierungspräsidium Stuttgart zu Recht davon ausgegangen, dass die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und ihre Nachfolgeorganisationen KADEK (Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans), KONGRA-GEL (Volkskongress Kurdistans), KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) oder KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) - im Folgenden PKK - dem Terrorismus zuzurechnen und damit jedenfalls als eine den Terrorismus im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützende Vereinigung anzusehen sind (vgl. hierzu Urteile des Senats vom 29.09.2010 - 11 S 597/10 - VBlBW 2011, 478, und vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris sowie Beschlüsse des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vom 16.12.2010 - 11 S 2374/10 - und vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - InfAuslRAuslR 2011, 105). Eine Vereinigung unterstützt den Terrorismus, wenn sie selbst ihre Ziele auch mit terroristischen Mitteln – wie dem Einsatz gemeingefährlicher Waffen und mit Angriffen auf das Leben Unbeteiligter zur Durchsetzung politischer Ziele – verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - juris, m.w.N.; vgl. im Einzelnen zum Begriff des Terrorismus GK-AufenthG, Stand: Sept. 2011, § 54 Rn. 436 ff.). Das ist bei der PKK in dem hier maßgeblichen Zeitraum von 1997 bis heute der Fall. Insbesondere verzichtete die PKK auch während der Phase des 1999 ausgerufenen und 2004 wieder beendeten „Friedenskurses“ nicht auf Gewalt. Das seit vielen Jahren weitgehend friedliche Auftreten der PKK in Europa ist Teil einer „Doppelstrategie“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 53; OVG Bremen, Beschluss vom 26.10.2010 - 1 A 111/09 - InfAuslR 2011, 37) und ändert nichts an deren grundsätzlich bestehender Gewaltbereitschaft und der Anwendung von terroristischen Mitteln, etwa bei Anschlägen in der Türkei (so etwa am 22.06.2010 in Istanbul, vgl. ZEIT-ONLINE vom 23.06.2010: www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/kurden-tuerkei-politik; WELT ONLINE vom 22.06.2010 www.welt.de/politik/ausland/ article8142791/Tuerkei-Touristen-im-Fadenkreuz-kurdischen-Terrors.html; am 27. und 28.08 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, vgl. SPIEGEL ONLINE vom 28.08.2006 www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,434039,00.html) oder der Entführung Unbeteiligter (vgl. zur Entführung von drei deutschen Staatsangehörigen am Berg Ararat am 08.07.2008 SPIEGEL ONLINE vom 09.07.2011: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,564783,00.html). Insoweit wird ergänzend auf die ausführliche und zutreffende Darstellung im angefochtenen Bescheid des Regierungspräsidiums vom 10.06.2010 verwiesen (vgl. auch Landesamt für Verfassungsschutz Bad.-Württ., „Ausländerextremismus“, August 2007, S. 9 ff., sowie Bundesamt für Verfassungsschutz, „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL)“, März 2007). Abgesehen davon ist die PKK seit Mai 2002 auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt (vgl. Ziff. 2.9 des Anhangs zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 02.05.2002 betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GSAP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus - 2002/340/GSAP – ABl. L 116, S. 75). Entgegen der Auffassung des Klägers erlaubt eine solche Aufnahme die Feststellung, dass die Vereinigung terroristischer Art ist (EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - InfAuslR 2011, 40; vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 07.12.2010 - 1 B 24.10 - juris; noch offengelassen im Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - juris).
42 
2. Ob der Kläger der PKK „angehört“ im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, kann hier offen bleiben. Denn aus den vorliegenden Tatsachen ist jedenfalls die Folgerung gerechtfertigt, dass er diese seit vielen Jahren in mehrfacher Weise unterstützt hat und weiter unterstützt.
43 
Als tatbestandserhebliches Unterstützen ist jede Tätigkeit des Ausländers anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, auswirkt. Dazu zählt zum Beispiel auch jedes Tätigwerden eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial stärkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings kann nicht jede Handlung, die sich zufällig als für die betreffende Vereinigung bzw. den Terrorismus objektiv vorteilhaft erweist, als tatbestandsmäßiges Unterstützen verstanden werden. Vielmehr muss die eine Unterstützung der Vereinigung bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auch fehlt es an einem Unterstützen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet - und sich hiervon gegebenenfalls deutlich distanziert - und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach außen vertritt. Dienen solche Veranstaltungen allerdings erkennbar dazu, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch die Vereinigung vertritt, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme jedenfalls auch diese Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen (beispielsweise wegen des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt) zu fördern, dann liegt ein im Hinblick auf den Normzweck potenziell gefährliches Unterstützen im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG vor, der die Freiheit der Meinungsäußerung insoweit verhältnismäßig beschränkt. Eine Unterstützung kann ferner dann in Betracht kommen, wenn durch zahlreiche Beteiligungen an Demonstrationen und Veranstaltungen im Umfeld einer Vereinigung - wie der verbotenen PKK - bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststeht, dass der Ausländer auch als Nichtmitglied in einer inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst steht, die er durch sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringt, und damit deren Stellung in der Gesellschaft (vor allem unter Landsleuten) begünstigend beeinflusst, ihre Aktionsmöglichkeiten und eventuell auch ihr Rekrutierungsfeld erweitert und dadurch insgesamt zu einer Stärkung ihres latenten Gefahrenpotenzials beiträgt. Dabei muss allerdings die terroristische oder den Terrorismus unterstützende Tätigkeit der Vereinigung im In- oder Ausland zum jeweiligen Zeitpunkt feststehen und das Verhalten des Einzelnen auch unter Berücksichtigung etwaiger glaubhafter Distanzierungen von der Unterstützung des Terrorismus (oder das Fehlen jeglicher Distanzierung) gewürdigt werden. Eine darüber hinausgehende konkrete oder persönliche Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit ist dagegen nicht erforderlich. Ebenso wenig ist ein "aktives Tätigwerden" erforderlich (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -BVerwGE 123, 114 - zur früheren Regelung des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG; vgl. auch Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O., m.w.N.; Beschluss des Senats vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O.; Urteile des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - juris und vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.).
44 
Nach diesen Grundsätzen liegen hier eine Vielzahl von Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger die PKK und damit den Terrorismus unterstützt im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, so die Mitgliedschaft und die Übernahme von Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen (a) und die über Jahre hinweg fortgesetzte Teilnahme an den unterschiedlichsten PKK-nahen Aktionen und Veranstaltungen (b). Dabei sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch die länger zurückliegenden Tatsachen noch zu berücksichtigen (c).
45 
a) Zunächst steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die kurdischen Vereine in H..., in denen der Kläger Vorstandsmitglied war, den Terrorismus unterstützen. Dabei zu berücksichtigen, dass - wie dargelegt - bereits jede Tätigkeit als tatbestandliches Unterstützen anzusehen ist, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der betreffenden Vereinigung, hier der PKK, auswirkt.
46 
aa) Der Verein „Kurd... V...“ e.V. wurde in den 1990-er Jahren gegründet und im Jahr 2000 wieder aufgelöst. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich deutlich gemacht, dass er in dem im Anschluss gegründeten „Kurd... K...“ und in dem derzeit bestehenden Verein „Kurd... G...“ Nachfolgevereine des Vereins Kurdx ... V...“ sieht. Es handle sich um „den Verein“, in welchem er bis heute Mitglied sei und mit seinen Familienangehörigen jedes Wochenende verbringe. Er hat damit die entsprechende Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, die in der mündlichen Verhandlung von dem angehörten Mitarbeiter I.V. weiter erläutert worden ist, bestätigt. Der Kläger ist in einer Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 in den Vorstand des Vereins „K... V...“ gewählt worden und war als solcher für die Bücherei des Vereins zuständig. Darauf hat er sich auch in seinem Asylverfahren berufen und geltend gemacht, dass ihm deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgung drohe (Schriftsatz vom 01.07.1997 zum Verfahren A 3 K 12680/98).
47 
Für eine PKK-Nähe des Vereins spricht schon der Umstand, dass dieser Mitglied bei der YEK-KOM, der „Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V.“ war. Dies lässt sich dem vom Kläger im Asylverfahren vorgelegten Protokoll über die Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 entnehmen, in welcher die Vereinsmitglieder – nach Darstellung der Arbeit und der Bedeutung der YEK-KOM – für eine Mitgliedschaft des Vereins in dieser Dachorganisation gestimmt haben. Die YEK-KOM, deren Sitz in Düsseldorf ist und der deutschlandweit etwa 60 kurdische Vereine angeschlossen sind, unterstützt die PKK durch eine Vielzahl von Aktionen. Dies wird in der überzeugenden „Einschätzung“ des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.06.2010“ im Einzelnen ausführlich dargelegt. Die YEK-KOM sei ihrerseits Mitglied der „Konföderation der Kurdischen Vereine in Europa“ (KON-KURD). Sie betreibe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, darunter immer wieder Aktionen und Aufrufe mit dem Ziel der Aufhebung des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei in Deutschland. Auch mobilisiere sie jedes Jahr aus Anlass der Newroz-Feier die kurdische Bevölkerung in Europa zu zentralen Kundgebungen. Dabei würden Grußworte von Öcalan oder von anderen PKK-Führungsmitgliedern vorgelesen bzw. ausgestrahlt. Im Zentrum stünden dann die aktuellen politischen Interessen der PKK. Auf der Agenda der vergangenen Jahre hätten Themen gestanden wie „Freiheit für Öcalan“ und „Frieden für Kurdistan“. In einer zusammenfassenden Bewertung heißt es, im Arbeitsprogramm der YEK-KOM sei die „logistische Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes Kurdistans“ verankert. Die von der YEK-KOM sowohl in ihren Publikationen als auch bei ihren Veranstaltungen und Aktionen aufgegriffenen Themen lägen im Interessenbereich der PKK. Zu nennen seien insbesondere die Aufhebung des PKK-Verbots und die Freilassung Abdullah Öcalans. Der Verein biete der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen eine Plattform, indem er ihre Erklärungen und Äußerungen von Funktionären unkommentiert, d.h. auch unkritisch veröffentliche. Auf Maßnahmen der Sicherheitsbehörden oder der Justiz gegen Personen und Einrichtungen mit dem Verdacht eines PKK-Bezugs reagiere die YEK-KOM stets mit einer verurteilenden Erklärung. Hochrangige YEK-KOM-Funktionäre beteiligten sich an PKK-Aktionen und träten auf PKK-Veranstaltungen als Redner auf. Zusammenfassend lasse sich daher sagen, dass eine eindeutige Nähe des Vereins YEK-KOM zur PKK bzw. zu ihren Nachfolgeorganisationen KADEK und KONGRA-GEL vorliege.
48 
Hinzu kommen die Veranstaltungen, die vom Verein „Kurd... V...“ durchgeführt wurden, so zum Beispiel aus der Zeit, in der der Kläger Vorstandsmitglied war, eine Demonstration zum Newroz-Fest am 20.03.1998. In einem Bericht der Stadt H... vom 29.04.1998 über diese Demonstration wird dargelegt, dass Fahnen mit Symbolen der PKK gezeigt worden seien. Nach Einschätzung der Polizei und der Stadt H... habe nicht das Thema „Newroz-Fest“ im Vordergrund gestanden, sondern das Thema „Politische Lösung der kurdischen Frage und Aufhebung des Verbots der PKK“. Wie sich außerdem einem Bescheid der Stadt H... vom 14.05.1998 über das Verbot einer für den 17.05.1998 im Schlachthof in H... geplanten Veranstaltung entnehmen lässt, wurde zu dieser angeblichen „Folkloreveranstaltung“ mit Flugblättern der ENRK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans, eine Organisation der PKK) eingeladen. In den Räumen des Vereins wurde dafür mit einem Aushang mit dem Text „Sieg im Frieden, Freiheit im Leben, Volksversammlung wird stattfinden. Ort = Schlachthof“ geworben. Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz hat zudem in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren überzeugend dargelegt, dass „der Verein“ in H... – derzeit die „Kurd... G...“ – seit Jahren durch regelmäßige PKK-Veranstaltungen auffalle. Er rufe immer wieder zu Veranstaltungen und zu Kundgebungen auf, die inhaltlich die PKK, Abdullah Öcalan als PKK-Führer u.ä zum Thema hätten. Insofern trete der Verein immer wieder aktiv auf und führe diese Kundgebungen durch. Bei den Veranstaltungen würden PKK-Slogans skandiert, es werde die Freilassung Öcalans und die Aufhebung des PKK-Verbots gefordert und die Türkei werde als terroristischer Staat bezeichnet. Das alles seien für das Landesamt für Verfassungsschutz Indizien, um die entsprechende Veranstaltung – anders als normale kulturelle Veranstaltungen von Kurden – als „PKK-nah“ anzusehen. Schließlich existierten auch zahlreiche andere kurdische Vereine, die vom Verfassungsschutz nicht als „PKK-nah“ eingestuft würden, etwa solche, die dem Dachverband der KOMKAR (Verband der Vereine aus Kurdistan) angehörten. Es gebe also eine Alternative. Der Verein in H... wie auch andere PKK-nahe Vereine fielen dadurch auf, dass sie sich stets und immer wieder PKK-spezifischen Themen annähmen. Das ziehe sich seit den 1980er-Jahren wie ein „roter Faden“ durch die Betätigung des Vereins.
49 
bb) Dass sich auch der Verein „Gebetshaus E... ... - I... ... e.V., H...“ – in dessen Vorstand der Kläger erstmals im Dezember 1998 (als stellvertretendes Vorstandsmitglied) und erneut im Mai 2002 (als 2. Vorsitzender des Vorstands) gewählt worden war – der PKK verbunden gefühlt hat, folgt bereits aus dem Formular zur Anmeldung des Vereins am 29.04.1998 bei der Stadt H... Darin wird ausgeführt, „Wir glauben, dass die kurdische Sache unter Führung der PKK gelöst wird“ und „Abgrenzung zum Kurd... V... e.V. durch Schwerpunkt Religion“. Auch wird als Zweck des Vereins angegeben „Versammlung von allen Kurden, auch revolutionäre Kurden, unter einem Dach“. Außerdem verdeutlicht die vorliegende Stellungnahme des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006, „Religiöse Vereinigungen innerhalb der PKK“ die Anbindung auch dieses Vereins an die PKK. Danach sei im Zuge des 4. Parteikongresses der PKK im Dezember 1990 die Gründung der Union der patriotischen Gläubigen aus Kurdistan (kurz: YOWK, ab 1991 YDK), einem Dachverband von Muslimen, beschlossen worden. 1993 sei die Umbenennung in „Islamischer Bund Kurdistans - HIK“ bzw. „Islamische Bewegung Kurdistans - KIH“ erfolgt. Die regionale Aufteilung sei in drei Funktionsbereiche, darunter eine Föderation in Süddeutschland mit Sitz in Heilbronn, erfolgt. Im Mai 2005 sei eine erneute Umbenennung, diesmal in „Islamische Gesellschaft Kurdistans - CIK“ beschlossen worden. Nach Auffassung des Bundesamts für Verfassungsschutz sei die CIK/HIK eine Massenorganisation der PKK, über die muslimische Kurden an die PKK gebunden werden sollen. In der Herbstausgabe der Baweri, dem seit 1995 erscheinenden Publikationsorgan der CIK/HIK, werde diese als eine religiös-politische Kampfesbewegung bezeichnet, die den nationalen Befreiungskampf Kurdistans unterstütze. In diesem Rahmen rufe sie regelmäßig zu Spenden oder Kampagnen auf, wie beispielsweise zur Sammlung von Spenden für kurdische Bedürftige und Waisen oder der Opferkampagne. Zu den der CIK/HIK angehörenden Moschen gehöre u.a. die „Mizgevta E... ...“ in H... ... Die Anbindung der CIK/HIK an die PKK und deren Abhängigkeit von der Organisation werde auch durch verschiedene Asservate belegt. In einem Fazit heißt es, die PKK unterhalte eine Vielzahl von Organisationen, mit deren Hilfe sie ihren Einfluss auf alle Lebensbereiche auszudehnen versuche. In ihrem Bestreben, auch die religiösen Gruppierungen der Kurden in ihren Strukturen einzubinden, habe sie die Gruppe der Muslime durch die CIK/HIK an ihre Organisation angebunden. Die Verlautbarungen führender Parteikader sowie die Organisationsbeschlüsse belegten die strukturelle Anbindung an die CDK (Nachfolgeorganisation der YDK) und damit an eine in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte Organisation.
50 
Ist danach davon auszugehen, dass beide ausländerrechtlichen Vereine, in deren Vorstand der Kläger gewählt war, die PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen unterstützt haben, so ist dem Kläger diese Unterstützung bereits aufgrund seiner Stellung als Vorstandsmitglied zuzurechnen, ohne dass der Frage seiner tatsächlichen inneren Einstellung weiter nachgegangen werden müsste (vgl. zu § 11 StAG: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.06.2008 - 13 S 2613/03 - VBlBW 2009, 29, m.w.N). Davon abgesehen greift § 54 Nr. 5 AufenthG auch in Fällen, in denen der Betreffende einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, hier dem Verein „Kurdx... V...“ und der „E... ...“, d.h. es kommt auch deshalb nicht darauf an, ob und in welchem Umfang er persönlich Unterstützung geleistet hat.
51 
b) Hinzu kommt, dass schon allein wegen der Teilnahme des Klägers an diversen PKK-nahen Veranstaltungen davon auszugehen ist, dass er die PKK unterstützt hat und bis heute unterstützt. Denn er war bei einer Reihe von Veranstaltungen, die geeignet sind, den ideologischen und emotionalen Zusammenhalt der PKK, ihrer Nachfolgeorganisationen und Organisationen im politischen Umfeld zu stärken. Diese Teilnahmen sind daher bereits für sich genommen ohne Weiteres als selbstständige Unterstützungshandlungen zu qualifizieren, die zum Vorliegen des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG führen. Umso mehr gilt dies bei einer Gesamtschau aller festgestellten Aktivitäten des Klägers einschließlich der Vorstandstätigkeiten in den Vereinen.
52 
Zu den Veranstaltungen, deren Besuch als Unterstützung der PKK anzusehen ist, gehören insbesondere die Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK. Nach den Mitteilungen des Landesamts für Verfassungsschutz hat der Kläger in den Jahren 2005, 2007, 2008 und 2009, jeweils in I... bei H..., den 27., 29., 30. und den 31. Gründungsjahrestag der PKK mitgefeiert. Dies wurde von ihm in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt. Nach den Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz seien bei diesen Feiern Fahnen der KONGRA-GEL bzw. der KCK oder der KKK und Bilder Öcalans aufgehängt gewesen bzw. entrollt worden (27.11.2005, 23.11.2008 und 27.11.2009), Filme über das Leben des Öcalan (27.11.2005 und 23.11.2008) oder die Guerilla (27.11.2009) vorgeführt und jeweils Reden über die PKK gehalten worden – zum Beispiel mit einem Überblick über die Entwicklung der PKK seit deren Gründung (23.11.2008). Regelmäßig werde die Bedeutung der PKK für die Kurden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervorgehoben. Zudem werde regelmäßig die PKK-Guerilla positiv herausgestellt, wenn nicht gar glorifiziert, indem zum Beispiel - wie im Jahr 2009 - ein Film über diese gezeigt werde (vgl. Bericht des LfV vom 17.12.2010). Solche Veranstaltungen haben in spezifischer Weise Propagandacharakter und dienen erkennbar der Förderung und Stärkung der PKK. Mit dem Besuch zeigt der Teilnehmer seine Anhängerschaft und fördert den Zusammenhalt der Organisation und ihrer Anhänger (vgl. Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -). Typisch für PKK-nahe Veranstaltungen ist auch der Personenkult um den in der Türkei inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan. Seiner Person kommt nach wie vor ein Symbolgehalt auch für den bewaffneten Kampf der PKK gegen den Staat zu (BVerwG, Beschluss vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - a.a.O.). Es ist daher auch bezeichnend, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen zu dem vom Landesamt für Verfassungsschutz geschilderten Ablauf der Veranstaltung zum 31. Gründungsjahrestag der PKK am 27.11.2009 und nach dem Hinweis darauf, dass dort auch ein Film über den Guerilla-Kampf und Öcalan vorgeführt worden sei, entgegnete: Man brauche ihm nicht zu sagen, dass in diesem Saal ein Bild von Öcalan angebracht gewesen sei; Öcalan sei in seinem Herzen.
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Ebenso als Unterstützung der PKK zu werten ist der Besuch einer Veranstaltung am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestages der Gründung des militärischen Arms der PKK, bei welchem in einer Rede Öcalan und die PKK gewürdigt worden seien.
54 
Besonders ins Gewicht fallen auch die vom Kläger nicht in Abrede gestellten Besuche bei so genannten Volksversammlungen in den Räumlichkeiten des „Kurd... K...“ bzw. der „Kurd... G... H...“ am 17.12.2005, 30.03.2008 und am 28.02.2010. Den vorliegenden Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz (vgl. vor allem Bericht vom 17.12.2010) lässt sich entnehmen, dass es – anders als bei Vereinsversammlungen, die sich schwerpunktmäßig mit Vereinsthemen beschäftigten – bei Volksversammlungen thematisch im Wesentlichen um den mit einem Betätigungsverbot belegten und deshalb streng konspirativ arbeitenden Teil der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen gehe. Demgemäß dienten Volksversammlungen in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Meist halte ein hochrangiger PKK-Funktionär eine „emotionalisierende“ Rede, die durchaus ein bis zwei Stunden dauern könne. Dabei würden die Zuhörer über alle Aspekte, die die PKK beträfen, ausführlich informiert, insbesondere über Verlautbarungen, Haftbedingungen und Gesundheitszustand des PKK-Führers Öcalan, Anweisungen der Organisation, Lageentwicklung in der Türkei, in Deutschland und in Europa und aktuelle Kampagnen. Sie würden außerdem unter Hinweis auf die angebliche patriotische Verpflichtung zur Teilnahme an entsprechenden Aktionen aufgerufen. Häufig legten in Volksversammlungen Frontarbeiter und Aktivisten Rechenschaft gegenüber höherrangigen Funktionären ab und übten dabei gegebenenfalls – bei Schlechterfüllung ihrer Pflichten – entsprechende Selbstkritik. Bei der Versammlung am 28.02.2010 sei nach einer Gedenkminute für die verstorbenen „PKK-Märtyrer“ die aktuelle Lage in der Türkei thematisiert und ein Bericht des Volksgebietsrats verlesen worden. Anschließend hätten die Vertreter verschiedener Kommissionen (Justiz, Außenkontakte u.ä.) des Volksgebietsrats über ihre Arbeit berichtet. Danach seien der Leiter des Volksgebietsrats und die Vertreter dieser Kommissionen neu gewählt worden. Eine Ausnahme gelte für zwei Kommissionen: Die „Vereinskommission“ bestehe „automatisch“ aus dem Vorstand der „Kurd... G...“. Die „Organisationskommission“ verfüge über 25 „Frontarbeiter“; diese Aktivisten hätten gute Arbeit geleistet.
55 
Hinzu kommt die Teilnahme des Klägers an Treffen, bei denen der gefallenen und verstorbenen PKK-Kämpfer oder -Aktivisten gedacht wird (18.05.2008 und ...2008). Wie dem Senat aus einer Reihe anderer Verfahren bekannt ist, sind gerade auch solche Märtyrergedenkveranstaltungen ein wesentliches Element zur Herstellung eines engeren ideologischen und emotionalen Zusammenhalts der PKK-Mitglieder und PKK-Sympathisanten und führen damit zur Verbreiterung und Stärkung der Basis der PKK (Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vgl. zum Märtyrerkult bei der PKK auch BVerwG, Beschluss vom 24.02.1010 - 6 A 7.08 - a.a.O.).
56 
Bezeichnend ist der Besuch von Versammlungen anlässlich des Geburtstages von Öcalan (06.04.2003, 03.04.2005). Auch hat der Kläger ausweislich der Feststellungen des Landesamts für Verfassungsschutz an mehreren Demonstrationen zu verschiedenen Anlässen (05.02.2005, 28.01.2006, 16.02.2007, 27.10.2007, 25.10.2008, 20.11.2010) teilgenommen, bei denen jeweils Rufe wie „ Es lebe Öcalan“, „Hoch leben Apo“ oder „PKK“ skandiert und „Freiheit für Öcalan“ gefordert wurde. Bei einer „Kurdistan-Solidaritätsdemonstration“ in H... am 20.11.2010 seien auch Parolen wie „Die PKK ist das Volk, das Volk ist hier“ gerufen und Plakate bzw. Transparente mit der Aufschrift „Freiheit für Öcalan – Frieden für Kurdistan“ mitgeführt worden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt, an dieser Veranstaltung vom 20.11.2010 teilgenommen zu haben, und darüber hinaus erklärt, er nehme an (allen) „offiziell genehmigten Demonstrationen“ teil. Es sei um die Freiheit der Kurden gegangen.
57 
Tatsächlich ist bei der Teilnahme an Demonstrationen besonders zu beachten, dass nicht unverhältnismäßig in das Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.; Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.). Zum einen können aber auch Aktivitäten, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, das Tatbestandsmerkmal des Unterstützens im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllen (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.). Zum anderen ging es bei diesen Demonstrationen nicht nur um Themen, die nicht ausschließlich von der PKK besetzt sind – wie die Forderung eines unabhängigen Kurdistans, die Kritik am Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdisches Zivilbevölkerung, die Anmahnung der Einhaltung von Menschenrechten, oder auch die Kritik an Haftbedingung politischer Gefangener einschließlich Öcalans – sondern um die Bekundung der Anhängerschaft zu Öcalan und der PKK durch entsprechende Parolen und Transparente. Damit bestand eine klare politisch-ideologische Verbindung zur PKK und ihren Zielen bzw. ihren Mitteln zur Durchsetzung dieser Ziele, zu denen auch der Terror zählte und zählt. Dies war und ist auch für den Kläger erkennbar. Er hat dazu in der mündlichen Verhandlung erklärt, es sei ihm egal, welche Parolen gerufen und welche Transparente getragen würden; er selbst habe weder Parolen gerufen noch Plakate getragen. Wie ausgeführt, kommt es darauf jedoch nicht an. Auch überzeugt die Erklärung des Klägers nicht, er habe die Plakate bzw. Transparente nicht lesen können, weil er dann von vorne gegen die Demonstration hätte laufen müssen. Jedenfalls konnte ihm die Solidarisierung mit der PKK schon vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen und den offensichtlich eindeutigen Parolen nicht entgehen, so dass ihm diese zuzurechnen ist.
58 
Vor dem Hintergrund des Charakters und der Vielzahl der vom Kläger besuchten anderen Veranstaltungen, wie den Volksversammlungen, den Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK und dem Geburtstag von Öcalan sowie den Märtyrergedenkfeiern, ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil, es wären zusätzliche Erkenntnisse darüber erforderlich, was der Kläger bei den Veranstaltungen getan habe, unzutreffend. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts waren bereits zum Zeitpunkt von dessen Entscheidung mehr als 13 Beteiligungen des Klägers an Veranstaltungen bekannt. Inzwischen sind es 20, die vom Landesamt für Verfassungsschutz benannt worden sind. Wie ausgeführt, kommt es zudem auf Anlass und Charakter der betreffenden Veranstaltungen an. In Anbetracht des konkreten Falles ist jedenfalls der Hinweis des Verwaltungsgerichts unverständlich, man könne einer Versammlung oder Veranstaltung auch „kopfschüttelnd“ zu Informationszwecken beiwohnen, ohne eine „unterstützende Haltung“ durch Applaus, Rufen von Parolen, Tragen von Schildern oder Transparenten einzunehmen. Dabei wird verkannt, dass bereits die regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen wie den angeführten, welche erkennbar auch dazu dienen, die PKK einschließlich ihrer terroristischen Aktionen zu fördern, eine Unterstützung der PKK darstellt. Die durch die – auch rein passive – Teilnahme ausgedrückte innere Nähe und Verbundenheit zur PKK kann deren Stellung in der Gesellschaft, hier insbesondere unter den in Deutschland lebenden Kurden, günstig beeinflussen, ihre Aktionsmöglichkeiten und ihr Rekrutierungsfeld erweitern und dadurch insgesamt dazu beitragen, das latente Gefährdungspotential der Vereinigung zu erhöhen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.).
59 
Soweit der Kläger vorträgt, die Vereine, bei denen er Mitglied gewesen und auch heute noch Mitglied sei und in deren Vorstand er gewesen sei, seien nicht verboten gewesen, er sei doch kein Terrorist und er habe auch nur an erlaubten Veranstaltungen teilgenommen, verkennt er, dass § 54 Nr. 5 AufenthG der effektiven Bekämpfung der Vorfeldunterstützung des internationalen Terrorismus durch Herabsetzen der Eingriffsschwelle dient. Sinn und Zweck ist die präventive Gefahrenabwehr. Für die Verwirklichung des Tatbestands kommt es danach weder darauf an, dass die in Frage stehende Vereinigung verboten ist noch darauf, dass die konkrete Unterstützungshandlung strafbar wäre (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.).
60 
In Anbetracht der bereits zur Überzeugung des Senats festgestellten Umstände kommt weiteren länger zurückliegenden Tatsachen wie etwa der Ingewahrsamnahme des Klägers anlässlich der Besetzung des griechischen Generalkonsulats nach der Festnahme von Öcalan am 16.02.1999 und der Unterzeichnung der PKK-Selbsterklärung im Jahr 2001 nur noch eine das Gesamtbild abrundende Bedeutung zu.
61 
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Übrigen keinen Zweifel an seiner Verehrung von Abdullah Öcalan und seiner Anhängerschaft zur PKK gelassen. Er hat deutlich gemacht, dass er auf Veranstaltungen wie die angeführten, auch solche zur Feier des Gründungsjahrestages der PKK, weiter gehen werde, solange diese nicht verboten seien. Seiner Meinung nach trete die PKK – wie auch er selbst – für die Freiheit der Kurden ein und sei nicht terroristisch. Wenn man die PKK als terroristisch ansähe, wäre er auch ein Terrorist. Soweit der Kläger mehrmals darauf hingewiesen hat, dass er aber kein „Vertreter“ der PKK sei, verkennt er, dass es darauf nicht ankommt.
62 
c) Die hiernach maßgeblichen Umstände – die Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeiten in den Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ...“ und die beschriebenen Teilnahmen an PKK-nahen Veranstaltungen – sind auch noch zu berücksichtigen, soweit sie bereits länger zurückliegen.
63 
Das Verwertungsverbot für getilgte Strafen nach § 51 Abs. 1 BZRG kann schon deshalb nicht greifen, weil der Kläger wegen der angeführten Umstände bzw. Aktivitäten nicht strafrechtlich verurteilt worden ist. Ob seine Teilnahme an einer Demonstration der PKK in Dortmund am 16.03.1996 noch berücksichtigt werden könnte, obwohl die deswegen gegen den Kläger mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot verhängte Geldstrafe bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt ist, kann hier offen bleiben. Denn auf diese Tat kommt es in Anbetracht der Vielzahl von sonstigen maßgeblichen Tatsachen – wie die Teilnahme an den angeführten Veranstaltungen 2002 bis 2010 und die Vorstandstätigkeit sowie die Mitgliedschaft in den kurdischen Vereinen in H... – hier nicht an. Jedenfalls ist weder bei Unterstützungshandlungen, die strafbar gewesen wären, aber nicht zu einer Verurteilung geführt haben, noch bei den nicht mit einer Strafe bewehrten Aktivitäten eine „fiktive Tilgung“ mit der Folge eines Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1 BZRG vorzunehmen (ausführlich dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 18.06.2010 - 3 Bs 2/10 - InfAuslR 2011, 193, m.w.N.; zu den Einbürgerungsvoraussetzungen des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.12.2010 - 19 A 1491/05 - AuAS 2011, 89; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.10.2011 - 5 N 30.08 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.05.2009 - 13 S 2428/08 -, juris – auch zum Fall einer möglichen Atypik im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
64 
Die länger zurückliegenden Tätigkeiten des Klägers sowie insbesondere seine Stellung als Vorstand in den Vereinen sind auch nicht aus anderen Gründen nicht mehr „verwertbar“. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte für einen „Verbrauch“, etwa weil die Ausländerbehörde dem Kläger in Kenntnis der Ausweisungsgründe einen Aufenthaltstitel erteilt hätte (vgl. dazu GK-AufenthG, a.a.O., § 5 AufenthG Rn. 106 ff., m.w.N.). Soweit im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.02.2011 die Aktivitäten des Klägers und seine Tätigkeiten in den Vereinsvorständen in solche bis zum Jahr 2002 und solche danach aufgeteilt und nur die neueren berücksichtigt worden sind, ist diese Aufteilung nicht nachvollziehbar. Da der Kläger noch im Mai Jahr 2002 als 2. Vorsitzender in den Vorstand des Vereins „E... ...“ gewählt wurde und diese Funktion danach mindestens ein Jahr lang - so seinen eigenen Angaben nach -, ausweislich des Vereinsregisters sogar bis zur Löschung des Vereins im Jahr 2007 innehatte, hätte diese Vorstandsmitgliedschaft ohnehin mit einbezogen werden müssen. Jedenfalls fehlt es schon in Anbetracht der bis heute andauernden Aktivitäten des Klägers in und für PKK-nahe Vereine in H... bzw. für die PKK und seiner fortdauernden Mitgliedschaft in den Nachfolgevereinen des Vereins „Kurd... V...“ an einer Zäsur, die zur Folge haben könnte, dass frühere Unterstützungshandlungen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
65 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die hier maßgebliche Bestimmung des § 54 Nr. 5 AufenthG (anders als die des § 54 Nr. 5a AufenthG) grundsätzlich weder vom Wortlaut noch nach deren Sinn und Zweck, aber auch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine vom Betroffenen ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefährdung voraussetzt. Eine “gegenwärtige Gefährlichkeit“ muss nur dann festgestellt werden, wenn eine vergangene Mitgliedschaft des Ausländers oder zurückliegende Unterstützungshandlungen (außerhalb einer Mitgliedschaft) zu beurteilen sind (ausführlich dazu Urteile des Senats vom 25.05.2011- 11 S 308/11 - und vom 21.04.2010 - 11 S 200/11 - jew. a.a.O.). Wegen der fortdauernden Unterstützungshandlungen des Klägers und seiner ständigen Präsenz bei lokalen PKK-Veranstaltungen liegt eine solche im Übrigen hier eindeutig vor.
III.
66 
Die Entscheidung, den Kläger wegen des Vorliegens des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG auszuweisen, lässt sich rechtlich nicht beanstanden.
67 
1. Das Regierungspräsidiums ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass es nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 55 AufenthG über die Ausweisung zu entscheiden hat.
68 
a) Offen bleiben kann, ob schon deshalb Ermessen auszuüben ist, weil eine Ausnahme von der Regel des § 54 AufenthG gegeben ist. Allerdings geht das Regierungspräsidium zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat selbst davon aus, dass der Kläger jedenfalls derzeit „aus familiären Gründen“ (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK), und zwar vor allem im Hinblick auf sein jüngstes, noch minderjähriges Kind A..., welches die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nicht abgeschoben werden kann. Mit Schreiben vom 02.12.2011 hat das dafür zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe erklärt, dass dem Kläger daher eine Duldung erteilt werde. Das Vorliegen eines Duldungsgrundes oder eines Abschiebungsverbots führt zwar nicht zur Unzulässigkeit einer Ausweisung, kann aber atypische Umstände in Bezug auf den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG begründen (so zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG: Beschluss des Senats vom 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19; Urteil des Senats vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - a.a.O., m.w.N.¸ vgl. zur Atypik auch GK-AufenthG, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 50 ff., 124 ff.) mit der Folge, dass der Betreffende nur nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Ob deshalb oder aus anderen Gründen von einer Atypik auszugehen ist, bedarf hier aber keiner anschließenden Klärung.
69 
b) Denn die Entscheidung über die Ausweisung des Klägers hat bereits mit Blick auf den dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nach Ermessen zu erfolgen.
70 
Zwar liegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unstreitig nicht vor, weil der Kläger nicht „im Besitz“ einer Niederlassungserlaubnis ist. Weil er mit seinem jüngsten, am ...2005 geborenen deutschen Sohn A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, kommt ihm aber nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG besonderer Ausweisungsschutz zu. Er kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen solche Gründe in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 54 AufenthG vorliegen, nach Ermessen über die Ausweisung zu entscheiden.
71 
Ein Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist hier nicht gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen Hailbronner, AuslR, Stand: Sept. 2011, § 56 AufenthG Rn. 23 ff., m.w.N.). Insbesondere liegen keine „tatbezogenen“ besonderen Umstände vor, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen. In Anbetracht der Hartnäckigkeit und Unbelehrbarkeit, mit der der Kläger trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter an PKK-nahen Veranstaltungen teilgenommen hat, und der in der mündlichen Verhandlung von ihm demonstrierten tiefen Verehrung von Öcalan und Anhängerschaft zur PKK ist damit zu rechnen, dass der Kläger weiter die PKK unterstützt.
72 
2. Die danach erforderliche Ermessensentscheidung ist vom Regierungspräsidium in rechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffen worden (§ 114 Satz 1 VwGO).
73 
Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - juris, m.w.N.). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Im Übrigen sind bei der nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zur Ermessensausweisung herabgestuften Regelausweisung die vom Ausländer ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einerseits und dessen private schutzwürdige Belange andererseits auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367, Beschluss vom 21.01.2011 - 1 B 17.10, 1 PKH 8/10 - juris, vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300).
74 
Danach sind hier zugunsten des Klägers in erster Linie seine Familie bzw. seine familiären Bindungen zu berücksichtigen. Seine Ehefrau und fast alle Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Nicht nur der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsgenhöriger; vielmehr hat sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat inzwischen auch seine älteste Tochter einbürgern lassen, bei einer anderen laufe derzeit das Einbürgerungsverfahren. Der Kläger hat berichtet, noch mit allen Kindern in einem Haushalt zu leben. Diesen Umständen, denen sicherlich eine aufenthaltsrechtlich erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, hat das Regierungspräsidium Stuttgart jedoch hinreichend Rechnung getragen. Im Rahmen der von ihm angestellten und in späteren Schriftsätzen sowie in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen hat es auch alle anderen relevanten Belange eingestellt und zutreffend gewichtet.
75 
Zwar hat das Regierungspräsidium in der Ausgangsentscheidung noch angenommen, dass der Kläger auch tatsächlich ausreisen müsse. Es hat aber später allein darauf abgestellt, dass er mit Rücksicht auf seine familiäre Situation nicht abgeschoben werden könne. Im Hinblick darauf ist dem Kläger inzwischen die Duldung aus familiären Gründen erteilt worden. In der mündlichen Verhandlung ist zudem die im Bescheid vom 10.06.2010 verfügte Abschiebungsandrohung aufgehoben worden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger bis auf Weiteres – das bedeutet jedenfalls solange seinen familiären Belangen insbesondere im Hinblick auf das jüngste deutsche Kind keine geringere Bedeutung einzuräumen ist oder sich andere maßgebliche Umstände ändern – zumindest geduldet wird und seine Familie nicht verlassen muss. Die Ausweisung ist damit schon deshalb auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als verhältnismäßig anzusehen.
76 
Die Entscheidung, den Kläger auszuweisen, begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil sich das in erster Linie mit einer Ausweisung verfolgte Ziel, die von dem betreffenden Ausländer ausgehende (Wiederholungs-) Gefahr mit der Ausreise zu bannen, hier bis auf Weiteres nicht verwirklichen lässt. Denn immerhin wird mit der Ausweisung zum einen konsequent jeder Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt, zum anderen werden dadurch die Aufenthaltsbeschränkungen des § 54a AufenthG ausgelöst bzw. der Erlass entsprechender Überwachungsmaßnahmen ermöglicht (Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.; vgl. auch Beschluss vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O., ebenso Bayer. VGH, Beschluss vom 10.07.2009 - 10 ZB 09.950 - juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49).
77 
Auch die sonstigen Ermessenserwägungen des Regierungspräsidiums sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die Ausweisungsverfügung selbstständig tragend auf den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt sei und dass für diese schon allein die angestellten spezialpräventiven Erwägungen ausschlaggebend seien. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers und schutzwürdige persönliche wirtschaftliche und sonstige Bindungen (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) wurden eingestellt und zutreffend gewürdigt. Dabei durfte zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass dieser nur sehr schlecht Deutsch spricht, lediglich wechselnden und unqualifizierten Berufstätigkeiten nachgegangen ist und offensichtlich bis heute nur im Umfeld seiner kurdischen Landsleute und „des Vereins“ Umgang und Bekanntschaften pflegt.
78 
Beim Kläger handelt es sich zwar um keine führende Persönlichkeit in der PKK. Angesichts seiner jahrelangen Unterstützung der PKK, der beschriebenen Hartnäckigkeit, mit der er trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter einschlägige Veranstaltungen besucht hat, und der deshalb weiter bestehenden gegenwärtigen Gefährlichkeit im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erweist sich die Ausweisung aber auch in Ansehung des langjährigen Aufenthalts des Klägers und insbesondere seiner familiären Bindungen nicht als unverhältnismäßig, und zwar selbst dann, wenn der Kläger nicht weiter geduldet würde (vgl. dazu auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - 41548/06 - [Trabelsi]).
IV.
79 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
80 
Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht odernicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
81 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/ Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
82 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
83 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).
84 
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
85 
Die hier vom Senat allein zu beurteilende Ausweisungsverfügung bleibt nach dem Vorgesagten aber hiervon unberührt.
B)
86 
Die Klage gegen die die Meldeauflage sowie die räumliche Beschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids vom 10.06.2010 ist vom Verwaltungsgericht zu Recht als zulässig angesehen worden. Beide Verfügungen stellen die gesetzlichen Pflichten des § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. § 54a Abs. 2 AufenthG konkretisierende Regelungen dar (ebenso Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.).
87 
Die Klage ist jedoch auch insoweit unbegründet. Zwar setzen beide Maßnahmen voraus, dass die Ausweisung sofort vollziehbar ist (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 29.11.2010 - 11 S 2481/10 - juris). Dementsprechend wurde auch unter Ziffer 5 des Bescheids vom 10.06.2011 die sofortige Vollziehung angeordnet, weshalb zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Verfügung unter dem hier zu behandelnden Aspekt nicht zu beanstanden war. Allerdings wurde mit Beschluss des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 19.11.2010 (11 K 2430/10 - juris) unter anderem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung nunmehr allein wegen der fehlenden Vollziehbarkeit der Ausweisung vorübergehend als rechtswidrig anzusehen wären. Denn mit Eintritt der Rechtskraft des Senatsurteils wäre die Erlassvoraussetzung der Vollziehbarkeit wieder erfüllt. Namentlich müsste in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden in einem von den Beteiligten angestrengten Revisionsverfahren das Bundesverwaltungsgericht, dessen Entscheidung mit ihrem Erlass notwendigerweise rechtkräftig wird, die Klage gegen die auf § 54a AufenthG gestützten Maßnahmen als unbegründet abweisen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung galt bzw. gilt lediglich vorläufig – bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft der Ausweisung. Dies legt ein Verständnis der aufschiebenden Wirkung nahe, nach welchem auch die Folgemaßnahmen nach § 54a AufenthG vom Wiedereintritt der aufschiebenden Wirkung bis zur Rechtskraft der Entscheidung bezüglich der Ausweisung in ihrer Wirksamkeit nur vorläufig suspendiert sind, selbst wenn die aufschiebende Wirkung insoweit nicht ausdrücklich angeordnet wurde (ebenso zu vergleichbaren verwaltungsverfahrensrechtlichen Konstellationen Kopp/ Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80 Rn. 31; Bader, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 80 Rn. 23). Schließlich würden die Meldepflicht und die räumliche Beschränkung nach § 54a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG auch ohne Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt, wie sie hier erfolgt ist, unmittelbar mit der Vollziehbarkeit der Ausweisung kraft Gesetzes (wieder) eintreten. Weitergehende Rechtswirkungen müssen der aufschiebenden Wirkung im Interesse des Betroffenen, insbesondere aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung, nicht beigemessen werden.
88 
In Anbetracht der Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der aktuell bestehenden Gefahr weiterer Unterstützung der PKK durch den Kläger lassen sich die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden; sie verstoßen insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
89 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 VwGO.
90 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
91 
Beschluss
92 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 und 39 Abs. 1 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
93 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1986 in Leonberg geborene Kläger ist lediger und kinderloser türkischer Staatsangehöriger. Nach der Geburt lebte er zunächst einige Jahre bei seinen Eltern in Deutschland und wuchs dann bis zu seinem 9. Lebensjahr gemeinsam mit seinem älteren Bruder bei seiner Großmutter in der Türkei auf. In der Türkei besuchte er die 1. und 2. Klasse der Grundschule. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, hielt sich auch in dieser Zeit in Deutschland rechtmäßig als Arbeitnehmer auf. 1995 kehrte der Kläger dann zu seinen Eltern nach Sindelfingen zurück. Der Kläger besuchte in Deutschland zunächst eine Vorbereitungsklasse, dann die Grundschule und wechselte nach der 4. Klasse Grundschule auf das Gymnasium. Von dort musste er nach der 6. Klasse aufgrund unzureichender Leistungen auf die Realschule wechseln. Nachdem er dort die 6. Klasse wiederholt hatte, verließ er schließlich wegen Verhaltensauffälligkeiten und Fehlzeiten die Realschule ohne Abschluss. Im Jahre 2001 und nach dem Besuch verschiedener Schulen erreichte er den Hauptschulabschluss mit dem Notendurchschnitt von 2,3. Eine danach begonnene Lehre als Kfz-Mechaniker endete vorzeitig, weil ihm betriebsbedingt gekündigt worden war. Eine abgeschlossene Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen, da er einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker wegen eigenen Fehlverhaltens wieder verlor. Danach hielt er sich bis 2003 immer wieder vorübergehend in der Türkei auf. Nach seiner Rückkehr trennten sich seine Eltern; er lebte in der Folgezeit bei seiner Mutter. Er ging nach seiner Rückkehr auch nur gelegentlichen unselbständigen Erwerbstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. durch Inhaftierungen unterbrochen waren. Zuletzt arbeitete er von Juni 2008 bis März 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma, jedoch wurde das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsverweigerung fristlos gekündigt.
Ihm wurde am 21.05.1997 eine bis 22.02.2002 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach verlängert wurde, zuletzt gültig bis zum 28.05.2009. Einen Verlängerungsantrag stellte er nicht.
Bereits im Alter von 12 Jahren begann der Kläger mit regelmäßigem Alkoholkonsum, wenig später mit dem zusätzlichen Konsum von Haschisch und Ecstacy sowie Kokain und Heroin. In der Zeit von Oktober 2006 bis Sommer 2007 nahm er - im Zuge einer Bewährungsauflage - an Gesprächen der Drogenberatung Sindelfingen teil, räumte dort seinen Drogenkonsum aber nur teilweise ein. Nach dem Ergebnis eines vom Landgericht Stuttgart in Auftrag gegebenen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 11.11.2009 ist beim Kläger zwar von einem anhaltenden, schädlichen politoxikomanen Alkohol-und Drogenmissbrauch mit im zeitlichen Verlauf wechselndem Ausmaß auszugehen, nicht hingegen von einer Suchterkrankung im engeren Sinne mit körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit. Im Übrigen diagnostizierte der Gutachter beim Kläger eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
Am 29.09.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu zwei Freizeitarresten und zur Erbringung von Arbeitsleistungen.
Am 17.01.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 12.03.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17.01.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einem Jahr Jugendstrafe, die erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 31.08.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der beiden vorgenannten Verurteilungen wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einem Jahr und vier Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung im Berufungsverfahren (vgl. Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18.11.2004) zur Bewährung ausgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang war er bereits vorübergehend vom 10.10.2003 bis 21.11.2003 sowie vom 25.05.2004 bis 18.11.2004 in Untersuchungshaft genommen worden.
Am 25.10.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der drei vorgenannten Verurteilungen wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten.
10 
Am 22.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der vier vorgenannten Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 2 Jahre und sechs Monaten. Der Rest der Strafe wurde bis zum 03.09.2009 zur Bewährung ausgesetzt.
11 
Von einer Ausweisung sahen die Ausländerbehörden zunächst ab, sprachen aber am 15.05.2002 (durch die Ausländerbehörde der Stadt Sindelfingen) sowie am 15.08.2006 (durch das Regierungspräsidium) eine ausländerrechtliche Verwarnung aus.
12 
Am 20.04.2009 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart festgenommen und verbüßte während der U-Haft auch Ersatzfreiheitsstrafen aus vorangegangenen Verurteilungen.
13 
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 04.12.2009, rechtskräftig seit dem 16.04.2010, wurde er wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er in den Morgenstunden des 20.04.2009 zusammen mit einem Mittäter maskiert und mit einem Messer bewaffnet eine Spielothek betreten und den dort Angestellten mit einem auf ihn gerichteten Messer bedroht und zur Freigabe des Weges zur Kassenschublade veranlasst hatte. Dabei erbeuteten sie Bargeld in Höhe von mindestens 4.000,- EUR das sie allerdings auf der anschließenden Flucht größtenteils wieder verloren.
14 
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger mit Verfügung vom 25.06.2010 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei auf seine Kosten an und wies ihn darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, dass seine Abschiebung für den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt werde. Die Ausweisungsverfügung wurde als Ermessensausweisung auf § 55 Abs. 1 AufenthG gestützt. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bestehe, weil der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Seine Ausweisung setze daher außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche, hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung durch ein persönliches Verhalten voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Straftaten. Mit ausführlicher Begründung bejahte das Regierungspräsidium eine solche Wiederholungsgefahr im Bereich der Gewaltkriminalität. Sie komme in der schweren und besonders häufigen Straffälligkeit, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der Ergebnislosigkeit der Hafterfahrung und der ausländerrechtlichen Verwarnungen zum Ausdruck und werde durch die fortbestehende Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkt. Auch ein unterstellter beanstandungsfreier Haftvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu, zumal bereits eine vorherige Haftverbüßung keinerlei nachhaltige Wirkung auf sein Verhalten gehabt habe. Wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegen. Zu seinen Gunsten greife kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG ein, denn ein solcher gelte nur für Unionsbürger. Nationaler Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG greife nicht, weil der Kläger nicht im Besitz der dafür erforderlichen Aufenthaltserlaubnis sei. Unter Würdigung und Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe und auch im Hinblick auf den Schutz nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kam das Regierungspräsidium Stuttgart zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung wegen der durch den Kläger wiederholt begangenen schwerwiegenden Verstöße und der Wiederholungsgefahr verhältnismäßig sei.
15 
Der Kläger erhob am 06.07.2010 zum Verwaltungsgericht Stuttgart Klage und machte geltend: Er lebe seit 1 1/2 Jahrzehnten im Bundesgebiet. Sein Aufenthaltsrecht stütze sich auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG. Der Umstand, dass der Kläger gutachterlich als dissoziale Persönlichkeit eingeordnet worden sei, rechtfertige seine Ausweisung nicht. Die Anpassungsschwierigkeiten in der Türkei wären für ihn unlösbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ausweisung wäre eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates. Eine solche Gefahr stelle der Kläger nicht dar. In der Sache verdeutliche auch EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - Rs C-145/09 , dass nach dem Maßstab des Art. 28 Abs. 3 lit. a) 2004/38/EG eine Ausweisung des Klägers ausscheide. Seine Straftat gefährde die Sicherheit des Staates nicht.
16 
Der Beklagte trat unter Berufung auf die Ausführungen in der angegriffenen Verfügung der Klage entgegen.
17 
Mit Urteil vom 28.03.2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Das Regierungspräsidium habe die Ausweisung zutreffend auf § 55 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 und 14 ARB 1/80 gestützt und den Kläger ermessensfehlerfrei aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze, denn er sei in Deutschland geboren worden und habe über fünf Jahre bei seinem Vater, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe, gelebt. Das Aufenthaltsrecht gelte unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst eine Beschäftigung ausübe oder nicht. Aufgrund dieser Rechtsstellung bestehe für den Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80, und er könne, selbst wenn er nach nationalem Recht einen Ist-Ausweisungstatbestand (§ 53 AufenthG) verwirklicht habe, nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters finde Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Unionsbürgerrichtlinie auf den Status des Klägers weder Anwendung noch sonst Berücksichtigung. Das Regierungspräsidium Stuttgart sei weiter mit Recht davon ausgegangen, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Ausweisung des Klägers nicht entgegenstehe. Eine Ausweisung des Klägers komme lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut gegeben sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe diese Voraussetzungen zutreffend bejaht. Es bestehe nach der Verurteilung vom 04.12.2009 eine erhebliche Gefahr, dass der Kläger wieder ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten begehen werde. Im angefochtenen Bescheid habe das Regierungspräsidium eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen und beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter Straftaten der Beschaffungs- und Gewaltkriminalität festgestellt. Dabei habe es sich auf die Vielzahl der seit 2000 begangenen Delikte, auf die hohe Rückfallgeschwindigkeit, auf seine Unbelehrbarkeit auch nach entsprechenden Verwarnungen und Inhaftierungen gestützt. Selbst die Tatsache, dass einer seiner Brüder im Jahre 2004 bereits wegen schwerer Straftaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben worden und ihm damit die ausländerrechtlichen Folgen von delinquentem Verhalten ganz konkret vor Augen geführt worden seien, habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die angesichts des strafrechtlichen Werdegangs große Gefahr weiterer Gewaltkriminalität werde auch durch die vom Gutachter festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstruktur verstärkt. Da der Kläger keine Aufenthaltserlaubnis besitze, genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG keinen besonderen Ausweisungsschutz. Das Regierungspräsidium habe das Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Danach seien bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung habe das Regierungspräsidium zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei und sich seit rund 1 1/2 Jahrzehnten, bis auf kurze Unterbrechung, ununterbrochen rechtmäßig hier aufgehalten habe. Das Regierungspräsidium habe ferner die Entwicklung der Lebensverhältnisse des Klägers während seines lang andauernden Aufenthalts berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass er zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nur gelegentlich unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen, überwiegend aber beschäftigungslos gewesen sei. Er habe sich im Bundesgebiet keine sichere wirtschaftliche Lebensgrundlage aufgebaut. Seine fehlende Integration komme auch in beharrlichen Verstößen gegen die deutsche (Straf-) Rechtsordnung zum Ausdruck. Das Regierungspräsidium habe zutreffend die wirtschaftliche Bindung des Klägers im Bundesgebiet durch sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt. Es habe ferner das Ermessen auch im Hinblick auf die persönlichen Bindungen des Klägers, nämlich seine Beziehung zu seiner noch lebenden Mutter und seinem Onkel, pflichtgemäß ausgeübt. Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit dem Kläger in einer familiären Lebensgemeinschaft lebten, seien gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinreichend berücksichtigt worden. Zutreffend sei erkannt worden, dass die Ausweisung mit der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Kläger künftig daran hindere, die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und dass damit ein Eingriff in Art. 6 GG vorliege. Allerdings verbiete Art. 6 GG auch einen für die Beteiligten schwerwiegenden Eingriff nicht schlechthin. Im vorliegenden Fall beruhe die Ausweisung auf einem wiederholten, schweren kriminellen Fehlverhalten des Klägers. Der staatliche Schutz der Gesellschaft vor etwaigen weiteren Beeinträchtigungen habe ebenfalls Verfassungsrang und müsse in diesem Fall wegen der konkreten Wiederholungsgefahr Vorrang genießen. Der Kläger habe die zu einem Eingriff in Art. 6 GG führenden Gründe selbst geschaffen. Die Bindung zu seinen Familienangehörigen habe ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Die Bindung eines volljährigen erwachsenen Menschen zu seinen Verwandten sei ferner durch eine fortschreitende „Abnabelung" geprägt. Dem Kläger könne daher eine eigenverantwortliche Lebensführung zugemutet werden. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt. Angesichts der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten sei der Allgemeinheit das Risiko einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers unter dem Gesichtspunkt des vorrangigen Schutzes der Bevölkerung vor Gewaltdelikten nicht zuzumuten. Die Ausweisung sei zur Erreichung des beabsichtigten Zwecks erforderlich und angemessen. Ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen durch schwerwiegende Straftaten sei nicht ersichtlich. Die Rückkehr in seine Heimat sei dem Kläger auch zuzumuten. Zwar sei er in Deutschland geboren und aufgewachsen; trotzdem sei davon auszugehen, dass er als Sohn türkischer Staatsangehöriger die türkische Sprache mindestens in den Grundzügen beherrsche. Dafür sprächen auch sein mehrmonatiger Schulaufenthalt in der Türkei und seine kurzzeitigen Aufenthalte dort. Auch einer seiner Brüder, der bereits 2004 dorthin abgeschoben worden sei, lebe in seinem Heimatland. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie vom Regierungspräsidium nicht bereits bei Erlass befristet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbotes nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle insofern auf die Umstände des Einzelfalls ab. Angesichts des hier mit der Ausweisung verfolgten gewichtigen öffentlichen Interesses und der demgegenüber geringer wiegenden Belange des Klägers sei es nicht ermessensfehlerhaft, ihn zunächst unbefristet auszuweisen, die Frage der Befristung aber von seiner künftigen persönlichen Entwicklung abhängig zu machen und in einem gesonderten Verfahren zu prüfen. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen völker- und europarechtlichen Vorschriften. Einer Ausweisung des Klägers stehe nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen, denn der hier überwundene Ausweisungsschutz des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sei weitergehend als derjenige aus Art. 3 Abs. 3 ENA. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen das durch Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Zwar stelle die Ausweisung einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Dieser sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn die Ausweisung sei, wie dargelegt, in § 55 AufenthG gesetzlich vorgesehen, und sie stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Grundordnung unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig sei. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage habe ebenfalls keinen Erfolg.
18 
Am 01.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Er berief sich zunächst auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und darauf, dass nach den vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tsakouridis aufgestellten Grundsätzen im Falle der Ausweisung die Resozialisierung des Klägers gefährdet wäre. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Sache Ziebell macht der Kläger nunmehr geltend, die angegriffene Verfügung sei schon wegen der Verletzung des sog. Vier-Augen-Prinzips des Art. 9 RL 64/221/EWG aufzuheben, das mit Rücksicht auf die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.03.2011 - 6 K 2480/10 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 aufzuheben.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Berufung zurückzuweisen.
23 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen und stellt insbesondere ein subjektives Recht des Klägers auf Resozialisierung infrage. Ein derartiger Rechtsanspruch würde dazu führen, dass nahezu jede Ausweisung eines straffälligen Ausländers ausgeschlossen sei. Im Übrigen seien die Überlegungen des EuGH in der Rechtssache Tsakouridis ungeachtet der nicht möglichen Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie nicht übertragbar, weil türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 inne hätten, keine Freizügigkeit innerhalb der Union genössen. Das sog. Vier-Augen-Prinzip gelte entgegen der Auffassung des Klägers nicht mehr weiter. Denn zum einen wäre die Fortgeltung mit Art. 59 ZP unvereinbar. Ungeachtet dessen sei dieses auch nicht durch die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 aufrechterhalten, weil diese sich nur an die Mitgliedstaaten wende.
24 
Der Senat hat eine Stellungnahme der JVA Heilbronn über die Entwicklungen des Klägers im Vollzug eingeholt. Insoweit wird auf das Schreiben der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 verwiesen.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26 
Dem Senat lagen die Ausländerakten, die Akten des Regierungspräsidiums sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der 1988 in Stuttgart geborene ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs als einziges Kind im elterlichen Haushalt auf. Der Vater ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, die Mutter besitzt die kroatische Staatsangehörigkeit. Der Kläger besuchte zunächst die Grundschule und wechselte nach der 5. Klasse Hauptschule auf die Realschule. Dort wiederholte er die 6. Realschulklasse. Nachdem er das Klassenziel der 9. Realschulklasse nicht erreicht hatte, wechselte er für ein Berufsvorbereitungsjahr erneut die Schule und erreichte dort 2006 den Hauptschulabschluss. Der Kläger bemühte sich anschließend nicht um einen Ausbildungsplatz oder um eine Arbeitsstelle, sondern lebte von Zuwendungen der Eltern.
Der Kläger ist seit dem 14.03.2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.
Ein Verfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung und Beleidigung eines Mitschülers wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 22.02.2005 gemäß § 45 Abs. 2 JGG eingestellt.
Am 16.08.2007 schlug er einen Passanten auf den Rücken, als dieser ihn auf seine überhöhte Geschwindigkeit und undisziplinierte Fahrweise ansprach und sich von ihm entfernen wollte, nachdem der Kläger ihn zunächst bedroht und schließlich noch beleidigt hatte. Dieses Verfahren wurde ebenfalls eingestellt.
Am 28.08.2007 wurde der Kläger wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes vorläufig fest- und aufgrund eines am 29.08.2007 vom Amtsgericht Stuttgart erlassenen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen.
Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 05.03.2008 wurde der Kläger wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt. Das Landgericht ordnete gleichzeitig die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Kläger hatte am 21.08.2007 aus Eifersucht zusammen mit einem von ihm angestifteten Mittäter den 19-jährigen französischen Staatsangehörigen Ivan S. ermordet.
Der Chefarzt der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. gab am 23.01.2009 einen Führungsbericht über den Kläger ab. Darin heißt es u.a., dass eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der begangenen Straftat beim Kläger bislang nicht stattgefunden habe. Von einer Verantwortungsübernahme sei dieser noch weit entfernt.
Nach Anhörung wies das Regierungspräsidiums Stuttgart daraufhin den Kläger mit Verfügung vom 25.05.2009 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an, wobei er darauf hingewiesen wurde, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe und der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei (Ziffer 2). Gleichzeitig wurde er darüber informiert, dass seine Abschiebung - vorbehaltlich der Bestandskraft der Verfügung - im Zeitpunkt der Haftentlassung beabsichtigt sei. Die Abschiebung wurde dem Kläger für diesen Zeitpunkt angekündigt.
In der Begründung heißt es u.a.: Der Kläger besitze eine Rechtsposition und ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und genieße aufgrund dessen Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Danach gälten die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 nur vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt seien. Dabei seien die materiell- rechtlichen Grundsätze zu beachten, die für freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Anwendung fänden. Die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setze demnach insbesondere voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine strafrechtliche Verurteilung könne eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen sogenannten Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr besonders schwerwiegender Straftaten. Der Kläger sei vom Landgericht Stuttgart am 05.03.2008 wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Gleichzeitig sei die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Die vom Kläger begangene Straftat stelle als Kapitalverbrechen ein persönliches Verhalten im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dar. Dieses gebe Anlass, den Kläger aus dem Bundesgebiet auszuweisen. Daran ändere auch die vom Strafgericht aufgrund des psychiatrischen Gutachtens getroffene Feststellung einer krankhaft seelischen Störung und einer dadurch erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit und damit auch erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB nichts. Die vom Kläger - wenn auch im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit - begangene Gewalttat des Mordes stelle zweifelsfrei einen Verstoß, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Sie sei auch ein schwerwiegender Ausweisungsanlass. Die Ausweisung erfolge wegen der Schwere der abgeurteilten Straftat sowie der konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Verstöße gegen die geltende Rechtsordnung. Im Falle des Klägers bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr einer ähnlich gelagerten schweren Straftat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Kläger weiterhin krank und neige zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen und die Wahrscheinlichkeit spreche nach Auffassung des Sachverständigen dafür, dass beim Kläger - etwa im Rahmen einer Zuspitzung der Situation - weiter mit erheblichen Gewalttaten zu rechnen sei. Die Neigung zu Aggressionshandlungen und Gewalttätigkeiten habe der Kläger in der Vergangenheit wiederholt gezeigt. Wegen der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat und der bestehenden hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe einer Ausweisung Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Für freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wie auch für türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 besitzen, sei eine Ausweisung ungeachtet des tatsächlich verwirklichten Ausweisungstatbestandes nur im Ermessenswege auf der Grundlage des § 55 AufenthG zulässig. Das Regierungspräsidium Stuttgart gehe davon aus, dass für den Kläger auch die nationalen Schutzvorschriften des § 56 AufenthG Anwendung fänden. Danach könne der Kläger, der eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mehr als 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Ein solcher Fall liege beim Kläger vor. Da, wie dargelegt, eine hohe und konkrete Wiederholungsgefahr bestehe, sei die Rechtshürde des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG überwunden. Ein nationales Ausweisungsverbot liege damit nicht vor und über die Ausweisung sei im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 nach Ermessen zu entscheiden. Mit dem von ihm begangenen Kapitalverbrechen erfülle der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Danach könne eine Ausweisung erfolgen, wenn der betreffende Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen habe. Nach einer umfänglichen Würdigung der schutzwürdigen persönlichen wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers kam das Regierungspräsidium zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung keine unverhältnismäßige Folge der schweren Gewalttat des Klägers darstelle, auch wenn diese im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit begangen worden sei. Die Ausweisung als Maßnahme der polizeilichen Gefahrenabwehr wurde unter Berücksichtigung der sehr hohen Wiederholungsgefahr nicht als unverhältnismäßig angesehen und sei auch mit Art. 8 EMRK vereinbar. Einer Ausweisung stehe auch nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen. Der Kläger habe, wie oben dargelegt, gegen die öffentliche Ordnung verstoßen und damit könne der völkerrechtliche Ausweisungsschutz aus Art. 3 Nr. 3 des ENA ihn nicht vor einer Ausweisung schützen. Zudem sei der Schutz aus Art. 3 Nr. 3 ENA nicht höher als die Rechtsschranke aus Art. 14 ARB 1/80, die im Falle des Klägers ebenfalls überwunden sei. Die Abschiebungsandrohung habe ihre Rechtsgrundlage in § 59 AufenthG. Da sich der Kläger in Haft bzw. im Maßregelvollzug befinde, bedürfe es in seinem Fall nach § 59 Abs. 5 AufenthG keiner Fristsetzung. Vielmehr werde ein Ausländer in diesen Fällen aus der Haft bzw. Unterbringung abgeschoben. Es sei davon auszugehen, dass bis dahin über eine ggf. erhobene Klage rechtskräftig entschieden und die Ausweisung damit unanfechtbar und die Ausreisepflicht vollziehbar sein werde.
10 
Der Kläger erhob am 02.06.2009 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart.
11 
Zur Begründung trug er unter anderem vor: Der Kläger erfülle als türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Die Ausweisung sei rechtswidrig. Zunächst sei Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/98/EG im Rahmen des Art. 14 ARB 1/80 anzuwenden. Die Vorschrift führe nicht nur dazu, dass § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU anzuwenden sei, vielmehr werde dadurch auch der Begriff der öffentlichen Sicherheit eingeengt. Schutzgut des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG seien die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen und das Überleben der Bevölkerung. Dieses sei vom Kläger niemals gefährdet worden. Weiter verstoße seine Ausweisung gegen Art. 8 EMRK. Der erzieherische Gedanke in dieser Bestimmung werde vom Beklagten vorliegend verleugnet. Zudem beherrsche der Kläger auch nicht die türkische Sprache. Der Vater habe sich mit der Mutter, einer kroatischen Staatsangehörigen, darauf verständigt, nur in deutscher Sprache miteinander zu kommunizieren. Der Kläger sei danach faktischer Inländer. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass keiner der Mittäter bei der schrecklichen Tat türkisch gesprochen habe. Weiter bestehe die Gefahr, dass der Kläger bei einer Abschiebung in die Türkei den bereits in der Haft unternommenen Suizidversuch vollenden werde.
12 
Der Beklagte trat der Klage entgegen und nahm im Wesentlichen Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid. Ergänzend trug er vor, dass dem Vorbringen des Klägers, die türkische Sprache nicht einmal in den Grundzügen zu beherrschen, entgegengehalten werden müsse, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung auch hier im Bundesgebiet geborene türkische Staatsangehörige die türkische Sprache zumindest in rudimentären Teilen vermittelt bekämen und auch sprächen.
13 
Mit Urteil vom 21.10.2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei (ARB 1/80) zugutekomme. Er besitze als in Deutschland geborener Familienangehöriger eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80. Beide Elternteile des Klägers verfügten über ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet. Obwohl der Kläger selbst über keine Berufsausbildung verfüge und auch zu keiner Zeit berufstätig gewesen sei, habe er die von seinem Vater abgeleiteten Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren. Aufgrund dieser Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genieße der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und könne - ungeachtet der Erfüllung eines sogenannten Ist- oder Regelausweisungstatbestands nach nationalem Recht - nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend sei. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters sei im Falle des Klägers Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG nicht zu berücksichtigen. Beim Kläger komme eine Ausweisung lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut bestehe. Diese Voraussetzungen seien vom Regierungspräsidium zutreffend bejaht worden. Die Gefahr, dass der Kläger ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten wieder begehen werde, sei nach Berücksichtigung aller Umstände nicht ausgeschlossen. Dabei seien geringere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung zu stellen, wenn die Verurteilung - wie hier - wegen schwerwiegender Delikte erfolgt sei. Es sei allgemein anerkannt, dass je schwerer die zu besorgende Beeinträchtigung wiege, desto geringer die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit neuer Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seien. Der Kläger habe einen Mord, also ein Verbrechen schwerster Kriminalität begangen. Bei einer solchen Verfehlung sei eine auch entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten ausreichend, um eine negative Prognose zu stellen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei für den konkreten Fall zu prüfen, ob eine Wiederholungsgefahr bestehe. Grundlage dafür sei eine umfassende Beurteilung der Person des Ausländers, seines Verhaltens, seiner Lebensverhältnisse, Art und Schwere der Tat, Umstände der Begehung, Art und Höhe der Strafe, sowie die weitere Entwicklung nach der Straftat. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter schwerwiegender Straftaten festgestellt. Dabei habe es sich auf Sachverständigenausführungen gestützt, nach denen der Kläger weiterhin krank sei und zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen neige. Bereits im Jahre 2005 habe er Mitschülern Faustschläge ins Gesicht verpasst und 2007 einen Passanten, der ihn wegen seiner undisziplinierten Fahrweise mit dem Pkw angesprochen gehabt habe, bedrängt und in den Rücken geschlagen. Der Kläger habe ferner auch seine Mutter geschlagen und sei seiner früheren Freundin gegenüber wiederholt gewalttätig geworden. In Verbindung mit der beim Kläger diagnostizierten krankhaften seelischen Störung könne dies durchaus zu weiteren Gewalttätigkeiten führen bzw. solche auslösen. Nach der fachärztlichen Stellungnahme des Dr. S., Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, habe sich der Kläger bislang mit der von ihm begangenen Straftat nicht auseinandergesetzt und diese nicht aufgearbeitet. Von einer Verantwortungsübernahme sei er noch weit entfernt. Der Beklagte habe sein Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.
14 
Am 12.11.2009 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und sogleich unter Stellung eines Antrags zunächst dahingehend begründet, dass die Ausweisungsverfügung gegen Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG verstoße. Der Kläger beherrsche die türkische Sprache nicht und sei angesichts des bei ihm festgestellten niedrigen Intelligenzquotienten auch nicht in der Lage, diese zu erlernen. Der Kläger habe ohne die Zustimmung der Eltern vom Kinderarzt Ritalin verschrieben bekommen, das insbesondere in Kombination mit Drogen visuelle Halluzinationen, psychotisches Verhalten sowie Aggressionen auslösen könne, weshalb die Hoffnung und Erwartung bestehe, dass der Kläger resozialisierbar sei. Nach Ergehen der Vorabentscheidung in der Sache Ziebell durch den EuGH am 08.12.2011 macht der Kläger nunmehr geltend, dass die angegriffene Verfügung gegen das in Art. 9 RL 64/221/EWG und das dort niedergelegte „Vier-Augen-Prinzip“ verstoße, das mit Rücksicht auf die sog. „Stand-Still-Klausel“ des Art.13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
15 
Der Kläger beantragt,
16 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2009 aufzuheben.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
die Berufung zurückzuweisen.
19 
Zur Begründung verweist er darauf, dass es jedenfalls dem Kläger zumutbar und möglich sei, in der noch länger andauernden Haft die türkische Sprache in den Grundzügen zu lernen. Wenn insoweit auf den niedrigen Intelligenzquotienten verwiesen werde, müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger immerhin mehrere Jahre die Realschule besucht habe.
20 
Durch Beschluss des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 wurde angeordnet, dass die Strafvollstreckung entgegen dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vor der Unterbringung zu erfolgen hat. Die Beschwerde des Klägers hiergegen wies das Landgericht Heidelberg nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens Dr. P. vom 12.07.2010 durch Beschluss vom 11.11.2010 zurück.
21 
Durch Beschluss vom 30.12.2009 war im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren Ziebell das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
22 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
23 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart, die Strafakten des Landgerichts Stuttgart und die Strafvollstreckungsakten vor.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
25 
Auch nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage ist die Ausweisungsentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
I.
26 
Da der Kläger abgeleitet von seinem ursprünglich als Arbeitnehmer beschäftigen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
27 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
28 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-317/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
29 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
30 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
31 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010 Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
35 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
36 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94 Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ), wobei insoweit eine sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
37 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
38 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
39 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
40 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
41 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risikos gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts der vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
42 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
43 
Ausgehend hiervon stellt die Ausweisung eine nach Art. 14 ARB 1/80 zulässige und namentlich verhältnismäßige Maßnahme dar. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Dr. P. vom 12.07.2010 und den nachfolgenden Beschlüssen des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 sowie des Landgerichts Heidelberg vom 11.11.2010 eindrücklich ablesen lässt, hat bislang eine grundlegende Auseinandersetzung des Klägers mit der von ihm begangenen Tat wie auch insgesamt mit seiner gesamten bisherigen Lebenssituation nicht stattgefunden, was jedoch unerlässlich ist, um zu einer wenigstens im Ansatz günstigeren Sozialprognose zu gelangen. Nach der ausführlich begründeten Feststellung des Gutachters liegt beim Kläger eine therapiebedürftige ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor. Eine Therapie ist bislang nicht durchgeführt worden, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich der Kläger hierfür nicht in dem erforderlichen Maße geöffnet hat, was auch in seiner jüngsten, auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung, sich sobald als möglich in die Türkei abschieben zu lassen, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses zugrunde gelegt, geht vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus, was eine Beendigung des Aufenthalts rechtfertigt.
44 
Die Ausweisung stellt in Anbetracht des erheblichen, vom Kläger unverändert ausgehenden Gefahrenpotentials auch vor dem Hintergrund, dass er im Bundesgebiet geboren wurde und niemals in der Türkei gelebt hat, eine verhältnismäßige und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbare Maßnahme dar. Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass er gegenwärtig die türkische Sprache nicht beherrscht, sondern alltagstaugliche Sprachkenntnisse erst erwerben muss. Entgegen der Auffassung seines Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch keine unlösbaren Schwierigkeiten für den Kläger, diese Sprachkenntnisse zu erwerben. Seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge hat er immerhin zusammen mit einem in der JVA ... einsitzenden türkischen Staatsangehörigen mittlerweile begonnen, die türkische Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass er den Hauptschulabschluss erreicht und zuvor auch mehrere Jahre mit teilweise sogar durchschnittlichen Leistungen die Realschule besucht hat, steht der Annahme einer unzureichenden geistigen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegen.
45 
Eine unverhältnismäßige Maßnahme liegt hier schon deshalb nicht vor, weil der Kläger es selbst gegenwärtig ausdrücklich wünscht, in die Türkei zurückgeführt zu werden, um dort, wie er in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, möglichst schnell und nicht erst nach Ablauf der Haftzeit im August 2017 einen Neuanfang zu versuchen. Bei einer solchen Ausgangslage wäre die Annahme, dass eine Aufenthaltsbeendigung unzumutbar und daher unverhältnismäßig sein könnte, bereits im Ansatz verfehlt. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten, der sich einer Klagerücknahme verweigert hat, weshalb wegen der fehlenden Postulationsfähigkeit des Klägers das Verfahren weitergeführt werden musste, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht mehr verfahrenshandlungsfähig und damit prozessunfähig sein könnte, weshalb der Prozess auch nicht nach § 241 ZPO i.V.m. § 173 VwGO unterbrochen ist, ganz abgesehen davon, dass nach § 246 ZPO bei anwaltlicher Vertretung eine Unterbrechung nicht allein kraft Gesetzes eintritt. Selbst wenn es richtig sein sollte, dass es bei einer gleichzeitigen Einnahme von Ritalin und dem Konsum von Drogen, namentlich von Cannabis bei den Konsumenten zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vergleichbaren Bewusstseinsstörungen kommen kann, bestehen - auch nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - keine Anhaltspunkte dafür, dass solches beim Kläger gegenwärtig der Fall sein könnte. Die diesbezügliche Einschätzung des Prozessbevollmächtigten beruht auf Spekulation. Zwar ist es richtig, dass der Kläger nunmehr wieder mit Ritalin behandelt wird. Nach dem Bericht des Sozialinspektors O. wurde auch bei einer allerdings einzigen, am 09.02.2012 durchgeführten Urinkontrolle der Konsum von Cannabis nachgewiesen. Sämtliche Urinkontrollen danach blieben jedoch wiederum negativ. Der Kläger hat auch gegenüber dem Senat betont, dass ein weiterer Cannabiskonsum nicht stattgefunden und es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – auch mit Rücksicht auf die verstrichene Zeit – keinerlei Grundlage für die vom Prozessbevollmächtigen angestellten Vermutungen. Ob die Entscheidung des Klägers in jeder Hinsicht vernünftig ist, ist eine andere Frage. Unvernünftige Entscheidungen begründen jedoch keine Verfahrenshandlungsunfähigkeit.
46 
Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die gleichfalls in diesem Zusammenhang im Berufungsverfahren geäußerte Vermutung des Prozessbevollmächtigen, der Kläger könne wegen des Konsums von Drogen und der Einnahme von Ritalin entgegen der Einschätzung des Landgerichts Stuttgart im Urteil vom 05.03.2008 schuldunfähig gewesen sein, keinerlei tatsächliche Grundlage hat. Denn nach den ausdrücklichen Einlassungen des Klägers gegenüber Dr. P. (vgl. dessen Gutachten S. 24 f.) hatte er seit Abschluss des Berufsvorbereitungsjahrs im Sommer 2006 bis zur Tat kein Ritalin mehr eingenommen, sondern nur noch gekifft.
47 
Aber ungeachtet dessen folgt angesichts der erheblichen vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahren für Leib oder Leben anderer Mitmenschen auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Tatsache der Geburt im Bundesgebiet und der fehlenden Sprachkenntnisse keine Unverhältnismäßigkeit (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - [Trabelsi]). Nach dieser Rechtsprechung ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits. Die Umstände, dass der Kläger in Deutschland geboren, niemals in der Türkei gelebt hat und die türkische Sprache nicht beherrscht, sind zwar von erheblicher Bedeutung, ein absolutes Ausweisungshindernis begründen sie jedoch nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger jedenfalls beruflich bislang in keiner Weise integriert war und vor seiner Inhaftierung wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stand, führen sie auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung, wenn man davon ausgehen kann, dass er in der Lage sein wird, alltagstaugliche Sprachkenntnisse zu erwerben.
48 
2. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 - RFRL) nicht deshalb als rechtswidrig, insbesondere als unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen nicht befristet wurden.
49 
Allerdings steht einer Prüfung der Ausweisung am Maßstab der Richtlinie nicht entgegen, dass diese zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der hier im Streit befindlichen Ausweisung vom 25.05.2009 noch nicht umzusetzen war (vgl. Art. 20 Abs. 1 RFRL). Denn maßgeblich ist insoweit grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45-06 - BVerwGE 130, 20), soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderen ergibt. Eine gegenteilige Annahme wird auch nicht durch die vom EuGH in der Rechtssache Polat (Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06) entwickelten Grundsätze nahegelegt.
50 
Mit Blick auf den Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie zeichnen sich Übergangsfälle der vorliegenden Art dadurch aus, dass der zu beurteilende Sachverhalt zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist gewissermaßen eröffnet wurde, als am 25.05.2009 die Ausweisung verbunden mit einer Abschiebungsandrohung erlassen wurde. Dieser Sachverhalt ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Denn das einen zentralen Bestandteil der Rückführungsrichtlinie bildende Verfahren der Aufenthaltsbeendigung im eigentlichen Sinn, nämlich - die auf welche Art auch immer - durchzuführende Aufenthaltsbeendigung, hat noch gar nicht stattgefunden. Im Regelfall geht das Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL erst mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung „einher“ (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA lit. a) RFRL; vgl. zu Besonderheiten des vorliegenden Falles noch im Folgenden).
51 
In einer derartigen regelhaften Fallkonstellation eines noch nicht abgeschlossenen Sachverhalts hat der Europäische Gerichtshof im Sinne einer möglichst baldigen und effektiven Anwendung der Grundprinzipien der Richtlinie ohne weiteres deren Anwendbarkeit bejaht. So hat er im Urteil vom 30.11.2009 (C-357/09 PPU Rdn. 37 ff.) in der Rechtssache Kadzoev angenommen, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL vorgegebenen maximalen Haftzeiten auch für solche Inhaftierungen gelten, die vor der Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist begonnen hatten. Im Urteil vom 28.04.2011 (C-61/11 PPU) in der Rechtssache El Dridi, der nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs eine Rückführungsentscheidung vom 08.05.2004 zugrunde lag, ging er wiederum für alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte ebenfalls von der Anwendbarkeit der Richtlinie aus. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in beiden Entscheidungen jeweils den Umstand besonders hervorgehoben, dass es dort um Freiheitsentziehungen ging, die die einschneidensten Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie darstellen. Es handelt sich aber hierbei nicht um strukturelle Besonderheiten, die im Übrigen keine Geltung beanspruchen können.
52 
Wäre hiernach die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, so ist allerdings der vorliegende Fall durch die Besonderheiten gekennzeichnet, dass nach Auffassung des Senats eine Ausweisungsverfügung gar keine Rückkehrentscheidung ist und über eine Befristung erst (aber dann spätestens) von Amts wegen im Kontext der eigentlichen Aufenthaltsbeendigung zu befinden ist. Wollte man dies anders sehen, so hätte die Bundesrepublik nach Auffassung des Senats von der eingeräumten Opt-Out-Möglichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b RFRL) in zulässiger Weise Gebrauch gemacht (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris und 07.12.2011 - 11 S 897/11 - juris).
53 
Nur wenn man die hier nicht geteilte Auffassung verträte, dass bereits in der Rückkehrentscheidung selbst eine Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots zu treffen wäre, würde sich in aller Deutlichkeit die dann entscheidungserhebliche Frage stellen, ob hier gewissermaßen nachträglich nach den Grundsätzen der Rechtssache Polat, diese Rechtslage auch heute noch als Maßstab für die gerichtliche Beurteilung heranzuziehen wäre. Nach Auffassung des Senats wäre dieses jedoch nach dem grundsätzlichen Ausgangspunkt des Europäischen Gerichthofs in den Rechtssachen Kadzoev und El Dridi zu bejahen, da die Wirkung des Einreiseverbots aus der Natur der Sache erst Wirkung entfalten kann, wenn die Aufenthaltsbeendigung abgeschlossen wurde. Auch hier legt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auf eine effektive, möglichst frühzeitige Geltung der maßgeblichen Grundsätze der Rückführungsrichtlinie ausgerichtet ist, wozu gerade auch die Einräumung einer Rückkehrperspektive für die Betroffenen gehört, eine Berücksichtigung auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nahe. Diese Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs liegt nach Überzeugung des Senats nicht zuletzt auch darin begründet, dass – anders als in der Rechtssache Polat, in der bereits gemeinschaftsrechtliche Regelungen vorhanden waren, die nur durch die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) abgelöst worden waren – hier der Komplex der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bislang gemeinschaftsrechtlich überhaupt nicht geregelt war.
54 
3. Die Ausweisung erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil der angegriffene Bescheid nicht in einem weiteren Verwaltungsverfahren überprüft worden war. Denn nach der Rechtsprechung des Senats ist das sog. „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht mehr anzuwenden (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris)
II.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
56 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
57 
Beschluss vom 10. Februar 2012
58 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
24 
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
25 
Auch nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage ist die Ausweisungsentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
I.
26 
Da der Kläger abgeleitet von seinem ursprünglich als Arbeitnehmer beschäftigen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
27 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
28 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-317/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
29 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
30 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
31 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010 Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
35 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
36 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94 Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ), wobei insoweit eine sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
37 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
38 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
39 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
40 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
41 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risikos gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts der vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
42 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
43 
Ausgehend hiervon stellt die Ausweisung eine nach Art. 14 ARB 1/80 zulässige und namentlich verhältnismäßige Maßnahme dar. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Dr. P. vom 12.07.2010 und den nachfolgenden Beschlüssen des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 sowie des Landgerichts Heidelberg vom 11.11.2010 eindrücklich ablesen lässt, hat bislang eine grundlegende Auseinandersetzung des Klägers mit der von ihm begangenen Tat wie auch insgesamt mit seiner gesamten bisherigen Lebenssituation nicht stattgefunden, was jedoch unerlässlich ist, um zu einer wenigstens im Ansatz günstigeren Sozialprognose zu gelangen. Nach der ausführlich begründeten Feststellung des Gutachters liegt beim Kläger eine therapiebedürftige ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor. Eine Therapie ist bislang nicht durchgeführt worden, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich der Kläger hierfür nicht in dem erforderlichen Maße geöffnet hat, was auch in seiner jüngsten, auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung, sich sobald als möglich in die Türkei abschieben zu lassen, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses zugrunde gelegt, geht vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus, was eine Beendigung des Aufenthalts rechtfertigt.
44 
Die Ausweisung stellt in Anbetracht des erheblichen, vom Kläger unverändert ausgehenden Gefahrenpotentials auch vor dem Hintergrund, dass er im Bundesgebiet geboren wurde und niemals in der Türkei gelebt hat, eine verhältnismäßige und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbare Maßnahme dar. Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass er gegenwärtig die türkische Sprache nicht beherrscht, sondern alltagstaugliche Sprachkenntnisse erst erwerben muss. Entgegen der Auffassung seines Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch keine unlösbaren Schwierigkeiten für den Kläger, diese Sprachkenntnisse zu erwerben. Seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge hat er immerhin zusammen mit einem in der JVA ... einsitzenden türkischen Staatsangehörigen mittlerweile begonnen, die türkische Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass er den Hauptschulabschluss erreicht und zuvor auch mehrere Jahre mit teilweise sogar durchschnittlichen Leistungen die Realschule besucht hat, steht der Annahme einer unzureichenden geistigen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegen.
45 
Eine unverhältnismäßige Maßnahme liegt hier schon deshalb nicht vor, weil der Kläger es selbst gegenwärtig ausdrücklich wünscht, in die Türkei zurückgeführt zu werden, um dort, wie er in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, möglichst schnell und nicht erst nach Ablauf der Haftzeit im August 2017 einen Neuanfang zu versuchen. Bei einer solchen Ausgangslage wäre die Annahme, dass eine Aufenthaltsbeendigung unzumutbar und daher unverhältnismäßig sein könnte, bereits im Ansatz verfehlt. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten, der sich einer Klagerücknahme verweigert hat, weshalb wegen der fehlenden Postulationsfähigkeit des Klägers das Verfahren weitergeführt werden musste, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht mehr verfahrenshandlungsfähig und damit prozessunfähig sein könnte, weshalb der Prozess auch nicht nach § 241 ZPO i.V.m. § 173 VwGO unterbrochen ist, ganz abgesehen davon, dass nach § 246 ZPO bei anwaltlicher Vertretung eine Unterbrechung nicht allein kraft Gesetzes eintritt. Selbst wenn es richtig sein sollte, dass es bei einer gleichzeitigen Einnahme von Ritalin und dem Konsum von Drogen, namentlich von Cannabis bei den Konsumenten zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vergleichbaren Bewusstseinsstörungen kommen kann, bestehen - auch nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - keine Anhaltspunkte dafür, dass solches beim Kläger gegenwärtig der Fall sein könnte. Die diesbezügliche Einschätzung des Prozessbevollmächtigten beruht auf Spekulation. Zwar ist es richtig, dass der Kläger nunmehr wieder mit Ritalin behandelt wird. Nach dem Bericht des Sozialinspektors O. wurde auch bei einer allerdings einzigen, am 09.02.2012 durchgeführten Urinkontrolle der Konsum von Cannabis nachgewiesen. Sämtliche Urinkontrollen danach blieben jedoch wiederum negativ. Der Kläger hat auch gegenüber dem Senat betont, dass ein weiterer Cannabiskonsum nicht stattgefunden und es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – auch mit Rücksicht auf die verstrichene Zeit – keinerlei Grundlage für die vom Prozessbevollmächtigen angestellten Vermutungen. Ob die Entscheidung des Klägers in jeder Hinsicht vernünftig ist, ist eine andere Frage. Unvernünftige Entscheidungen begründen jedoch keine Verfahrenshandlungsunfähigkeit.
46 
Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die gleichfalls in diesem Zusammenhang im Berufungsverfahren geäußerte Vermutung des Prozessbevollmächtigen, der Kläger könne wegen des Konsums von Drogen und der Einnahme von Ritalin entgegen der Einschätzung des Landgerichts Stuttgart im Urteil vom 05.03.2008 schuldunfähig gewesen sein, keinerlei tatsächliche Grundlage hat. Denn nach den ausdrücklichen Einlassungen des Klägers gegenüber Dr. P. (vgl. dessen Gutachten S. 24 f.) hatte er seit Abschluss des Berufsvorbereitungsjahrs im Sommer 2006 bis zur Tat kein Ritalin mehr eingenommen, sondern nur noch gekifft.
47 
Aber ungeachtet dessen folgt angesichts der erheblichen vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahren für Leib oder Leben anderer Mitmenschen auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Tatsache der Geburt im Bundesgebiet und der fehlenden Sprachkenntnisse keine Unverhältnismäßigkeit (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - [Trabelsi]). Nach dieser Rechtsprechung ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits. Die Umstände, dass der Kläger in Deutschland geboren, niemals in der Türkei gelebt hat und die türkische Sprache nicht beherrscht, sind zwar von erheblicher Bedeutung, ein absolutes Ausweisungshindernis begründen sie jedoch nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger jedenfalls beruflich bislang in keiner Weise integriert war und vor seiner Inhaftierung wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stand, führen sie auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung, wenn man davon ausgehen kann, dass er in der Lage sein wird, alltagstaugliche Sprachkenntnisse zu erwerben.
48 
2. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 - RFRL) nicht deshalb als rechtswidrig, insbesondere als unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen nicht befristet wurden.
49 
Allerdings steht einer Prüfung der Ausweisung am Maßstab der Richtlinie nicht entgegen, dass diese zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der hier im Streit befindlichen Ausweisung vom 25.05.2009 noch nicht umzusetzen war (vgl. Art. 20 Abs. 1 RFRL). Denn maßgeblich ist insoweit grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45-06 - BVerwGE 130, 20), soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderen ergibt. Eine gegenteilige Annahme wird auch nicht durch die vom EuGH in der Rechtssache Polat (Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06) entwickelten Grundsätze nahegelegt.
50 
Mit Blick auf den Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie zeichnen sich Übergangsfälle der vorliegenden Art dadurch aus, dass der zu beurteilende Sachverhalt zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist gewissermaßen eröffnet wurde, als am 25.05.2009 die Ausweisung verbunden mit einer Abschiebungsandrohung erlassen wurde. Dieser Sachverhalt ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Denn das einen zentralen Bestandteil der Rückführungsrichtlinie bildende Verfahren der Aufenthaltsbeendigung im eigentlichen Sinn, nämlich - die auf welche Art auch immer - durchzuführende Aufenthaltsbeendigung, hat noch gar nicht stattgefunden. Im Regelfall geht das Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL erst mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung „einher“ (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA lit. a) RFRL; vgl. zu Besonderheiten des vorliegenden Falles noch im Folgenden).
51 
In einer derartigen regelhaften Fallkonstellation eines noch nicht abgeschlossenen Sachverhalts hat der Europäische Gerichtshof im Sinne einer möglichst baldigen und effektiven Anwendung der Grundprinzipien der Richtlinie ohne weiteres deren Anwendbarkeit bejaht. So hat er im Urteil vom 30.11.2009 (C-357/09 PPU Rdn. 37 ff.) in der Rechtssache Kadzoev angenommen, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL vorgegebenen maximalen Haftzeiten auch für solche Inhaftierungen gelten, die vor der Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist begonnen hatten. Im Urteil vom 28.04.2011 (C-61/11 PPU) in der Rechtssache El Dridi, der nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs eine Rückführungsentscheidung vom 08.05.2004 zugrunde lag, ging er wiederum für alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte ebenfalls von der Anwendbarkeit der Richtlinie aus. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in beiden Entscheidungen jeweils den Umstand besonders hervorgehoben, dass es dort um Freiheitsentziehungen ging, die die einschneidensten Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie darstellen. Es handelt sich aber hierbei nicht um strukturelle Besonderheiten, die im Übrigen keine Geltung beanspruchen können.
52 
Wäre hiernach die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, so ist allerdings der vorliegende Fall durch die Besonderheiten gekennzeichnet, dass nach Auffassung des Senats eine Ausweisungsverfügung gar keine Rückkehrentscheidung ist und über eine Befristung erst (aber dann spätestens) von Amts wegen im Kontext der eigentlichen Aufenthaltsbeendigung zu befinden ist. Wollte man dies anders sehen, so hätte die Bundesrepublik nach Auffassung des Senats von der eingeräumten Opt-Out-Möglichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b RFRL) in zulässiger Weise Gebrauch gemacht (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris und 07.12.2011 - 11 S 897/11 - juris).
53 
Nur wenn man die hier nicht geteilte Auffassung verträte, dass bereits in der Rückkehrentscheidung selbst eine Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots zu treffen wäre, würde sich in aller Deutlichkeit die dann entscheidungserhebliche Frage stellen, ob hier gewissermaßen nachträglich nach den Grundsätzen der Rechtssache Polat, diese Rechtslage auch heute noch als Maßstab für die gerichtliche Beurteilung heranzuziehen wäre. Nach Auffassung des Senats wäre dieses jedoch nach dem grundsätzlichen Ausgangspunkt des Europäischen Gerichthofs in den Rechtssachen Kadzoev und El Dridi zu bejahen, da die Wirkung des Einreiseverbots aus der Natur der Sache erst Wirkung entfalten kann, wenn die Aufenthaltsbeendigung abgeschlossen wurde. Auch hier legt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auf eine effektive, möglichst frühzeitige Geltung der maßgeblichen Grundsätze der Rückführungsrichtlinie ausgerichtet ist, wozu gerade auch die Einräumung einer Rückkehrperspektive für die Betroffenen gehört, eine Berücksichtigung auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nahe. Diese Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs liegt nach Überzeugung des Senats nicht zuletzt auch darin begründet, dass – anders als in der Rechtssache Polat, in der bereits gemeinschaftsrechtliche Regelungen vorhanden waren, die nur durch die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) abgelöst worden waren – hier der Komplex der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bislang gemeinschaftsrechtlich überhaupt nicht geregelt war.
54 
3. Die Ausweisung erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil der angegriffene Bescheid nicht in einem weiteren Verwaltungsverfahren überprüft worden war. Denn nach der Rechtsprechung des Senats ist das sog. „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht mehr anzuwenden (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris)
II.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
56 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
57 
Beschluss vom 10. Februar 2012
58 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29. April 2009 - 4 K 1175/08 - aufgehoben.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27. März 2008 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich u.a. gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet.
Der am ...1984 in Albstadt geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs weitgehend bei seiner mittlerweile 55 Jahre alten Mutter und seinen 4 älteren Geschwistern (2 Brüder und 2 Schwestern) in Winterlingen auf. Im ersten Grundschuljahr ging er mit seinem Vater, der wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung die Bundesrepublik Deutschland verlassen musste, vorübergehend für etwa sechs Monate in die Türkei. Im zweiten Grundschuljahr hielt er sich für acht Monate mit seiner Mutter in der Türkei auf. Ein Bruder des Klägers wurde vor längerer Zeit ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben. Sein Vater, zu dem er seit seiner Rückkehr aus der Türkei keinen Kontakt mehr hat, lebt nach wie vor in der Türkei. Die Eltern leben seit dieser Zeit getrennt, die Ehe ist seit 1994 geschieden. Die Mutter war über viele Jahre mit Unterbrechungen als Näherin erwerbstätig. Sie bezieht nunmehr Rente und erhält ergänzend Sozialleistungen. Der Kläger besuchte von 1989 bis 1999 die Grund- und Förderschule. Einen Schulabschluss erlangte er dort nicht. Danach absolvierte er zunächst ein einjähriges Praktikumsjahr und begann anschließend im August 2000 eine Ausbildung als Metallfeinbearbeiter, die er aber schon nach 3 Monaten abbrach. In der Folgezeit ging er jeweils für kurze Zeit mehreren Gelegenheitsjobs nach und war immer wieder, wie auch zuletzt arbeitslos.
Im Januar 2003 lernte der Kläger während eines Türkeiurlaubs eine 1987 geborene türkische Staatsangehörige kennen, die er am 12.02.2003 in der Türkei heiratete. Seine Ehefrau lebt nach wie vor in der Türkei. Ein Antrag auf Ehegattennachzug wurde im April 2005 von der zuständigen Ausländerbehörde abgelehnt. Am 26.05.2006 wurde ein gemeinsames Kind in der Türkei geboren; dieses lebt bei der Mutter. Im Bundesgebiet war der Kläger zuletzt vor seiner Festnahme mit einer Freundin zusammen. Seit dem 20.03.2000 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fort gilt.
Der Kläger ist strafrechtlich bislang wie folgt in Erscheinung getreten:
1. Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 15.11.2001, rechtskräftig seit 23.11.2001, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis; Ableistung von 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit; Tatzeit: April 2001.
2. Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 21.03.2002, rechtskräftig seit 26.03.2002, wegen Hehlerei; Ableistung von 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit; Tatzeit: Juli 2001.
3. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 26.03.2002, rechtskräftig seit 10.06.2002, wegen Diebstahls in 3 Fällen; Jugendstrafe von 7 Monaten, deren Vollstreckung für 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Einbezogen wurde das Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 21.03.2002; letzte Tat: Oktober 2001.
4. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 01.10.2002, rechtskräftig seit 03.03.2003, wegen Diebstahls in Tateinheit mit unbefugtem Gebrauch eines Fahrzeugs und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis; Jugendstrafe von 1 Jahr ohne Bewährung. Einbezogen wurde die Entscheidung vom 26.03.2002 des Amtsgerichts Hechingen; letzte Tat: 25.02.2002.
5. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 22.07.2003, rechtskräftig seit 30.07.2003, wegen Sachbeschädigung und unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis; Jugendstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten ohne Bewährung. Einbezogen wurden die Entscheidungen des Amtsgerichts Hechingen vom 01.10.2002 und vom 26.03.2002; letzte Tat: 07.12.2002 Die Strafe wurde vom 24.03.2003 bis zum 12.01.2004 verbüßt. Mit Beschluss des Amtsgerichts Adelsheim vom 17.12.2003 wurde der Rest der Jugendstrafe bis zum 28.12.2006 zur Bewährung ausgesetzt.
10 
6. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 27.07.2004, rechtskräftig seit 04.08.2004, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 2 Fällen; Jugendstrafe von 1 Jahr und 5 Monaten, deren Vollstreckung für 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Einbezogen wurden die Entscheidungen des Amtsgerichts Hechingen vom 22.07.2003, 01.10.2002 und 26.03.2002; letzte Tat: 13.05.2004. Die Strafaussetzung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20.02.2006, rechtskräftig seit 14.03.2006, widerrufen.
11 
7. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 12.07.2005, rechtskräftig seit diesem Tag, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 2 Fällen; Freiheitsstrafe von 3 Monaten, deren Vollstreckung für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde; letzte Tat: 31.12.2004.
12 
8. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 10.01.2006, rechtskräftig seit 18.01.2006, wegen gefährlicher Körperverletzung; Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten ohne Bewährung. Einbezogen wurde die Entscheidung des Amtsgerichts Hechingen vom 12.07.2005; Tatzeitpunkt: 10.04.2005. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20.02.2006, rechtskräftig seit 14.03.2006, wurde die Strafaussetzung aus dem Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 27.07.2004 (Ziffer 6) widerrufen.
13 
9. Urteil des Landgerichts Hechingen vom 22.05.2006, rechtskräftig seit 11.10.2006, wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung; Freiheitsstrafe von 6 Jahren ohne Bewährung; Tatzeitpunkt: 21.12.2005.
14 
Nach der Verurteilung zu 4. und zu 6. wurde der Kläger jeweils im Juli 2003 und im August 2004 ausländerrechtlich verwarnt. Zwei bereits früher eingeleitete Ausweisungsverfahren wurden von der Behörde nicht weiter betrieben. Wegen der Straftaten unter 9. wurde er am 22.12.2005 festgenommen und befand sich bis Januar 2011 in Haft.
15 
Aufgrund der letzten Straftat wurde gegen den Kläger erneut ein Ausweisungsverfahren eingeleitet. Mit Schreiben vom 10.03.2006 wurde er zu einer beabsichtigten Ausweisung angehört. Mit Schreiben vom 23.04.2006 schilderte er zunächst seinen Werdegang und führte sodann aus, dass er mit seiner Eheschließung in der Türkei am 12.02.2003 einen Neuanfang in Deutschland gesucht habe. Nach der Ablehnung der Familienzusammenführung sei sein Leben jedoch weiter negativ verlaufen. Er habe seine Arbeitsstelle verloren und sei schließlich für 7 Wochen zu seiner Ehefrau in die Türkei gefahren. Anschließend habe er in Deutschland trotz der Unterstützung durch seine Schwestern keine Arbeit gefunden. Er bereue seine Taten und bitte, nicht aus Deutschland abgeschoben zu werden. Auch werde seine Frau im Mai 2006 ein Kind entbinden; gemeinsam würden sie auf eine neue Chance hoffen. Im Fall der Abschiebung müsse er zudem zum Militär, was er auf keinen Fall wolle.
16 
Mit Bescheid vom 27.05.2008 wies das Regierungspräsidium Tübingen - Bezirksstelle für Asyl - den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (1.) und drohte ihm die Abschiebung direkt aus der Strafhaft heraus oder gegebenenfalls nach Ablauf eines Monats nach der Haftentlassung in die Türkei an (2.). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Ausweisung erfolge im Hinblick auf die strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers gleichwohl als Ermessensausweisung. Dabei werde unterstellt, dass dem Kläger der Schutz von Art. 14 ARB 1/80 zugutekomme. Insgesamt komme die Ermessensausübung auch unter Berücksichtigung dieser und weiterer einschlägiger Vorschriften sowie den persönlichen Verhältnissen zu dem Ergebnis, dass die Ausweisung insbesondere unter Berücksichtigung der letzten Verurteilung geboten sei. Die mit der letzten Verurteilung durch das Landgericht Hechingen geahndeten Straftaten seien der schweren Kriminalität zuzuordnen und der Kläger habe auch mit einer erheblichen kriminellen Energie gehandelt. Aufgrund seiner Vorstrafen und - wie im Urteil des Landgerichts bei der Strafzumessung ausgeführt - unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem Kläger auch ein zweifacher Bewährungsbruch vorzuhalten sei, liege hier eine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Hierfür spreche weiter, dass sich der Kläger in der Vergangenheit auch von ausländerrechtlichen Verwarnungen, einer Haftverbüßung und den gegen ihn eingeleiteten, früheren Ausweisungsverfahren nicht von weiteren Straftaten habe abhalten lassen. An dieser Beurteilung ändere auch der Umstand nichts, dass der Kläger besonderen Ausweisungsschutz genieße, denn die insoweit erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung lägen hier, wie ausgeführt, vor. Auch seine persönlichen Umstände rechtfertigten nicht die Annahme eines atypischen Sachverhalts. Er sei zwar hier geboren, aber in einem türkischen Familienverbund aufgewachsen, spreche nach wie vor seine Muttersprache und sei nicht nachhaltig wirtschaftlich und beruflich in der Bundesrepublik integriert. Zwar habe er den Hauptschulabschluss zwischenzeitlich in der Haft nachgeholt, sei aber bisher ohne abgeschlossene Berufsausbildung und habe jeweils nur in kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen gestanden. Unter weiterer Berücksichtigung seiner Heirat mit seiner in der Türkei befindlichen Ehefrau, seinen mehrfachen Urlaubsreisen in die Türkei und seines Alters sei für ihn die Rückkehr in die Türkei nicht mit unzumutbaren Belastungen verbunden, zumal dort auch sein Vater und sein ausgewiesener Bruder lebten. Insgesamt verbleibe es daher auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Ermessensausweisung. Hieran ändere schließlich der Bericht der Justizvollzugsanstalt vom 29.02.2008 nichts. Dieser zeige zwar in Teilbereichen eine positive Entwicklung und ein normales, beanstandungsfreies Vollzugsverhalten, lasse aber keine Aussage über eine gelungene und abgeschlossene Nachreifung zu, die die Wiederholungsgefahr entfallen lasse. Letztlich verstoße die Ausweisung weder gegen Art. 6 GG noch gegen Art. 8 EMRK und auch nicht gegen Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG.
17 
Am 07.06.2008 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen und machte gelten: Er könne nach Art. 7 Satz 1 und 14 Abs. 1 ARB 1/80 i. V. m. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nur ausgewiesen werden, wenn er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit des Staates stelle er indes nicht dar, unabhängig von dem für ihn bislang günstigen Haftverlauf, der auch gegen eine ausreichende Wiederholungsgefahr spreche.
18 
Der Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid entgegen.
19 
Das Verwaltungsgericht holte einen Führungsbericht der JVA Ravensburg vom 12.11.2008 und eine Ergänzung vom 01.04.2009 ein.
20 
In der mündlichen Verhandlung änderte der Beklagte die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 27.05.2008 dahingehend ab, dass eine Abschiebung frühestens einen Monat nach Bestandskraft der Ausweisungsverfügung erfolge.
21 
Der Kläger wurde angehört und führte im Wesentlichen aus, seine Frau wohne bei seiner Mutter in der Türkei. Die Wohnung gehöre seiner Mutter. Seine Mutter pendele zwischen der Türkei und der Bundesrepublik. Die Wohnung befinde sich in ... bei Ankara; seine Mutter stamme aus diesem Ort. Zu seinem Vater habe er seit seinem 5. oder 6. Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Sein Bruder wohne auch in diesem Ort. Diesem schreibe er in türkischer Sprache; er (der Kläger) sei zweisprachig. Hier im Bundesgebiet habe er eine eigene, selbst gemietete Wohnung gehabt, aber auch noch bei seiner Mutter gewohnt. Seine hier befindliche Freundin habe auch eine eigene Wohnung gehabt. Von der Freundin im Bundesgebiet wisse seine Frau nichts. Er habe damals noch keine Verantwortung übernehmen können. Von seiner Inhaftierung wisse seine Frau, von den Straftaten aber nur teilweise. Gegenwärtig stehe er mit seiner Frau in telefonischem Kontakt und schreibe ihr auch gelegentlich. Mit der früheren Freundin habe er seit 2 oder 2 ½ Jahren keinen Kontakt mehr. In der Zeit der Begehung seiner Straftaten habe er regelmäßig Drogen genommen und auch regelmäßig Alkohol getrunken. Angesprochen auf den letzten JVA-Bericht räumte er ein, vor etwa 3 Monaten einmal THC-positiv gewesen zu sein. Bei Kollegen sei beim Hofgang ein Joint gekreist und er habe ein paar Züge genommen. 6 bis 8 Wochen später sei bei einer weiteren Urinkontrolle wieder alles in Ordnung gewesen. Das Jointrauchen sei ein einmaliger Vorgang gewesen. Seit etwa 2 Monaten nehme er im Vollzug einmal die Woche an den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker - Gruppe teil. Er meine aber, kein Suchtproblem zu haben. Er sei reifer geworden. Er habe es auf dem harten Weg lernen müssen und habe es nun endlich begriffen.
22 
Mit Urteil vom 29.04.2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab.
23 
Es führte u.a. aus: Rechtsgrundlagen der Ausweisung seien §§ 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2, 53 Nr. 1, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie Satz 2 AufenthG. Im Hinblick auf den besonderen Ausweisungsschutz des im Bundesgebiet geborenen Klägers sei die Ausweisung zu Recht (nur) als Ermessensausweisung verfügt worden. Hinsichtlich der Ausweisung werde auf die umfassenden und zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27.05.2008 verwiesen, denen das Gericht folge. Die Ermessensausübung des Regierungspräsidiums sei auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlerfrei und im Wesentlichen zutreffend auf die vom Kläger weiterhin ausgehende erhebliche Wiederholungsgefahr gestützt. Die Ausweisung sei auch unter Berücksichtigung der Anforderungen aus Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i. V. m. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nicht zu beanstanden und verstoße nicht gegen Art 8 EMRK. Schließlich sei die Abschiebungsandrohung mit der in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärten Abänderung rechtmäßig. Vom Kläger gehe weiterhin eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus.
24 
Das Urteil wurde dem Kläger am 30.09.2009 zugestellt.
25 
Auf den rechtzeitig gestellten und begründeten Antrag ließ der Senat mit Beschluss vom 30.11.2009 die Berufung zu.
26 
Am 10.12.2009 begründete der Kläger unter Stellung eines Antrags die Berufung zunächst wie folgt: Das angegriffene Urteil verletze Art. 14 ARB 1/80 und verkenne den auch hier anwendbaren besonderen Schutz nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Ziebell, bis zu deren Entscheidung das Berufungsverfahren geruht hatte, macht der Kläger nunmehr geltend, dass die angegriffene Ausweisungsverfügung deshalb rechtwidrig sei, weil das nicht zuletzt wegen der Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter zu beachtende, in Art. 9 RL 64/221/EWG niedergelegte „Vier-Augen-Prinzip“ verletzt worden sei.
27 
Durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen vom 11.01.2011 wurde nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Landgerichts Hechingen vom 22.05.2006 sowie des Amtsgerichts Hechingen vom 10.01.2006 bei einer Bewährungszeit von drei Jahren die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, für die Dauer von einem Jahr eine ambulante Drogentherapie nach Weisung des Bewährungshelfers zu unterziehen. Der Entscheidung lag ein kriminologisch-kriminalprognostisches Gutachten der Universität Tübingen (Dr. Reich) vom 01.12.2010 sowie befürwortende Stellungnahmen der JVA Rottenburg sowie der Staatsanwaltschaft Hechingen zugrunde.
28 
Der Kläger beantragt,
29 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29. April 2009 - 4 K 1175/08 - zu ändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27. Mai 2008 aufzuheben.
30 
Der Beklagte beantragt,
31 
die Berufung zurückzuweisen.
32 
Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache sei das „Vier-Augen-Prinzip“ obsolet. Auch nach der Entlassung des Klägers aus der Strafhaft könne in Anbetracht der Tatsache, dass er Intensivtäter sei, nicht davon ausgegangen werden, dass die Wiederholungsgefahr gemindert oder gar entfallen sei. Die im Verhältnis zur kriminellen Vita nur kurze Zeit der Bewährung von einem Jahr erlaube keine substantiierte Legalprognose zugunsten des Klägers, zumal er sich hinsichtlich der Vorsprachen bei der Drogenberatung in der ersten Jahreshälfte 2011 nicht immer zuverlässig erwiesen habe.
33 
Der Senat hat eine Stellungnahme des Bewährungshelfers des Klägers eingeholt. Insoweit wird auf dessen Schreiben vom 29.02.2012 verwiesen.
34 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
35 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums, des Verwaltungsgerichts, die Strafvollsteckungsakten sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
36 
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.
37 
Nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage kann die Ausweisungsentscheidung des Beklagten keinen Bestand mehr haben.
38 
I. Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
39 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
40 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
41 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
42 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
43 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
47 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
48 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
49 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
50 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
51 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
53 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
54 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
55 
Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht bislang davon aus, dass einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG keine Bindungswirkung zukommt, was u.a. auf die unterschiedlichen Prognosemaßstäbe zurückgeführt wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 - NVwZ 2001, 442; Discher, in: GK-AufenthG Vor §§ 53 ff. Rdn. 1241 ff.). Allerdings soll einer solchen Aussetzung immerhin eine gewisse Indizwirkung zukommen. Die Relativierung derartiger Aussetzungsentscheidungen auf eine bloße Indizwirkung wird jedoch den unions- und assoziationsrechtlichen Anforderungen nicht vollständig gerecht. Denn es würde sich bei einer derartigen Sichtweise ein nicht gerechtfertigter Widerspruch auftun. Der Ansatz von der bloßen Indizwirkung unterstellt, dass gleichwohl im Falle der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung ohne weiteres ein gesellschaftliches Grundinteresse des Mitgliedstaats weiterhin tatsächlich und hinreichend schwerwiegend gefährdet und eine Beschränkung der Freizügigkeit bzw. ein Entzug des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts gerechtfertigt sein kann. Andererseits bringt jedoch die Gesellschaft des Mitgliedstaats gerade durch diese Aussetzung ihre Wertung zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Seine Ausweisung in ein Land, in dem er schon längere Zeit nicht mehr oder sogar niemals gelebt hat, muss regelmäßig als kontraproduktiv und einer Resozialisierung hinderlich begriffen werden. Nimmt man noch hinzu, dass nach den oben dargelegten besonderen unionsrechtlichen bzw. assoziationsrechtlichen Maßstäben erhebliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten gestellt werden müssen, so dürfen derartige Aussetzungen auch deshalb nicht gering gewichtet und bewertet werden, weil sie von einer mit der Beurteilung von der Täterpersönlichkeiten und deren Lebensumfeld vertrauten Fachgerichtsbarkeit ausgesprochen und veranlasst werden. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn zur Vorbereitung der Aussetzungsentscheidung fachkundige Stellungnahmen oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt wurden. Da andererseits den Aussetzungsentscheidungen keine ausdrücklich gesetzlich angeordnete Bindungs- oder Tatbestandswirkung zukommt, kann das Verwaltungsgericht eine solche Entscheidung ausnahmsweise unbeachtet lassen, wenn sie sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Im Regelfall jedoch ist eine solche Aussetzungsentscheidung in der Weise zu berücksichtigen, dass die Ausweisung keinem Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaates (mehr) entspricht.
56 
2. Ausgehend hiervon ist von Folgendem auszugehen: Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen hat mit Beschluss vom 11.01.2011 (... StVK ... + .../...) die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, dass der Kläger sich innerhalb des ersten Jahres einer Drogentherapie zu unterziehen hat. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschluss beruht auf einem kriminologisch-kriminalprognostischen Gutachten der Universität Tübingen (Dr. R.) vom 01.12.2011, das nach zwei umfangreichen Explorationen erstellt wurde. Dieses Gutachten, das sich auch umfassend mit der Aktenlage beschäftigt, erweist sich in seiner differenzierten und durchaus kritische Aspekte nicht unterdrückenden Sicht als überzeugend. Nimmt man hinzu, dass zur Vorbereitung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer noch eine umfassende Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Rottenburg eingeholt worden war, die die wesentlichen Entwicklungsschritte, die der Kläger insbesondere im Jahre 2010 gemacht hat, deutlich macht und eine vorzeitige Freilassung befürwortet, so vermag der Senat keine Gesichtspunkte zu erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Landgerichts Tübingen infrage zu stellen. Die Entscheidung des Landgerichts ist auch nicht deshalb überholt, weil der Kläger drei Termine bei der Drogenberatung nicht wahrgenommen hat. Die vom Kläger hierfür gegebene Erklärung, wonach er wegen der anstrengenden Nachtarbeit die Termine verschlafen oder vergessen habe, vermag zwar nicht völlig zu überzeugen. Eine einzelne Säumnis mag bei der für den Kläger sicherlich völlig neuen Belastungssituation in einem geregelten Arbeitsverhältnis der konkreten Art ohne weiteres verständlich sein. Eine dreimalige Säumnis innerhalb eines Zeitraums von einem knappen dreiviertel Jahr ist allerdings weniger nachvollziehbar, zumal dem Kläger klar sein musste, dass seine Bewährung auf dem Spiel stehen kann. Auch wenn dieser Regelverstoß daher nicht bagatellisiert werden darf, so kann andererseits nicht übersehen werden, dass der Bewährungshelfer in seiner Stellungnahme die aktuelle Bereitschaft des Klägers, mit ihm zusammenzuarbeiten, sehr positiv hervorgehoben und weiterhin nach über einem Jahr in Freiheit eine sehr positive Prognose abgegeben hat, wobei sicherlich auch eine Rolle gespielt hat, dass aufgrund der durchgeführten Urinkontrollen von einem Drogenkonsum nicht ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Säumnis des Klägers der Strafvollstreckungskammer keine Veranlassung gegeben hat, die Bewährungszeit zu verlängern oder die Bewährung gar zu widerrufen. Hiervon abgesehen hat der Kläger zur Überzeugung des Senats nach seiner Haftentlassung eine positive Entwicklung durchlaufen. Ihm ist es bereits kurze Zeit nach der Entlassung gelungen, eine Beschäftigung zu finden; mittlerweile steht er in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, mit dem er seinen Lebensunterhalt sichern kann; auch seine Wohnsituation ist geklärt. Dieses zusammengefasst ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt nach den oben dargelegten Maßstäben kein Grundinteresse der Gesellschaft mehr betroffen ist und die Ausweisung nicht mehr von Art. 14 ARB 1/80 getragen wird. Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Sohn und seine Ehefrau nach Deutschland zu holen, so wird dies seine Situation aller Voraussicht nach weiter stabilisieren.
57 
Hat die Ausweisung keinen Bestand mehr, so war auch die unselbstständige Abschiebungsandrohung aufzuheben.
58 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
59 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen zur Anwendung und Auslegung des Assoziationsrechts von grundsätzlicher Bedeutung sind (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
60 
Beschluss vom 7. März 2012
61 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
62 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
36 
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.
37 
Nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage kann die Ausweisungsentscheidung des Beklagten keinen Bestand mehr haben.
38 
I. Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
39 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
40 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
41 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
42 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
43 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
47 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
48 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
49 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
50 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
51 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
53 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
54 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
55 
Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht bislang davon aus, dass einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG keine Bindungswirkung zukommt, was u.a. auf die unterschiedlichen Prognosemaßstäbe zurückgeführt wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 - NVwZ 2001, 442; Discher, in: GK-AufenthG Vor §§ 53 ff. Rdn. 1241 ff.). Allerdings soll einer solchen Aussetzung immerhin eine gewisse Indizwirkung zukommen. Die Relativierung derartiger Aussetzungsentscheidungen auf eine bloße Indizwirkung wird jedoch den unions- und assoziationsrechtlichen Anforderungen nicht vollständig gerecht. Denn es würde sich bei einer derartigen Sichtweise ein nicht gerechtfertigter Widerspruch auftun. Der Ansatz von der bloßen Indizwirkung unterstellt, dass gleichwohl im Falle der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung ohne weiteres ein gesellschaftliches Grundinteresse des Mitgliedstaats weiterhin tatsächlich und hinreichend schwerwiegend gefährdet und eine Beschränkung der Freizügigkeit bzw. ein Entzug des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts gerechtfertigt sein kann. Andererseits bringt jedoch die Gesellschaft des Mitgliedstaats gerade durch diese Aussetzung ihre Wertung zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Seine Ausweisung in ein Land, in dem er schon längere Zeit nicht mehr oder sogar niemals gelebt hat, muss regelmäßig als kontraproduktiv und einer Resozialisierung hinderlich begriffen werden. Nimmt man noch hinzu, dass nach den oben dargelegten besonderen unionsrechtlichen bzw. assoziationsrechtlichen Maßstäben erhebliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten gestellt werden müssen, so dürfen derartige Aussetzungen auch deshalb nicht gering gewichtet und bewertet werden, weil sie von einer mit der Beurteilung von der Täterpersönlichkeiten und deren Lebensumfeld vertrauten Fachgerichtsbarkeit ausgesprochen und veranlasst werden. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn zur Vorbereitung der Aussetzungsentscheidung fachkundige Stellungnahmen oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt wurden. Da andererseits den Aussetzungsentscheidungen keine ausdrücklich gesetzlich angeordnete Bindungs- oder Tatbestandswirkung zukommt, kann das Verwaltungsgericht eine solche Entscheidung ausnahmsweise unbeachtet lassen, wenn sie sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Im Regelfall jedoch ist eine solche Aussetzungsentscheidung in der Weise zu berücksichtigen, dass die Ausweisung keinem Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaates (mehr) entspricht.
56 
2. Ausgehend hiervon ist von Folgendem auszugehen: Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen hat mit Beschluss vom 11.01.2011 (... StVK ... + .../...) die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, dass der Kläger sich innerhalb des ersten Jahres einer Drogentherapie zu unterziehen hat. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschluss beruht auf einem kriminologisch-kriminalprognostischen Gutachten der Universität Tübingen (Dr. R.) vom 01.12.2011, das nach zwei umfangreichen Explorationen erstellt wurde. Dieses Gutachten, das sich auch umfassend mit der Aktenlage beschäftigt, erweist sich in seiner differenzierten und durchaus kritische Aspekte nicht unterdrückenden Sicht als überzeugend. Nimmt man hinzu, dass zur Vorbereitung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer noch eine umfassende Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Rottenburg eingeholt worden war, die die wesentlichen Entwicklungsschritte, die der Kläger insbesondere im Jahre 2010 gemacht hat, deutlich macht und eine vorzeitige Freilassung befürwortet, so vermag der Senat keine Gesichtspunkte zu erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Landgerichts Tübingen infrage zu stellen. Die Entscheidung des Landgerichts ist auch nicht deshalb überholt, weil der Kläger drei Termine bei der Drogenberatung nicht wahrgenommen hat. Die vom Kläger hierfür gegebene Erklärung, wonach er wegen der anstrengenden Nachtarbeit die Termine verschlafen oder vergessen habe, vermag zwar nicht völlig zu überzeugen. Eine einzelne Säumnis mag bei der für den Kläger sicherlich völlig neuen Belastungssituation in einem geregelten Arbeitsverhältnis der konkreten Art ohne weiteres verständlich sein. Eine dreimalige Säumnis innerhalb eines Zeitraums von einem knappen dreiviertel Jahr ist allerdings weniger nachvollziehbar, zumal dem Kläger klar sein musste, dass seine Bewährung auf dem Spiel stehen kann. Auch wenn dieser Regelverstoß daher nicht bagatellisiert werden darf, so kann andererseits nicht übersehen werden, dass der Bewährungshelfer in seiner Stellungnahme die aktuelle Bereitschaft des Klägers, mit ihm zusammenzuarbeiten, sehr positiv hervorgehoben und weiterhin nach über einem Jahr in Freiheit eine sehr positive Prognose abgegeben hat, wobei sicherlich auch eine Rolle gespielt hat, dass aufgrund der durchgeführten Urinkontrollen von einem Drogenkonsum nicht ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Säumnis des Klägers der Strafvollstreckungskammer keine Veranlassung gegeben hat, die Bewährungszeit zu verlängern oder die Bewährung gar zu widerrufen. Hiervon abgesehen hat der Kläger zur Überzeugung des Senats nach seiner Haftentlassung eine positive Entwicklung durchlaufen. Ihm ist es bereits kurze Zeit nach der Entlassung gelungen, eine Beschäftigung zu finden; mittlerweile steht er in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, mit dem er seinen Lebensunterhalt sichern kann; auch seine Wohnsituation ist geklärt. Dieses zusammengefasst ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt nach den oben dargelegten Maßstäben kein Grundinteresse der Gesellschaft mehr betroffen ist und die Ausweisung nicht mehr von Art. 14 ARB 1/80 getragen wird. Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Sohn und seine Ehefrau nach Deutschland zu holen, so wird dies seine Situation aller Voraussicht nach weiter stabilisieren.
57 
Hat die Ausweisung keinen Bestand mehr, so war auch die unselbstständige Abschiebungsandrohung aufzuheben.
58 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
59 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen zur Anwendung und Auslegung des Assoziationsrechts von grundsätzlicher Bedeutung sind (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
60 
Beschluss vom 7. März 2012
61 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
62 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2010 - 1 K 1516/08 - geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
Er wurde 1974 im heutigen Kirgisistan geboren und ist kirgisischer Staatsangehöriger. In seinem Heimatland besuchte er acht Jahre lang die Schule, absolvierte eine Ausbildung zum Traktoristen und Maschinenführer und arbeitete anschließend in einer Kolchose und in verschiedenen anderen landwirtschaftlichen Betrieben. Dort leistete er auch Wehrdienst. Im Oktober 2000 heiratete er die damals sechzehnjährige deutschstämmige L. D., die einen 1998 geborenen Sohn mit in die Ehe brachte, den er später adoptierte. Im April 2001 kam der gemeinsame Sohn A. zur Welt. Im Juli 2001 übersiedelte seine Ehefrau mit den Kindern, ihrer Mutter und ihrer Schwester, die mit einem Bruder des Klägers verheiratet ist, in die Bundesrepublik Deutschland. Im Januar 2002 reiste auch der Kläger zusammen mit seinem Bruder nach Deutschland ein und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis, die regelmäßig verlängert wurde. Zuletzt war er im Besitz einer bis Januar 2007 gültigen Aufenthaltserlaubnis. Die Entscheidung über seinen Verlängerungsantrag wurde wegen des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens ausgesetzt. Die Familie lebte zunächst zwei Jahre in Sachsen, wo der Kläger einen Sprachkurs besuchte und den Gabelstaplerführerschein machte. Nachdem der Kläger 2004 eine Arbeitsstelle in S. gefunden hatte, zog er zunächst alleine dort hin. Kurze Zeit danach folgte ihm seine Familie. In der Nähe von S. wohnen auch sein Bruder und seine Schwägerin.
Mit Urteil des Landgerichts Rottweil vom 03.08.2007, rechtskräftig seit 28.02.2008, wurde der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. In den Gründen dieses Urteils heißt es: Der Kläger habe am 22.10.2006 erstmals erfahren, dass seine Ehefrau eine Liebesbeziehung zu M. B. unterhalte. Sie sei nicht bereit gewesen, diese zu beenden. Der Kläger habe sich am 30.10.2006 in die Nähe des Wohnhauses des M.B. in T. begeben. Als M.B. dort eingetroffen und auf seine Haustüre zugegangen sei, habe sich der Kläger an diesen herangeschlichen und habe ihn mit einer mitgeführten Eisenstange von ca. 50 bis 60 cm Länge von hinten mit Wucht auf den Kopf geschlagen. Anschließend habe er den Fliehenden verfolgt und ihm auf der Straße mindestens 13mal mit der Eisenstange auf den Kopf geschlagen, bis dieser regungslos liegen geblieben sei. Einige Personen aus der Nachbarschaft hätten diesen Vorgang beobachtet, den Kläger aber nicht von den Schlägen durch Zurufen abbringen können. Der Kläger habe mit absolutem Vernichtungswillen gehandelt. Der Anblick des „Nebenbuhlers“ habe bei ihm eine heftige Gemütswallung ausgelöst, die zu einer rechtserheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Der Kläger habe sich zwar dahingehend eingelassen, M.B. sei, nachdem er mit dem Auto angekommen sei, ausgestiegen und ihm direkt entgegengegangen. Er sei gar nicht dazu gekommen, etwas zu sagen, schon habe M.B. nach der Polizei geschrien und ihn irgendwie getroffen. M.B. haben ihm etwas auf den Kopf geschlagen, wobei er nicht wisse womit. Ansonsten habe er keine Erinnerung mehr. Auch daran, dass er selbst geschlagen habe, könne er sich nicht erinnern. Eine Eisenstange habe er nicht dabei gehabt; woher diese gekommen sei, wisse er nicht. Diese Einlassungen seien durch die Beweisaufnahme widerlegt. Die Kammer gehe allerdings zugunsten des Klägers davon aus, dass er den endgültigen Tötungsvorsatz erst unmittelbar vor der Tatausführung gefasst habe. M.B. habe schwere Schädel- und Gesichtsverletzungen erlitten, die mehrere Operationen nötig gemacht hätten. Auf dem rechten Auge habe er die Sehkraft vollständig und irreparabel verloren. Auch seinen Geruchssinn habe er vollständig und seinen Geschmackssinn weitgehend verloren. Wegen der Folgen der Verletzungen sei er mit 50 % GdB als Schwerbehinderter eingestuft worden. Abgesehen von der vorgenommenen Verschiebung des Strafrahmens wegen der Minderung der Steuerungsfähigkeit, habe die Kammer von einer weiteren Milderung wegen des nur vorliegenden Totschlagversuchs abgesehen. Gegen eine weitere Milderung habe vor allem gesprochen, dass dieser ganz in der Nähe zur Vollendung gelegen habe. M.B habe nur wegen der sofort eingeleiteten intensiv-medizinischen Rettungsmaßnahmen überleben können und während des einwöchigen künstlichen Komas zwischen Leben und Tod geschwebt. Weiter seien die ganz erheblichen, lebenslang bleibenden und teilweise in ihrem Ausmaß noch gar nicht absehbaren Folgen der Verletzungen zu berücksichtigen gewesen. Wegen der besonderen schulderhöhenden Merkmale sei bei der Gesamtwürdigung ein minderschwerer Fall auszuschließen.
Am 31.10.2006 war der Kläger verhaftet worden. Er verbüßt derzeit seine Freiheitsstrafe.
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger mit Bescheid vom 14.07.2008 aus der Bundesrepublik aus, drohte ihm die Abschiebung nach Kirgisistan nach der Unanfechtbarkeit dieser Verfügung an und ordnete die Abschiebung aus der Haft heraus an. Zur Begründung wurde ausgeführt: Es lägen die Voraussetzungen einer Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG vor. Der Kläger genieße jedoch besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Deshalb könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden; außerdem werde die zwingende Ausweisung zur Ausweisung im Regelfall herabgestuft. Mit der abgeurteilten Tat habe er die öffentliche Sicherheit und Ordnung in besonders schwerwiegendem Maße beeinträchtigt. Zugunsten des Klägers gehe das Regierungspräsidium davon aus, dass wegen der familiären Verhältnisse ein atypischer Ausnahmefall vorliege, weshalb über die Ausweisung nach Ermessen entschieden werde. Gleichfalls sei zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er bis zu seiner Verhaftung mit seiner deutschen Ehefrau und seinen zwei deutschen Kindern zusammengelebt habe, dass er während seines gesamten Aufenthalts im Bundesgebiet gearbeitet und für den Unterhalt seiner Familie gesorgt habe, dass Deutschland nach der Übersiedlung aus Kirgisistan zum Mittelpunkt seines Lebens geworden und er bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei. Das öffentliche Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor weiteren von ihm begangenen Straftaten überwiege aber die privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Vom Kläger gehe eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Rechtsverletzungen aus. Die Begehung der abgeurteilten Tat zeige eine latente Gewaltbereitschaft, die eine gewaltfreie Problemlösung verhindert habe. Diese Eigenschaften könnten auch in Zukunft sein Verhalten in Konfliktsituationen bestimmen. Auch generalpräventive Gründe sprächen für die Ausweisung.
Am 11.08.2008 erhob der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg. Zur Begründung trug er vor: Er werde von seinen beiden Kindern monatlich in der Haftanstalt besucht. Auf den Fortbestand dieser Vater-Kind-Beziehung seien seine beiden Söhne angewiesen. Auch für ihn sei es sehr wichtig, für seine beiden Kinder da zu sein. Er wisse, dass er einen großen Fehler gemacht habe und bereue seine Tat. In Kirgisistan habe er keine Existenz und keine Familie. Deutschland sei für ihn seine neue Heimat geworden.
Der Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angefochtenen Bescheids entgegen.
Das Gericht erhob Beweis durch Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. K. (vom 16.06.2010) und hörte diesen in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung des Gutachtens an.
Durch Urteil vom 27.10.2010 hob das Verwaltungsgericht Freiburg den angefochtenen Bescheid auf und führte zur Begründung aus: Der dem Kläger zustehende besondere Ausweisungsschutz habe gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Folge, dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Solche Gründe lägen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel u. a. in den Fällen des § 53 AufenthG vor. Die Regelung enthalte allerdings keine Automatik, sondern erfordere eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorlägen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen ließen. Werde die Ausweisung - wie hier - auf spezialpräventive Gründe gestützt, liege bei dem nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießenden Personenkreis ein schwerwiegender Grund nur dann vor, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohten und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut ausgehe. In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität seien diese Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung zwar grundsätzlich zu bejahen. Wegen des durch § 56 Abs. 1 AufenthG gewährleisteten besonderen Ausweisungsschutzes sei jedoch eine gesteigerte Wiederholungsgefahr im Sinne einer erhöhten Gefährdung erforderlich. Das gelte auch in Fällen schwerer Kriminalität. Gemessen hieran könne nicht angenommen werden, vom Kläger ginge eine in diesem Sinne gesteigerte Wiederholungsgefahr aus. Der Sachverständige komme in seinem schriftlichen kriminalprognostischen Gutachten zu dem Ergebnis, beim Kläger könne zwar die Begehung einer erneuten Straftat nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Die erneute Begehung einer Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit, wie sie der Verurteilung durch das Landgericht Rottweil zugrunde liege, sei jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Die Kammer folge dem Sachverständigen in seiner prognostischen Beurteilung der vom Kläger künftig ausgehenden Rückfallgefahr. Die vom Beklagten gegen das schriftliche Gutachten vorgebrachten Bedenken seien unberechtigt. Der Sachverständige habe in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens plausibel und nachvollziehbar angegeben, dass sich seine kriminalprognostische Einschätzung in erster Linie und ganz entscheidend auf die Exploration des Klägers stütze. Von entscheidender Bedeutung für die Einschätzung, beim Kläger sei mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Wiederholung einer vergleichbaren Straftat zu erwarten, sei die Annahme des Gutachters, dass die abgeurteilte Straftat eine Beziehungstat mit einer hochspezifischen Täter-Opfer-Beziehung gewesen sei. Auch die tatsächlichen Annahmen des Sachverständigen zur Biografie des Klägers seien nicht zu beanstanden. Der Sachverständige sei aufgrund des Akteninhalts, der mit dem Kläger geführten Gespräche sowie der Telefongespräche mit der Schwägerin und der Ehefrau zu der Annahme gelangt, der Kläger habe bis zu seiner Straftat einen gewaltfreien Lebenswandel geführt. Das Merkmal mangelhafte Verhaltenskontrolle erfüllten nur solche Personen, die bei geringstem Anlass und häufig sofort aggressiv reagierten. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Dagegen wende das beklagte Land zu Unrecht ein, der Gutachter hätte sich zur Feststellung eines bisher gewaltfreien Lebenswandels nicht auf die Befragung des Klägers und naher Verwandter beschränken dürfen. Weder den vorgelegten Verwaltungsakten noch dem Strafurteil des Landgerichts Rottweil ließen sich irgendwelche Anhaltspunkte für das Gegenteil entnehmen. Dass der Kläger bei der abgeurteilten Tat gegen sein Opfer auf äußerst brutale Weise vorgegangen sei, werte der Gutachter als einen Gesichtspunkt, der zwar gegen eine günstige Prognose sprechen könne. Ein durchschlagendes Gewicht messe er diesem Gesichtspunkt jedoch nicht bei. Der Sachverständige habe zum einen darauf hingewiesen, dass der Kläger - im Gegensatz zu seiner bisherigen Lebensführung - erstmals bei der Tat ein äußerst aggressives und brutales Verhalten gezeigt habe. Vor allem aber müsse nach Auffassung des Gutachters bei der Bewertung dieses Verhaltens für die Rückfallprognose berücksichtigt werden, dass die hochspezifische Beziehungstat durch eine extreme Konfliktsituation ausgelöst worden sei, in die der Kläger durch den wenige Tage vor der Tat offenbar gewordenen Ehebruch seiner Frau gestürzt worden sei. Auch der im strafgerichtlichen Verfahren eingesetzte Sachverständige komme zu dem Ergebnis, dass die Steuerungs-, Hemmungs- und Handlungsfähigkeit des Klägers während der Tat infolge eines Affekts zum Tatzeitpunkt rechtserheblich beeinträchtigt gewesen sein könne. Dem sei das Landgericht in seinem Strafurteil gefolgt und habe einen Affektzustand mit schuldeinschränkender Wirkung im Sinne des § 21 StGB bejaht. Es spreche von einem tief greifenden Konflikt des Klägers, weil er wegen des Ehebruchs und des anschließenden Verhaltens seiner Frau damit habe rechnen müssen, dass sich diese zusammen mit den Kindern auf Dauer von ihm trennen werde. Das habe ihn in eine tiefe Krise gestürzt, die bis zur Tat angedauert habe. Für die Kammer sei es nachvollziehbar und überzeugend, wenn der Sachverständige aufgrund dieser besonderen Umstände zu dem Ergebnis gelange, beim Kläger liege keine Persönlichkeitsstruktur mit latenter Gewaltbereitschaft vor. Der Sachverständige komme zu dem Ergebnis, dass eine Auseinandersetzung des Klägers mit seiner Straftat bisher kaum stattgefunden habe, was für die kriminalprognostische Beurteilung ungünstig einzuschätzen sei; denn der Kläger habe die Tat weitgehend verdrängt und stelle den Tathergang im Gegensatz zu den Feststellungen im rechtskräftigen Strafurteil zum Teil anders dar. Einer günstigen Kriminalprognose stehe dieser Umstand aber deshalb nicht entgegen, weil der Gutachter nach seinen sachverständigen Verhaltensbeobachtungen während der Gespräche zu dem Ergebnis gekommen sei, dass beim Kläger durchaus ein Schuldbewusstsein vorhanden sei. Der Sachverständige habe in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, bei seiner abschließenden kriminalprognostischen Beurteilung im schriftlichen Gutachten sei er davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Entlassung aus der Strafhaft trotz der Schwierigkeiten, sich auf Deutsch zu verständigen, die erforderlichen Hilfen in Form von Therapien und Gesprächen erhalte. Der Sachverständige gehe zu Recht davon aus, dass der Kläger aus der Strafhaft nicht ohne solche Behandlungsmaßnahmen entlassen werde. Denn das Strafvollzugsgesetz sehe ausdrücklich vor, dass der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden solle, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Kläger habe sowohl gegenüber dem Sachverständigen als auch dem Gericht mehrfach bekundet, dass er zur Teilnahme an derartigen Hilfsmaßnahmen bereit sei. Auch soweit das Regierungspräsidium die Ausweisung auf generalpräventive Erwägungen stütze, könne dies die Maßnahme nicht rechtfertigen.
10 
Am 09.12.2010 wurde das Urteil dem Beklagten zugestellt.
11 
Auf den am 17.12.2010 vom Beklagten gestellten Antrag ließ der Senat mit Beschluss vom 25.01.2011 die Berufung zu. Der Beschluss wurde dem Beklagten am 31.01.2011 zugestellt.
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Am 04.03.2011 beantragte der Beklagte Wiedereinsetzung in die versäumte Begründungsfrist und legte zugleich den Begründungsschriftsatz (vom 31.01.2011) in Kopie vor.
13 
Zur Begründung trägt er zunächst vor: Der Schriftsatz vom 31.01.2011 sei am 31.01.2011 zum Postversand gegeben worden. Er sei im elektronischen Verzeichnis, das vom Referat 15 geführt und in das alle Schreiben nach Abgang mit Datum des Postversands eingetragen würden, verzeichnet. Das Schreiben müsse daher auf dem Postweg verloren gegangen sein. Der Unterzeichner habe am 31.01.2011 die Berufungsbegründung verfasst und das Schreiben zum Postversand gegeben. Anschließend habe die Servicekraft Frau F. das Schreiben mit der Post versendet. Nachdem es das Haus verlassen habe, sei es in das elektronische Verzeichnis als Postausgang für den 31.01.2011 aufgenommen worden. In einem weiteren Schriftsatz (vom 28.03.2011) wird vorgetragen: Nachdem der Unterzeichner die Berufungsbegründung am 31.01.2011 verfasst und ausgedruckt gehabt habe, habe er das Schreiben in einer Umlaufmappe in das Postausgangsfach des Referats 15 gelegt. Frau F. habe diese Mappe am 31.01.2011 aus dem Postausgangsfach entnommen, habe die Entwurfsfassung im Feld für den Postausgangsvermerk abgezeichnet und das Entwurfsschreiben in der Postumlaufmappe dem Sachbearbeiter des Falles, Herrn K. in dessen Fach gelegt. Anschließend habe sie das Originalschreiben der Sekretärin, Frau R. vorgelegt. Diese habe sich das Schreiben angeschaut und es im elektronischen Postausgangsverzeichnis mit den Bemerkungen „K.“, „VGH Mannheim“, „L., S. und „AU Verwaltungsrechtssache“ eingetragen. Sodann habe sie das Originalschreiben in einen Briefumschlag gesteckt, habe diesen verschlossen und den Brief in die gelbe Postausgangskiste des Regierungspräsidiums gelegt. Am 01.02.2011 habe der Hausmeister des Dienstgebäudes Schwendistraße 12, Herr B., die Postausgangskiste zur Hauptpoststelle des Regierungspräsidiums gebracht. Dort würden täglich alle für den Postversand bestimmten Schreiben frankiert und auf den Postweg gegeben. Der im vorliegenden Fall gewählte Weg für den Versand entspreche der seit Jahren praktizierten Verfahrensweise. Der ordnungsgemäße Ablauf werde dabei fortlaufend kontrolliert und überwacht. Im Übrigen legt der Beklagte schriftliche Erklärungen von Frau F., Frau R. und Herrn B. vor. In einem weiteren Schriftsatz vom 13.04.2011 wird ausgeführt: Die Tatsache, dass Frau F. den Schriftsatz anschließend Frau R. vorgelegt habe, werde durch die Tatsache dokumentiert, dass Frau F. das Schreiben in das elektronische Postausgangsverzeichnis eingetragen habe. Hätte Frau F. das Schreiben nicht in Händen gehalten und dafür gesorgt, dass es auf den Postweg gegeben werde, so würde sich auf dem Schreiben nicht ihr handschriftlicher Vermerk befinden und Frau R. hätte das Schreiben nicht in das Verzeichnis eintragen können. Deshalb könnten Frau F. und Frau R. heute auch noch sichere Angaben machen. Der Eintrag in das Ausgangsverzeichnis, das Verpacken und Zukleben des Briefs sowie das Legen in die gelbe Postausgangskiste stellten einen einheitlichen Vorgang dar. Zunächst schaue sich Frau R. dabei den jeweiligen Schriftsatz an, um zu erkennen, wer den Brief verfasst habe und welche Sache das Schreiben betreffe. Sodann trage sie diese Daten in das Postverzeichnis ein, stecke den Brief dann in einen Umschlag und verschließe diesen. In unmittelbarem Anschluss hieran lege sie den Brief dann in die neben ihrem Schreibtisch stehende Postausgangskiste. Dies entspreche ständiger Praxis, ohne dass es bislang in einem einzigen Fall zu Problemen gekommen sei.
14 
In der Sache trägt er vor: Entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Freiburg habe der Gutachter seine Feststellung, dass die erneute Begehung einer Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit, wie sie der Verurteilung durch das Landgericht Rottweil zugrunde liege, mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei, nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten. Diese Einschätzung gelte nur dann, wenn der Kläger eine Therapie erhalte und auch nach der Haftentlassung begleitet werde. Weiter habe der Gutachter eingeschränkt, dass der Kläger die deutsche Sprache nicht in einem für eine Therapie in erforderlichen Maße beherrsche. Grundvoraussetzung für seine Annahme sei es daher, dass der Kläger Deutsch lerne, zu einer Therapie bereit sei und diese dann während der Haftzeit erfolgreich durchgeführt werde. Dass der Kläger eine fortlaufende Therapie auf Russisch während der Haftzeit erhalten könne, sei unwahrscheinlich, weil für eine solche Therapie nicht genug Therapeuten in der Justizvollzugsanstalt zur Verfügung stehen würden. Erhalte der Kläger jedoch während der Haftzeit keine Therapie, steige die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Begehung schwerer Straftaten. Das Verwaltungsgericht habe sich darauf beschränkt, den vom Gesetzgeber des Strafvollzugsgesetzes gewünschten Idealzustand in Bezug zu nehmen. Der Gutachter gehe davon aus, dass der Kläger über schlechte Konfliktverarbeitungsmechanismen verfüge. Weiterhin habe sich das Verwaltungsgericht nicht in ausreichendem Maße mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Kläger wirklich ernsthaft an einer Therapie interessiert sei. So habe er in der mündlichen Verhandlung am 24.03.2010 auf Frage, ob es Gespräche mit einem Psychologen gegeben habe, geantwortet: „Ich brauche doch keinen Psychologen. Ich bin doch nicht verrückt.“ Diese Einstellung werde auch durch die Ausführungen im Gutachten bestätigt. Dort werde festgestellt, dass der Kläger nicht an therapeutischen Gesprächen interessiert sei. Zu diesem Ergebnis sei auch ein weiterer Facharzt gekommen, welcher im Strafverfahren den Kläger begutachtet habe. Unberücksichtigt habe das Verwaltungsgericht auch die Frage eines Misserfolgs einer eventuellen Therapie gelassen. Das Verwaltungsgericht habe nur darauf abgestellt, dass der Kläger nach den gesetzlichen Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes nicht ohne Behandlungsmaßnahmen entlassen werde. Seine Entlassung werde jedoch völlig unabhängig von einer Therapiebereitschaft oder der Durchführung einer Therapie nach Ende der Strafhaft erfolgen. Das Verwaltungsgericht sei auch von einem falschen Maßstab hinsichtlich der Wiederholungsgefahr ausgegangen. Nach der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung sei es für die Frage der Wiederholungsgefahr lediglich maßgeblich, ob vom Kläger die Gefahr der Begehung eines weiteren (versuchten) Totschlagsdelikt oder einer „gleichartigen Tat“ ausgehe. Hiernach sei die Verwirklichung einer Vielzahl anderer Straftaten, beispielsweise eine Vergewaltigung, ein Raub oder Diebstahl oder auch Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, für die Frage einer beim Kläger bestehenden Wiederholungsgefahr ohne Bedeutung. Demgegenüber sei es ausreichend, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen ernsthaft drohe und damit eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut bestehe. Wenn man jedoch mit dem Verwaltungsgericht lediglich auf die Gefahr der Begehung eines erneuten Totschlagsdelikts abstellen wollte, hätte es sich umso mehr aufdrängen müssen, auf die Relativität des Gefahrenbegriffs einzugehen. Zu seiner brutalen und menschenverachtenden Tat stehe der Kläger im Übrigen bis heute nicht. So habe der Kläger auch in den der Begutachtung zu Grunde liegenden persönlichen Gesprächen am 20. und 23. April 2010 behauptet, das Tatopfer habe ihn zuerst angegriffen und sei auf ihn losgegangen, so dass es zu einem Gerangel gekommen sei. Der Kläger habe bekräftigt, dass er die Eisenstange nicht zum Tatort mitgenommen habe, vielmehr habe das Tatopfer angefangen, ihn anzugreifen, so dass er eine Verletzung an Hand und Kopf erlitten habe.
15 
Ferner lasse das Verwaltungsgericht die Tatsache unberücksichtigt, dass die familiäre Situation des Klägers ungeklärt sei. Während der bisherigen Haftzeit von über vier Jahren habe der Kläger lediglich ein einziges Mal Besuch von seiner Ehefrau erhalten. In Briefen, die sie an ihn geschrieben habe, sei es allein um Unterlagen, die sie für Ansprüche der Kinder gegenüber Behörden benötigt habe, gegangen. Vor diesem Hintergrund sei es völlig offen, ob nach einer Haftentlassung in Deutschland die Ehe fortgesetzt werde. Ebenfalls unklar sei, wie sich der Umgang des Klägers bei einer Haftentlassung in Deutschland zu seinen Kindern gestalten werde. Der Kläger habe klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine oberste Priorität sei, Umgang und Kontakt zu seinen Kindern zu haben. Sollte es hierbei - auch aufgrund des Verhaltens seiner Ehefrau in einem Scheidungsverfahren - zu Problemen kommen, sei nicht absehbar, wie er reagieren werde. Prof. Dr. K. habe ein Gefahr- und Konfliktpotential erkannt, falls es zu Problemen bei dem Umgang mit den Kindern kommen werde. Grundsätzlich sei er bei Erstellung seines Gutachtens jedoch davon ausgegangen, dass das familiäre Zusammenleben wieder aufgenommen werden könne und der Kläger im Laufe seines weiteren Lebens mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr in eine ähnliche Situation geraten werde.
16 
Obwohl auch das Verwaltungsgericht erkannt habe, dass es dem Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur extrem schwer falle, seine Empfindungen - wie etwa Gefühle des Mitleids für sein Opfer - in Worten auszudrücken, sei es nicht darauf eingegangen, welche Folgen dies für die Frage einer Wiederholungsgefahr habe. Auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den selbständig tragenden generalpräventiven Gründen der Ausweisung gingen fehl.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2010 - 1 K 1516/08 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen.
21 
Seiner Ansicht nach habe der Beklagte nicht unverschuldet die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Das Vorbringen sei widersprüchlich. Abgesehen davon müsse es überraschen, dass sich alle Beteiligten im Detail gerade an diesen bestimmten Brief und die konkrete Verfahrensweise noch erinnern könnten. Auch habe Frau R. zuerst den Eintrag in das elektronische Verzeichnis und erst anschließend die Sendung überhaupt versandfertig gemacht. Der weitere Transport der Schriftstücke zur zentralen Hauptpoststelle sei nicht hinreichend sicher gestellt; es sei offen, welche Mitarbeiter hierfür zuständig und ob diese ausreichend zuverlässig seien. Auch wichen die vorgelegten persönlichen Erklärungen vom Vortrag im Schriftsatz vom 28.03.2011 ab. So werde dort vorgetragen, Frau F. habe das Schreiben an Frau R. übergeben. Frau F. und Frau R. hätten hingegen angegeben, dass das Schreiben von Frau F. auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt worden sei, wo diese es vorgefunden habe. Im Übrigen mache er sich die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Eigen.
22 
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. K. eingeholt, die dieser unter dem 21.03.2011 abgegeben hat.
23 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
24 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Freiburg, die Strafakten des Landgerichts Rottweil sowie Gefangenenpersonalakten des Klägers vor.

Entscheidungsgründe

 
A.
25 
Die Berufung ist zulässig. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) versäumt. Er hat jedoch fristgemäß die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (§ 60 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO). Die Tatsache, dass in dem innerhalb der Frist vorgelegten Schriftsatz vom 04.03.2011 der maßgebliche Sachverhalt bzw. Geschehensablauf nur in den Grundzügen vorgetragen und erst später präzisiert wurde, insbesondere auch hinsichtlich der getroffenen organisatorischen Vorkehrungen, ist unschädlich. Er hat auch glaubhaft gemacht, ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen zu sei, weshalb ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
26 
Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die fragliche Postsendung im Machtbereich des Regierungspräsidiums auf eine zurechenbare Art und Weise verloren gegangen sein könnte. Dabei gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe und Anforderungen wie sie auch auf die Tätigkeit von Rechtsanwälten angewandt werden. Auch hier wird nur unmittelbares Verschulden des Behördenleiters oder des selbstständig mit der Organisation der Fristüberwachung betrauten Beamten zugerechnet, nicht jedoch das Verschulden anderer Bediensteter (von Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 60 Rdn. 13 m.w.N.). Ein derartiges originäres Verschulden ist nicht erkennbar. Insbesondere ist die Organisation und Überwachung der Versendung fristwahrender Schriftsätze ausreichend zuverlässig. Der vom Kläger beanstandete Umstand, dass Frau R. bereits, nachdem sie sich des Inhalts des Schriftstücks vergewissert hat, die Eintragung in das elektronische Register vornimmt, ist unschädlich, wenn, wie hier, sichergestellt ist, dass sie dieses sowie das Eintüten und Einlegen in die Postausgangskiste in einem Arbeitsgang vornimmt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich etwa aufgrund der Verhältnisse am Arbeitsplatz von Frau R., etwa wegen häufiger Ablenkungen durch Telefonanrufe etc., hier Unzuträglichkeiten ergeben können bzw. schon tatsächlich ergeben hätten, was jedoch nicht ersichtlich ist. Einen weitergehenden Nachweis, dass der Schriftsatz dann auch tatsächlich zur Post gelangt ist, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht verlangt, ebenso wenig wie eine genaue Darlegung, wann und wo er verloren gegangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 16.02.2010 – VIII ZB 76/09 – NJW 2010, 1378). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der weitere Postlauf zur Hauptpoststelle und von dort zur Post selbst mangelhaft organisiert gewesen sein könnte, zumal es sich hierbei um einfach strukturierte Routineabläufe handelt. Eine andere Frage ist, ob bei dieser Sachlage ausreichende Vorsorge getroffen wurde, dass die Schriftsätze unverzüglich und auch rechtzeitig das Haus verlassen und zur Post gelangen, um dann entsprechende Fristen zu wahren. Darum geht es hier jedoch nicht. Denn der fragliche Schriftsatz ist vermutlich gar nicht beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen. Er ist bei einer Zustellung des Zulassungsbeschlusses am 31.01.2011 jedenfalls so rechtzeitig vom Referat 15 in den Postlauf gegeben worden, dass der Verlust des Schriftsatzes kausal für die Fristversäumung gewesen sein muss.
27 
Die schriftsätzlichen Ausführungen sowie die hierzu vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen von Frau F. und Frau R. sind auch im Wesentlichen nicht unauflösbar widersprüchlich. Zwar klingen die ursprünglichen Ausführungen im Schriftsatz vom 04.03.2011 sowie vom 21.03.2011 zunächst so, als ob Frau F. die Sendung zum Postversand gebracht hätte. Der folgende Schriftsatz vom 28.03.2011 schildert die Abläufe hingegen zulässigerweise differenzierter und gibt die arbeitsteilige Handlungsweisen genauer wieder, ohne dass hieraus geschlossen werden kann, es würden unwahre Angaben gemacht. Kein Widerspruch besteht auch zwischen den Angaben im Schriftsatz vom 28.03.2011, wonach Frau F. das Schreiben Frau R. „vorgelegt“ habe, während in deren persönlichen Erklärungen ausgeführt wurde, Frau F. habe es auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt. Widersprüchlich erscheinen zunächst die Angaben nur insofern, als es im Schriftsatz vom 21.03.2011 heißt, Frau F. habe, nachdem das Schriftstück das Haus verlassen habe, dieses in das elektronische Verzeichnis für den 31.01.2011 aufgenommen. Denn unter dem 28.03.2011 wurde vorgetragen, Frau R. habe den Eintrag gemacht, bevor das Schriftstück das Haus verlassen habe. Der Beklagtenvertreter hat jedoch nochmals in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er ursprünglich der Auffassung gewesen sei, der knappe Vortrag würde ausreichen. Er habe dann aber als Reaktion auf das Vorbringen des Klägers und die Anforderungen des Gerichts weitere Gespräche mit den Mitarbeiterinnen geführt und daher den Vortrag präzisieren und genauer darlegen müssen, weshalb es auch - wegen früherer Verkürzungen - zu gewissen Unterschieden in der Darstellung gekommen sei. Der Umstand, dass nunmehr ausgeführt wird, die Postausgangskiste sei erst am 01.02.2011 zur zentralen Poststelle gebracht worden, stellt nach Überzeugung des Senats eine solche zulässige Präzisierung dar, da auch in den früheren Erklärungen nicht explizit davon die Rede gewesen war, der Schriftsatz sei schon am 31.01.2011 bei der Deutschen Post AG eingegangen.

B.
28 
Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen. Auch nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - NVwZ 2008, 434) ergibt sich nichts anderes.
29 
I. Der Kläger hat, indem er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt wurde, den zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht.
30 
1. Da er mit seiner deutschen Ehefrau und seinen beiden deutschen Kindern bis zum Zeitpunkt der Verhaftung in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hatte, genießt er nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz und darf nur ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen.
31 
Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - NVwZ 2009, 727 m.w.N.) liegt ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nur dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz mit den Regelungen des § 56 AufenthG bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung streng einzelfallbezogen ein deutliches Übergewicht hat. Ein solches Übergewicht kann aus den besonderen Umständen der jeweils die Ausweisung auslösenden Verhaltensweisen des Ausländers folgen. Danach können Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität, namentlich schwere Gewaltdelikte, einen solchen schwerwiegenden Grund ausmachen, wobei als kumulativ festzustellende Voraussetzung die Ausweisung zur Unterbindung erneuter vom Ausländer ausgehender Gefahren geboten sein muss (vgl. auch Senatsurteil vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 -EzAR 033 Nr. 8).
32 
Stützt die Ausländerbehörde ihre Ausweisungsverfügung auf spezialpräventive Gründe, so ist diese (im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes) nur dann gerechtfertigt, wenn für die Gefahr erneuter Rechtsgutsverletzungen konkrete Anhaltspunkte bestehen. Der Ausweisungsgrund ist nicht schwerwiegend mit der zwingenden Rechtsfolge, dass eine Abschiebung unzulässig ist, wenn allein eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen der öffentlichen Sicherheit besteht, weil nicht hinreichend ausgeschlossen werden kann, dass der Ausländer sein schwerwiegendes früheres Fehlverhalten wiederholen oder andere Taten von vergleichbarem Gewicht begehen wird. Es sind somit qualifizierte Anforderungen an die Feststellung einer Wiederholungsgefahr zu stellen, weshalb konkrete Anhaltspunkte dafür ausgemacht werden müssen, dass auch in Zukunft bedeutsame Gefahren für ein wichtiges Schutzgut ernsthaft zu besorgen sind (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 - VBlBW 2003, 474). Mit anderen Worten: Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach Maßgabe der Schwere der Rechtsgutsverletzung (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 - InfAuslR 1985, 33) ist nicht statthaft. Allerdings ordnet für die hier zu beurteilende Fallkonstellation § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausdrücklich an, dass im Falle des § 53 AufenthG in der Regel schwerwiegende Gründe vorliegen, weshalb es hier keiner konkreten positiven Feststellungen bedarf, sondern lediglich Umstände festgestellt werden müssen, die eine Atypik begründen. Solche Umstände sind hier nicht gegeben.
33 
Im Falle des Klägers bestehen – ungeachtet der gesetzlichen Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG – im Übrigen auch die für die Annahme eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes gebotenen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wieder in schwerwiegender Weise gegen die Strafrechtsordnung verstoßen könnte. Die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. K. (vgl. S. 1 und 5) macht unmissverständlich deutlich, dass beim Kläger ein nicht vollständig zu vernachlässigendes Potential unzureichend entwickelter Konfliktvermeidungs- und Konfliktbewältigungsstrategien vorhanden ist, das einer therapeutischen Aufarbeitung bedarf, um eine ausreichend verantwortliche Verhaltenssteuerung einigermaßen zuverlässig zu gewährleisten. Allerdings geht der Gutachter davon aus, dass eine eigentliche Therapie nicht unbedingt erforderlich ist, sondern dass auch umfassende und eingehende therapeutische bzw. psychologische Gespräche und ein Resozialisierungsprogramm sowie ein Anti-Gewalt-Training ausreichen; er stellt beides prinzipiell als gleichwertig nebeneinander (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 30; Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2010, S. 3 und 5; ergänzende Stellungnahme S. 1). Diese Voraussetzung kommt nicht nur deutlich in seinen grundsätzlichen Ausführungen zu den zwingenden Erfordernissen einer Vorbereitung in der Haft zum Ausdruck, sondern liegt ersichtlich auch seinen abschließenden Bemerkungen über die unerlässlichen Anforderungen an die Gestaltung der Bewährungszeit zugrunde. Nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht hinreichend prognostiziert werden, dass mit der erforderlichen Verlässlichkeit bis zur Haftentlassung eine Therapie erfolgreich abgeschlossen sein wird, oder jedenfalls die therapeutischen bzw. psychologischen Gespräche mit dem erforderlichen Ergebnis durchgeführt sein werden. Im Gegenteil: Es spricht alles dafür, dass dieses nicht der Fall sein wird. Zwar hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 27.10.2010 ausweislich der Niederschrift behauptet, er habe mit dem russischsprechenden Psychotherapeuten bzw. Psychologen W. in der Vollzugsanstalt drei therapeutische Gespräche geführt, wovon eines einen halben Tag und die anderen beiden jeweils etwa eine Stunde gedauert hätten. Auf diesbezügliche Fragen des Senats in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger schon von sich aus nicht mehr davon gesprochen, dass er Gespräche von einer solchen Dauer geführt habe, woraus unübersehbar deutlich wird, dass er insoweit beim Verwaltungsgericht die Unwahrheit gesagt hat, um sich in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Er hat gegenüber dem Senat lediglich ganz allgemein behauptet, in zwei Gesprächen, die aber nach den eigenen Angaben wesentlich kürzer gewesen waren (eine Stunde oder auch nur eine halbe Stunde), sei auch über die Tat gesprochen worden. Der Senat kann unterstellen, dass auch die Tat erwähnt worden sein wird, jede andere Annahme wäre lebensfremd. Entscheidend ist vielmehr allein die Dauer bzw. Häufigkeit der Gespräche und deren Qualität. Zu seiner Überzeugung steht nach der eingeholten schriftlichen Erklärung von Herrn W. vom 03.05.2011 aber fest, dass eine erforderliche intensive Befassung mit und Aufarbeitung der Tat nicht erfolgt ist. Dies wäre angesichts der vom Kläger selbst zugestandenen Kürze und der Zahl der Treffen mit Herrn W. auch gar nicht möglich. Auch muss der Senat davon ausgehen, dass der Kläger kein wirkliches Interesse daran hat, obwohl ihm in der Justizvollzugsanstalt die Chance von Gesprächen in seiner Muttersprache geboten wird. Eine gegenteilige Überzeugung hat der Kläger mit seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Senat nicht herbeiführen können. Abgesehen davon hat Herr W. dieses in seiner Stellungnahme auch klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Senat sieht in diesem Zusammenhang keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, wie der Prozessbevollmächtigte vermutet, dass Herr W. aus auch bei diesem liegenden Gründen keine Gesprächsbasis gefunden hatte, weshalb ein beim Kläger an sich bestehender ernsthafter Wunsch und Wille zu einer intensiven Aufarbeitung der Tat nicht erfüllt werden konnte, ohne dass er dieses zu vertreten hätte. Dies ganz losgelöst von der Frage, ob dieses unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr überhaupt erheblich sein kann. Für den Senat ist insgesamt nicht ersichtlich, weshalb Herr W. in seiner Stellungnahme vom 03.05.2011 unwahre Angaben gemacht haben sollte. Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass der Kläger ein erhebliches Interesse hat, wahrheitswidrig ein Interesse an einer Therapie zu behaupten, nachdem ihm nunmehr nach der gesamten Vorgeschichte klar geworden sein muss, dass er nur auf diese Weise eine Chance haben kann, die Ausweisung noch abwenden zu können. Diese ist auch nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zweifelsfrei unwahren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu sehen. Jedenfalls kann, nachdem nunmehr 3 ½ Jahre seit der Verurteilung verstrichen sind, ohne dass der Kläger diesbezüglich irgendetwas auf den Weg gebracht hat, die bloße verbale Behauptung, an einer Therapie interessiert zu sein, ein positive Einschätzung nicht begründen.
34 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine völlig ungeklärte eheliche und familiäre Situation ein vom Senat zu seinen Lasten zu berücksichtigender gefahrerhöhender Umstand, der keineswegs nur abstrakt ist und damit unerheblich wäre. Der Kläger hält zwar nach seinen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung formal an seiner Ehe fest und will sich nicht scheiden lassen, was insoweit nachvollziehbar ist, weil er andernfalls den mit der Ehe verbundenen erhöhten Ausweisungsschutz verlieren würde. Andererseits will er mit seiner Ehefrau gegenwärtig nichts zu tun haben und hat diese seit seiner Inhaftierung vor 4 ½ Jahren allenfalls ein Mal gesehen; er will sie nach seinen eindeutigen und kategorischen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch zukünftig nicht sehen und hat mit ihr auch keinen nennenswerten, ihre Beziehung betreffenden brieflichen Kontakt. Es ist für den Senat nicht nachzuvollziehen, weshalb der Kläger nur für den Fall, dass er hier bleiben dürfe, seine Beziehung zu der Ehefrau „ankurbeln“ wolle, was er auch immer darunter verstehen mag. Denn wenn ihm wirklich etwas an der Beziehung zu seiner Ehefrau liegen würde, müsste er sich in jedem Fall und bedingungslos um die Beziehung bemühen. Nach alledem muss sich aufdrängen, dass spätestens im Falle der Haftentlassung ein ernst zu nehmendes Risiko besteht, dass sich die Ehefrau endgültig von ihm trennt oder bereits getrennt hat. Dann jedoch steht die Frage an, was mit den Kindern geschehen wird. Diese Fragestellung beinhaltet ein erhebliches Konfliktpotential, das auch mit schweren Kränkungen verbunden sein kann, zumal dann, wenn die Ehefrau den Kläger nicht oder jedenfalls wenig an dem Leben der Kinder teilhaben lassen will. Auch der Gutachter sieht dieses ebenso (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 2 und 5). Dass der Kläger mit tiefer gehenden persönlichen Konflikten und Kränkungen nicht umgehen kann, hat er in der Vergangenheit eindrücklich gezeigt, wie er ebenso - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - deutlich gemacht hat, dass er nicht ernsthaft bereit ist, hieran zu arbeiten.
35 
Gegen den Kläger spricht – jedenfalls in einer Gesamtschau – nach Überzeugung des Senats auch, dass er nach der Tat und insbesondere nach der strafgerichtlichen Verurteilung bis heute die Tat, jedenfalls wesentliche Tatbeiträge seinerseits, im Grunde leugnet und sich nicht vorbehaltlos seiner Schuld stellt. Zwar übersieht der Senat nicht, dass nach der fachlichen Einschätzung des Gutachters (vgl. S. 3 der ergänzenden Stellungnahme) nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger, wie auch viele andere vergleichbar strukturierte Täter, an seine Grenzen stößt und eine möglicherweise zusätzlich vorhandene Störung der Wahrnehmung offenbar auch dem Schutz der eigenen psychischen Stabilität dient. Immerhin weist der Gutachter darauf hin, dass es tatsächlich zu erheblichen Erinnerungsausfällen gekommen sein kann. All das mag das Verhalten zunächst nachvollziehbar erscheinen lassen. Gleichwohl spricht gegen eine - wie auch oben in anderem Zusammenhang erörterte - Auseinandersetzungsbereitschaft mit der Tat, dass der Kläger über ein Leugnen hinaus im Grunde wesentliche, wenn nicht überwiegende Tatbeiträge bzw. Verschuldensanteile auf das Opfer verschiebt. Dies gilt jedenfalls, wenn man sein gesamtes Verhalten im Zusammenhang betrachtet und die bereits oben gewürdigten Angaben zur Therapiebereitschaft und den mit Herrn W. geführten Gesprächen angemessen berücksichtigt.
36 
Anders als der Beklagte dies sieht, können allerdings bei der Beurteilung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht andere Deliktsgruppen wie Vergewaltigung, Raub, Diebstahl oder Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz einbezogen werden. Auch wenn es sich – wie der Gutachter richtigerweise ausführt – hier nicht um eine klassische Affekttat gehandelt hat, so war es doch gewissermaßen eine Beziehungstat. Hinzukommt, dass der Gutachter keine besondere, mit erhöhter Aggressivität einhergehende Persönlichkeitsstörung festgestellt hat; der Gutachter verneint ausdrücklich eine allgemeine Gewaltbereitschaft (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 21, 26 und 29), was der Beklagte offenbar aus dem Auge verloren hat. Ausgehend von den Ausführungen des Gutachters besteht kein Ansatz dafür, dass die Begehung solcher Taten auch angedacht werden müsste.
37 
Der weitere tatsächliche Ausgangspunkt des Gutachters wie auch des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei Ersttäter, wird zwar von der Beklagten in Frage gestellt, weil diese Annahme nur auf den Angaben des Klägers im Strafverfahren wie auch gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie telefonischen Auskünften der Ehefrau und der Schwägerin beruht. Eine weitere, in erster Linie nur in Kirgisistan mögliche Ermittlung ist jedoch nach Auffassung des Senats nicht geboten, zumal der Beklagte sich auch nicht zu solchen im Verwaltungsverfahren veranlasst sah. Es besteht kein Anlass, dem Kläger zu misstrauen, auch nicht deshalb, weil er behauptet hat, angegriffen worden zu sein, weil er unzutreffende Angaben über die Gespräche mit Herrn W. gemacht hat. Wenn der Kläger im Bundesgebiet nicht weiter strafrechtlich und polizeilich in Erscheinung getreten ist, was im Strafverfahren zu Tage getreten wäre, bestand für den Gutachter kein ausreichender Ermittlungsansatz für weitere Nachforschungen im sozialen Umfeld des Klägers.
38 
Auch wenn der Gutachter eine infolge der Hafterfahrung eingetretene Nachreifung festgestellt haben will (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 4 f.), so verbleibt namentlich auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung des Senats ein rechtlich erhebliches Risiko der Begehung einer vergleichbaren Gewalttat.
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Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die vom Beklagten betonte Feststellung der formellen Voraussetzungen des § 66 b a.F. StGB durch die Staatsanwaltschaft nichts besagt, weil hier gerade keinerlei Aussage zu den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung („wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“) gemacht wurde.
40 
Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung wiederum über bestimmte Prozentränge für eine Eintrittswahrscheinlichkeit diskutiert haben und sie das auch schon in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 getan hatten, möchte der Senat - wie auch schon das Verwaltungsgericht - abschließend eine wichtige Aussage des Gutachters in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 hervorheben, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt. Er hatte dort ausdrücklich betont, dass sich die benannten Prozentränge nur aus einzelnen Checklisten und Tests ergäben und allein dienenden und ergänzenden Charakter haben können. Sie dürften in keinem Fall die auf der Exploration beruhende endgültige kriminalprognostische Beurteilung ersetzen oder maßgeblich mitbestimmen.
41 
2. Ist der die Ausweisung tragende Grund schwerwiegend, so ist an sich der Kläger gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat den Kläger, insbesondere wegen der vorhandenen minderjährigen Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - VwZ 2008, 326) allerdings zutreffend nur im Ermessenswege ausgewiesen. Es ist damit von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall ausgegangen, denn allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG wird dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300). Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass die Ehefrau des Klägers und auch er weiter an der Ehe festhalten, weshalb diesem Umstand aufenthaltsrechtlich eine erhebliche und weit reichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, zumal da die Ehefrau deutsche Staatsangehörige ist (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133; vom 27.09.1978 - 1 C 79.76 - BVerwGE 56, 246; vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 - NVwZ 1989, 770; auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschluss vom 15.6.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311). Weiter wird der Schutz erheblich verstärkt durch den Umstand, dass der Kläger nach wie vor das Sorgerecht hinsichtlich seiner deutschen Kinder hat und auch während der Haft mit diesen regelmäßig Kontakt pflegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.1980 - I 55.75 - BVerwGE 60, 126; vom 19.10.1982 - 1 C 100.78 - EzAR 124 Nr. 6). Die Frage des konkreten Schutzes wird nicht allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG erschöpfend beantwortet, ihr ist vielmehr im Rahmen der Ermessensausübung nochmals umfassend und differenziert nachzugehen. Der Schutz der deutsch/ausländischen Familie wird dabei nicht durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau und die Kinder selbst aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388).
42 
Der Beklagte hat im Rahmen der von ihm angestellten und in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen alle relevanten Belange eingestellt und auch zutreffend gewichtet. Der Beklagte hat zwar erwogen, dass die Ehefrau und seine Kinder wegen ihrer Herkunft mit dem Kläger nach Kirgisistan zurückkehren und ihnen dieses vorübergehend zuzumuten sein könnte, hat aber bei seiner Ermessenentscheidung die endgültige Trennung letztlich unterstellt. Was das Gewicht der Folgen der Trennung betrifft, kann der Senat nicht unberücksichtigt lassen, dass gegenwärtig keinerlei persönliche Beziehung zur Ehefrau besteht und der Kläger eine Wiederaufnahme strikt abgelehnt hat und weiter ablehnt. Der Kläger konnte dem Senat auch in der mündlichen Verhandlung nicht plausibel machen, dass er ernsthaft an einer Klärung der Beziehung mit dem Ziel einer Wiederaufnahme zu arbeiten gewillt ist. Auch die Beziehung zu seinen beiden Kindern ist nach den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben auch unter angemessener Berücksichtigung der haftbedingten Erschwernisse eher lose und lässt eine intensive Teilhabe am Leben der Kinder vermissen. Es wurde auch nicht geltend gemacht, dass aus der ebenfalls maßgeblichen Sicht der Kinder eine besonders enge Bindung an den Vater besteht. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob in der Justizvollzugsanstalt F. häufigere persönliche Besuche möglich wären. Immerhin hat sich der Kläger gar nicht darauf berufen, dass diese nicht möglich wären, sondern ausschließlich geltend gemacht, der Bruder habe nicht mehr Zeit bzw. den Kindern werde bei der Autofahrt leicht schlecht. Der letztgenannte Grund leuchtet dem Senat nicht ein, wenn ein tiefer gehendes Interesse der Kinder bzw. des Klägers an einem unmittelbaren persönlichen Kontakt bestehen würde. Für diese Bewertung ist für den Senat maßgeblich, dass der Kläger beispielsweise keine genaueren Angaben über die Art der vom älteren Sohn besuchte Schule machen konnte, sondern erst auf entsprechende Nachfrage sagte, dass er nicht wisse, wie man die Schule bezeichne, und pauschal von „Mittelschule“ sprach. Dieser Umstand wie auch die Tatsache, dass er nur sehr allgemeine Angaben über den schulischen Werdegang der Kinder und deren sonstige Aktivitäten machen konnte, zeigen deutlich, dass das Interesse an seinen Kindern nicht besonders entwickelt ist. Beispielsweise konnte der Kläger nicht einmal präzise Angaben darüber machen, wo der ältere Sohn Taekwon-Do trainiere, ob etwa im Rahmen des Sportunterrichts oder außerhalb des schulischen Rahmens. Auch seine Schilderungen über den Ablauf der Besuchsaufenthalte in der Haft blieben sehr an der Oberfläche und blass. Vor dem Hintergrund der eher größeren Abstände der Besuche in der Haft konnte der Senat nicht nachvollziehen, dass er in 4 ½ Jahren seine Kinder nur 1 bis 2 Mal angerufen hat. Die Erklärung, dass er aus der Justizvollzugsanstalt auf deren Mobiltelefone nicht anrufen dürfe, wertet der Senat als Ausflucht. Denn es fehlt jeder Anhalt dafür, dass die Kinder nicht auch über einen Festnetzanschluss erreichbar sein könnten, auch wenn die Mutter über einen solchen nicht verfügen sollte. Wenn schon ein telefonischer Kontakt praktisch nicht stattfindet, so wäre bei einer wirklich gelebten intensiven persönlichen Beziehung wenigstens ein intensiver schriftlicher Kontakt zu erwarten gewesen, den der Senat aber auch nicht feststellen konnte. Nach den Angaben des Klägers schickt er lediglich Postkarten, und dann auch nur an Geburtstagen und etwa an Weihnachten. Angesichts dieser persönlichen und familiären Verhältnisse und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger erst im Alter von knapp 28 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist und nur 4 ½ Jahre straffrei im Bundesgebiet gelebt hat, erweist sich die Ausweisung in Ansehung der nicht von der Hand zu weisenden Besorgnis der Begehung vergleichbarer Gewalttaten und insbesondere unter Berücksichtigung der außerordentlich gravierenden Folgen der Tat auch nicht als unverhältnismäßig (vgl. auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz -InfAuslR 2001, 476; vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279; vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04, Maslov/Deutschland II - InfAuslR 2008, 333).
43 
Der Senat kann daher offen lassen, ob die Ausweisung auch allein durch generalpräventive Erwägungen getragen wäre (vgl. hierzu Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris).
44 
II. Für den Kläger ergeben sich auch aus Europarecht keine weitergehende Rechte, die seiner Ausweisung entgegenstehen.
45 
1. a) Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache C-34/09 (Ruiz Zambrano) in einem familiär ähnlich gelagerten Fall u.a. entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann.
46 
Ob damit, insbesondere was die Beurteilung der Rechte drittstaatsangehöriger Familienmitglieder betrifft, eine generelle Gleichstellung mit solchen Unionsbürgern verbunden ist, die bereits einmal von ihrer mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und ob etwa die Bestimmungen der Unionsbürger-RL 2004/38/EG (namentlich dessen Art. 28) entsprechend anzuwenden sind (vgl. zum Anwendungsbereich deren Art. 3 Abs. 1 und nunmehr auch EuGH, Urteil vom 05.05.2011, Rs C-434/09, McCarthy), kann der Senat offenlassen (vgl. zu dieser Frage auch das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 20.01.2011 - 11 S 1069/10 - InfAuslR 2011, 133). Denn Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG stünde einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. hierzu unten) und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG wäre ohnehin im Falle des Klägers nicht anwendbar, da er sich noch nicht 10 Jahre im Bundesgebiet aufhält.
47 
Folge der nicht möglichen unmittelbaren Anwendbarkeit der Unionsbürger-RL 2004/38/EG ist dann auch, dass das FreizügigkeitsG/EU hier ebenfalls nicht unmittelbar anzuwenden ist, es vielmehr bei der Geltung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regeln zu verbleiben hat. Diese sind allerdings unionsrechtskonform zu handhaben.
48 
b) Auch wenn infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 in Art. 24 der Grundrechtecharta (GRCh) die Kinderrechte gestärkt und bekräftigt werden, gilt der nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Ruiz Zambrano“ aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV folgende Aufenthaltsanspruch der drittstaatsangehörigen Eltern - ungeachtet einer möglichen entsprechenden Anwendbarkeit des Art. 28 RL 2004/38/EG -nicht unbeschränkt. Wie für den Fortbestand der Unionsbürgerschaft selbst (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010, Rs. C-135/08, Rottmann, Rn. 55), muss auch für deren Reichweite der primärrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fruchtbar gemacht werden (vgl. Art. 5 Abs. 4 EUV). Hiernach gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Um hierbei die von Art. 6 Abs. 2 EUV sowie Art. 52 Abs. 3 und 7 GRCh angestrebte Einheitlichkeit des europäischen Menschenrechtsschutzes, d.h. den angestrebten materiell-rechtlichen Gleichlauf zwischen EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates zu erreichen, sind bei straffällig gewordenen Eltern die vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof zu Art. 8 EMRK entwickelten sog. Boultif/Üner-Kriterien heranzuziehen (EGMR, Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476; Urteil vom 05.07.2005 - 46410/99 <Üner> - InfAuslR 2005, 450), die der Gerichtshof etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) zusammengefasst hat.
49 
Ob der Eingriff in das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht des Elternteils nach Art. 20 AEUV sowie das geschützte Familien- und Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, entscheidet sich mithin immer im konkreten Einzelfall unter Abwägung der aufgeführten verschiedenen Belange. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, führt jedoch auch die Anwendung der Boultif/Üner-Kriterien im konkreten Einzelfall des Klägers nicht zu einem ihm günstigen Ergebnis.
50 
c) Die Ausweisung des Klägers, dem grundsätzlich der unionsbürgerrechtliche Schutz nach Art. 20 AEUV zukommt, erweist sich auch nicht bei Berücksichtigung der sonstigen Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs zu Ausweisungen als rechtswidrig. Zwar ist die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG (in entsprechender Anwendung) und der hierzu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann eröffnet, wenn in restriktiver Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Ausnahmebestimmungen unter Ausschluss generalpräventiver Überlegungen aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung von diesem ausgeht, die darüber hinaus ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren muss (vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74, Bonsignore - Slg. 1975, 297; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - Slg. 1975, 1219; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - Slg. 1977, 1999; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81, Adoui und Cornuaille - Slg. 1982, 1665; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86, Kommission/Bundesrepublik - Slg. 1989, 2363; vom 19.01.1999 - C-348/96, Calfa - Slg 1999, I-11). Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich im Verständnis des Gerichtshofs auf ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann ausreichen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erkennen lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulus und Oliveri - Slg. 2004, I-5257). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - a.a.O.). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet ist. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59).
51 
aa) Der Europäische Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes „gesellschaftliches Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - a.a.O.). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
bb) Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Diese Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Europäischen Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit nur die „ultima ratio“ sein darf, stehen einem solchen Verständnis entgegen; es ist auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unionsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet.
53 
Das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit, jedenfalls aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats immer dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, ist dieses im Falle des Klägers anzunehmen.
54 
cc) Der Senat geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Schutzes vorliegen, auch wenn der Kläger aktuell seinen Kindern – abgesehen von gelegentlichen kleineren Geschenken – keinen Unterhalt leistet. Denn die Tatsache, dass er dies bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig getan hat und er nunmehr aus objektiven Gründen daran gehindert ist, muss genügen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er nach seiner Entlassung, so er über Erwerbseinkommen verfügt, weiter Unterhalt leisten wird.
55 
Angesichts der weiter bestehenden relevanten und nicht zu vernachlässigenden Wiederholungsgefahr erweist sich jedoch auch in Anwendung der unionsrechtlichen und menschenrechtlichen Maßstäbe die Ausweisung als ermessensfehlerfrei sowie als verhältnismäßig und durch ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Bewohner gerechtfertigt. Insbesondere hat der Beklagte sich nach der Erörterung möglicher unionsrechtlicher Vorgaben in der mündlichen Verhandlung dieser vergewissert und seine Ermessenserwägungen überprüft sowie seine unionsrechtlich tragfähigen Überlegungen, weshalb an der Ausweisungsverfügung festgehalten werden soll, nachvollziehbar dargelegt (vgl. Seite 3 der Niederschrift vom 04.05.2011).
56 
III. Die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung der Abschiebung aus der Haft finden ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG. Der Senat kann offen lassen, ob sich für die Ausgestaltung einer Abschiebungsandrohung nunmehr besondere Vorgaben aus der Rückführungs-RL 2008/115/EG ergeben. Denn die Richtlinie gilt nach deren Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 nur für Rückkehrentscheidungen (vgl. auch deren Art. 6), die gegenüber illegal aufhältigen Ausländern ergehen. Der Kläger ist jedoch erst mit Wirksamwerden der Ausweisungsverfügung, die in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG zum Erlöschen gebracht hat, zum illegal aufhältigen Ausländer geworden.
57 
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Zulassung der Revision auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
58 
Beschluss
59 
vom 4. Mai 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
61 
Der Beschluss ist unanfechtbar.
62 
Funke-Kaiser Prof. Dr. Bergmann Dr. Bauer

Gründe

 
A.
25 
Die Berufung ist zulässig. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) versäumt. Er hat jedoch fristgemäß die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (§ 60 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO). Die Tatsache, dass in dem innerhalb der Frist vorgelegten Schriftsatz vom 04.03.2011 der maßgebliche Sachverhalt bzw. Geschehensablauf nur in den Grundzügen vorgetragen und erst später präzisiert wurde, insbesondere auch hinsichtlich der getroffenen organisatorischen Vorkehrungen, ist unschädlich. Er hat auch glaubhaft gemacht, ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen zu sei, weshalb ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
26 
Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die fragliche Postsendung im Machtbereich des Regierungspräsidiums auf eine zurechenbare Art und Weise verloren gegangen sein könnte. Dabei gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe und Anforderungen wie sie auch auf die Tätigkeit von Rechtsanwälten angewandt werden. Auch hier wird nur unmittelbares Verschulden des Behördenleiters oder des selbstständig mit der Organisation der Fristüberwachung betrauten Beamten zugerechnet, nicht jedoch das Verschulden anderer Bediensteter (von Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 60 Rdn. 13 m.w.N.). Ein derartiges originäres Verschulden ist nicht erkennbar. Insbesondere ist die Organisation und Überwachung der Versendung fristwahrender Schriftsätze ausreichend zuverlässig. Der vom Kläger beanstandete Umstand, dass Frau R. bereits, nachdem sie sich des Inhalts des Schriftstücks vergewissert hat, die Eintragung in das elektronische Register vornimmt, ist unschädlich, wenn, wie hier, sichergestellt ist, dass sie dieses sowie das Eintüten und Einlegen in die Postausgangskiste in einem Arbeitsgang vornimmt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich etwa aufgrund der Verhältnisse am Arbeitsplatz von Frau R., etwa wegen häufiger Ablenkungen durch Telefonanrufe etc., hier Unzuträglichkeiten ergeben können bzw. schon tatsächlich ergeben hätten, was jedoch nicht ersichtlich ist. Einen weitergehenden Nachweis, dass der Schriftsatz dann auch tatsächlich zur Post gelangt ist, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht verlangt, ebenso wenig wie eine genaue Darlegung, wann und wo er verloren gegangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 16.02.2010 – VIII ZB 76/09 – NJW 2010, 1378). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der weitere Postlauf zur Hauptpoststelle und von dort zur Post selbst mangelhaft organisiert gewesen sein könnte, zumal es sich hierbei um einfach strukturierte Routineabläufe handelt. Eine andere Frage ist, ob bei dieser Sachlage ausreichende Vorsorge getroffen wurde, dass die Schriftsätze unverzüglich und auch rechtzeitig das Haus verlassen und zur Post gelangen, um dann entsprechende Fristen zu wahren. Darum geht es hier jedoch nicht. Denn der fragliche Schriftsatz ist vermutlich gar nicht beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen. Er ist bei einer Zustellung des Zulassungsbeschlusses am 31.01.2011 jedenfalls so rechtzeitig vom Referat 15 in den Postlauf gegeben worden, dass der Verlust des Schriftsatzes kausal für die Fristversäumung gewesen sein muss.
27 
Die schriftsätzlichen Ausführungen sowie die hierzu vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen von Frau F. und Frau R. sind auch im Wesentlichen nicht unauflösbar widersprüchlich. Zwar klingen die ursprünglichen Ausführungen im Schriftsatz vom 04.03.2011 sowie vom 21.03.2011 zunächst so, als ob Frau F. die Sendung zum Postversand gebracht hätte. Der folgende Schriftsatz vom 28.03.2011 schildert die Abläufe hingegen zulässigerweise differenzierter und gibt die arbeitsteilige Handlungsweisen genauer wieder, ohne dass hieraus geschlossen werden kann, es würden unwahre Angaben gemacht. Kein Widerspruch besteht auch zwischen den Angaben im Schriftsatz vom 28.03.2011, wonach Frau F. das Schreiben Frau R. „vorgelegt“ habe, während in deren persönlichen Erklärungen ausgeführt wurde, Frau F. habe es auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt. Widersprüchlich erscheinen zunächst die Angaben nur insofern, als es im Schriftsatz vom 21.03.2011 heißt, Frau F. habe, nachdem das Schriftstück das Haus verlassen habe, dieses in das elektronische Verzeichnis für den 31.01.2011 aufgenommen. Denn unter dem 28.03.2011 wurde vorgetragen, Frau R. habe den Eintrag gemacht, bevor das Schriftstück das Haus verlassen habe. Der Beklagtenvertreter hat jedoch nochmals in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er ursprünglich der Auffassung gewesen sei, der knappe Vortrag würde ausreichen. Er habe dann aber als Reaktion auf das Vorbringen des Klägers und die Anforderungen des Gerichts weitere Gespräche mit den Mitarbeiterinnen geführt und daher den Vortrag präzisieren und genauer darlegen müssen, weshalb es auch - wegen früherer Verkürzungen - zu gewissen Unterschieden in der Darstellung gekommen sei. Der Umstand, dass nunmehr ausgeführt wird, die Postausgangskiste sei erst am 01.02.2011 zur zentralen Poststelle gebracht worden, stellt nach Überzeugung des Senats eine solche zulässige Präzisierung dar, da auch in den früheren Erklärungen nicht explizit davon die Rede gewesen war, der Schriftsatz sei schon am 31.01.2011 bei der Deutschen Post AG eingegangen.

B.
28 
Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen. Auch nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - NVwZ 2008, 434) ergibt sich nichts anderes.
29 
I. Der Kläger hat, indem er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt wurde, den zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht.
30 
1. Da er mit seiner deutschen Ehefrau und seinen beiden deutschen Kindern bis zum Zeitpunkt der Verhaftung in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hatte, genießt er nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz und darf nur ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen.
31 
Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - NVwZ 2009, 727 m.w.N.) liegt ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nur dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz mit den Regelungen des § 56 AufenthG bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung streng einzelfallbezogen ein deutliches Übergewicht hat. Ein solches Übergewicht kann aus den besonderen Umständen der jeweils die Ausweisung auslösenden Verhaltensweisen des Ausländers folgen. Danach können Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität, namentlich schwere Gewaltdelikte, einen solchen schwerwiegenden Grund ausmachen, wobei als kumulativ festzustellende Voraussetzung die Ausweisung zur Unterbindung erneuter vom Ausländer ausgehender Gefahren geboten sein muss (vgl. auch Senatsurteil vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 -EzAR 033 Nr. 8).
32 
Stützt die Ausländerbehörde ihre Ausweisungsverfügung auf spezialpräventive Gründe, so ist diese (im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes) nur dann gerechtfertigt, wenn für die Gefahr erneuter Rechtsgutsverletzungen konkrete Anhaltspunkte bestehen. Der Ausweisungsgrund ist nicht schwerwiegend mit der zwingenden Rechtsfolge, dass eine Abschiebung unzulässig ist, wenn allein eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen der öffentlichen Sicherheit besteht, weil nicht hinreichend ausgeschlossen werden kann, dass der Ausländer sein schwerwiegendes früheres Fehlverhalten wiederholen oder andere Taten von vergleichbarem Gewicht begehen wird. Es sind somit qualifizierte Anforderungen an die Feststellung einer Wiederholungsgefahr zu stellen, weshalb konkrete Anhaltspunkte dafür ausgemacht werden müssen, dass auch in Zukunft bedeutsame Gefahren für ein wichtiges Schutzgut ernsthaft zu besorgen sind (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 - VBlBW 2003, 474). Mit anderen Worten: Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach Maßgabe der Schwere der Rechtsgutsverletzung (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 - InfAuslR 1985, 33) ist nicht statthaft. Allerdings ordnet für die hier zu beurteilende Fallkonstellation § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausdrücklich an, dass im Falle des § 53 AufenthG in der Regel schwerwiegende Gründe vorliegen, weshalb es hier keiner konkreten positiven Feststellungen bedarf, sondern lediglich Umstände festgestellt werden müssen, die eine Atypik begründen. Solche Umstände sind hier nicht gegeben.
33 
Im Falle des Klägers bestehen – ungeachtet der gesetzlichen Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG – im Übrigen auch die für die Annahme eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes gebotenen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wieder in schwerwiegender Weise gegen die Strafrechtsordnung verstoßen könnte. Die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. K. (vgl. S. 1 und 5) macht unmissverständlich deutlich, dass beim Kläger ein nicht vollständig zu vernachlässigendes Potential unzureichend entwickelter Konfliktvermeidungs- und Konfliktbewältigungsstrategien vorhanden ist, das einer therapeutischen Aufarbeitung bedarf, um eine ausreichend verantwortliche Verhaltenssteuerung einigermaßen zuverlässig zu gewährleisten. Allerdings geht der Gutachter davon aus, dass eine eigentliche Therapie nicht unbedingt erforderlich ist, sondern dass auch umfassende und eingehende therapeutische bzw. psychologische Gespräche und ein Resozialisierungsprogramm sowie ein Anti-Gewalt-Training ausreichen; er stellt beides prinzipiell als gleichwertig nebeneinander (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 30; Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2010, S. 3 und 5; ergänzende Stellungnahme S. 1). Diese Voraussetzung kommt nicht nur deutlich in seinen grundsätzlichen Ausführungen zu den zwingenden Erfordernissen einer Vorbereitung in der Haft zum Ausdruck, sondern liegt ersichtlich auch seinen abschließenden Bemerkungen über die unerlässlichen Anforderungen an die Gestaltung der Bewährungszeit zugrunde. Nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht hinreichend prognostiziert werden, dass mit der erforderlichen Verlässlichkeit bis zur Haftentlassung eine Therapie erfolgreich abgeschlossen sein wird, oder jedenfalls die therapeutischen bzw. psychologischen Gespräche mit dem erforderlichen Ergebnis durchgeführt sein werden. Im Gegenteil: Es spricht alles dafür, dass dieses nicht der Fall sein wird. Zwar hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 27.10.2010 ausweislich der Niederschrift behauptet, er habe mit dem russischsprechenden Psychotherapeuten bzw. Psychologen W. in der Vollzugsanstalt drei therapeutische Gespräche geführt, wovon eines einen halben Tag und die anderen beiden jeweils etwa eine Stunde gedauert hätten. Auf diesbezügliche Fragen des Senats in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger schon von sich aus nicht mehr davon gesprochen, dass er Gespräche von einer solchen Dauer geführt habe, woraus unübersehbar deutlich wird, dass er insoweit beim Verwaltungsgericht die Unwahrheit gesagt hat, um sich in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Er hat gegenüber dem Senat lediglich ganz allgemein behauptet, in zwei Gesprächen, die aber nach den eigenen Angaben wesentlich kürzer gewesen waren (eine Stunde oder auch nur eine halbe Stunde), sei auch über die Tat gesprochen worden. Der Senat kann unterstellen, dass auch die Tat erwähnt worden sein wird, jede andere Annahme wäre lebensfremd. Entscheidend ist vielmehr allein die Dauer bzw. Häufigkeit der Gespräche und deren Qualität. Zu seiner Überzeugung steht nach der eingeholten schriftlichen Erklärung von Herrn W. vom 03.05.2011 aber fest, dass eine erforderliche intensive Befassung mit und Aufarbeitung der Tat nicht erfolgt ist. Dies wäre angesichts der vom Kläger selbst zugestandenen Kürze und der Zahl der Treffen mit Herrn W. auch gar nicht möglich. Auch muss der Senat davon ausgehen, dass der Kläger kein wirkliches Interesse daran hat, obwohl ihm in der Justizvollzugsanstalt die Chance von Gesprächen in seiner Muttersprache geboten wird. Eine gegenteilige Überzeugung hat der Kläger mit seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Senat nicht herbeiführen können. Abgesehen davon hat Herr W. dieses in seiner Stellungnahme auch klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Senat sieht in diesem Zusammenhang keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, wie der Prozessbevollmächtigte vermutet, dass Herr W. aus auch bei diesem liegenden Gründen keine Gesprächsbasis gefunden hatte, weshalb ein beim Kläger an sich bestehender ernsthafter Wunsch und Wille zu einer intensiven Aufarbeitung der Tat nicht erfüllt werden konnte, ohne dass er dieses zu vertreten hätte. Dies ganz losgelöst von der Frage, ob dieses unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr überhaupt erheblich sein kann. Für den Senat ist insgesamt nicht ersichtlich, weshalb Herr W. in seiner Stellungnahme vom 03.05.2011 unwahre Angaben gemacht haben sollte. Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass der Kläger ein erhebliches Interesse hat, wahrheitswidrig ein Interesse an einer Therapie zu behaupten, nachdem ihm nunmehr nach der gesamten Vorgeschichte klar geworden sein muss, dass er nur auf diese Weise eine Chance haben kann, die Ausweisung noch abwenden zu können. Diese ist auch nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zweifelsfrei unwahren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu sehen. Jedenfalls kann, nachdem nunmehr 3 ½ Jahre seit der Verurteilung verstrichen sind, ohne dass der Kläger diesbezüglich irgendetwas auf den Weg gebracht hat, die bloße verbale Behauptung, an einer Therapie interessiert zu sein, ein positive Einschätzung nicht begründen.
34 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine völlig ungeklärte eheliche und familiäre Situation ein vom Senat zu seinen Lasten zu berücksichtigender gefahrerhöhender Umstand, der keineswegs nur abstrakt ist und damit unerheblich wäre. Der Kläger hält zwar nach seinen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung formal an seiner Ehe fest und will sich nicht scheiden lassen, was insoweit nachvollziehbar ist, weil er andernfalls den mit der Ehe verbundenen erhöhten Ausweisungsschutz verlieren würde. Andererseits will er mit seiner Ehefrau gegenwärtig nichts zu tun haben und hat diese seit seiner Inhaftierung vor 4 ½ Jahren allenfalls ein Mal gesehen; er will sie nach seinen eindeutigen und kategorischen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch zukünftig nicht sehen und hat mit ihr auch keinen nennenswerten, ihre Beziehung betreffenden brieflichen Kontakt. Es ist für den Senat nicht nachzuvollziehen, weshalb der Kläger nur für den Fall, dass er hier bleiben dürfe, seine Beziehung zu der Ehefrau „ankurbeln“ wolle, was er auch immer darunter verstehen mag. Denn wenn ihm wirklich etwas an der Beziehung zu seiner Ehefrau liegen würde, müsste er sich in jedem Fall und bedingungslos um die Beziehung bemühen. Nach alledem muss sich aufdrängen, dass spätestens im Falle der Haftentlassung ein ernst zu nehmendes Risiko besteht, dass sich die Ehefrau endgültig von ihm trennt oder bereits getrennt hat. Dann jedoch steht die Frage an, was mit den Kindern geschehen wird. Diese Fragestellung beinhaltet ein erhebliches Konfliktpotential, das auch mit schweren Kränkungen verbunden sein kann, zumal dann, wenn die Ehefrau den Kläger nicht oder jedenfalls wenig an dem Leben der Kinder teilhaben lassen will. Auch der Gutachter sieht dieses ebenso (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 2 und 5). Dass der Kläger mit tiefer gehenden persönlichen Konflikten und Kränkungen nicht umgehen kann, hat er in der Vergangenheit eindrücklich gezeigt, wie er ebenso - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - deutlich gemacht hat, dass er nicht ernsthaft bereit ist, hieran zu arbeiten.
35 
Gegen den Kläger spricht – jedenfalls in einer Gesamtschau – nach Überzeugung des Senats auch, dass er nach der Tat und insbesondere nach der strafgerichtlichen Verurteilung bis heute die Tat, jedenfalls wesentliche Tatbeiträge seinerseits, im Grunde leugnet und sich nicht vorbehaltlos seiner Schuld stellt. Zwar übersieht der Senat nicht, dass nach der fachlichen Einschätzung des Gutachters (vgl. S. 3 der ergänzenden Stellungnahme) nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger, wie auch viele andere vergleichbar strukturierte Täter, an seine Grenzen stößt und eine möglicherweise zusätzlich vorhandene Störung der Wahrnehmung offenbar auch dem Schutz der eigenen psychischen Stabilität dient. Immerhin weist der Gutachter darauf hin, dass es tatsächlich zu erheblichen Erinnerungsausfällen gekommen sein kann. All das mag das Verhalten zunächst nachvollziehbar erscheinen lassen. Gleichwohl spricht gegen eine - wie auch oben in anderem Zusammenhang erörterte - Auseinandersetzungsbereitschaft mit der Tat, dass der Kläger über ein Leugnen hinaus im Grunde wesentliche, wenn nicht überwiegende Tatbeiträge bzw. Verschuldensanteile auf das Opfer verschiebt. Dies gilt jedenfalls, wenn man sein gesamtes Verhalten im Zusammenhang betrachtet und die bereits oben gewürdigten Angaben zur Therapiebereitschaft und den mit Herrn W. geführten Gesprächen angemessen berücksichtigt.
36 
Anders als der Beklagte dies sieht, können allerdings bei der Beurteilung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht andere Deliktsgruppen wie Vergewaltigung, Raub, Diebstahl oder Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz einbezogen werden. Auch wenn es sich – wie der Gutachter richtigerweise ausführt – hier nicht um eine klassische Affekttat gehandelt hat, so war es doch gewissermaßen eine Beziehungstat. Hinzukommt, dass der Gutachter keine besondere, mit erhöhter Aggressivität einhergehende Persönlichkeitsstörung festgestellt hat; der Gutachter verneint ausdrücklich eine allgemeine Gewaltbereitschaft (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 21, 26 und 29), was der Beklagte offenbar aus dem Auge verloren hat. Ausgehend von den Ausführungen des Gutachters besteht kein Ansatz dafür, dass die Begehung solcher Taten auch angedacht werden müsste.
37 
Der weitere tatsächliche Ausgangspunkt des Gutachters wie auch des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei Ersttäter, wird zwar von der Beklagten in Frage gestellt, weil diese Annahme nur auf den Angaben des Klägers im Strafverfahren wie auch gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie telefonischen Auskünften der Ehefrau und der Schwägerin beruht. Eine weitere, in erster Linie nur in Kirgisistan mögliche Ermittlung ist jedoch nach Auffassung des Senats nicht geboten, zumal der Beklagte sich auch nicht zu solchen im Verwaltungsverfahren veranlasst sah. Es besteht kein Anlass, dem Kläger zu misstrauen, auch nicht deshalb, weil er behauptet hat, angegriffen worden zu sein, weil er unzutreffende Angaben über die Gespräche mit Herrn W. gemacht hat. Wenn der Kläger im Bundesgebiet nicht weiter strafrechtlich und polizeilich in Erscheinung getreten ist, was im Strafverfahren zu Tage getreten wäre, bestand für den Gutachter kein ausreichender Ermittlungsansatz für weitere Nachforschungen im sozialen Umfeld des Klägers.
38 
Auch wenn der Gutachter eine infolge der Hafterfahrung eingetretene Nachreifung festgestellt haben will (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 4 f.), so verbleibt namentlich auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung des Senats ein rechtlich erhebliches Risiko der Begehung einer vergleichbaren Gewalttat.
39 
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die vom Beklagten betonte Feststellung der formellen Voraussetzungen des § 66 b a.F. StGB durch die Staatsanwaltschaft nichts besagt, weil hier gerade keinerlei Aussage zu den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung („wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“) gemacht wurde.
40 
Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung wiederum über bestimmte Prozentränge für eine Eintrittswahrscheinlichkeit diskutiert haben und sie das auch schon in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 getan hatten, möchte der Senat - wie auch schon das Verwaltungsgericht - abschließend eine wichtige Aussage des Gutachters in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 hervorheben, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt. Er hatte dort ausdrücklich betont, dass sich die benannten Prozentränge nur aus einzelnen Checklisten und Tests ergäben und allein dienenden und ergänzenden Charakter haben können. Sie dürften in keinem Fall die auf der Exploration beruhende endgültige kriminalprognostische Beurteilung ersetzen oder maßgeblich mitbestimmen.
41 
2. Ist der die Ausweisung tragende Grund schwerwiegend, so ist an sich der Kläger gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat den Kläger, insbesondere wegen der vorhandenen minderjährigen Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - VwZ 2008, 326) allerdings zutreffend nur im Ermessenswege ausgewiesen. Es ist damit von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall ausgegangen, denn allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG wird dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300). Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass die Ehefrau des Klägers und auch er weiter an der Ehe festhalten, weshalb diesem Umstand aufenthaltsrechtlich eine erhebliche und weit reichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, zumal da die Ehefrau deutsche Staatsangehörige ist (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133; vom 27.09.1978 - 1 C 79.76 - BVerwGE 56, 246; vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 - NVwZ 1989, 770; auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschluss vom 15.6.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311). Weiter wird der Schutz erheblich verstärkt durch den Umstand, dass der Kläger nach wie vor das Sorgerecht hinsichtlich seiner deutschen Kinder hat und auch während der Haft mit diesen regelmäßig Kontakt pflegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.1980 - I 55.75 - BVerwGE 60, 126; vom 19.10.1982 - 1 C 100.78 - EzAR 124 Nr. 6). Die Frage des konkreten Schutzes wird nicht allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG erschöpfend beantwortet, ihr ist vielmehr im Rahmen der Ermessensausübung nochmals umfassend und differenziert nachzugehen. Der Schutz der deutsch/ausländischen Familie wird dabei nicht durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau und die Kinder selbst aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388).
42 
Der Beklagte hat im Rahmen der von ihm angestellten und in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen alle relevanten Belange eingestellt und auch zutreffend gewichtet. Der Beklagte hat zwar erwogen, dass die Ehefrau und seine Kinder wegen ihrer Herkunft mit dem Kläger nach Kirgisistan zurückkehren und ihnen dieses vorübergehend zuzumuten sein könnte, hat aber bei seiner Ermessenentscheidung die endgültige Trennung letztlich unterstellt. Was das Gewicht der Folgen der Trennung betrifft, kann der Senat nicht unberücksichtigt lassen, dass gegenwärtig keinerlei persönliche Beziehung zur Ehefrau besteht und der Kläger eine Wiederaufnahme strikt abgelehnt hat und weiter ablehnt. Der Kläger konnte dem Senat auch in der mündlichen Verhandlung nicht plausibel machen, dass er ernsthaft an einer Klärung der Beziehung mit dem Ziel einer Wiederaufnahme zu arbeiten gewillt ist. Auch die Beziehung zu seinen beiden Kindern ist nach den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben auch unter angemessener Berücksichtigung der haftbedingten Erschwernisse eher lose und lässt eine intensive Teilhabe am Leben der Kinder vermissen. Es wurde auch nicht geltend gemacht, dass aus der ebenfalls maßgeblichen Sicht der Kinder eine besonders enge Bindung an den Vater besteht. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob in der Justizvollzugsanstalt F. häufigere persönliche Besuche möglich wären. Immerhin hat sich der Kläger gar nicht darauf berufen, dass diese nicht möglich wären, sondern ausschließlich geltend gemacht, der Bruder habe nicht mehr Zeit bzw. den Kindern werde bei der Autofahrt leicht schlecht. Der letztgenannte Grund leuchtet dem Senat nicht ein, wenn ein tiefer gehendes Interesse der Kinder bzw. des Klägers an einem unmittelbaren persönlichen Kontakt bestehen würde. Für diese Bewertung ist für den Senat maßgeblich, dass der Kläger beispielsweise keine genaueren Angaben über die Art der vom älteren Sohn besuchte Schule machen konnte, sondern erst auf entsprechende Nachfrage sagte, dass er nicht wisse, wie man die Schule bezeichne, und pauschal von „Mittelschule“ sprach. Dieser Umstand wie auch die Tatsache, dass er nur sehr allgemeine Angaben über den schulischen Werdegang der Kinder und deren sonstige Aktivitäten machen konnte, zeigen deutlich, dass das Interesse an seinen Kindern nicht besonders entwickelt ist. Beispielsweise konnte der Kläger nicht einmal präzise Angaben darüber machen, wo der ältere Sohn Taekwon-Do trainiere, ob etwa im Rahmen des Sportunterrichts oder außerhalb des schulischen Rahmens. Auch seine Schilderungen über den Ablauf der Besuchsaufenthalte in der Haft blieben sehr an der Oberfläche und blass. Vor dem Hintergrund der eher größeren Abstände der Besuche in der Haft konnte der Senat nicht nachvollziehen, dass er in 4 ½ Jahren seine Kinder nur 1 bis 2 Mal angerufen hat. Die Erklärung, dass er aus der Justizvollzugsanstalt auf deren Mobiltelefone nicht anrufen dürfe, wertet der Senat als Ausflucht. Denn es fehlt jeder Anhalt dafür, dass die Kinder nicht auch über einen Festnetzanschluss erreichbar sein könnten, auch wenn die Mutter über einen solchen nicht verfügen sollte. Wenn schon ein telefonischer Kontakt praktisch nicht stattfindet, so wäre bei einer wirklich gelebten intensiven persönlichen Beziehung wenigstens ein intensiver schriftlicher Kontakt zu erwarten gewesen, den der Senat aber auch nicht feststellen konnte. Nach den Angaben des Klägers schickt er lediglich Postkarten, und dann auch nur an Geburtstagen und etwa an Weihnachten. Angesichts dieser persönlichen und familiären Verhältnisse und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger erst im Alter von knapp 28 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist und nur 4 ½ Jahre straffrei im Bundesgebiet gelebt hat, erweist sich die Ausweisung in Ansehung der nicht von der Hand zu weisenden Besorgnis der Begehung vergleichbarer Gewalttaten und insbesondere unter Berücksichtigung der außerordentlich gravierenden Folgen der Tat auch nicht als unverhältnismäßig (vgl. auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz -InfAuslR 2001, 476; vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279; vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04, Maslov/Deutschland II - InfAuslR 2008, 333).
43 
Der Senat kann daher offen lassen, ob die Ausweisung auch allein durch generalpräventive Erwägungen getragen wäre (vgl. hierzu Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris).
44 
II. Für den Kläger ergeben sich auch aus Europarecht keine weitergehende Rechte, die seiner Ausweisung entgegenstehen.
45 
1. a) Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache C-34/09 (Ruiz Zambrano) in einem familiär ähnlich gelagerten Fall u.a. entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann.
46 
Ob damit, insbesondere was die Beurteilung der Rechte drittstaatsangehöriger Familienmitglieder betrifft, eine generelle Gleichstellung mit solchen Unionsbürgern verbunden ist, die bereits einmal von ihrer mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und ob etwa die Bestimmungen der Unionsbürger-RL 2004/38/EG (namentlich dessen Art. 28) entsprechend anzuwenden sind (vgl. zum Anwendungsbereich deren Art. 3 Abs. 1 und nunmehr auch EuGH, Urteil vom 05.05.2011, Rs C-434/09, McCarthy), kann der Senat offenlassen (vgl. zu dieser Frage auch das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 20.01.2011 - 11 S 1069/10 - InfAuslR 2011, 133). Denn Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG stünde einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. hierzu unten) und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG wäre ohnehin im Falle des Klägers nicht anwendbar, da er sich noch nicht 10 Jahre im Bundesgebiet aufhält.
47 
Folge der nicht möglichen unmittelbaren Anwendbarkeit der Unionsbürger-RL 2004/38/EG ist dann auch, dass das FreizügigkeitsG/EU hier ebenfalls nicht unmittelbar anzuwenden ist, es vielmehr bei der Geltung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regeln zu verbleiben hat. Diese sind allerdings unionsrechtskonform zu handhaben.
48 
b) Auch wenn infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 in Art. 24 der Grundrechtecharta (GRCh) die Kinderrechte gestärkt und bekräftigt werden, gilt der nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Ruiz Zambrano“ aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV folgende Aufenthaltsanspruch der drittstaatsangehörigen Eltern - ungeachtet einer möglichen entsprechenden Anwendbarkeit des Art. 28 RL 2004/38/EG -nicht unbeschränkt. Wie für den Fortbestand der Unionsbürgerschaft selbst (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010, Rs. C-135/08, Rottmann, Rn. 55), muss auch für deren Reichweite der primärrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fruchtbar gemacht werden (vgl. Art. 5 Abs. 4 EUV). Hiernach gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Um hierbei die von Art. 6 Abs. 2 EUV sowie Art. 52 Abs. 3 und 7 GRCh angestrebte Einheitlichkeit des europäischen Menschenrechtsschutzes, d.h. den angestrebten materiell-rechtlichen Gleichlauf zwischen EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates zu erreichen, sind bei straffällig gewordenen Eltern die vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof zu Art. 8 EMRK entwickelten sog. Boultif/Üner-Kriterien heranzuziehen (EGMR, Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476; Urteil vom 05.07.2005 - 46410/99 <Üner> - InfAuslR 2005, 450), die der Gerichtshof etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) zusammengefasst hat.
49 
Ob der Eingriff in das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht des Elternteils nach Art. 20 AEUV sowie das geschützte Familien- und Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, entscheidet sich mithin immer im konkreten Einzelfall unter Abwägung der aufgeführten verschiedenen Belange. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, führt jedoch auch die Anwendung der Boultif/Üner-Kriterien im konkreten Einzelfall des Klägers nicht zu einem ihm günstigen Ergebnis.
50 
c) Die Ausweisung des Klägers, dem grundsätzlich der unionsbürgerrechtliche Schutz nach Art. 20 AEUV zukommt, erweist sich auch nicht bei Berücksichtigung der sonstigen Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs zu Ausweisungen als rechtswidrig. Zwar ist die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG (in entsprechender Anwendung) und der hierzu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann eröffnet, wenn in restriktiver Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Ausnahmebestimmungen unter Ausschluss generalpräventiver Überlegungen aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung von diesem ausgeht, die darüber hinaus ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren muss (vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74, Bonsignore - Slg. 1975, 297; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - Slg. 1975, 1219; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - Slg. 1977, 1999; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81, Adoui und Cornuaille - Slg. 1982, 1665; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86, Kommission/Bundesrepublik - Slg. 1989, 2363; vom 19.01.1999 - C-348/96, Calfa - Slg 1999, I-11). Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich im Verständnis des Gerichtshofs auf ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann ausreichen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erkennen lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulus und Oliveri - Slg. 2004, I-5257). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - a.a.O.). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet ist. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59).
51 
aa) Der Europäische Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes „gesellschaftliches Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - a.a.O.). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
bb) Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Diese Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Europäischen Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit nur die „ultima ratio“ sein darf, stehen einem solchen Verständnis entgegen; es ist auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unionsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet.
53 
Das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit, jedenfalls aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats immer dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, ist dieses im Falle des Klägers anzunehmen.
54 
cc) Der Senat geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Schutzes vorliegen, auch wenn der Kläger aktuell seinen Kindern – abgesehen von gelegentlichen kleineren Geschenken – keinen Unterhalt leistet. Denn die Tatsache, dass er dies bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig getan hat und er nunmehr aus objektiven Gründen daran gehindert ist, muss genügen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er nach seiner Entlassung, so er über Erwerbseinkommen verfügt, weiter Unterhalt leisten wird.
55 
Angesichts der weiter bestehenden relevanten und nicht zu vernachlässigenden Wiederholungsgefahr erweist sich jedoch auch in Anwendung der unionsrechtlichen und menschenrechtlichen Maßstäbe die Ausweisung als ermessensfehlerfrei sowie als verhältnismäßig und durch ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Bewohner gerechtfertigt. Insbesondere hat der Beklagte sich nach der Erörterung möglicher unionsrechtlicher Vorgaben in der mündlichen Verhandlung dieser vergewissert und seine Ermessenserwägungen überprüft sowie seine unionsrechtlich tragfähigen Überlegungen, weshalb an der Ausweisungsverfügung festgehalten werden soll, nachvollziehbar dargelegt (vgl. Seite 3 der Niederschrift vom 04.05.2011).
56 
III. Die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung der Abschiebung aus der Haft finden ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG. Der Senat kann offen lassen, ob sich für die Ausgestaltung einer Abschiebungsandrohung nunmehr besondere Vorgaben aus der Rückführungs-RL 2008/115/EG ergeben. Denn die Richtlinie gilt nach deren Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 nur für Rückkehrentscheidungen (vgl. auch deren Art. 6), die gegenüber illegal aufhältigen Ausländern ergehen. Der Kläger ist jedoch erst mit Wirksamwerden der Ausweisungsverfügung, die in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG zum Erlöschen gebracht hat, zum illegal aufhältigen Ausländer geworden.
57 
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Zulassung der Revision auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
58 
Beschluss
59 
vom 4. Mai 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
61 
Der Beschluss ist unanfechtbar.
62 
Funke-Kaiser Prof. Dr. Bergmann Dr. Bauer

(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

1.
vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder
2.
auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2) Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

(3) Er kann verpflichtet werden, in einem anderen Wohnort oder in bestimmten Unterkünften auch außerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde zu wohnen, wenn dies geboten erscheint, um

1.
die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden und die Einhaltung vereinsrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Auflagen und Verpflichtungen besser überwachen zu können oder
2.
die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden.

(4) Um die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5, zu einer Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 oder zu einer Abschiebungsanordnung nach § 58a geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden, kann der Ausländer auch verpflichtet werden, zu bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen und bestimmte Kommunikationsmittel oder Dienste nicht zu nutzen, soweit ihm Kommunikationsmittel verbleiben und die Beschränkungen notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Um die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden, können Beschränkungen nach Satz 1 angeordnet werden, soweit diese notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwenden.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen 1 bis 4 ruhen, wenn sich der Ausländer in Haft befindet. Eine Anordnung nach den Absätzen 3 und 4 ist sofort vollziehbar.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - geändert.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wird aufgehoben.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1971 in Charleroi, Belgien, geborene Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung.
Er ist türkischer Staatsangehöriger und lebte von seiner Geburt bis 1979/80 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in Belgien, danach kehrte die Familie in die Türkei zurück. Dort besuchte der Kläger das Gymnasium, das er mit einem dem Abitur vergleichbaren Abschluss beendete. Am 06.05.1996 heiratete er in Cavusbasi Köyü/Türkei die am ... in B..., Deutschland, geborene Hatice Y., welche damals noch türkischer Staatsangehörigkeit war; am 17.08.1996 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. In der Folge erhielt er zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse, ab dem 16.07.2001 war er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, welche ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt.
Die Ehefrau des Klägers wurde am 06.07.1998 eingebürgert. Die Eheleute haben vier gemeinsame Kinder, zwei Töchter (geboren am 16.08.1997 und am 01.05.2001) und zwei Söhne (geboren am 17.07.1998 und am 14.04.2008), welche ebenfalls deutsche Staatsangehörige sind.
Ab dem 10.03.1997 war der Kläger zunächst bei verschiedenen Firmen beschäftigt, vom 02.11.1998 bis zum 31.10.2001 bei der Firma F., wobei er vom 27.02.2001 bis zum 09.07.2001 Krankengeld von der AOK bezog. Nach längerer Arbeitslosigkeit war er ab 2003 immer wieder selbstständig tätig - unterbrochen durch mehrmonatige Aushilfstätigkeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit -, zunächst mit einem Einzelhandel mit Lebensmitteln und Obst, welchen er von seiner Ehefrau übernommen hatte (von Juli 2003 bis Juni 2004), später (vom September 2006 bis zum Februar 2007) mit dem Gewerbe „Kleintransporte (Paketdienst)“, sodann mit einer Gebäudereinigung (ab dem 21.11.2007).
Zum 05.06.2008 meldete er das Wettbüro T. in Karlsruhe an. Am 18.12.2008 wurde er wegen des Verdachts der Geiselnahme u.a. in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - wurden der Kläger und die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der Mitangeklagte T.K. der Beihilfe zur Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Der Kläger wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, seine Mitangeklagten B.A. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, Y.K. von vier Jahren und zehn Monaten, E.G. von drei Jahren und sechs Monaten und T.K. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde hinsichtlich T.K. zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten wurden außerdem verurteilt, an die Nebenklägerin N.G. Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,-- EUR nebst Zinsen zu zahlen, wobei die seitens B.A. und Y.K. bereits erbrachten Beträge in Höhe von 2.500,-- EUR (B.A.) bzw. 3.000,-- EUR (Y.K.) auf den Schmerzensgeldbetrag anzurechnen seien. Das Urteil wurde nach Verwerfung der unter anderem vom Kläger eingelegten Revision diesem gegenüber am 10.12.2009 rechtskräftig.
Nach den Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 war Y.K. als Geschäftsführer in dem vom Kläger betriebenen Wettbüro beschäftigt und hätte Anfang des Jahres 2009 als Teilhaber einsteigen sollen. B.A. war bei einer Automatenaufstellerfirma tätig und für die Wartung der im Wettbüro aufgestellten Spielautomaten zuständig. Die Mitangeklagten E.G. und T.K., ein Schwager des Y.K., hielten sich häufig als Gäste im Wettbüro auf. Das Opfer der Straftaten, N.G., war auf Empfehlung des B.A. seit September 2008 als Aushilfe angestellt. Nachdem am 29.11.2008 zwischen 2.00 Uhr und 2.30 Uhr in das Wettbüro eingebrochen und aus Spielautomaten und einem offenen Tresor insgesamt Bargeld in Höhe von etwa 2.500,-- EUR entwendet worden war, verdächtigten die Angeklagten die im Wettbüro angestellte N.G. und deren Freund der Beteiligung an dem Einbruch. Anlass war unter anderem, dass ein Augenzeuge etwa zum Zeitpunkt des Einbruchs ein Auto bemerkt hatte, das dem des Freundes von N.G. ähnelte. Außerdem hatte N.G. wenige Stunden nach dem Einbruch per SMS mitgeteilt, sie könne am Morgen nicht zur Arbeit erscheinen, weil ihr Schwiegervater gestorben sei, was aber - wie sich nach und nach herausstellte - tatsächlich nicht stimmte. Um N.G. zu einem Geständnis zu zwingen, brachten die fünf Angeklagten diese am 30.11.2008 gegen 12.30 Uhr dazu, mit ihnen in den Keller des Wettbüros zu gehen. Dort versetzte B.A. der Angestellten N.G. zunächst zwei derart heftige Ohrfeigen, dass sie ein Loch im linken Trommelfell erlitt. Danach hielt B.A. dieser eine von ihm - ohne Wissen der anderen - mitgeführte, nicht ausschließbar ungeladene Schreckschusswaffe, die er zuvor mehrfach durchgeladen hatte, an die Stirn, so dass N.G. befürchtete, erschossen zu werden, und Todesangst verspürte. Unter Ausnutzung der Todesangst von N.G. versuchten die Angeklagten in den nächsten Stunden - allerdings vergeblich -, von dieser ein Geständnis zu erpressen. A.B. drückte ihr ein Kissen auf das Gesicht und tat so, als ob er dieses als Schalldämpfer verwenden würde. Auf Vorschlag des Klägers behauptete er sodann, man habe ein paar Leute zu ihrem Freund geschickt, welche ihn mit einem Baseballschläger "zusammengeschlagen" hätten, woraufhin dieser alles zugegeben hätte. B.A. oder E.G. drohten später damit, N.G. mit einer Handsäge einen Finger abzusägen. Als N.G. darum bat, auf Toilette gehen zu dürfen, wurde ihr dies mit dem Hinweis verweigert, sie solle „in die Hose pissen“. Bei diesen Übergriffen und Bedrohungen leistete T.K. lediglich psychische Beihilfe, während die anderen aktiv beteiligt waren. Nachdem B.A. und E.G. zwischen 14.30 Uhr und 15.00 Uhr den Keller verlassen hatten, wurde N.G. gegen 16.00 Uhr vom Kläger, Y.K. und T.K. freigelassen und von T.K. nach Hause gefahren. N.G. leidet noch heute erheblich unter den psychischen Folgen der Tat. Bezüglich der Strafzumessung wird in dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe hinsichtlich des Klägers unter anderem dargelegt: Die Kammer sei der Auffassung, dass die Voraussetzungen der tätigen Reue (§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 StGB) vorgelegen hätten, weil die Täter von einer weiteren Befragung der Geschädigten abgesehen hätten. Für die Annahme eines minder schwereren Falls der Geiselnahme (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 StGB) spreche, dass der Kläger bereits im Ermittlungsverfahren ein Geständnis abgelegt und dieses in der Hauptverhandlung aufrechterhalten habe, wobei der Kammer das Geständnis allerdings nur bedingt getragen von Einsicht und Reue erscheine, weil der Kläger immer wieder darauf hingewiesen habe, er hätte nicht gegen die weitere Tatausführung einschreiten können. Für ihn spreche außerdem, dass er bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei, sich schriftlich bei der Geschädigten entschuldigt und einen eher geringen Tatbeitrag geleistet habe. Es sei aber auch zu berücksichtigen, dass er als Inhaber des Wettbüros ein Hauptinteresse daran gehabt habe festzustellen, ob seine Angestellte tatsächlich an dem Einbruch beteiligt gewesen sei, dass tateinheitlich zum Verbrechen der Geiselnahme auch ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung begangen worden, dass er über dreieinhalb Stunden an der Tatbegehung beteiligt gewesen sei und dass die Geschädigte nicht nur eine körperliche Verletzung in Form einer Trommelfellperforation mit erheblichen Höreinschränkungen erlitten habe, sondern noch heute schwer unter den psychischen Folgen der Tat leide. Die nicht vertypten Milderungsgründe reichten daher nicht aus, um das Vorliegen eines minder schweren Falles zu bejahen. Unter weiterer Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger tätige Reue im Sinne von §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 4 StGB geleistet habe, sei allerdings unter Heranziehung dieses Strafmilderungsgrundes das Vorliegen eines minder schweren Falles bejaht worden.
Im Anschluss an die Untersuchungshaft verbüßte der Kläger vom 10.12.2009 bis zu seiner Entlassung am 22.12.2011 Strafhaft, ab dem 08.04.2010 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bruchsal. Zwei Drittel der Strafe waren am 17.04.2011 vollstreckt, Endstrafentermin wäre der 17.06.2012 gewesen. In dieser Zeit erhielt der Kläger regelmäßig Besuch von seiner Ehefrau und seinen Kindern sowie von anderen Verwandten und Bekannten. Von September 2010 bis Juli 2011 nahm er zweimal wöchentlich an Deutschkursen teil. Er arbeitete in einem Unternehmerbetrieb der JVA. In Vollzugsplänen und Berichten der JVA Bruchsal vom 05.05.2010, 12.05.2010, 08.02.2011, 12.09.2011 und 12.10.2011 wurde unter anderem dargelegt: Disziplinarrechtlich habe gegen den Kläger nicht eingeschritten werden müssen, es sei auch zu keinen Unregelmäßigkeiten bezüglich Drogen oder Alkohol gekommen. Er könne sehr nervenaufreibend sein, weil er täglich mehrere Anliegen habe, die er durchzusetzen versuche. Er werde dabei jedoch nie aggressiv, sondern zeige fehlendes Verständnis, reagiere weinerlich oder unbeirrbar. Im Unternehmerbetrieb gelte er wegen seiner ständigen Anliegen als Sorgenkind, erledige aber seine Arbeit zuverlässig, es sei nicht zu unentschuldigten Ausfallzeiten gekommen. Er habe noch Schulden in Höhe von etwa 45.000,-- EUR. Während in früheren Stellungnahmen der JVA, unter anderem vom 08.02.2011, Zweifel an einer Tataufarbeitung und einer echten Reue des Klägers geäußert wurden, wurde in einem Bericht vom 12.10.2011 ausgeführt, der Kläger habe über seine Straftat intensiv nachgedacht, könne sich zumindest über den Vergleich mit eigenen Bedrängungserfahrungen in das Opfer einfühlen, sei nicht die treibende Kraft gewesen und scheine seine Straftat tatsächlich zu bereuen. Die Landesstiftung Opferschutz habe am 16.07.2011 bestätigt, dass er 1.000,-- EUR Schmerzensgeld in Raten bezahlt habe. Als stabilisierender Faktor werde seine Familie gesehen. Der psychologische Dienst gehe davon aus, dass ein kriminalprognostisches Gutachten zu dem Schluss kommen werde, dass eine weiterhin bestehende Gefahr nicht festgestellt werden könne.
Bereits mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Außerdem wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht (Ziff. 2). Für den Fall, dass er vor der beabsichtigten Abschiebung aus der Haft entlassen werde, wurde er aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einem Monat nach seiner Entlassung zu verlassen; für den Fall, dass er nicht fristgerecht ausreise, wurde ihm die Abschiebung angedroht (Ziff. 3). Zur Begründung wurde dargelegt: Dem Kläger stehe kein erhöhter Ausweisungsschutz aufgrund eines Rechts zum Aufenthalt nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 zu. Eine nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 privilegierte aufenthaltsrechtliche Position habe nicht mehr erworben werden können, weil seine Ehefrau zwei Jahre nach Beginn der ehelichen Lebensgemeinschaft die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 seien ebenfalls nicht entstanden. Bei der Firma F. habe der Kläger zwar vom 02.11.1998 bis zum 26.02.2001 und vom 09.07.2001 bis zum 31.10.2001 gearbeitet. In der Zwischenzeit, vom 27.02.2001 bis zum 08.07.2001, habe er jedoch Krankengeld von der AOK bezogen. Selbst wenn man davon ausginge, dass er drei Jahre ordnungsgemäß bei einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, wäre seine Rechtsstellung nach Art. 6, 2. Spielgelstrich ARB 1/80 wieder erloschen. Denn im Anschluss an die Beschäftigung bei der Firma F. habe er ab November 2001 bis zum 27.07.2003 Leistungen der Agentur für Arbeit bezogen. Seine Ehefrau habe in dieser Zeit ein Gewerbe (Obst- und Gemüsehandel) betrieben. Ab Oktober 2003 habe er dieses übernommen, bis er es im Januar 2004 wieder aufgegeben habe. Nach kurzen Arbeitsverhältnissen, Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie Zeiten der Ausübung zweier anderer Gewerbe, sei schließlich zum 05.06.2008 die Anmeldung des Wettbüros erfolgt. Die Aufnahme einer auf Dauer angelegten selbstständigen Tätigkeit führe jedoch zum Erlöschen bereits entstandener Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid sei daher das Aufenthaltsgesetz. Der Kläger erfülle den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG. Er genieße jedoch wegen der bestehenden Niederlassungserlaubnis und der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau und seinen Kindern besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG. Es sei daher zu prüfen, ob ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorliege. Das sei der Fall. Die vom Kläger und seinen Mittätern aufgrund von Selbstjustiz begangene Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung wiege ausgesprochen schwer. Der Tathergang verdeutliche, dass der Kläger ein erhebliches Maß an krimineller Energie besitze, welches bei verständiger Würdigung aller für und gegen ihn sprechenden Umstände der Tatbegehung die Grenzen der Bagatellkriminalität bei weitem überschreite. Er sei offenkundig nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, sich an die im Bundesgebiet bestehende Rechtsordnung zu halten. Deshalb könne ihm keineswegs eine günstige Sozialprognose gestellt werden. Nach den vorliegenden Berichten der JVA habe eine Tataufarbeitung wegen der fehlenden differenzierten Deutschkenntnisse noch nicht erfolgen können. Bislang sei danach auch nicht erkennbar, dass der Kläger ein Schuldbewusstsein oder eine Empathie für das Opfer entwickelt habe. Die Ausweisung sei daher aus spezialpräventiven Gründen geeignet und erforderlich. Sie werde auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt. Es bestehe ein dringendes soziales Bedürfnis, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Gewalttaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Wegen des besonderen Ausweisungsschutzes und mit Blick auf die Familie des Klägers und Art. 8 EMRK liege eine Ausnahme von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG vor, so dass über die Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden sei. Sie sei hier gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig. Der Kläger sei mit einer türkischstämmigen Frau verheiratet, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen habe, und Vater von vier deutschen Kindern. Beruflich sei es ihm nicht gelungen, sich im Bundesgebiet zu integrieren. Der Aufbau eines eigenen Betriebes sei immer wieder gescheitert. In dem zuletzt betriebenen Wettbüro habe er mehrere Personen beschäftigt, ohne diese anzumelden. Dies sowie die Tatsache, dass er bereit gewesen sei, eine von ihm verdächtige Person als Geisel zu nehmen, um aus ihr mit brutalsten physischen und psychischen Methoden ein Geständnis zu erpressen, sei ein Beleg für eine Denkweise, welche nicht den Wertvorstellungen der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland entspreche. Es sei nicht erkennbar, dass der Kläger von seinem Heimatland, das er vor vierzehn Jahren im Alter von 25 verlassen habe, entfremdet sei. In Anbetracht des gravierenden Verstoßes gegen die geltende Rechtsordnung könnten die rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen der Ausweisung, die mit einer Übersiedlung in die Türkei verbunden seien, nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Dies gelte auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Schließlich könne er gegebenenfalls einen Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung stellen. Hilfsweise sei festzustellen, dass die Ausweisung des Klägers auch dann - im Ermessenswege nach Art. 14 ARB 1/80 i.V.m. § 55 AufenthG -gerechtfertigt sei, wenn man davon ausgehe, dass ihm eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zustehe. Für diesen Fall sei die Ausweisung jedoch lediglich auf spezialpräventive Gründe zu stützen. Die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 59 Abs. 1 AufenthG.
Am 04.11.2010 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage, zu deren Begründung er im Wesentlichen vortrug: Eine Trennung von seiner Familie wäre unverhältnismäßig. Weder verfügten er und seine Familie über die erforderlichen finanziellen Mittel für regelmäßige Besuche noch hätte er die Möglichkeit, die Kontakte angemessen aufrechtzuerhalten. Zudem sei die Ausweisung weder aus generalpräventiven noch aus spezialpräventiven Gründen angemessen. Er sei das erste Mal straffällig geworden. Aus dieser - einmaligen -Entgleisung, die nicht verharmlost werden solle, könne nicht auf ein grundsätzliches Verhaltensmuster für die Zukunft geschlossen werden. Im Übrigen sei er vom 01.11.1998 bis zum 31.10.2001 durchgehend bei der Firma F. beschäftigt gewesen, weshalb er als Assoziationsberechtigter anzusehen sei.
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Das beklagte Land trat der Klage entgegen.
11 
Mit Urteil vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Es bedürfe keiner abschließenden Beurteilung, ob der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 erworben habe, denn eine solche wäre jedenfalls durch die Aufnahme einer Tätigkeit als Selbstständiger erloschen. Weil er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG genieße, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche seien hinsichtlich des spezialpräventiven und bezüglich des generalpräventiven Ausweisungszwecks aufgrund der vom Kläger verübten Straftat gegeben. In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität seien die Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung grundsätzlich zu bejahen. Beim Kläger bestehe ein gegenüber dem Durchschnittsbürger sogar beträchtlich erhöhtes Risiko, auch künftig wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Dafür sprächen die nicht unerhebliche kriminelle Energie, die er an den Tag gelegt habe, und die konkrete Tatausführung. Diese lasse ein erhebliches Maß an Gewaltanwendung gegenüber Personen erkennen; sie habe zu gravierenden Folgen für das Opfer geführt. Ausweislich eines Berichts der JVA vom 08.02.2011 habe die Freiheitsstrafe nur insoweit die erwünschte Wirkung gezeigt, als der Kläger die negativen Folgen für seine Familie eingesehen habe, mit den Folgen der Tat für das Opfer habe er sich noch nicht erkennbar auseinandergesetzt. Da die Tat zudem eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belege, könne ihm keine günstige Sozialprognose erteilt werden. Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - sei hier wegen der tatsächlich gelebten familiären Gemeinschaft des Klägers mit den vier ehelichen Kindern des Klägers zu sehen. Die entsprechenden Ermessenserwägungen seien im Ergebnis rechtsfehlerfrei. Die dem Kläger als Mittäter der begangenen Straftaten zurechenbare Gewaltanwendung wiege derart schwer, dass seine Ausweisung auch mit Blick auf die Schutzwirkungen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig sei.
12 
Auf den am 14.03.2011 vom Kläger gestellten Antrag hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 17.05.2011 - 11 S 875/11 - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 zugelassen. Diese hat der Kläger am 26.05.2011 unter Stellung eines Antrags begründet.
13 
Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe holte die Vollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe mit Schreiben vom 03.06.2011 ein kriminalprognostisches Gutachten der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie - Zentrum für Psychiatrie - Wiesloch ein. Das daraufhin erstattete Gutachten von Herrn Dr. Sp..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Herrn S..., Facharzt für Psychiatrie, vom 24.09.2011 kommt zu dem Ergebnis, dass nicht mehr davon ausgegangen werden könne, dass die durch die Tat beim Kläger zutage getretene Gefährlichkeit fortbestünde. Dabei wurde die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat als prognostisch ungünstiger Faktor gewertet. Der Kläger sei bei der Tat aber eher passiv im Hintergrund geblieben. Beim Tatgeschehen komme somit situativen Faktoren (Eingebundenheit in eine Tätergruppe bei Vorhandensein von freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten, Unterordnung unter dominant auftretende Persönlichkeiten) ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zu. Der Kläger habe sich im Rahmen der Haft im Wesentlichen angepasst und korrekt verhalten. Dass er dabei seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen habe, lasse sich nicht als prognoserelevanter Faktor verwerten. Es existierten stabile familiäre Anbindungen. Auch die beruflichen Planungen des Klägers erschienen nicht unrealistisch. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich zu dem einzigen ungünstigen Faktor - der fehlenden inneren Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat - deutlich. Nach einer Anhörung des Klägers am 16.12.2011 wurde mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 21.12.2011 die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt; der Kläger wurde der Leitung und Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Daraufhin wurde er am 22.12.2011 aus dem Strafvollzug entlassen.
14 
Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass die Rechtstellung aus Art. 6 ARB 1/80 mit Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit erlösche. Die Ausweisung genüge nicht den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Im Übrigen hätte ein Widerspruchsverfahren durchgeführt bzw. über die Ausweisung noch durch eine „unabhängige Stelle“ entschieden werden müssen. Schon aus diesem Grund sei sie aufzuheben. Unabhängig davon sei die Ausweisung hier mit Blick auf die Tatsache, dass die Ehefrau des Klägers und seine Kinder deutsche Staatsangehörige seien, rechtswidrig. Soweit im Urteil dargelegt werde, der Rechtsstellung der Kinder des Klägers könne durch Besuche der Ehefrau mit den Kindern in der Türkei Rechnung getragen werden, werde nicht die dem Kläger gemäß Art. 20 AEUV zukommende europarechtliche Rechtsposition berücksichtigt. Anzugreifen sei auch, dass die erste Instanz eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung mangels Befristung verneine. Dies verstoße gegen Art. 8 EMRK. Nach dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 bestehe die bei der Tat zutage getretene Gefährlichkeit inzwischen nicht mehr. Die Arbeitssuche des Klägers nach seiner Haftentlassung sei durch seine erheblichen gesundheitlichen Probleme belastet gewesen. Er habe am 20./21.04.2012 in eine Klinik aufgenommen und später erneut - vom 06.06. bis zum 14.06.2012 - stationär behandelt werden müssen. Zum 24.07.2012 habe er dann einen Arbeitsplatz als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe gefunden, wonach er bei einer durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit von 25 bis 30 Wochenstunden 1.000,-- EUR brutto monatlich verdiene.
15 
Nachdem das Regierungspräsidiums Karlsruhe in der mündlichen Verhandlung die Sperrwirkungen der Ausweisung vom 22.10.2010 auf zwei Jahre befristet hat, beantragt der Kläger,
16 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - zu ändern und den Bescheid vom 22.10.2010 aufzuheben,
17 
hilfsweise: das beklagte Land zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen.
18 
Das beklagte Land beantragt,
19 
die Berufung zurückzuweisen.
20 
Es trägt vor: Das Verwaltungsgericht Karlsruhe habe zutreffend die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 22.10.2010 bestätigt und berücksichtigt, dass eine Rechtsstellung aus Art. 6 ARB 1/80 - selbst wenn der Kläger sie erworben hätte - dadurch erloschen wäre, dass er eine Tätigkeit als Selbstständiger aufgenommen habe. Durch die Ausweisung werde kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens begründet. Der Kontakt zur Ehefrau und den Kindern des Klägers könne durch Besuche in der Türkei, Briefe, Telefonate und E-Mails aufrechterhalten werden. Da der Kläger die deutsche Sprache nicht richtig beherrsche und sich bei Besuchen in türkischer Sprache unterhalten habe, sei davon auszugehen, dass die Familie ebenfalls mit der Türkei vertraut sei. Ein Leben in der Türkei wäre für den Kläger auch nicht unzumutbar, weil er zuvor ebenfalls dort gelebt habe, dort noch seine Mutter und Geschwister wohnten und er auch die türkische Sprache beherrsche. Zu dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 sei auszuführen: In dem Gutachten werde einmal mehr die „weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung“ des Klägers mit seiner Tat und den Folgen für das Opfer bestätigt. Die von ihm signalisierte Betroffenheit über das Leid des Opfers wirke auf die Gutachter sogar „affektiv eher flach und vordergründig“. Für die Gutachter sei der Eindruck entstanden, dass der Kläger „insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen erschien“. Ein tiefergehendes Mitgefühl für das Opfer sei trotz verbaler Bekundung wenig spürbar gewesen. Diese Einschätzung decke sich mit einem Bericht der JVA Bruchsal vom 08.02.2011, demzufolge „eine wirkliche Tataufarbeitung ... nicht sichtbar“ werde, und dem Eindruck, den der Kläger beim erstinstanzlichen Gericht hinterlassen habe. Das Verwaltungsgericht habe sich immerhin zu der deutlichen Formulierung veranlasst gesehen, „dass er sich mit seiner Gewaltproblematik noch nicht, jedenfalls in nicht ausreichendem Maße, auseinandergesetzt hat und die Tat eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belegt“. Mit anderen Worten: Wenn sich der Kläger in einer vergleichbaren Situation wiederfinde, in der jemand der Wahrheit auf die Sprünge helfen wolle, sei nach wie vor keine ethische Schranke bei ihm installiert, die ihn davor bewahre mitzumachen. Das Gutachten vom 24.09.2011 werte zwar zugunsten des Klägers, dass den situativen Faktoren ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zugekommen sei. Es liefere aber nicht den geringsten neuen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kläger das nächste Mal der Gruppendynamik entziehen oder gar widersetzen würde, wenn Gewalt ins Spiel komme. Aus diesen Gründen bestehe keine Veranlassung, von der aufgrund der mündlichen Verhandlung in erster Instanz gewonnenen und vom Verwaltungsgericht zutreffend begründeten Einschätzung Abstand zu nehmen.
21 
Auf einen Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 11.08.2011 - 11 S 2027/11 - die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 angeordnet.
22 
In einem Bericht der Bewährungshelferin vom 24.07.2012 sowie einem ergänzenden Schreiben vom 25.09.2012 wird dargelegt: Insgesamt sei in dem bisherigen Bewährungsverlauf nichts zu beanstanden. Der Kläger habe sich - zunächst vergeblich - intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts sei es ihm gelungen, seinen Führerschein der Klasse 3 wieder zu erlangen. Insgesamt sei es dem Kläger nach der Haftentlassung nicht gut gegangen, er habe noch sehr unter den Nachwirkungen gelitten und sei durch seinen behandelnden Arzt wegen Depressionen medikamentös behandelt worden. Am 25.05.2012 habe er sich wegen starker Schmerzen ins Krankenhaus begeben müssen. Nach mehreren Untersuchungen seien ihm am 21.06.2012 stationär mehrere Nierensteine entfernt worden. Er habe sich wirklich bemüht, wieder zu der „arbeitenden Bevölkerung“ zu gehören. Seit dem 24.07.2012 sei er als Fahrer beschäftigt; er verdiene monatlich etwa 1.000,-- EUR. Er hätte die Möglichkeit, einen Kiosk in Karlsruhe-Durlach zu übernehmen; seine Ehefrau würde dann mit ihm zusammenarbeiten.
23 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe über das Ausweisungsverfahren (2 Hefte), die ausländerrechtlichen Akten des Landratsamts Karlsruhe bezüglich des Klägers (2 Hefte), seiner Ehefrau (1 Heft) und der ältesten Tochter (1 Heft), die Gefangenenpersonalakten der JVA Bruchsal (1 Heft), die Strafakten betreffend das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - (8 Hefte) sowie das Bewährungsheft des Landgerichts Karlsruhe - 15 BWL 213/11 - vor. Diese sind ebenso wie die Akten über das Klageverfahren beim Verwaltungsgerichts Karlsruhe - 4 K 3079/10 -, über das vorliegende Berufungsverfahren - 11 S 1470/11 - und über das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - 11 S 2027/11 -Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1.
zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,
2.
dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und
3.
die verurteilte Person einwilligt.
Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.

(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn

1.
die verurteilte Person erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder
2.
die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß besondere Umstände vorliegen,
und die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.

(3) Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.

(4) Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.

(5) Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(6) Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die der Einziehung von Taterträgen unterliegen.

(7) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag der verurteilten Person, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

(1) Der Vollstreckungsleiter kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann.

(2) Vor Verbüßung von sechs Monaten darf die Aussetzung der Vollstreckung des Restes nur aus besonders wichtigen Gründen angeordnet werden. Sie ist bei einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nur zulässig, wenn der Verurteilte mindestens ein Drittel der Strafe verbüßt hat.

(3) Der Vollstreckungsleiter soll in den Fällen der Absätze 1 und 2 seine Entscheidung so frühzeitig treffen, daß die erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung des Verurteilten auf sein Leben nach der Entlassung durchgeführt werden können. Er kann seine Entscheidung bis zur Entlassung des Verurteilten wieder aufheben, wenn die Aussetzung aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener Tatsachen im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, nicht mehr verantwortet werden kann.

(4) Der Vollstreckungsleiter entscheidet nach Anhören des Staatsanwalts und des Vollzugsleiters. Dem Verurteilten ist Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben.

(5) Der Vollstreckungsleiter kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

(6) Ordnet der Vollstreckungsleiter die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe an, so gelten § 22 Abs. 1, 2 Satz 1 und 2 sowie die §§ 23 bis 26a sinngemäß. An die Stelle des erkennenden Richters tritt der Vollstreckungsleiter. Auf das Verfahren und die Anfechtung von Entscheidungen sind die §§ 58, 59 Abs. 2 bis 4 und § 60 entsprechend anzuwenden. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluß, der die Aussetzung des Strafrestes anordnet, hat aufschiebende Wirkung.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anhörung der Parteien durch Beschluss vorläufig fest, wenn Gegenstand des Verfahrens nicht eine bestimmte Geldsumme in Euro ist oder gesetzlich kein fester Wert bestimmt ist. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Werts können nur im Verfahren über die Beschwerde gegen den Beschluss, durch den die Tätigkeit des Gerichts aufgrund dieses Gesetzes von der vorherigen Zahlung von Kosten abhängig gemacht wird, geltend gemacht werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.

(2) Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt. In Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen oder der Finanzgerichtsbarkeit gilt dies nur dann, wenn ein Beteiligter oder die Staatskasse die Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.

(3) Die Festsetzung kann von Amts wegen geändert werden

1.
von dem Gericht, das den Wert festgesetzt hat, und
2.
von dem Rechtsmittelgericht, wenn das Verfahren wegen der Hauptsache oder wegen der Entscheidung über den Streitwert, den Kostenansatz oder die Kostenfestsetzung in der Rechtsmittelinstanz schwebt.
Die Änderung ist nur innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

Tenor

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2011 - 11 K 2424/10 - ist unwirksam, soweit damit Ziffer 2 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10. Juni 2010 aufgehoben worden ist.

Im Übrigen wird auf die Berufung des beklagten Landes das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2011 - 11 K 2424/10 - geändert. Die Klage gegen Ziffern 1 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10. Juni 2010 wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung sowie gegen eine ihm auferlegte räumliche Aufenthaltsbeschränkung und eine Meldeauflage.
Der am ... in .../Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 19.12.1995 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung trug er unter anderem vor, er und seine Ehefrau hätten in der Türkei die PKK unterstützt. So hätten sie z.B. Uniformen gewaschen und den Guerillas ab und zu Lebensmittel gegeben. Sie seien deshalb verfolgt worden. Auf die vom Kläger gegen den seinen Asylantrag ablehnenden Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – (im Folgenden: Bundesamt) vom 21.03.1996 erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 01.07.1998 die Bundesrepublik Deutschland festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. In der Folge erhielt der Kläger befristete Aufenthaltsbefugnisse bzw. Aufenthaltserlaubnisse, erstmals zum 01.09.1998. Zuletzt wurde ihm am 13.09.2006 eine bis zum 12.09.2007 geltende Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt.
Der Kläger ist mit der am ... geborenen M... A..., geb. G..., verheiratet. Sie haben sieben gemeinsame Kinder: B... (* ...1988), Ex ... (* ...1990), C... (* ...1992), K... (* ...1993), E... (* ...1996), M... (* ...1998) und A... A... (* ...2005). Mit Bescheid des Bundesamts vom 09.07.1996 wurden die Ehefrau des Klägers und die fünf älteren Kinder, mit denen diese am 28.05.1996 nach Deutschland eingereist war, als Asylberechtigte anerkannt. Bezüglich M..., C..., K... ... und E... wurden die Asylanerkennungen mit Bescheid des Bundesamts vom 02.03.2007 widerrufen. Die Ehefrau und die fünf älteren Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, M... ist Inhaber einer bis zum 07.01.2014 befristeten Aufenthaltserlaubnis. Der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsangehöriger.
Bis auf einen Zeitraum vom 24.04.2006 bis zum 01.03.2007, in welchem der Kläger in L... gewohnt hatte, war er durchgehend mit Hauptwohnsitz in H... gemeldet. Er und seine Familie bezogen zunächst (ergänzende) Sozialleistungen. In den ersten Jahren war er gelegentlich geringfügig beschäftigt, danach bei wechselnden Arbeitgebern, überwiegend in H... Er war wie folgt tätig: vom 01.07.2002 bis zum 30.11.2002 bei einer Gebäudereinigung, vom 13.03.2004 bis zum 31.03.2005 bei C.M.A. Télécafé, vom 01.04.2005 bis zum 31.01.2006 bei M.S.A. Télécafé, dann - nach Bezug von Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 01.05.2005 bis zum 30.04.2006 - vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 bei einer Vertriebs GmbH in W..., vom 17.07.2006 bis zum 31.07.2006 bei B... K., Abbruch und Demontage, vom 01.08.2006 bis zum 31.01.2007 bei M... K., Abbruch und Demontage, beide in L... und vom 01.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei Ü.S. Paletten-Depot in H... Seit dem 01.07.2009 ist der Kläger bei einer Gebäudereinigung tätig.
Am 25.01.1997 wurde der Kläger in einer Sitzung der Mitglieder des Vereins „Kurd... V... e.V.“, H..., - als Zuständiger für die Bücherei - in den Vorstand gewählt. Die Mitglieder des Vereins „Gebetshaus E... ... ...“, H..., wählten ihn am 12.12.1998 als zweiten Vertreter für den Bereich Sport und am 19.05.2002 als zweiten Vorsitzenden in den Vorstand. Mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 - KLs 71 Js 1603/96 - wurde der Kläger wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Geldstrafe von 35 Tagesätzen zu je 15,-- DM verurteilt. Am 16.02.1999 wurde er aus Anlass der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Stuttgart (nach der Festnahme von Öcalan) gemeinsam mit 176 anderen Kurden einen Tag lang in „Vorbeugewahrsam“ nach § 28 PolG genommen. In einem gegen ihn wegen der Selbsterklärung „Auch ich bin ein PKK´ler“ eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 30.05.2003 von der Verfolgung abgesehen (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Mit Bescheid vom 16.04.2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 27.08.1998 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Die dagegen vom Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage - A 17 K 480/07 - wurde von ihm am 25.09.2007 zurückgenommen.
Bereits am 17.07.2007 hatte der Kläger (zum wiederholten Mal) die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beantragt. Unter anderem im Hinblick auf ein Schreiben des Ministeriums des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz vom 13.11.2006, mit welchem die damals zuständige Ausländerbehörde der Stadt L... über die Wahl des Klägers in den Vorstand des Kurd... V... e.V. am 25.01.1997 und zum stellvertretenden Vorstandsmitglied des Gebetshauses „E... ...“ am 12.12.1998 sowie über diverse exilpolitische Aktivitäten des Klägers informiert worden war, forderte die Ausländerbehörde der Stadt H... den Kläger auf, an einer sog. Sicherheitsbefragung gemäß §§ 54 Nr. 6 i.V.m. § 82 Abs. 4 AufenthG teilzunehmen. Bei der daraufhin am 08.08.2007 durchgeführten Befragung verneinte der Kläger die Frage, ob er bestimmte Gruppen oder Organisationen, darunter die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) alias KADEK alias KONGRA-GEL, unterstütze oder für diese tätig geworden sei. Die Zusatzfrage, welcher Art diese Unterstützungshandlungen oder Tätigkeiten (z.B. Spenden) gewesen seien, beantwortete er sinngemäß wie folgt: Er sei nur Kurde; die PKK und die KONGRA-GEL interessierten ihn nicht. Er sei auch nicht Mitglied in einem kurdischen Verein.
Mit Schreiben des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg an das Innenministerium Baden-Württemberg vom 26.02.2008 und an das Regierungspräsidium Stuttgart vom 18.11.2008 wurde mitgeteilt, dass der Kläger dem Landesamt im Zusammenhang mit der im November 1993 verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – welche 2002 in „Freiheit- und Demokratiekongress Kurdistans“ (KADEK) und 2003 in „Volkskongress Kurdistans“ (KONGRA-GEL) umbenannt worden sei – bekannt geworden sei. Neben den Vorstandstätigkeiten in den PKK-nahen Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ... - ...“ in H... lägen folgende Erkenntnisse vor: Der Kläger habe an einer Vielzahl von Versammlungen, Demonstrationen oder Feiern von KADEK bzw. KONRAG-GEL-Anhängern teilgenommen, so am 06.04.2003 in H... an einer Versammlung anlässlich des Geburtstags von Abdullah Öcalan, am 05.02.2005 an einer Solidaritätsdemonstration für den am 22.01.2005 in Nürnberg festgenommenen stellvertretenden Vorsitzenden dieser Organisation, R... K..., am 03.04.2005 an einer Versammlung anlässlich des Geburtstags von Öcalan, am 27.11.2005 in I... (bei H...) an einer Veranstaltung zum 27. Gründungsjahrestag der PKK, am 17.12.2005 an einer Versammlung in H..., am 28.01.2006 an einer Demonstration in Mannheim, am 11.02.2006 an einer Demonstration von KONGRA-GEL-Anhängern anlässlich des 7. Jahrestages der Festnahme Öcalans in Straßburg/Frankreich, am 16.02.2007 an einer Demonstration zu den Haftbedingungen Öcalans sowie zuvor stattgefundenen Exekutivmaßnahmen der deutschen und französischen Behörden gegen mutmaßliche KONGRA-GEL-Strukturen in H..., am 27.10.2007 an einer weiteren Demonstration in H..., am 24.11.2007 an einer Versammlung anlässlich einer Feier zum Parteigründungstag der PKK in H..., am 30.03.2008 an einer weiteren Versammlung von KONGRA-GEL-Anhängern und am 18.05.2008 an einer Märtyrer-Veranstaltung in H...
Nachdem das Regierungspräsidiums Stuttgart den Kläger mit Schreiben vom 20.08.2008 unter anderem auf die Möglichkeit einer Ausweisung hingewiesen hatte, erklärte der Kläger in einem Schreiben vom 26.08.2008, er wolle zunächst feststellen, dass er kein Terrorist und kein Verbrecher sei, sondern ein einfacher Arbeiter. Jede Veranstaltung und Demonstration, an der er teilgenommen habe, sei bei den Behörden angemeldet und genehmigt gewesen. Die Vereine, in deren Vorstand er gewählt worden sei, seien Kulturvereine von Kurden für Kurden. Sicher habe auch er, als er noch in der Türkei gelebt habe, die PKK unterstützt, aber eher mit humanitären als mit militärischen Mitteln. Seit die PKK als terroristische Vereinigung gelte, habe er diese Hilfe komplett eingestellt. Er unterstütze als Kurde die kurdische Sache. Er distanziere sich aber von jeder kriminellen Handlung, die im Namen des kurdischen Volkes begangen werde, somit auch von der PKK als terroristischer Vereinigung.
10 
Am 10.02.2009 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart (Untätigkeits-) Klage gegen die Stadt H... mit dem Antrag, diese zu verpflichten, ihm eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen (8 K 487/09). Diese Klage wurde 25.05.2009 zurückgenommen; stattdessen erhob er Klage gegen das Land Baden-Württemberg (11 K 2004/09).
11 
Mit Schreiben vom 09.04.2009 und vom 01.02.2010 berichtete das Landesamt für Verfassungsschutz, es seien noch die folgenden gerichtsverwertbaren Erkenntnisse angefallen: Ausweislich eines Fotos und eines Zeitungsartikels in der der KONGRA-GEL nahestehenden türkischen Tageszeitung „Yeni Özgür Politika“ vom ...2008 habe er am ...2008 an einer Märtyrer-Gedenkveranstaltung von KONGRA-GEL-Anhängern in H... und außerdem am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestags der Gründung des militärischen Arms der PKK an einem Grillfest von KONGRA-GEL-Anhängern bei Bad Wimpfen sowie am 25.10.2008 an einer Demonstration gegen die angebliche Misshandlung von Öcalan in H... teilgenommen. Am 23.11.2008 und am 27.11.2009 sei der Kläger in I... (bei H...) Teilnehmer von Versammlungen zur Feier des 30. bzw. 31. Gründungsjahrestages der PKK gewesen, am 20.03.2009 habe er an der „Newroz“-Veranstaltung in H... teilgenommen.
12 
Mit Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Er wurde außerdem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland spätestens innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise innerhalb der Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Ziff. 2). Außerdem wurde sein Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abgelehnt (Ziff. 3). Der Kläger wurde verpflichtet, sich einmal wöchentlich unter Vorlage eines amtlichen Identifikationspapiers bei dem Polizeirevier H... zu melden. Sein Aufenthalt sei bis zu seiner Ausreise bzw. Abschiebung auf das Stadtgebiet des Stadtkreises H... beschränkt (Ziff. 4). Die sofortige Vollziehung der Ausweisung unter Ziffer 1 des Bescheids und der Meldeauflage sowie der Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids wurde angeordnet (Ziff. 5). In den Gründen des Bescheids wurde im Wesentlichen dargelegt: Die Voraussetzungen der Ausweisungstatbestände des § 55 AufenthG i.V.m. §§ 54 Nr. 5, Nr. 5a und Nr. 6 AufenthG seien gegeben. Der Kläger sei nicht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats/EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) privilegiert. Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 und/oder des Art. 7 ARB 1/80 lägen nicht vor. Der Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG sei erfüllt. Die PKK sei als eine terroristische Vereinigung zu qualifizieren. Der Kläger habe diese tatbestandsmäßig im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützt. Er sei bereits vor seiner Einreise ins Bundesgebiet 1995 fünf bis sechs Jahre in der Türkei für die PKK tätig gewesen. Bereits Anfang 1996 habe er an einer verbotenen und gewalttätigen PKK-Demonstration in Dortmund teilgenommen und sei deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Außerdem habe er im Jahr 1999 an der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Stuttgart anlässlich der Gefangennahme des PKK-Führers Öcalan teilgenommen und zudem im Jahr 2001 die PKK-Selbsterklärung unterzeichnet. Hinzu kämen die ab 1997 bis zumindest 2002 ausgeübten Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen. In der Folge habe er kontinuierlich ab dem Jahr 2003 bis Ende des Jahres 2009 an zahlreichen politisch-extremistischen und auch gewaltbereiten Veranstaltungen der PKK alias KADEK alias KONGRA-GEL aktiv teilgenommen. Die vorliegenden Erkenntnisse und Tatsachen rechtfertigten in ihrer wertenden Gesamtbetrachtung die Schlussfolgerung, dass er der PKK „angehöre“. Zudem seien die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5a und 6 AufenthG erfüllt. Da der Kläger und seine Ehefrau mit ihrem minderjährigen deutschen Kind A... A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebten, genieße er allerdings besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG. Seine Ausweisung sei daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässig. Solche lägen jedoch in den Fällen des § 54 Nr. 5 und Nr. 5a AufenthG, also auch hier, vor. Im vorliegenden Fall seien auch keine besonderen Umstände gegeben, die zur Annahme eines Ausnahmefalls führen könnten. Nach dem Grundsatz der Herabstufung sei daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG über die Ausweisung des Klägers nach Ermessen zu entscheiden. Hierbei seien nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sämtliche für und gegen die Ausweisung sprechenden Gründe in die Entscheidung einzubeziehen, zu gewichten und gegeneinander abzuwägen und zu prüfen, ob die Ausweisung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei. Im Ergebnis überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung das private Interesse des Klägers an einem weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Es bestehe ein gewichtiges öffentliches Sicherheitsinteresse, die vom Kläger persönlich ausgehende nicht unerhebliche und extremistische Gefahr für höchste Rechtsgüter durch seine Ausweisung mit dem Entzug seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet abzuwehren. Zudem verfolge die Ausweisung general- und spezialpräventive Zwecke. Außerdem sei von einer gesteigerten Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hätten Berücksichtigung gefunden. Auch seien die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Klägers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebten, gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG bedacht worden. Es handle sich um eine schutzwürdige Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG. Auch seien die Interessen der Kinder, insbesondere des jüngsten deutschen Kindes, an der Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung und Abwägung des jeweiligen Interesses habe jedoch der Schutz der Ehe und Familie hinter das höher einzuschätzende Sicherheitsinteresse des Staates und seiner Bevölkerung vor Unterstützungshandlungen für terroristische Vereinigungen zurückzutreten. Die Ausweisungsentscheidung stehe auch mit Art. 8 EMRK im Einklang. Der Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sei abzulehnen, weil dieser bereits die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG entgegenstehe. Aufgrund der Ausweisungsverfügung, deren sofortige Vollziehung angeordnet worden sei, sei der Kläger nach §§ 50 Abs. 1 und 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Gemäß § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG unterliege er der gesetzlichen Verpflichtung, sich einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden. Gemäß § 54a Abs. 2 AufenthG sei sein Aufenthalt kraft Gesetzes auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde beschränkt.
13 
Mit am 01.07.2010 beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangenem Schriftsatz vom 28.06.2010 machte der Kläger den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 im Wege der Klageänderung bzw. -erweiterung zum Gegenstand des bereits anhängigen Verfahrens 11 K 2004/09. In der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2010 wurde die Klage insoweit abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 11 K 2424/10 fortgesetzt, als sie auf Anfechtung von Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidium Stuttgart vom 10.06.2010 gerichtet ist. Im Übrigen (bezüglich der Niederlassungserlaubnis) ist nach entsprechenden Anträgen der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
14 
Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen vorgetragen: Obwohl der Kläger offensichtlich seit Jahren intensiv und engmaschig vom Verfassungsschutz beobachtet werde, könne das beklagte Land nicht einen konkreten Anhaltspunkt für eine objektive oder subjektive Unterstützungsleistung des Klägers benennen außer der schlichten Teilnahme an diversen, wohl gemerkt angemeldeten und erlaubten Versammlungen. Weder aus der Tatsache, dass er an diversen Kundgebungen teilnehme, noch daraus, dass er eine Zeitlang und bis 2002 in kurdischen Kulturvereinen in den Vorstand gewählt worden sei, habe er jemals einen Hehl gemacht. Er könne nicht für die Äußerungen irgendwelcher Redner auf irgendwelchen Veranstaltungen im Sinne einer Sippenhaft verantwortlich gemacht werden. Insgesamt bemühe sich das Land geradezu krampfhaft, eine über ein Jahrzehnt zurückliegende strafrechtliche Verurteilung und sogar ein von der Staatsanwaltschaft eingestelltes Ermittlungsverfahren, welches ebenfalls Jahre zurückliege, zur Begründung eines vermeintlichen Versagungsgrundes heranzuziehen. Tatsache sei, dass er weder Mitglied einer terroristischen Vereinigung sei noch eine solche unterstützt habe. Insoweit werde auf seine Erklärung vom 26.08.2008 Bezug genommen. Obwohl es nicht darauf ankomme, werde bestritten, dass die PKK eine terroristische Organisation im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG sei. Die Aufnahme einer Vereinigung in die EU-Terrorliste entbinde weder Behörden noch Gerichte von der eigenständigen Prüfung. Eine Ausweisung könne zudem nur erfolgen, wenn vom Ausländer persönlich eine Gefahr für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgehe. Er habe lediglich sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Information wahrgenommen. Dass er sich einen eigenen Staat wünsche und auch das Recht habe, als Kurde seine Auffassung kundzutun, dürfte auf der Hand liegen. Die Entscheidung verstoße im Übrigen gegen Art. 6 GG.
15 
Das Regierungspräsidium Stuttgart trat der Klage entgegen. Zur Begründung verwies es auf den angefochtenen Bescheid. Entgegen dem Vortrag des Klägers habe dieser nachweisbar im dargelegten Umfang an Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen. Seine Teilnahme an den Veranstaltungen der PKK alias KONGRA-GEL vom 06.04.2003 bis zum 27.11.2009 sei durch offene und gerichtsverwertbare Tatsachen des Landesamts für Verfassungsschutz belegt, die vor Gericht durch einen Zeugen vom Hörensagen nachgewiesen werden könnten. Die PKK/KADEK/KONGRA-GEL sei auch als terroristische Vereinigung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG einzustufen. Dass das „Gebetshaus E... ... - ... e.V.“ in H..., in dessen Vorstand der Kläger in den Jahren 1998 und 2002 gewählt worden sei, der PKK nahestehe, folge aus einem beigefügten Bericht des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006. Die PKK-Nähe des Vereins Kurdx ... V... e.V.“ in H..., in dessen Vorstand der Kläger 1997 gewählt worden sei, ergebe sich aus Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz. Unerheblich sei, dass die Wahl des Klägers in den Vorstand der genannten Vereinigungen bereits 1997, 1998 und 2002 erfolgt sei, da die Annahme einer Unterstützung der PKK durch den Kläger auf einer wertenden Gesamtbetrachtung beruhe und maßgeblich auch auf die bereits zu Beginn seines Aufenthalts in der Bundesrepublik erfolgten Tätigkeiten im Funktionärsstatus abzustellen sei, denen sich in den folgenden Jahren weitere politische Aktivitäten für die PKK angeschlossen hätten, und die sich bis in die Gegenwart fortsetzten. Selbst wenn es nur um die „bloße Teilnahme“ an Veranstaltungen und Demonstrationen gehen würde, könnte auch diese unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorfeldunterstützung des Internationalen Terrorismus darstellen. Die Versammlungen und Demonstrationen, an denen der Kläger teilgenommen habe, hätten entgegen seinem Vorbringen auch keinen „legalen und friedlichen“, sondern einen politisch-militanten Grundcharakter. Die Ausweisung verstoße auch nicht im Hinblick auf die eheliche Lebensgemeinschaft mit der Ehefrau des Klägers und mit den minderjährigen Kindern gegen Art. 6 GG. An dem Übergewicht des öffentlichen Interesses vermöge ein mögliches Abschiebungshindernis aufgrund familiärer Belange nichts zu ändern. Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei nicht ausgeschlossen, dass auch unter Berücksichtigung selbst eines strikten Abschiebungsverbotes - nach § 60 Abs. 1 AufenthG - und bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Duldung eine Ausweisung ermessensfehlerfrei ausgesprochen werden könne. Die Behörde habe dann das Abschiebungsverbot in die Ermessenserwägungen einzustellen. In Anwendung dieser Grundsätze werde ergänzend vorgetragen, dass zwar die Familienschutzvorschriften des Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gewähren und einer Abschiebung entgegenstehen könnten. Selbst wenn von einem solchen Abschiebungshindernis ausgegangen werde, führe dies aber nicht zur Unzulässigkeit der Ausweisung, sondern sei gemäß seiner Bedeutung zu werten und in die Ermessenserwägungen einzustellen. Im Ergebnis könne von einem Überwiegen des staatlichen Sicherheitsinteresses ausgegangen werden, so dass die Ausweisung des Klägers trotz eines - möglichen - Abschiebungshindernisses nicht unverhältnismäßig sei.
16 
Auf einen am 01.07.2010 vom Kläger gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO stellte das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - die aufschiebende Wirkung der Klage - 11 K 2424/10 - gegen die Ziffern 1, 2 und 3 im Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 wieder her. Bezüglich Ziffer 4 des Bescheids wurde der Antrag abgelehnt.
17 
Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 - 11 K 2424/10 - wurden die Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen dargelegt: Alle Vorgänge vor 2002 lägen derart weit in der Vergangenheit, dass sich aus ihnen eine gegenwärtige Gefährlichkeit nicht ablesen lasse. In der Zeit nach 2002 habe der Kläger lediglich an 13 Versammlungen, Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen - was er auch nicht bestritten habe. Im angefochtenen Bescheid seien allerdings keinerlei Ausführungen dazu enthalten, was der Kläger bei den Veranstaltungen konkret gemacht haben solle. Allein seine Anwesenheit könne noch nicht als Unterstützungshandlung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG gewertet werden, von der auf eine gegenwärtige Gefährlichkeit des Klägers geschlossen werden dürfe. Der Kläger erfülle aber auch nicht den Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 6 AufenthG. Zwar dürfte die Beantwortung zahlreicher Fragen zur Nähe zur PKK durch den Kläger anlässlich des mit ihm durchgeführten Sicherheitsgesprächs am 08.08.2007 falsch gewesen sein. Es gebe keine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen. Der Kläger hätte daher vor Beginn des Sicherheitsgesprächs auf diese Freiwilligkeit hingewiesen werden müssen. Da dies nicht geschehen sei, sei das Ergebnis rechtlich nicht verwertbar. Damit erwiesen sich auch die Abschiebungsandrohung und die unter Ziffer 4 des Bescheids angeordneten Überwachungsmaßnahmen als rechtswidrig.
18 
Am 14.03.2011 hat das beklagte Land die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das am 21.02.2011 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegt und diese mit am 19.04.2011 eingegangenem Schriftsatz begründet. Ergänzend wird unter anderem dargelegt: Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass es nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2005 für die Annahme einer Unterstützungshandlung nach § 54 Nr. 5 AufenthG genügen könne, wenn der Betreffende an einschlägigen Versammlungen und Kundgebungen teilnehme. In diesem Zusammenhang sei vorab richtig zu stellen, dass der Kläger ab dem Jahr 2002 nicht lediglich an 13, sondern an 18 bzw. 19 Versammlungen, Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen habe. Die jeweiligen Veranstaltungen seien terrorgeneigt und politisch-militant orientiert gewesen, woraus sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts das objektiv Vorteilhafte der Teilnahme des Klägers an den Veranstaltungen ohne weiteres ergebe. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Aufteilung der Gesamtaktivitäten des Klägers in solche vor und solche nach dem Jahr 2002 unter Außerachtlassung der älteren Aktivitäten sei rechtlich nicht haltbar. Im Übrigen habe der Kläger nach den aktuellen sicherheitsrelevanten Stellungnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.12.2010 und vom 18.04.2011 noch am 28.02.2010 an einer „Volksversammlung“ mit qualitativ hochstehendem Gefährdungspotential teilgenommen. Die Voraussetzungen des § 54 Nr. 5a und Nr. 6 AufenthG seien ebenfalls gegeben. Die Ausweisungsentscheidung sei auch ermessensfehlerfrei erfolgt. Die familiären Bindungen des Klägers seien im Rahmen der Ermessensausübung vollständig berücksichtigt worden. Im Falle des Klägers sei davon auszugehen, dass aus familiären Gründen ein Abschiebungsverbot bestehe, weshalb es bei ihm nicht um eine Beendigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik gehe. Eine Ausweisung sei gleichwohl möglich.
19 
Nachdem das Regierungspräsidium Stuttgart in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 aufgehoben hat, haben die Beteiligten den Rechtstreit insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.
20 
Das beklagte Land beantragt,
21 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 - 11 K 2424/10 - zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit sie sich gegen Ziffern 1 und 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 richtet.
22 
Der Kläger beantragt,
23 
die Berufung zurückzuweisen.
24 
Zur Begründung wird auf das bisherige Vorbringen Bezug genommen und ergänzend unter anderem vorgetragen: Er habe eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 inne. In der Zeit vom 01.04.2007 bis einschließlich Mai 2009 sei er durchgehend bei demselben Arbeitgeber in L... tätig gewesen. M... K. habe den Betrieb von B... K. übernommen. Nach einmonatiger Arbeitslosigkeit habe er dann zum 01.07.2009 seine Tätigkeit bei einer Gebäudereinigungsfirma angetreten, bei der er heute noch beschäftigt sei. Er lebe weiter mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zusammen, auch mit den volljährigen. Die minderjährigen Kinder befänden sich noch in der allgemeinen Schulausbildung. Die Tochter K... nehme seit dem 22.11.2011 an einem Berufsvorbereitungslehrgang teil. C... habe eine Ausbildungsstelle zur Kauffrau im Einzelhandel und arbeite seit einigen Jahren in Nebentätigkeit bei einem Schnellimbiss.
25 
In weiteren Stellungnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz an das Regierungspräsidium vom 17.12.2010, vom 18.04.2011 und vom 12.09.2011 wird mitgeteilt: Wie bereits am 17.12.2005 und am 30.03.2008 habe der Kläger auch am 28.02.2010 an einer „Volksversammlung“ in den Räumlichkeiten des PKK-nahen Vereins „Kurd... G...“ H... – dem Nachfolgeverein des „Kurd... V...“ – teilgenommen. Volksversammlungen gehörten zum organisatorischen Rahmen der PKK. Dabei bestehe der Teilnehmerkreis zu annähernd 100 % aus PKK-Anhängern. Sie dienten in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Am 20.11.2010 habe sich der Kläger außerdem an einer „Kurdistan Solidaritätsdemonstration“ in H... beteiligt, bei der Transparente/Plakate mit den Aufschriften „Freiheit für Öcalan - Frieden für Kurdistan“ u.ä. skandiert worden seien.
26 
In der mündlichen Verhandlung sind der Kläger und – informatorisch – Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg angehört worden. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung ein Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 02.12.2011 übergeben, in welchem erklärt wird, dass der Kläger bis auf Weiteres eine Duldung aus familiären Gründen erhalte.
27 
Dem Senat liegen die ausländerrechtlichen Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart (5 Hefte) und der Stadt H... (2 Hefte), die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart über Asylverfahren des Klägers (A 3 K 12680/98 und A 17 K 480/07), bezüglich Klagen wegen Niederlassungserlaubnis gegen die Stadt H... (8 K 487/09), wegen Niederlassungserlaubnis u.a. gegen das beklagte Land (11 K 2004/09, mit Beiakte) und wegen Ausweisung u.a. gegen das beklagte Land (11 K 2424/10, 2 Bände) sowie über das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (11 K 2430/10) vor. Der Inhalt dieser Akten ist ebenso wie der Inhalt der Gerichtsakten zum vorliegenden Verfahren (11 S 897/11) Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
28 
Soweit die Beteiligten - nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 in der mündlichen Verhandlung - den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit unwirksam (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entspr.).
29 
Im Übrigen ist die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage gegen die Ausweisung unter Ziffer 1 (dazu unter A) und die Meldeauflage sowie die Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (B) abweisen müssen. Denn diese Verfügungen sind zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20) rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
30 
Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 55 i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG (I.). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG liegen vor (II.), die Ausweisungsentscheidung lässt sich auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden (III.).
I.
31 
Das Regierungspräsidium hat diese rechtsfehlerfrei auf § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt. Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob als Rechtsgrundlage daneben § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5a oder Nr. 6 AufenthG herangezogen werden könnten.
32 
Diese Regelungen sind hier uneingeschränkt anwendbar.
33 
1. Aus der Tatsache, dass der Kläger Vater eines minderjährigen deutschen Kindes – dem am ...2005 geborenen A... A... – ist, folgt nicht, dass er wie ein Unionsbürger oder nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu behandeln wäre.
34 
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C-34/09 - InfAuslR 2011, 179) entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines minderjährigen Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann. Ausschlaggebend war ausweislich der Gründe der Umstand, dass die Kinder, welche Unionsbürger waren, bei einer „Verweigerung von Aufenthalt und Arbeitserlaubnis“ ihrer drittstaatsangehörigen Eltern gezwungen gewesen wären, das Unionsgebiet zu verlassen. Art. 20 AEUV sei daher dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehre, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzstaat und eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, da derartige Entscheidungen diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehren würden. Folge eines entsprechenden Aufenthaltsrechts wäre eine allenfalls eingeschränkte Anwendbarkeit der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG (vgl. dazu Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; allgemein zum Urteil des EuGH vom 08.03.2011: OVG NRW, Beschluss vom 29.04.2011 - 18 B 377/11 -; Hess. VGH, Beschluss vom 27.10.2011 - 6 D 1633/11 - juris). Wie auch inzwischen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 05.05.2011 in der Rechtssache McCarthy (C-434/09 - InfAuslR 2011, 268) und vom 15.11.2011 in der Rechtssache Dereci (C-256/11 - juris) deutlich machen, ist ein Aufenthaltsanspruch des Drittstaatsangehörigen aus der Unionsbürgerschaft seines Kindes – oder auch seines Ehepartners – aber nur abzuleiten, wenn der betreffende Unionsbürger andernfalls zwingend das Unionsgebiet verlassen müsste (weitergehend noch Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - a.a.O., und Beschluss des Senats vom 12.05.2011 - 11 S 765/11 - NVwZ 2011, 1213). Vorliegend kann aber das jüngste deutsche Kind des Klägers zusammen mit dessen Ehefrau, welche im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, in Deutschland bleiben und wäre daher nicht gezwungen, das Unionsgebiet zu verlassen. Ob gegebenenfalls eine Trennung des Klägers von seiner Familie, insbesondere seinem minderjährigen deutschen Kind zulässig ist, ist somit keine unionsrechtliche Fragestellung, sondern nach den allgemeinen Maßstäben (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) zu beantworten.
35 
2. Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Der Kläger verfügt über kein Aufenthaltsrecht gemäß der - hier allein in Betracht kommenden - Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.
36 
Nach dem gestuften Regelungssystem des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 kann im Rahmen der ersten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 1) ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht bei einjähriger Beschäftigung nur zum Zwecke der Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses bei dem gleichen Arbeitgeber erworben werden. Im Rahmen der zweiten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 2) wird nach dreijähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung das Recht erworben, Stellenangebote eines anderen Arbeitgebers im gleichen Beruf zu akzeptieren. Erst im Rahmen der dritten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 3), d.h. nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung, erwirbt der türkische Arbeitnehmer gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht nur das Recht, auf ein bereits existierendes Stellenangebot einzugehen, sondern auch das unbedingte Recht, Arbeit zu suchen und jede beliebige Beschäftigung aufzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.01.1997 - C-171/95 - [Tetik] InfAuslR 1997, 146). Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 berühren Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Entsprechendes gilt auch bei einem „unverschuldeten Arbeitgeberwechsel“ (vgl. Renner, AufenthG, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 124 f.), und zwar selbst dann, wenn keine Unterbrechung der Beschäftigung eingetreten ist. Voraussetzung ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 allerdings, dass die Zeiten der unverschuldeten Arbeitslosigkeit „von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind“, das bedeutet, dass sich der Betreffende arbeitslos gemeldet und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat.
37 
Nach diesen Grundsätzen verfügt der Kläger nicht über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. Seine Arbeitstätigkeit in einer Gebäudereinigung im Jahr 2002 war zu kurz, um zum Erwerb von Ansprüchen nach dem ARB 1/80 zu führen. Selbst wenn man die sozialversicherungsfreien (Neben-)Tätigkeiten in einem Internetcafé in H... vom 13.03.2004 bis zum 31.01.2006 und die Tätigkeit bei einer Vertriebs GmbH vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 insgesamt anerkennen und die damaligen Unterbrechungen durch – ordnungsgemäß festgestellte – Arbeitslosigkeit sowie den Wechsel der Arbeitgeber wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit als unschädlich ansehen würde, wäre der Kläger danach zum 15.06.2006 maximal 2 Jahre 3 Monate und 2 Tage ordnungsgemäß beschäftigt gewesen. Die damit allenfalls erreichte Rechtsposition nach dem ersten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wäre durch die anschließende beschäftigungslose Zeit bis zur Aufnahme einer Arbeit bei einem Abbruchunternehmen in L... unterbrochen gewesen. Denn ausweislich der vorliegenden Auskünfte der Deutschen Rentenversicherung (vgl. den vom Kläger mit Schriftsatz vom 30.06.2011 vorgelegten Versicherungsverlauf vom 06.06.2011) war er in dieser Zeit nicht arbeitslos gemeldet. Letztlich kommt es aber darauf nicht an. Selbst wenn man – trotz des Betriebsinhaberwechsels – die anschließende Beschäftigung bei den Abbruchunternehmen in L... vom 17.07.2006 bis zum 31.01.2007 hinzurechnen würde, wäre der Kläger seit dem 13.03.2004 noch keine drei Jahre beschäftigt gewesen, hätte also nur die Rechtsposition der ersten Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht gehabt. Diese hätte er durch die anschließende Kündigung und die folgende zweimonatige Arbeitslosigkeit aber wieder verloren gehabt. Denn diese Kündigung erfolgte nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung durch ihn. Da seine Kinder sich geweigert hätten, zu ihm nach L... zu ziehen, habe er wieder zu seiner Familie ziehen wollen.
38 
Im Anschluss war der Kläger zwar noch vom 02.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei einer Firma in H... beschäftigt und ist seit dem 01.07.2009 bei einer Gebäudereinigung angestellt. Die Beschäftigungszeiten als Fahrer können aber schon deshalb nicht mehr zum Erreichen eines Rechts nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 führen, weil der Kläger seinen Angaben nach zwar entlassen wurde, sich aber nicht unmittelbar anschließend bei der Arbeitsverwaltung gemeldet hat. Abgesehen davon war er seit dem 13.09.2007 nicht mehr „ordnungsgemäß beschäftigt“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Denn seine letzte Aufenthaltserlaubnis lief am 12.09.2007 aus und galt lediglich aufgrund seines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Grundsätzlich setzt aber eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt voraus (vgl. nur EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], NVwZ 1991, 255). Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige verfahrenssichernde Rechtsstellung hat ein türkischer Arbeitnehmer während des Zeitraums, in dem sein Widerspruch oder seine Klage aufschiebende Wirkung gegen eine die Erteilung oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ablehnende behördliche Entscheidung entfaltet (vgl. EuGH, Urteil vom 16.12.1992 - C-237/91 - [Kus], InfAuslR 1993, 41). Dies gilt auch in Bezug auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG (vgl. Renner, a.a.O., § 4 AufenthG, Rn. 117 m.w.N.). Etwas anderes folgt hier auch nicht daraus, dass über die am 25.05.2009 gegen das Land Baden-Württemberg erhobene Klage des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (11 K 2004/09) noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Zwar können Zeiten der Arbeitstätigkeit, in denen der Betreffende lediglich über ein fiktives Aufenthaltsrecht verfügt hat, später - rückwirkend - doch wieder als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zu berücksichtigen sein, wenn in der Folge eine positive behördliche oder gerichtliche Entscheidung getroffen wird. Denn dann werden die zurückliegenden Beschäftigungszeiten anrechnungsfähig (EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], a.a.O.), und zwar gegebenenfalls selbst dann, wenn während kurzer Zeiträume kein Aufenthaltstitel und auch keine Fiktionswirkung bestand, etwa weil der Betreffende eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erst kurz nach Ablauf der geltenden Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte (EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - [Ergat], InfAuslR 2000, 217). Diese Fragen können hier jedoch dahingestellt bleiben. Denn es ist wegen des vom Kläger verwirklichten Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 5 AufenthG (dazu unten) offensichtlich, dass er keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis oder auf Verlängerung der früher bestehenden Aufenthaltserlaubnis hat (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Abgesehen davon kommt es darauf auch deshalb nicht an, weil die Fiktionswirkung entsprechend § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG jedenfalls mit Bekanntgabe der Ausweisung vom 10.06.2010 – und damit vor Ablauf eines Jahres seit Beginn der Tätigkeit am 01.07.2009 und Erreichen einer Position nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 – erloschen ist. Zwar kommt der vom Kläger gegen die Ausweisung erhobenen Klage aufschiebende Wirkung zu, weil das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - auch insoweit die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt hat. Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lassen jedoch Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit unter anderem der Ausweisung unberührt, solange diese nicht unanfechtbar aufgehoben worden ist.
II.
39 
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG sind erfüllt.
40 
Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, wobei die Ausweisung auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen nur gestützt werden kann, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Vereinigung oder ihre Unterstützung muss danach nicht erwiesen sein, es genügt das Vorliegen von Tatsachen, die die entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen. Dass es sich dabei um eine Vereinigung handelt, die den Terrorismus unterstützt, muss hingegen feststehen (Bay.VGH, Urteil vom 22.02.2010 - 19 B 09.929 - juris, bestätigt mit Urteil des BVerwG vom 25.10.2011 - 1 C 13.10 -).
41 
1. Zunächst sind das Verwaltungsgericht und das Regierungspräsidium Stuttgart zu Recht davon ausgegangen, dass die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und ihre Nachfolgeorganisationen KADEK (Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans), KONGRA-GEL (Volkskongress Kurdistans), KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) oder KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) - im Folgenden PKK - dem Terrorismus zuzurechnen und damit jedenfalls als eine den Terrorismus im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützende Vereinigung anzusehen sind (vgl. hierzu Urteile des Senats vom 29.09.2010 - 11 S 597/10 - VBlBW 2011, 478, und vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris sowie Beschlüsse des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vom 16.12.2010 - 11 S 2374/10 - und vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - InfAuslRAuslR 2011, 105). Eine Vereinigung unterstützt den Terrorismus, wenn sie selbst ihre Ziele auch mit terroristischen Mitteln – wie dem Einsatz gemeingefährlicher Waffen und mit Angriffen auf das Leben Unbeteiligter zur Durchsetzung politischer Ziele – verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - juris, m.w.N.; vgl. im Einzelnen zum Begriff des Terrorismus GK-AufenthG, Stand: Sept. 2011, § 54 Rn. 436 ff.). Das ist bei der PKK in dem hier maßgeblichen Zeitraum von 1997 bis heute der Fall. Insbesondere verzichtete die PKK auch während der Phase des 1999 ausgerufenen und 2004 wieder beendeten „Friedenskurses“ nicht auf Gewalt. Das seit vielen Jahren weitgehend friedliche Auftreten der PKK in Europa ist Teil einer „Doppelstrategie“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 53; OVG Bremen, Beschluss vom 26.10.2010 - 1 A 111/09 - InfAuslR 2011, 37) und ändert nichts an deren grundsätzlich bestehender Gewaltbereitschaft und der Anwendung von terroristischen Mitteln, etwa bei Anschlägen in der Türkei (so etwa am 22.06.2010 in Istanbul, vgl. ZEIT-ONLINE vom 23.06.2010: www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/kurden-tuerkei-politik; WELT ONLINE vom 22.06.2010 www.welt.de/politik/ausland/ article8142791/Tuerkei-Touristen-im-Fadenkreuz-kurdischen-Terrors.html; am 27. und 28.08 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, vgl. SPIEGEL ONLINE vom 28.08.2006 www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,434039,00.html) oder der Entführung Unbeteiligter (vgl. zur Entführung von drei deutschen Staatsangehörigen am Berg Ararat am 08.07.2008 SPIEGEL ONLINE vom 09.07.2011: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,564783,00.html). Insoweit wird ergänzend auf die ausführliche und zutreffende Darstellung im angefochtenen Bescheid des Regierungspräsidiums vom 10.06.2010 verwiesen (vgl. auch Landesamt für Verfassungsschutz Bad.-Württ., „Ausländerextremismus“, August 2007, S. 9 ff., sowie Bundesamt für Verfassungsschutz, „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL)“, März 2007). Abgesehen davon ist die PKK seit Mai 2002 auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt (vgl. Ziff. 2.9 des Anhangs zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 02.05.2002 betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GSAP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus - 2002/340/GSAP – ABl. L 116, S. 75). Entgegen der Auffassung des Klägers erlaubt eine solche Aufnahme die Feststellung, dass die Vereinigung terroristischer Art ist (EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - InfAuslR 2011, 40; vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 07.12.2010 - 1 B 24.10 - juris; noch offengelassen im Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - juris).
42 
2. Ob der Kläger der PKK „angehört“ im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, kann hier offen bleiben. Denn aus den vorliegenden Tatsachen ist jedenfalls die Folgerung gerechtfertigt, dass er diese seit vielen Jahren in mehrfacher Weise unterstützt hat und weiter unterstützt.
43 
Als tatbestandserhebliches Unterstützen ist jede Tätigkeit des Ausländers anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, auswirkt. Dazu zählt zum Beispiel auch jedes Tätigwerden eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial stärkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings kann nicht jede Handlung, die sich zufällig als für die betreffende Vereinigung bzw. den Terrorismus objektiv vorteilhaft erweist, als tatbestandsmäßiges Unterstützen verstanden werden. Vielmehr muss die eine Unterstützung der Vereinigung bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auch fehlt es an einem Unterstützen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet - und sich hiervon gegebenenfalls deutlich distanziert - und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach außen vertritt. Dienen solche Veranstaltungen allerdings erkennbar dazu, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch die Vereinigung vertritt, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme jedenfalls auch diese Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen (beispielsweise wegen des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt) zu fördern, dann liegt ein im Hinblick auf den Normzweck potenziell gefährliches Unterstützen im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG vor, der die Freiheit der Meinungsäußerung insoweit verhältnismäßig beschränkt. Eine Unterstützung kann ferner dann in Betracht kommen, wenn durch zahlreiche Beteiligungen an Demonstrationen und Veranstaltungen im Umfeld einer Vereinigung - wie der verbotenen PKK - bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststeht, dass der Ausländer auch als Nichtmitglied in einer inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst steht, die er durch sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringt, und damit deren Stellung in der Gesellschaft (vor allem unter Landsleuten) begünstigend beeinflusst, ihre Aktionsmöglichkeiten und eventuell auch ihr Rekrutierungsfeld erweitert und dadurch insgesamt zu einer Stärkung ihres latenten Gefahrenpotenzials beiträgt. Dabei muss allerdings die terroristische oder den Terrorismus unterstützende Tätigkeit der Vereinigung im In- oder Ausland zum jeweiligen Zeitpunkt feststehen und das Verhalten des Einzelnen auch unter Berücksichtigung etwaiger glaubhafter Distanzierungen von der Unterstützung des Terrorismus (oder das Fehlen jeglicher Distanzierung) gewürdigt werden. Eine darüber hinausgehende konkrete oder persönliche Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit ist dagegen nicht erforderlich. Ebenso wenig ist ein "aktives Tätigwerden" erforderlich (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -BVerwGE 123, 114 - zur früheren Regelung des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG; vgl. auch Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O., m.w.N.; Beschluss des Senats vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O.; Urteile des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - juris und vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.).
44 
Nach diesen Grundsätzen liegen hier eine Vielzahl von Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger die PKK und damit den Terrorismus unterstützt im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, so die Mitgliedschaft und die Übernahme von Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen (a) und die über Jahre hinweg fortgesetzte Teilnahme an den unterschiedlichsten PKK-nahen Aktionen und Veranstaltungen (b). Dabei sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch die länger zurückliegenden Tatsachen noch zu berücksichtigen (c).
45 
a) Zunächst steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die kurdischen Vereine in H..., in denen der Kläger Vorstandsmitglied war, den Terrorismus unterstützen. Dabei zu berücksichtigen, dass - wie dargelegt - bereits jede Tätigkeit als tatbestandliches Unterstützen anzusehen ist, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der betreffenden Vereinigung, hier der PKK, auswirkt.
46 
aa) Der Verein „Kurd... V...“ e.V. wurde in den 1990-er Jahren gegründet und im Jahr 2000 wieder aufgelöst. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich deutlich gemacht, dass er in dem im Anschluss gegründeten „Kurd... K...“ und in dem derzeit bestehenden Verein „Kurd... G...“ Nachfolgevereine des Vereins Kurdx ... V...“ sieht. Es handle sich um „den Verein“, in welchem er bis heute Mitglied sei und mit seinen Familienangehörigen jedes Wochenende verbringe. Er hat damit die entsprechende Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, die in der mündlichen Verhandlung von dem angehörten Mitarbeiter I.V. weiter erläutert worden ist, bestätigt. Der Kläger ist in einer Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 in den Vorstand des Vereins „K... V...“ gewählt worden und war als solcher für die Bücherei des Vereins zuständig. Darauf hat er sich auch in seinem Asylverfahren berufen und geltend gemacht, dass ihm deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgung drohe (Schriftsatz vom 01.07.1997 zum Verfahren A 3 K 12680/98).
47 
Für eine PKK-Nähe des Vereins spricht schon der Umstand, dass dieser Mitglied bei der YEK-KOM, der „Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V.“ war. Dies lässt sich dem vom Kläger im Asylverfahren vorgelegten Protokoll über die Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 entnehmen, in welcher die Vereinsmitglieder – nach Darstellung der Arbeit und der Bedeutung der YEK-KOM – für eine Mitgliedschaft des Vereins in dieser Dachorganisation gestimmt haben. Die YEK-KOM, deren Sitz in Düsseldorf ist und der deutschlandweit etwa 60 kurdische Vereine angeschlossen sind, unterstützt die PKK durch eine Vielzahl von Aktionen. Dies wird in der überzeugenden „Einschätzung“ des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.06.2010“ im Einzelnen ausführlich dargelegt. Die YEK-KOM sei ihrerseits Mitglied der „Konföderation der Kurdischen Vereine in Europa“ (KON-KURD). Sie betreibe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, darunter immer wieder Aktionen und Aufrufe mit dem Ziel der Aufhebung des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei in Deutschland. Auch mobilisiere sie jedes Jahr aus Anlass der Newroz-Feier die kurdische Bevölkerung in Europa zu zentralen Kundgebungen. Dabei würden Grußworte von Öcalan oder von anderen PKK-Führungsmitgliedern vorgelesen bzw. ausgestrahlt. Im Zentrum stünden dann die aktuellen politischen Interessen der PKK. Auf der Agenda der vergangenen Jahre hätten Themen gestanden wie „Freiheit für Öcalan“ und „Frieden für Kurdistan“. In einer zusammenfassenden Bewertung heißt es, im Arbeitsprogramm der YEK-KOM sei die „logistische Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes Kurdistans“ verankert. Die von der YEK-KOM sowohl in ihren Publikationen als auch bei ihren Veranstaltungen und Aktionen aufgegriffenen Themen lägen im Interessenbereich der PKK. Zu nennen seien insbesondere die Aufhebung des PKK-Verbots und die Freilassung Abdullah Öcalans. Der Verein biete der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen eine Plattform, indem er ihre Erklärungen und Äußerungen von Funktionären unkommentiert, d.h. auch unkritisch veröffentliche. Auf Maßnahmen der Sicherheitsbehörden oder der Justiz gegen Personen und Einrichtungen mit dem Verdacht eines PKK-Bezugs reagiere die YEK-KOM stets mit einer verurteilenden Erklärung. Hochrangige YEK-KOM-Funktionäre beteiligten sich an PKK-Aktionen und träten auf PKK-Veranstaltungen als Redner auf. Zusammenfassend lasse sich daher sagen, dass eine eindeutige Nähe des Vereins YEK-KOM zur PKK bzw. zu ihren Nachfolgeorganisationen KADEK und KONGRA-GEL vorliege.
48 
Hinzu kommen die Veranstaltungen, die vom Verein „Kurd... V...“ durchgeführt wurden, so zum Beispiel aus der Zeit, in der der Kläger Vorstandsmitglied war, eine Demonstration zum Newroz-Fest am 20.03.1998. In einem Bericht der Stadt H... vom 29.04.1998 über diese Demonstration wird dargelegt, dass Fahnen mit Symbolen der PKK gezeigt worden seien. Nach Einschätzung der Polizei und der Stadt H... habe nicht das Thema „Newroz-Fest“ im Vordergrund gestanden, sondern das Thema „Politische Lösung der kurdischen Frage und Aufhebung des Verbots der PKK“. Wie sich außerdem einem Bescheid der Stadt H... vom 14.05.1998 über das Verbot einer für den 17.05.1998 im Schlachthof in H... geplanten Veranstaltung entnehmen lässt, wurde zu dieser angeblichen „Folkloreveranstaltung“ mit Flugblättern der ENRK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans, eine Organisation der PKK) eingeladen. In den Räumen des Vereins wurde dafür mit einem Aushang mit dem Text „Sieg im Frieden, Freiheit im Leben, Volksversammlung wird stattfinden. Ort = Schlachthof“ geworben. Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz hat zudem in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren überzeugend dargelegt, dass „der Verein“ in H... – derzeit die „Kurd... G...“ – seit Jahren durch regelmäßige PKK-Veranstaltungen auffalle. Er rufe immer wieder zu Veranstaltungen und zu Kundgebungen auf, die inhaltlich die PKK, Abdullah Öcalan als PKK-Führer u.ä zum Thema hätten. Insofern trete der Verein immer wieder aktiv auf und führe diese Kundgebungen durch. Bei den Veranstaltungen würden PKK-Slogans skandiert, es werde die Freilassung Öcalans und die Aufhebung des PKK-Verbots gefordert und die Türkei werde als terroristischer Staat bezeichnet. Das alles seien für das Landesamt für Verfassungsschutz Indizien, um die entsprechende Veranstaltung – anders als normale kulturelle Veranstaltungen von Kurden – als „PKK-nah“ anzusehen. Schließlich existierten auch zahlreiche andere kurdische Vereine, die vom Verfassungsschutz nicht als „PKK-nah“ eingestuft würden, etwa solche, die dem Dachverband der KOMKAR (Verband der Vereine aus Kurdistan) angehörten. Es gebe also eine Alternative. Der Verein in H... wie auch andere PKK-nahe Vereine fielen dadurch auf, dass sie sich stets und immer wieder PKK-spezifischen Themen annähmen. Das ziehe sich seit den 1980er-Jahren wie ein „roter Faden“ durch die Betätigung des Vereins.
49 
bb) Dass sich auch der Verein „Gebetshaus E... ... - I... ... e.V., H...“ – in dessen Vorstand der Kläger erstmals im Dezember 1998 (als stellvertretendes Vorstandsmitglied) und erneut im Mai 2002 (als 2. Vorsitzender des Vorstands) gewählt worden war – der PKK verbunden gefühlt hat, folgt bereits aus dem Formular zur Anmeldung des Vereins am 29.04.1998 bei der Stadt H... Darin wird ausgeführt, „Wir glauben, dass die kurdische Sache unter Führung der PKK gelöst wird“ und „Abgrenzung zum Kurd... V... e.V. durch Schwerpunkt Religion“. Auch wird als Zweck des Vereins angegeben „Versammlung von allen Kurden, auch revolutionäre Kurden, unter einem Dach“. Außerdem verdeutlicht die vorliegende Stellungnahme des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006, „Religiöse Vereinigungen innerhalb der PKK“ die Anbindung auch dieses Vereins an die PKK. Danach sei im Zuge des 4. Parteikongresses der PKK im Dezember 1990 die Gründung der Union der patriotischen Gläubigen aus Kurdistan (kurz: YOWK, ab 1991 YDK), einem Dachverband von Muslimen, beschlossen worden. 1993 sei die Umbenennung in „Islamischer Bund Kurdistans - HIK“ bzw. „Islamische Bewegung Kurdistans - KIH“ erfolgt. Die regionale Aufteilung sei in drei Funktionsbereiche, darunter eine Föderation in Süddeutschland mit Sitz in Heilbronn, erfolgt. Im Mai 2005 sei eine erneute Umbenennung, diesmal in „Islamische Gesellschaft Kurdistans - CIK“ beschlossen worden. Nach Auffassung des Bundesamts für Verfassungsschutz sei die CIK/HIK eine Massenorganisation der PKK, über die muslimische Kurden an die PKK gebunden werden sollen. In der Herbstausgabe der Baweri, dem seit 1995 erscheinenden Publikationsorgan der CIK/HIK, werde diese als eine religiös-politische Kampfesbewegung bezeichnet, die den nationalen Befreiungskampf Kurdistans unterstütze. In diesem Rahmen rufe sie regelmäßig zu Spenden oder Kampagnen auf, wie beispielsweise zur Sammlung von Spenden für kurdische Bedürftige und Waisen oder der Opferkampagne. Zu den der CIK/HIK angehörenden Moschen gehöre u.a. die „Mizgevta E... ...“ in H... ... Die Anbindung der CIK/HIK an die PKK und deren Abhängigkeit von der Organisation werde auch durch verschiedene Asservate belegt. In einem Fazit heißt es, die PKK unterhalte eine Vielzahl von Organisationen, mit deren Hilfe sie ihren Einfluss auf alle Lebensbereiche auszudehnen versuche. In ihrem Bestreben, auch die religiösen Gruppierungen der Kurden in ihren Strukturen einzubinden, habe sie die Gruppe der Muslime durch die CIK/HIK an ihre Organisation angebunden. Die Verlautbarungen führender Parteikader sowie die Organisationsbeschlüsse belegten die strukturelle Anbindung an die CDK (Nachfolgeorganisation der YDK) und damit an eine in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte Organisation.
50 
Ist danach davon auszugehen, dass beide ausländerrechtlichen Vereine, in deren Vorstand der Kläger gewählt war, die PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen unterstützt haben, so ist dem Kläger diese Unterstützung bereits aufgrund seiner Stellung als Vorstandsmitglied zuzurechnen, ohne dass der Frage seiner tatsächlichen inneren Einstellung weiter nachgegangen werden müsste (vgl. zu § 11 StAG: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.06.2008 - 13 S 2613/03 - VBlBW 2009, 29, m.w.N). Davon abgesehen greift § 54 Nr. 5 AufenthG auch in Fällen, in denen der Betreffende einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, hier dem Verein „Kurdx... V...“ und der „E... ...“, d.h. es kommt auch deshalb nicht darauf an, ob und in welchem Umfang er persönlich Unterstützung geleistet hat.
51 
b) Hinzu kommt, dass schon allein wegen der Teilnahme des Klägers an diversen PKK-nahen Veranstaltungen davon auszugehen ist, dass er die PKK unterstützt hat und bis heute unterstützt. Denn er war bei einer Reihe von Veranstaltungen, die geeignet sind, den ideologischen und emotionalen Zusammenhalt der PKK, ihrer Nachfolgeorganisationen und Organisationen im politischen Umfeld zu stärken. Diese Teilnahmen sind daher bereits für sich genommen ohne Weiteres als selbstständige Unterstützungshandlungen zu qualifizieren, die zum Vorliegen des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG führen. Umso mehr gilt dies bei einer Gesamtschau aller festgestellten Aktivitäten des Klägers einschließlich der Vorstandstätigkeiten in den Vereinen.
52 
Zu den Veranstaltungen, deren Besuch als Unterstützung der PKK anzusehen ist, gehören insbesondere die Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK. Nach den Mitteilungen des Landesamts für Verfassungsschutz hat der Kläger in den Jahren 2005, 2007, 2008 und 2009, jeweils in I... bei H..., den 27., 29., 30. und den 31. Gründungsjahrestag der PKK mitgefeiert. Dies wurde von ihm in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt. Nach den Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz seien bei diesen Feiern Fahnen der KONGRA-GEL bzw. der KCK oder der KKK und Bilder Öcalans aufgehängt gewesen bzw. entrollt worden (27.11.2005, 23.11.2008 und 27.11.2009), Filme über das Leben des Öcalan (27.11.2005 und 23.11.2008) oder die Guerilla (27.11.2009) vorgeführt und jeweils Reden über die PKK gehalten worden – zum Beispiel mit einem Überblick über die Entwicklung der PKK seit deren Gründung (23.11.2008). Regelmäßig werde die Bedeutung der PKK für die Kurden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervorgehoben. Zudem werde regelmäßig die PKK-Guerilla positiv herausgestellt, wenn nicht gar glorifiziert, indem zum Beispiel - wie im Jahr 2009 - ein Film über diese gezeigt werde (vgl. Bericht des LfV vom 17.12.2010). Solche Veranstaltungen haben in spezifischer Weise Propagandacharakter und dienen erkennbar der Förderung und Stärkung der PKK. Mit dem Besuch zeigt der Teilnehmer seine Anhängerschaft und fördert den Zusammenhalt der Organisation und ihrer Anhänger (vgl. Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -). Typisch für PKK-nahe Veranstaltungen ist auch der Personenkult um den in der Türkei inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan. Seiner Person kommt nach wie vor ein Symbolgehalt auch für den bewaffneten Kampf der PKK gegen den Staat zu (BVerwG, Beschluss vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - a.a.O.). Es ist daher auch bezeichnend, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen zu dem vom Landesamt für Verfassungsschutz geschilderten Ablauf der Veranstaltung zum 31. Gründungsjahrestag der PKK am 27.11.2009 und nach dem Hinweis darauf, dass dort auch ein Film über den Guerilla-Kampf und Öcalan vorgeführt worden sei, entgegnete: Man brauche ihm nicht zu sagen, dass in diesem Saal ein Bild von Öcalan angebracht gewesen sei; Öcalan sei in seinem Herzen.
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Ebenso als Unterstützung der PKK zu werten ist der Besuch einer Veranstaltung am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestages der Gründung des militärischen Arms der PKK, bei welchem in einer Rede Öcalan und die PKK gewürdigt worden seien.
54 
Besonders ins Gewicht fallen auch die vom Kläger nicht in Abrede gestellten Besuche bei so genannten Volksversammlungen in den Räumlichkeiten des „Kurd... K...“ bzw. der „Kurd... G... H...“ am 17.12.2005, 30.03.2008 und am 28.02.2010. Den vorliegenden Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz (vgl. vor allem Bericht vom 17.12.2010) lässt sich entnehmen, dass es – anders als bei Vereinsversammlungen, die sich schwerpunktmäßig mit Vereinsthemen beschäftigten – bei Volksversammlungen thematisch im Wesentlichen um den mit einem Betätigungsverbot belegten und deshalb streng konspirativ arbeitenden Teil der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen gehe. Demgemäß dienten Volksversammlungen in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Meist halte ein hochrangiger PKK-Funktionär eine „emotionalisierende“ Rede, die durchaus ein bis zwei Stunden dauern könne. Dabei würden die Zuhörer über alle Aspekte, die die PKK beträfen, ausführlich informiert, insbesondere über Verlautbarungen, Haftbedingungen und Gesundheitszustand des PKK-Führers Öcalan, Anweisungen der Organisation, Lageentwicklung in der Türkei, in Deutschland und in Europa und aktuelle Kampagnen. Sie würden außerdem unter Hinweis auf die angebliche patriotische Verpflichtung zur Teilnahme an entsprechenden Aktionen aufgerufen. Häufig legten in Volksversammlungen Frontarbeiter und Aktivisten Rechenschaft gegenüber höherrangigen Funktionären ab und übten dabei gegebenenfalls – bei Schlechterfüllung ihrer Pflichten – entsprechende Selbstkritik. Bei der Versammlung am 28.02.2010 sei nach einer Gedenkminute für die verstorbenen „PKK-Märtyrer“ die aktuelle Lage in der Türkei thematisiert und ein Bericht des Volksgebietsrats verlesen worden. Anschließend hätten die Vertreter verschiedener Kommissionen (Justiz, Außenkontakte u.ä.) des Volksgebietsrats über ihre Arbeit berichtet. Danach seien der Leiter des Volksgebietsrats und die Vertreter dieser Kommissionen neu gewählt worden. Eine Ausnahme gelte für zwei Kommissionen: Die „Vereinskommission“ bestehe „automatisch“ aus dem Vorstand der „Kurd... G...“. Die „Organisationskommission“ verfüge über 25 „Frontarbeiter“; diese Aktivisten hätten gute Arbeit geleistet.
55 
Hinzu kommt die Teilnahme des Klägers an Treffen, bei denen der gefallenen und verstorbenen PKK-Kämpfer oder -Aktivisten gedacht wird (18.05.2008 und ...2008). Wie dem Senat aus einer Reihe anderer Verfahren bekannt ist, sind gerade auch solche Märtyrergedenkveranstaltungen ein wesentliches Element zur Herstellung eines engeren ideologischen und emotionalen Zusammenhalts der PKK-Mitglieder und PKK-Sympathisanten und führen damit zur Verbreiterung und Stärkung der Basis der PKK (Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vgl. zum Märtyrerkult bei der PKK auch BVerwG, Beschluss vom 24.02.1010 - 6 A 7.08 - a.a.O.).
56 
Bezeichnend ist der Besuch von Versammlungen anlässlich des Geburtstages von Öcalan (06.04.2003, 03.04.2005). Auch hat der Kläger ausweislich der Feststellungen des Landesamts für Verfassungsschutz an mehreren Demonstrationen zu verschiedenen Anlässen (05.02.2005, 28.01.2006, 16.02.2007, 27.10.2007, 25.10.2008, 20.11.2010) teilgenommen, bei denen jeweils Rufe wie „ Es lebe Öcalan“, „Hoch leben Apo“ oder „PKK“ skandiert und „Freiheit für Öcalan“ gefordert wurde. Bei einer „Kurdistan-Solidaritätsdemonstration“ in H... am 20.11.2010 seien auch Parolen wie „Die PKK ist das Volk, das Volk ist hier“ gerufen und Plakate bzw. Transparente mit der Aufschrift „Freiheit für Öcalan – Frieden für Kurdistan“ mitgeführt worden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt, an dieser Veranstaltung vom 20.11.2010 teilgenommen zu haben, und darüber hinaus erklärt, er nehme an (allen) „offiziell genehmigten Demonstrationen“ teil. Es sei um die Freiheit der Kurden gegangen.
57 
Tatsächlich ist bei der Teilnahme an Demonstrationen besonders zu beachten, dass nicht unverhältnismäßig in das Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.; Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.). Zum einen können aber auch Aktivitäten, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, das Tatbestandsmerkmal des Unterstützens im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllen (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.). Zum anderen ging es bei diesen Demonstrationen nicht nur um Themen, die nicht ausschließlich von der PKK besetzt sind – wie die Forderung eines unabhängigen Kurdistans, die Kritik am Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdisches Zivilbevölkerung, die Anmahnung der Einhaltung von Menschenrechten, oder auch die Kritik an Haftbedingung politischer Gefangener einschließlich Öcalans – sondern um die Bekundung der Anhängerschaft zu Öcalan und der PKK durch entsprechende Parolen und Transparente. Damit bestand eine klare politisch-ideologische Verbindung zur PKK und ihren Zielen bzw. ihren Mitteln zur Durchsetzung dieser Ziele, zu denen auch der Terror zählte und zählt. Dies war und ist auch für den Kläger erkennbar. Er hat dazu in der mündlichen Verhandlung erklärt, es sei ihm egal, welche Parolen gerufen und welche Transparente getragen würden; er selbst habe weder Parolen gerufen noch Plakate getragen. Wie ausgeführt, kommt es darauf jedoch nicht an. Auch überzeugt die Erklärung des Klägers nicht, er habe die Plakate bzw. Transparente nicht lesen können, weil er dann von vorne gegen die Demonstration hätte laufen müssen. Jedenfalls konnte ihm die Solidarisierung mit der PKK schon vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen und den offensichtlich eindeutigen Parolen nicht entgehen, so dass ihm diese zuzurechnen ist.
58 
Vor dem Hintergrund des Charakters und der Vielzahl der vom Kläger besuchten anderen Veranstaltungen, wie den Volksversammlungen, den Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK und dem Geburtstag von Öcalan sowie den Märtyrergedenkfeiern, ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil, es wären zusätzliche Erkenntnisse darüber erforderlich, was der Kläger bei den Veranstaltungen getan habe, unzutreffend. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts waren bereits zum Zeitpunkt von dessen Entscheidung mehr als 13 Beteiligungen des Klägers an Veranstaltungen bekannt. Inzwischen sind es 20, die vom Landesamt für Verfassungsschutz benannt worden sind. Wie ausgeführt, kommt es zudem auf Anlass und Charakter der betreffenden Veranstaltungen an. In Anbetracht des konkreten Falles ist jedenfalls der Hinweis des Verwaltungsgerichts unverständlich, man könne einer Versammlung oder Veranstaltung auch „kopfschüttelnd“ zu Informationszwecken beiwohnen, ohne eine „unterstützende Haltung“ durch Applaus, Rufen von Parolen, Tragen von Schildern oder Transparenten einzunehmen. Dabei wird verkannt, dass bereits die regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen wie den angeführten, welche erkennbar auch dazu dienen, die PKK einschließlich ihrer terroristischen Aktionen zu fördern, eine Unterstützung der PKK darstellt. Die durch die – auch rein passive – Teilnahme ausgedrückte innere Nähe und Verbundenheit zur PKK kann deren Stellung in der Gesellschaft, hier insbesondere unter den in Deutschland lebenden Kurden, günstig beeinflussen, ihre Aktionsmöglichkeiten und ihr Rekrutierungsfeld erweitern und dadurch insgesamt dazu beitragen, das latente Gefährdungspotential der Vereinigung zu erhöhen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.).
59 
Soweit der Kläger vorträgt, die Vereine, bei denen er Mitglied gewesen und auch heute noch Mitglied sei und in deren Vorstand er gewesen sei, seien nicht verboten gewesen, er sei doch kein Terrorist und er habe auch nur an erlaubten Veranstaltungen teilgenommen, verkennt er, dass § 54 Nr. 5 AufenthG der effektiven Bekämpfung der Vorfeldunterstützung des internationalen Terrorismus durch Herabsetzen der Eingriffsschwelle dient. Sinn und Zweck ist die präventive Gefahrenabwehr. Für die Verwirklichung des Tatbestands kommt es danach weder darauf an, dass die in Frage stehende Vereinigung verboten ist noch darauf, dass die konkrete Unterstützungshandlung strafbar wäre (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.).
60 
In Anbetracht der bereits zur Überzeugung des Senats festgestellten Umstände kommt weiteren länger zurückliegenden Tatsachen wie etwa der Ingewahrsamnahme des Klägers anlässlich der Besetzung des griechischen Generalkonsulats nach der Festnahme von Öcalan am 16.02.1999 und der Unterzeichnung der PKK-Selbsterklärung im Jahr 2001 nur noch eine das Gesamtbild abrundende Bedeutung zu.
61 
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Übrigen keinen Zweifel an seiner Verehrung von Abdullah Öcalan und seiner Anhängerschaft zur PKK gelassen. Er hat deutlich gemacht, dass er auf Veranstaltungen wie die angeführten, auch solche zur Feier des Gründungsjahrestages der PKK, weiter gehen werde, solange diese nicht verboten seien. Seiner Meinung nach trete die PKK – wie auch er selbst – für die Freiheit der Kurden ein und sei nicht terroristisch. Wenn man die PKK als terroristisch ansähe, wäre er auch ein Terrorist. Soweit der Kläger mehrmals darauf hingewiesen hat, dass er aber kein „Vertreter“ der PKK sei, verkennt er, dass es darauf nicht ankommt.
62 
c) Die hiernach maßgeblichen Umstände – die Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeiten in den Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ...“ und die beschriebenen Teilnahmen an PKK-nahen Veranstaltungen – sind auch noch zu berücksichtigen, soweit sie bereits länger zurückliegen.
63 
Das Verwertungsverbot für getilgte Strafen nach § 51 Abs. 1 BZRG kann schon deshalb nicht greifen, weil der Kläger wegen der angeführten Umstände bzw. Aktivitäten nicht strafrechtlich verurteilt worden ist. Ob seine Teilnahme an einer Demonstration der PKK in Dortmund am 16.03.1996 noch berücksichtigt werden könnte, obwohl die deswegen gegen den Kläger mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot verhängte Geldstrafe bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt ist, kann hier offen bleiben. Denn auf diese Tat kommt es in Anbetracht der Vielzahl von sonstigen maßgeblichen Tatsachen – wie die Teilnahme an den angeführten Veranstaltungen 2002 bis 2010 und die Vorstandstätigkeit sowie die Mitgliedschaft in den kurdischen Vereinen in H... – hier nicht an. Jedenfalls ist weder bei Unterstützungshandlungen, die strafbar gewesen wären, aber nicht zu einer Verurteilung geführt haben, noch bei den nicht mit einer Strafe bewehrten Aktivitäten eine „fiktive Tilgung“ mit der Folge eines Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1 BZRG vorzunehmen (ausführlich dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 18.06.2010 - 3 Bs 2/10 - InfAuslR 2011, 193, m.w.N.; zu den Einbürgerungsvoraussetzungen des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.12.2010 - 19 A 1491/05 - AuAS 2011, 89; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.10.2011 - 5 N 30.08 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.05.2009 - 13 S 2428/08 -, juris – auch zum Fall einer möglichen Atypik im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
64 
Die länger zurückliegenden Tätigkeiten des Klägers sowie insbesondere seine Stellung als Vorstand in den Vereinen sind auch nicht aus anderen Gründen nicht mehr „verwertbar“. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte für einen „Verbrauch“, etwa weil die Ausländerbehörde dem Kläger in Kenntnis der Ausweisungsgründe einen Aufenthaltstitel erteilt hätte (vgl. dazu GK-AufenthG, a.a.O., § 5 AufenthG Rn. 106 ff., m.w.N.). Soweit im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.02.2011 die Aktivitäten des Klägers und seine Tätigkeiten in den Vereinsvorständen in solche bis zum Jahr 2002 und solche danach aufgeteilt und nur die neueren berücksichtigt worden sind, ist diese Aufteilung nicht nachvollziehbar. Da der Kläger noch im Mai Jahr 2002 als 2. Vorsitzender in den Vorstand des Vereins „E... ...“ gewählt wurde und diese Funktion danach mindestens ein Jahr lang - so seinen eigenen Angaben nach -, ausweislich des Vereinsregisters sogar bis zur Löschung des Vereins im Jahr 2007 innehatte, hätte diese Vorstandsmitgliedschaft ohnehin mit einbezogen werden müssen. Jedenfalls fehlt es schon in Anbetracht der bis heute andauernden Aktivitäten des Klägers in und für PKK-nahe Vereine in H... bzw. für die PKK und seiner fortdauernden Mitgliedschaft in den Nachfolgevereinen des Vereins „Kurd... V...“ an einer Zäsur, die zur Folge haben könnte, dass frühere Unterstützungshandlungen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
65 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die hier maßgebliche Bestimmung des § 54 Nr. 5 AufenthG (anders als die des § 54 Nr. 5a AufenthG) grundsätzlich weder vom Wortlaut noch nach deren Sinn und Zweck, aber auch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine vom Betroffenen ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefährdung voraussetzt. Eine “gegenwärtige Gefährlichkeit“ muss nur dann festgestellt werden, wenn eine vergangene Mitgliedschaft des Ausländers oder zurückliegende Unterstützungshandlungen (außerhalb einer Mitgliedschaft) zu beurteilen sind (ausführlich dazu Urteile des Senats vom 25.05.2011- 11 S 308/11 - und vom 21.04.2010 - 11 S 200/11 - jew. a.a.O.). Wegen der fortdauernden Unterstützungshandlungen des Klägers und seiner ständigen Präsenz bei lokalen PKK-Veranstaltungen liegt eine solche im Übrigen hier eindeutig vor.
III.
66 
Die Entscheidung, den Kläger wegen des Vorliegens des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG auszuweisen, lässt sich rechtlich nicht beanstanden.
67 
1. Das Regierungspräsidiums ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass es nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 55 AufenthG über die Ausweisung zu entscheiden hat.
68 
a) Offen bleiben kann, ob schon deshalb Ermessen auszuüben ist, weil eine Ausnahme von der Regel des § 54 AufenthG gegeben ist. Allerdings geht das Regierungspräsidium zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat selbst davon aus, dass der Kläger jedenfalls derzeit „aus familiären Gründen“ (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK), und zwar vor allem im Hinblick auf sein jüngstes, noch minderjähriges Kind A..., welches die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nicht abgeschoben werden kann. Mit Schreiben vom 02.12.2011 hat das dafür zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe erklärt, dass dem Kläger daher eine Duldung erteilt werde. Das Vorliegen eines Duldungsgrundes oder eines Abschiebungsverbots führt zwar nicht zur Unzulässigkeit einer Ausweisung, kann aber atypische Umstände in Bezug auf den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG begründen (so zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG: Beschluss des Senats vom 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19; Urteil des Senats vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - a.a.O., m.w.N.¸ vgl. zur Atypik auch GK-AufenthG, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 50 ff., 124 ff.) mit der Folge, dass der Betreffende nur nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Ob deshalb oder aus anderen Gründen von einer Atypik auszugehen ist, bedarf hier aber keiner anschließenden Klärung.
69 
b) Denn die Entscheidung über die Ausweisung des Klägers hat bereits mit Blick auf den dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nach Ermessen zu erfolgen.
70 
Zwar liegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unstreitig nicht vor, weil der Kläger nicht „im Besitz“ einer Niederlassungserlaubnis ist. Weil er mit seinem jüngsten, am ...2005 geborenen deutschen Sohn A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, kommt ihm aber nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG besonderer Ausweisungsschutz zu. Er kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen solche Gründe in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 54 AufenthG vorliegen, nach Ermessen über die Ausweisung zu entscheiden.
71 
Ein Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist hier nicht gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen Hailbronner, AuslR, Stand: Sept. 2011, § 56 AufenthG Rn. 23 ff., m.w.N.). Insbesondere liegen keine „tatbezogenen“ besonderen Umstände vor, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen. In Anbetracht der Hartnäckigkeit und Unbelehrbarkeit, mit der der Kläger trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter an PKK-nahen Veranstaltungen teilgenommen hat, und der in der mündlichen Verhandlung von ihm demonstrierten tiefen Verehrung von Öcalan und Anhängerschaft zur PKK ist damit zu rechnen, dass der Kläger weiter die PKK unterstützt.
72 
2. Die danach erforderliche Ermessensentscheidung ist vom Regierungspräsidium in rechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffen worden (§ 114 Satz 1 VwGO).
73 
Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - juris, m.w.N.). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Im Übrigen sind bei der nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zur Ermessensausweisung herabgestuften Regelausweisung die vom Ausländer ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einerseits und dessen private schutzwürdige Belange andererseits auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367, Beschluss vom 21.01.2011 - 1 B 17.10, 1 PKH 8/10 - juris, vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300).
74 
Danach sind hier zugunsten des Klägers in erster Linie seine Familie bzw. seine familiären Bindungen zu berücksichtigen. Seine Ehefrau und fast alle Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Nicht nur der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsgenhöriger; vielmehr hat sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat inzwischen auch seine älteste Tochter einbürgern lassen, bei einer anderen laufe derzeit das Einbürgerungsverfahren. Der Kläger hat berichtet, noch mit allen Kindern in einem Haushalt zu leben. Diesen Umständen, denen sicherlich eine aufenthaltsrechtlich erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, hat das Regierungspräsidium Stuttgart jedoch hinreichend Rechnung getragen. Im Rahmen der von ihm angestellten und in späteren Schriftsätzen sowie in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen hat es auch alle anderen relevanten Belange eingestellt und zutreffend gewichtet.
75 
Zwar hat das Regierungspräsidium in der Ausgangsentscheidung noch angenommen, dass der Kläger auch tatsächlich ausreisen müsse. Es hat aber später allein darauf abgestellt, dass er mit Rücksicht auf seine familiäre Situation nicht abgeschoben werden könne. Im Hinblick darauf ist dem Kläger inzwischen die Duldung aus familiären Gründen erteilt worden. In der mündlichen Verhandlung ist zudem die im Bescheid vom 10.06.2010 verfügte Abschiebungsandrohung aufgehoben worden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger bis auf Weiteres – das bedeutet jedenfalls solange seinen familiären Belangen insbesondere im Hinblick auf das jüngste deutsche Kind keine geringere Bedeutung einzuräumen ist oder sich andere maßgebliche Umstände ändern – zumindest geduldet wird und seine Familie nicht verlassen muss. Die Ausweisung ist damit schon deshalb auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als verhältnismäßig anzusehen.
76 
Die Entscheidung, den Kläger auszuweisen, begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil sich das in erster Linie mit einer Ausweisung verfolgte Ziel, die von dem betreffenden Ausländer ausgehende (Wiederholungs-) Gefahr mit der Ausreise zu bannen, hier bis auf Weiteres nicht verwirklichen lässt. Denn immerhin wird mit der Ausweisung zum einen konsequent jeder Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt, zum anderen werden dadurch die Aufenthaltsbeschränkungen des § 54a AufenthG ausgelöst bzw. der Erlass entsprechender Überwachungsmaßnahmen ermöglicht (Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.; vgl. auch Beschluss vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O., ebenso Bayer. VGH, Beschluss vom 10.07.2009 - 10 ZB 09.950 - juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49).
77 
Auch die sonstigen Ermessenserwägungen des Regierungspräsidiums sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die Ausweisungsverfügung selbstständig tragend auf den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt sei und dass für diese schon allein die angestellten spezialpräventiven Erwägungen ausschlaggebend seien. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers und schutzwürdige persönliche wirtschaftliche und sonstige Bindungen (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) wurden eingestellt und zutreffend gewürdigt. Dabei durfte zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass dieser nur sehr schlecht Deutsch spricht, lediglich wechselnden und unqualifizierten Berufstätigkeiten nachgegangen ist und offensichtlich bis heute nur im Umfeld seiner kurdischen Landsleute und „des Vereins“ Umgang und Bekanntschaften pflegt.
78 
Beim Kläger handelt es sich zwar um keine führende Persönlichkeit in der PKK. Angesichts seiner jahrelangen Unterstützung der PKK, der beschriebenen Hartnäckigkeit, mit der er trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter einschlägige Veranstaltungen besucht hat, und der deshalb weiter bestehenden gegenwärtigen Gefährlichkeit im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erweist sich die Ausweisung aber auch in Ansehung des langjährigen Aufenthalts des Klägers und insbesondere seiner familiären Bindungen nicht als unverhältnismäßig, und zwar selbst dann, wenn der Kläger nicht weiter geduldet würde (vgl. dazu auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - 41548/06 - [Trabelsi]).
IV.
79 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
80 
Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht odernicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
81 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/ Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
82 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
83 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).
84 
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
85 
Die hier vom Senat allein zu beurteilende Ausweisungsverfügung bleibt nach dem Vorgesagten aber hiervon unberührt.
B)
86 
Die Klage gegen die die Meldeauflage sowie die räumliche Beschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids vom 10.06.2010 ist vom Verwaltungsgericht zu Recht als zulässig angesehen worden. Beide Verfügungen stellen die gesetzlichen Pflichten des § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. § 54a Abs. 2 AufenthG konkretisierende Regelungen dar (ebenso Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.).
87 
Die Klage ist jedoch auch insoweit unbegründet. Zwar setzen beide Maßnahmen voraus, dass die Ausweisung sofort vollziehbar ist (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 29.11.2010 - 11 S 2481/10 - juris). Dementsprechend wurde auch unter Ziffer 5 des Bescheids vom 10.06.2011 die sofortige Vollziehung angeordnet, weshalb zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Verfügung unter dem hier zu behandelnden Aspekt nicht zu beanstanden war. Allerdings wurde mit Beschluss des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 19.11.2010 (11 K 2430/10 - juris) unter anderem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung nunmehr allein wegen der fehlenden Vollziehbarkeit der Ausweisung vorübergehend als rechtswidrig anzusehen wären. Denn mit Eintritt der Rechtskraft des Senatsurteils wäre die Erlassvoraussetzung der Vollziehbarkeit wieder erfüllt. Namentlich müsste in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden in einem von den Beteiligten angestrengten Revisionsverfahren das Bundesverwaltungsgericht, dessen Entscheidung mit ihrem Erlass notwendigerweise rechtkräftig wird, die Klage gegen die auf § 54a AufenthG gestützten Maßnahmen als unbegründet abweisen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung galt bzw. gilt lediglich vorläufig – bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft der Ausweisung. Dies legt ein Verständnis der aufschiebenden Wirkung nahe, nach welchem auch die Folgemaßnahmen nach § 54a AufenthG vom Wiedereintritt der aufschiebenden Wirkung bis zur Rechtskraft der Entscheidung bezüglich der Ausweisung in ihrer Wirksamkeit nur vorläufig suspendiert sind, selbst wenn die aufschiebende Wirkung insoweit nicht ausdrücklich angeordnet wurde (ebenso zu vergleichbaren verwaltungsverfahrensrechtlichen Konstellationen Kopp/ Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80 Rn. 31; Bader, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 80 Rn. 23). Schließlich würden die Meldepflicht und die räumliche Beschränkung nach § 54a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG auch ohne Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt, wie sie hier erfolgt ist, unmittelbar mit der Vollziehbarkeit der Ausweisung kraft Gesetzes (wieder) eintreten. Weitergehende Rechtswirkungen müssen der aufschiebenden Wirkung im Interesse des Betroffenen, insbesondere aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung, nicht beigemessen werden.
88 
In Anbetracht der Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der aktuell bestehenden Gefahr weiterer Unterstützung der PKK durch den Kläger lassen sich die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden; sie verstoßen insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
89 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 VwGO.
90 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
91 
Beschluss
92 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 und 39 Abs. 1 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
93 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
28 
Soweit die Beteiligten - nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 10.06.2010 in der mündlichen Verhandlung - den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit unwirksam (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entspr.).
29 
Im Übrigen ist die aufgrund der Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.02.2011 zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage gegen die Ausweisung unter Ziffer 1 (dazu unter A) und die Meldeauflage sowie die Aufenthaltsbeschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 10.06.2010 (B) abweisen müssen. Denn diese Verfügungen sind zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20) rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
30 
Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 55 i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG (I.). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG liegen vor (II.), die Ausweisungsentscheidung lässt sich auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden (III.).
I.
31 
Das Regierungspräsidium hat diese rechtsfehlerfrei auf § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt. Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob als Rechtsgrundlage daneben § 55 AufenthG i.V.m. § 54 Nr. 5a oder Nr. 6 AufenthG herangezogen werden könnten.
32 
Diese Regelungen sind hier uneingeschränkt anwendbar.
33 
1. Aus der Tatsache, dass der Kläger Vater eines minderjährigen deutschen Kindes – dem am ...2005 geborenen A... A... – ist, folgt nicht, dass er wie ein Unionsbürger oder nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu behandeln wäre.
34 
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C-34/09 - InfAuslR 2011, 179) entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines minderjährigen Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann. Ausschlaggebend war ausweislich der Gründe der Umstand, dass die Kinder, welche Unionsbürger waren, bei einer „Verweigerung von Aufenthalt und Arbeitserlaubnis“ ihrer drittstaatsangehörigen Eltern gezwungen gewesen wären, das Unionsgebiet zu verlassen. Art. 20 AEUV sei daher dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehre, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, den Aufenthalt im Wohnsitzstaat und eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, da derartige Entscheidungen diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehren würden. Folge eines entsprechenden Aufenthaltsrechts wäre eine allenfalls eingeschränkte Anwendbarkeit der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG (vgl. dazu Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; allgemein zum Urteil des EuGH vom 08.03.2011: OVG NRW, Beschluss vom 29.04.2011 - 18 B 377/11 -; Hess. VGH, Beschluss vom 27.10.2011 - 6 D 1633/11 - juris). Wie auch inzwischen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 05.05.2011 in der Rechtssache McCarthy (C-434/09 - InfAuslR 2011, 268) und vom 15.11.2011 in der Rechtssache Dereci (C-256/11 - juris) deutlich machen, ist ein Aufenthaltsanspruch des Drittstaatsangehörigen aus der Unionsbürgerschaft seines Kindes – oder auch seines Ehepartners – aber nur abzuleiten, wenn der betreffende Unionsbürger andernfalls zwingend das Unionsgebiet verlassen müsste (weitergehend noch Urteil des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - a.a.O., und Beschluss des Senats vom 12.05.2011 - 11 S 765/11 - NVwZ 2011, 1213). Vorliegend kann aber das jüngste deutsche Kind des Klägers zusammen mit dessen Ehefrau, welche im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, in Deutschland bleiben und wäre daher nicht gezwungen, das Unionsgebiet zu verlassen. Ob gegebenenfalls eine Trennung des Klägers von seiner Familie, insbesondere seinem minderjährigen deutschen Kind zulässig ist, ist somit keine unionsrechtliche Fragestellung, sondern nach den allgemeinen Maßstäben (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) zu beantworten.
35 
2. Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Der Kläger verfügt über kein Aufenthaltsrecht gemäß der - hier allein in Betracht kommenden - Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.
36 
Nach dem gestuften Regelungssystem des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 kann im Rahmen der ersten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 1) ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht bei einjähriger Beschäftigung nur zum Zwecke der Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses bei dem gleichen Arbeitgeber erworben werden. Im Rahmen der zweiten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 2) wird nach dreijähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung das Recht erworben, Stellenangebote eines anderen Arbeitgebers im gleichen Beruf zu akzeptieren. Erst im Rahmen der dritten Verfestigungsstufe (Spiegelstrich 3), d.h. nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung, erwirbt der türkische Arbeitnehmer gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht nur das Recht, auf ein bereits existierendes Stellenangebot einzugehen, sondern auch das unbedingte Recht, Arbeit zu suchen und jede beliebige Beschäftigung aufzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.01.1997 - C-171/95 - [Tetik] InfAuslR 1997, 146). Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 berühren Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Entsprechendes gilt auch bei einem „unverschuldeten Arbeitgeberwechsel“ (vgl. Renner, AufenthG, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 124 f.), und zwar selbst dann, wenn keine Unterbrechung der Beschäftigung eingetreten ist. Voraussetzung ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 allerdings, dass die Zeiten der unverschuldeten Arbeitslosigkeit „von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind“, das bedeutet, dass sich der Betreffende arbeitslos gemeldet und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat.
37 
Nach diesen Grundsätzen verfügt der Kläger nicht über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. Seine Arbeitstätigkeit in einer Gebäudereinigung im Jahr 2002 war zu kurz, um zum Erwerb von Ansprüchen nach dem ARB 1/80 zu führen. Selbst wenn man die sozialversicherungsfreien (Neben-)Tätigkeiten in einem Internetcafé in H... vom 13.03.2004 bis zum 31.01.2006 und die Tätigkeit bei einer Vertriebs GmbH vom 01.04.2006 bis zum 15.06.2006 insgesamt anerkennen und die damaligen Unterbrechungen durch – ordnungsgemäß festgestellte – Arbeitslosigkeit sowie den Wechsel der Arbeitgeber wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit als unschädlich ansehen würde, wäre der Kläger danach zum 15.06.2006 maximal 2 Jahre 3 Monate und 2 Tage ordnungsgemäß beschäftigt gewesen. Die damit allenfalls erreichte Rechtsposition nach dem ersten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wäre durch die anschließende beschäftigungslose Zeit bis zur Aufnahme einer Arbeit bei einem Abbruchunternehmen in L... unterbrochen gewesen. Denn ausweislich der vorliegenden Auskünfte der Deutschen Rentenversicherung (vgl. den vom Kläger mit Schriftsatz vom 30.06.2011 vorgelegten Versicherungsverlauf vom 06.06.2011) war er in dieser Zeit nicht arbeitslos gemeldet. Letztlich kommt es aber darauf nicht an. Selbst wenn man – trotz des Betriebsinhaberwechsels – die anschließende Beschäftigung bei den Abbruchunternehmen in L... vom 17.07.2006 bis zum 31.01.2007 hinzurechnen würde, wäre der Kläger seit dem 13.03.2004 noch keine drei Jahre beschäftigt gewesen, hätte also nur die Rechtsposition der ersten Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht gehabt. Diese hätte er durch die anschließende Kündigung und die folgende zweimonatige Arbeitslosigkeit aber wieder verloren gehabt. Denn diese Kündigung erfolgte nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung durch ihn. Da seine Kinder sich geweigert hätten, zu ihm nach L... zu ziehen, habe er wieder zu seiner Familie ziehen wollen.
38 
Im Anschluss war der Kläger zwar noch vom 02.04.2007 bis zum 31.05.2009 als Fahrer bei einer Firma in H... beschäftigt und ist seit dem 01.07.2009 bei einer Gebäudereinigung angestellt. Die Beschäftigungszeiten als Fahrer können aber schon deshalb nicht mehr zum Erreichen eines Rechts nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 führen, weil der Kläger seinen Angaben nach zwar entlassen wurde, sich aber nicht unmittelbar anschließend bei der Arbeitsverwaltung gemeldet hat. Abgesehen davon war er seit dem 13.09.2007 nicht mehr „ordnungsgemäß beschäftigt“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Denn seine letzte Aufenthaltserlaubnis lief am 12.09.2007 aus und galt lediglich aufgrund seines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Grundsätzlich setzt aber eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt voraus (vgl. nur EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], NVwZ 1991, 255). Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige verfahrenssichernde Rechtsstellung hat ein türkischer Arbeitnehmer während des Zeitraums, in dem sein Widerspruch oder seine Klage aufschiebende Wirkung gegen eine die Erteilung oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ablehnende behördliche Entscheidung entfaltet (vgl. EuGH, Urteil vom 16.12.1992 - C-237/91 - [Kus], InfAuslR 1993, 41). Dies gilt auch in Bezug auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG (vgl. Renner, a.a.O., § 4 AufenthG, Rn. 117 m.w.N.). Etwas anderes folgt hier auch nicht daraus, dass über die am 25.05.2009 gegen das Land Baden-Württemberg erhobene Klage des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (11 K 2004/09) noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Zwar können Zeiten der Arbeitstätigkeit, in denen der Betreffende lediglich über ein fiktives Aufenthaltsrecht verfügt hat, später - rückwirkend - doch wieder als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zu berücksichtigen sein, wenn in der Folge eine positive behördliche oder gerichtliche Entscheidung getroffen wird. Denn dann werden die zurückliegenden Beschäftigungszeiten anrechnungsfähig (EuGH, Urteil vom 20.09.1990 - C-192/89 - [Sevince], a.a.O.), und zwar gegebenenfalls selbst dann, wenn während kurzer Zeiträume kein Aufenthaltstitel und auch keine Fiktionswirkung bestand, etwa weil der Betreffende eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erst kurz nach Ablauf der geltenden Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte (EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329/97 - [Ergat], InfAuslR 2000, 217). Diese Fragen können hier jedoch dahingestellt bleiben. Denn es ist wegen des vom Kläger verwirklichten Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 5 AufenthG (dazu unten) offensichtlich, dass er keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis oder auf Verlängerung der früher bestehenden Aufenthaltserlaubnis hat (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Abgesehen davon kommt es darauf auch deshalb nicht an, weil die Fiktionswirkung entsprechend § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG jedenfalls mit Bekanntgabe der Ausweisung vom 10.06.2010 – und damit vor Ablauf eines Jahres seit Beginn der Tätigkeit am 01.07.2009 und Erreichen einer Position nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 – erloschen ist. Zwar kommt der vom Kläger gegen die Ausweisung erhobenen Klage aufschiebende Wirkung zu, weil das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19.11.2010 - 11 K 2430/10 - auch insoweit die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt hat. Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lassen jedoch Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit unter anderem der Ausweisung unberührt, solange diese nicht unanfechtbar aufgehoben worden ist.
II.
39 
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG sind erfüllt.
40 
Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, wobei die Ausweisung auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen nur gestützt werden kann, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Vereinigung oder ihre Unterstützung muss danach nicht erwiesen sein, es genügt das Vorliegen von Tatsachen, die die entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen. Dass es sich dabei um eine Vereinigung handelt, die den Terrorismus unterstützt, muss hingegen feststehen (Bay.VGH, Urteil vom 22.02.2010 - 19 B 09.929 - juris, bestätigt mit Urteil des BVerwG vom 25.10.2011 - 1 C 13.10 -).
41 
1. Zunächst sind das Verwaltungsgericht und das Regierungspräsidium Stuttgart zu Recht davon ausgegangen, dass die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und ihre Nachfolgeorganisationen KADEK (Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans), KONGRA-GEL (Volkskongress Kurdistans), KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) oder KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) - im Folgenden PKK - dem Terrorismus zuzurechnen und damit jedenfalls als eine den Terrorismus im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützende Vereinigung anzusehen sind (vgl. hierzu Urteile des Senats vom 29.09.2010 - 11 S 597/10 - VBlBW 2011, 478, und vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris sowie Beschlüsse des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vom 16.12.2010 - 11 S 2374/10 - und vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - InfAuslRAuslR 2011, 105). Eine Vereinigung unterstützt den Terrorismus, wenn sie selbst ihre Ziele auch mit terroristischen Mitteln – wie dem Einsatz gemeingefährlicher Waffen und mit Angriffen auf das Leben Unbeteiligter zur Durchsetzung politischer Ziele – verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - juris, m.w.N.; vgl. im Einzelnen zum Begriff des Terrorismus GK-AufenthG, Stand: Sept. 2011, § 54 Rn. 436 ff.). Das ist bei der PKK in dem hier maßgeblichen Zeitraum von 1997 bis heute der Fall. Insbesondere verzichtete die PKK auch während der Phase des 1999 ausgerufenen und 2004 wieder beendeten „Friedenskurses“ nicht auf Gewalt. Das seit vielen Jahren weitgehend friedliche Auftreten der PKK in Europa ist Teil einer „Doppelstrategie“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 53; OVG Bremen, Beschluss vom 26.10.2010 - 1 A 111/09 - InfAuslR 2011, 37) und ändert nichts an deren grundsätzlich bestehender Gewaltbereitschaft und der Anwendung von terroristischen Mitteln, etwa bei Anschlägen in der Türkei (so etwa am 22.06.2010 in Istanbul, vgl. ZEIT-ONLINE vom 23.06.2010: www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/kurden-tuerkei-politik; WELT ONLINE vom 22.06.2010 www.welt.de/politik/ausland/ article8142791/Tuerkei-Touristen-im-Fadenkreuz-kurdischen-Terrors.html; am 27. und 28.08 2006 in Marmaris, Istanbul und Antalya, vgl. SPIEGEL ONLINE vom 28.08.2006 www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,434039,00.html) oder der Entführung Unbeteiligter (vgl. zur Entführung von drei deutschen Staatsangehörigen am Berg Ararat am 08.07.2008 SPIEGEL ONLINE vom 09.07.2011: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,564783,00.html). Insoweit wird ergänzend auf die ausführliche und zutreffende Darstellung im angefochtenen Bescheid des Regierungspräsidiums vom 10.06.2010 verwiesen (vgl. auch Landesamt für Verfassungsschutz Bad.-Württ., „Ausländerextremismus“, August 2007, S. 9 ff., sowie Bundesamt für Verfassungsschutz, „Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL)“, März 2007). Abgesehen davon ist die PKK seit Mai 2002 auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt (vgl. Ziff. 2.9 des Anhangs zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 02.05.2002 betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GSAP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus - 2002/340/GSAP – ABl. L 116, S. 75). Entgegen der Auffassung des Klägers erlaubt eine solche Aufnahme die Feststellung, dass die Vereinigung terroristischer Art ist (EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - InfAuslR 2011, 40; vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 07.12.2010 - 1 B 24.10 - juris; noch offengelassen im Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - juris).
42 
2. Ob der Kläger der PKK „angehört“ im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, kann hier offen bleiben. Denn aus den vorliegenden Tatsachen ist jedenfalls die Folgerung gerechtfertigt, dass er diese seit vielen Jahren in mehrfacher Weise unterstützt hat und weiter unterstützt.
43 
Als tatbestandserhebliches Unterstützen ist jede Tätigkeit des Ausländers anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, auswirkt. Dazu zählt zum Beispiel auch jedes Tätigwerden eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial stärkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings kann nicht jede Handlung, die sich zufällig als für die betreffende Vereinigung bzw. den Terrorismus objektiv vorteilhaft erweist, als tatbestandsmäßiges Unterstützen verstanden werden. Vielmehr muss die eine Unterstützung der Vereinigung bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auch fehlt es an einem Unterstützen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet - und sich hiervon gegebenenfalls deutlich distanziert - und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach außen vertritt. Dienen solche Veranstaltungen allerdings erkennbar dazu, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch die Vereinigung vertritt, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme jedenfalls auch diese Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen (beispielsweise wegen des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt) zu fördern, dann liegt ein im Hinblick auf den Normzweck potenziell gefährliches Unterstützen im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG vor, der die Freiheit der Meinungsäußerung insoweit verhältnismäßig beschränkt. Eine Unterstützung kann ferner dann in Betracht kommen, wenn durch zahlreiche Beteiligungen an Demonstrationen und Veranstaltungen im Umfeld einer Vereinigung - wie der verbotenen PKK - bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststeht, dass der Ausländer auch als Nichtmitglied in einer inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst steht, die er durch sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringt, und damit deren Stellung in der Gesellschaft (vor allem unter Landsleuten) begünstigend beeinflusst, ihre Aktionsmöglichkeiten und eventuell auch ihr Rekrutierungsfeld erweitert und dadurch insgesamt zu einer Stärkung ihres latenten Gefahrenpotenzials beiträgt. Dabei muss allerdings die terroristische oder den Terrorismus unterstützende Tätigkeit der Vereinigung im In- oder Ausland zum jeweiligen Zeitpunkt feststehen und das Verhalten des Einzelnen auch unter Berücksichtigung etwaiger glaubhafter Distanzierungen von der Unterstützung des Terrorismus (oder das Fehlen jeglicher Distanzierung) gewürdigt werden. Eine darüber hinausgehende konkrete oder persönliche Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit ist dagegen nicht erforderlich. Ebenso wenig ist ein "aktives Tätigwerden" erforderlich (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -BVerwGE 123, 114 - zur früheren Regelung des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG; vgl. auch Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O., m.w.N.; Beschluss des Senats vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O.; Urteile des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - juris und vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.).
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Nach diesen Grundsätzen liegen hier eine Vielzahl von Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger die PKK und damit den Terrorismus unterstützt im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG, so die Mitgliedschaft und die Übernahme von Vorstandsfunktionen in PKK-nahen Vereinen (a) und die über Jahre hinweg fortgesetzte Teilnahme an den unterschiedlichsten PKK-nahen Aktionen und Veranstaltungen (b). Dabei sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch die länger zurückliegenden Tatsachen noch zu berücksichtigen (c).
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a) Zunächst steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die kurdischen Vereine in H..., in denen der Kläger Vorstandsmitglied war, den Terrorismus unterstützen. Dabei zu berücksichtigen, dass - wie dargelegt - bereits jede Tätigkeit als tatbestandliches Unterstützen anzusehen ist, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der betreffenden Vereinigung, hier der PKK, auswirkt.
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aa) Der Verein „Kurd... V...“ e.V. wurde in den 1990-er Jahren gegründet und im Jahr 2000 wieder aufgelöst. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich deutlich gemacht, dass er in dem im Anschluss gegründeten „Kurd... K...“ und in dem derzeit bestehenden Verein „Kurd... G...“ Nachfolgevereine des Vereins Kurdx ... V...“ sieht. Es handle sich um „den Verein“, in welchem er bis heute Mitglied sei und mit seinen Familienangehörigen jedes Wochenende verbringe. Er hat damit die entsprechende Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, die in der mündlichen Verhandlung von dem angehörten Mitarbeiter I.V. weiter erläutert worden ist, bestätigt. Der Kläger ist in einer Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 in den Vorstand des Vereins „K... V...“ gewählt worden und war als solcher für die Bücherei des Vereins zuständig. Darauf hat er sich auch in seinem Asylverfahren berufen und geltend gemacht, dass ihm deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgung drohe (Schriftsatz vom 01.07.1997 zum Verfahren A 3 K 12680/98).
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Für eine PKK-Nähe des Vereins spricht schon der Umstand, dass dieser Mitglied bei der YEK-KOM, der „Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V.“ war. Dies lässt sich dem vom Kläger im Asylverfahren vorgelegten Protokoll über die Mitgliederversammlung vom 25.01.1997 entnehmen, in welcher die Vereinsmitglieder – nach Darstellung der Arbeit und der Bedeutung der YEK-KOM – für eine Mitgliedschaft des Vereins in dieser Dachorganisation gestimmt haben. Die YEK-KOM, deren Sitz in Düsseldorf ist und der deutschlandweit etwa 60 kurdische Vereine angeschlossen sind, unterstützt die PKK durch eine Vielzahl von Aktionen. Dies wird in der überzeugenden „Einschätzung“ des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.06.2010“ im Einzelnen ausführlich dargelegt. Die YEK-KOM sei ihrerseits Mitglied der „Konföderation der Kurdischen Vereine in Europa“ (KON-KURD). Sie betreibe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, darunter immer wieder Aktionen und Aufrufe mit dem Ziel der Aufhebung des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei in Deutschland. Auch mobilisiere sie jedes Jahr aus Anlass der Newroz-Feier die kurdische Bevölkerung in Europa zu zentralen Kundgebungen. Dabei würden Grußworte von Öcalan oder von anderen PKK-Führungsmitgliedern vorgelesen bzw. ausgestrahlt. Im Zentrum stünden dann die aktuellen politischen Interessen der PKK. Auf der Agenda der vergangenen Jahre hätten Themen gestanden wie „Freiheit für Öcalan“ und „Frieden für Kurdistan“. In einer zusammenfassenden Bewertung heißt es, im Arbeitsprogramm der YEK-KOM sei die „logistische Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes Kurdistans“ verankert. Die von der YEK-KOM sowohl in ihren Publikationen als auch bei ihren Veranstaltungen und Aktionen aufgegriffenen Themen lägen im Interessenbereich der PKK. Zu nennen seien insbesondere die Aufhebung des PKK-Verbots und die Freilassung Abdullah Öcalans. Der Verein biete der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen eine Plattform, indem er ihre Erklärungen und Äußerungen von Funktionären unkommentiert, d.h. auch unkritisch veröffentliche. Auf Maßnahmen der Sicherheitsbehörden oder der Justiz gegen Personen und Einrichtungen mit dem Verdacht eines PKK-Bezugs reagiere die YEK-KOM stets mit einer verurteilenden Erklärung. Hochrangige YEK-KOM-Funktionäre beteiligten sich an PKK-Aktionen und träten auf PKK-Veranstaltungen als Redner auf. Zusammenfassend lasse sich daher sagen, dass eine eindeutige Nähe des Vereins YEK-KOM zur PKK bzw. zu ihren Nachfolgeorganisationen KADEK und KONGRA-GEL vorliege.
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Hinzu kommen die Veranstaltungen, die vom Verein „Kurd... V...“ durchgeführt wurden, so zum Beispiel aus der Zeit, in der der Kläger Vorstandsmitglied war, eine Demonstration zum Newroz-Fest am 20.03.1998. In einem Bericht der Stadt H... vom 29.04.1998 über diese Demonstration wird dargelegt, dass Fahnen mit Symbolen der PKK gezeigt worden seien. Nach Einschätzung der Polizei und der Stadt H... habe nicht das Thema „Newroz-Fest“ im Vordergrund gestanden, sondern das Thema „Politische Lösung der kurdischen Frage und Aufhebung des Verbots der PKK“. Wie sich außerdem einem Bescheid der Stadt H... vom 14.05.1998 über das Verbot einer für den 17.05.1998 im Schlachthof in H... geplanten Veranstaltung entnehmen lässt, wurde zu dieser angeblichen „Folkloreveranstaltung“ mit Flugblättern der ENRK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans, eine Organisation der PKK) eingeladen. In den Räumen des Vereins wurde dafür mit einem Aushang mit dem Text „Sieg im Frieden, Freiheit im Leben, Volksversammlung wird stattfinden. Ort = Schlachthof“ geworben. Herr I.V. vom Landesamt für Verfassungsschutz hat zudem in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren überzeugend dargelegt, dass „der Verein“ in H... – derzeit die „Kurd... G...“ – seit Jahren durch regelmäßige PKK-Veranstaltungen auffalle. Er rufe immer wieder zu Veranstaltungen und zu Kundgebungen auf, die inhaltlich die PKK, Abdullah Öcalan als PKK-Führer u.ä zum Thema hätten. Insofern trete der Verein immer wieder aktiv auf und führe diese Kundgebungen durch. Bei den Veranstaltungen würden PKK-Slogans skandiert, es werde die Freilassung Öcalans und die Aufhebung des PKK-Verbots gefordert und die Türkei werde als terroristischer Staat bezeichnet. Das alles seien für das Landesamt für Verfassungsschutz Indizien, um die entsprechende Veranstaltung – anders als normale kulturelle Veranstaltungen von Kurden – als „PKK-nah“ anzusehen. Schließlich existierten auch zahlreiche andere kurdische Vereine, die vom Verfassungsschutz nicht als „PKK-nah“ eingestuft würden, etwa solche, die dem Dachverband der KOMKAR (Verband der Vereine aus Kurdistan) angehörten. Es gebe also eine Alternative. Der Verein in H... wie auch andere PKK-nahe Vereine fielen dadurch auf, dass sie sich stets und immer wieder PKK-spezifischen Themen annähmen. Das ziehe sich seit den 1980er-Jahren wie ein „roter Faden“ durch die Betätigung des Vereins.
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bb) Dass sich auch der Verein „Gebetshaus E... ... - I... ... e.V., H...“ – in dessen Vorstand der Kläger erstmals im Dezember 1998 (als stellvertretendes Vorstandsmitglied) und erneut im Mai 2002 (als 2. Vorsitzender des Vorstands) gewählt worden war – der PKK verbunden gefühlt hat, folgt bereits aus dem Formular zur Anmeldung des Vereins am 29.04.1998 bei der Stadt H... Darin wird ausgeführt, „Wir glauben, dass die kurdische Sache unter Führung der PKK gelöst wird“ und „Abgrenzung zum Kurd... V... e.V. durch Schwerpunkt Religion“. Auch wird als Zweck des Vereins angegeben „Versammlung von allen Kurden, auch revolutionäre Kurden, unter einem Dach“. Außerdem verdeutlicht die vorliegende Stellungnahme des Bundeskriminalamts, Stand 11/2006, „Religiöse Vereinigungen innerhalb der PKK“ die Anbindung auch dieses Vereins an die PKK. Danach sei im Zuge des 4. Parteikongresses der PKK im Dezember 1990 die Gründung der Union der patriotischen Gläubigen aus Kurdistan (kurz: YOWK, ab 1991 YDK), einem Dachverband von Muslimen, beschlossen worden. 1993 sei die Umbenennung in „Islamischer Bund Kurdistans - HIK“ bzw. „Islamische Bewegung Kurdistans - KIH“ erfolgt. Die regionale Aufteilung sei in drei Funktionsbereiche, darunter eine Föderation in Süddeutschland mit Sitz in Heilbronn, erfolgt. Im Mai 2005 sei eine erneute Umbenennung, diesmal in „Islamische Gesellschaft Kurdistans - CIK“ beschlossen worden. Nach Auffassung des Bundesamts für Verfassungsschutz sei die CIK/HIK eine Massenorganisation der PKK, über die muslimische Kurden an die PKK gebunden werden sollen. In der Herbstausgabe der Baweri, dem seit 1995 erscheinenden Publikationsorgan der CIK/HIK, werde diese als eine religiös-politische Kampfesbewegung bezeichnet, die den nationalen Befreiungskampf Kurdistans unterstütze. In diesem Rahmen rufe sie regelmäßig zu Spenden oder Kampagnen auf, wie beispielsweise zur Sammlung von Spenden für kurdische Bedürftige und Waisen oder der Opferkampagne. Zu den der CIK/HIK angehörenden Moschen gehöre u.a. die „Mizgevta E... ...“ in H... ... Die Anbindung der CIK/HIK an die PKK und deren Abhängigkeit von der Organisation werde auch durch verschiedene Asservate belegt. In einem Fazit heißt es, die PKK unterhalte eine Vielzahl von Organisationen, mit deren Hilfe sie ihren Einfluss auf alle Lebensbereiche auszudehnen versuche. In ihrem Bestreben, auch die religiösen Gruppierungen der Kurden in ihren Strukturen einzubinden, habe sie die Gruppe der Muslime durch die CIK/HIK an ihre Organisation angebunden. Die Verlautbarungen führender Parteikader sowie die Organisationsbeschlüsse belegten die strukturelle Anbindung an die CDK (Nachfolgeorganisation der YDK) und damit an eine in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte Organisation.
50 
Ist danach davon auszugehen, dass beide ausländerrechtlichen Vereine, in deren Vorstand der Kläger gewählt war, die PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen unterstützt haben, so ist dem Kläger diese Unterstützung bereits aufgrund seiner Stellung als Vorstandsmitglied zuzurechnen, ohne dass der Frage seiner tatsächlichen inneren Einstellung weiter nachgegangen werden müsste (vgl. zu § 11 StAG: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.06.2008 - 13 S 2613/03 - VBlBW 2009, 29, m.w.N). Davon abgesehen greift § 54 Nr. 5 AufenthG auch in Fällen, in denen der Betreffende einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, hier dem Verein „Kurdx... V...“ und der „E... ...“, d.h. es kommt auch deshalb nicht darauf an, ob und in welchem Umfang er persönlich Unterstützung geleistet hat.
51 
b) Hinzu kommt, dass schon allein wegen der Teilnahme des Klägers an diversen PKK-nahen Veranstaltungen davon auszugehen ist, dass er die PKK unterstützt hat und bis heute unterstützt. Denn er war bei einer Reihe von Veranstaltungen, die geeignet sind, den ideologischen und emotionalen Zusammenhalt der PKK, ihrer Nachfolgeorganisationen und Organisationen im politischen Umfeld zu stärken. Diese Teilnahmen sind daher bereits für sich genommen ohne Weiteres als selbstständige Unterstützungshandlungen zu qualifizieren, die zum Vorliegen des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG führen. Umso mehr gilt dies bei einer Gesamtschau aller festgestellten Aktivitäten des Klägers einschließlich der Vorstandstätigkeiten in den Vereinen.
52 
Zu den Veranstaltungen, deren Besuch als Unterstützung der PKK anzusehen ist, gehören insbesondere die Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK. Nach den Mitteilungen des Landesamts für Verfassungsschutz hat der Kläger in den Jahren 2005, 2007, 2008 und 2009, jeweils in I... bei H..., den 27., 29., 30. und den 31. Gründungsjahrestag der PKK mitgefeiert. Dies wurde von ihm in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt. Nach den Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz seien bei diesen Feiern Fahnen der KONGRA-GEL bzw. der KCK oder der KKK und Bilder Öcalans aufgehängt gewesen bzw. entrollt worden (27.11.2005, 23.11.2008 und 27.11.2009), Filme über das Leben des Öcalan (27.11.2005 und 23.11.2008) oder die Guerilla (27.11.2009) vorgeführt und jeweils Reden über die PKK gehalten worden – zum Beispiel mit einem Überblick über die Entwicklung der PKK seit deren Gründung (23.11.2008). Regelmäßig werde die Bedeutung der PKK für die Kurden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervorgehoben. Zudem werde regelmäßig die PKK-Guerilla positiv herausgestellt, wenn nicht gar glorifiziert, indem zum Beispiel - wie im Jahr 2009 - ein Film über diese gezeigt werde (vgl. Bericht des LfV vom 17.12.2010). Solche Veranstaltungen haben in spezifischer Weise Propagandacharakter und dienen erkennbar der Förderung und Stärkung der PKK. Mit dem Besuch zeigt der Teilnehmer seine Anhängerschaft und fördert den Zusammenhalt der Organisation und ihrer Anhänger (vgl. Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -). Typisch für PKK-nahe Veranstaltungen ist auch der Personenkult um den in der Türkei inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan. Seiner Person kommt nach wie vor ein Symbolgehalt auch für den bewaffneten Kampf der PKK gegen den Staat zu (BVerwG, Beschluss vom 24.02.2010 - 6 A 7.08 - a.a.O.). Es ist daher auch bezeichnend, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen zu dem vom Landesamt für Verfassungsschutz geschilderten Ablauf der Veranstaltung zum 31. Gründungsjahrestag der PKK am 27.11.2009 und nach dem Hinweis darauf, dass dort auch ein Film über den Guerilla-Kampf und Öcalan vorgeführt worden sei, entgegnete: Man brauche ihm nicht zu sagen, dass in diesem Saal ein Bild von Öcalan angebracht gewesen sei; Öcalan sei in seinem Herzen.
53 
Ebenso als Unterstützung der PKK zu werten ist der Besuch einer Veranstaltung am 17.08.2008 anlässlich des 24. Jahrestages der Gründung des militärischen Arms der PKK, bei welchem in einer Rede Öcalan und die PKK gewürdigt worden seien.
54 
Besonders ins Gewicht fallen auch die vom Kläger nicht in Abrede gestellten Besuche bei so genannten Volksversammlungen in den Räumlichkeiten des „Kurd... K...“ bzw. der „Kurd... G... H...“ am 17.12.2005, 30.03.2008 und am 28.02.2010. Den vorliegenden Berichten des Landesamts für Verfassungsschutz (vgl. vor allem Bericht vom 17.12.2010) lässt sich entnehmen, dass es – anders als bei Vereinsversammlungen, die sich schwerpunktmäßig mit Vereinsthemen beschäftigten – bei Volksversammlungen thematisch im Wesentlichen um den mit einem Betätigungsverbot belegten und deshalb streng konspirativ arbeitenden Teil der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen gehe. Demgemäß dienten Volksversammlungen in erster Linie der Information und Mobilisierung der Basis durch Funktionäre der PKK. Meist halte ein hochrangiger PKK-Funktionär eine „emotionalisierende“ Rede, die durchaus ein bis zwei Stunden dauern könne. Dabei würden die Zuhörer über alle Aspekte, die die PKK beträfen, ausführlich informiert, insbesondere über Verlautbarungen, Haftbedingungen und Gesundheitszustand des PKK-Führers Öcalan, Anweisungen der Organisation, Lageentwicklung in der Türkei, in Deutschland und in Europa und aktuelle Kampagnen. Sie würden außerdem unter Hinweis auf die angebliche patriotische Verpflichtung zur Teilnahme an entsprechenden Aktionen aufgerufen. Häufig legten in Volksversammlungen Frontarbeiter und Aktivisten Rechenschaft gegenüber höherrangigen Funktionären ab und übten dabei gegebenenfalls – bei Schlechterfüllung ihrer Pflichten – entsprechende Selbstkritik. Bei der Versammlung am 28.02.2010 sei nach einer Gedenkminute für die verstorbenen „PKK-Märtyrer“ die aktuelle Lage in der Türkei thematisiert und ein Bericht des Volksgebietsrats verlesen worden. Anschließend hätten die Vertreter verschiedener Kommissionen (Justiz, Außenkontakte u.ä.) des Volksgebietsrats über ihre Arbeit berichtet. Danach seien der Leiter des Volksgebietsrats und die Vertreter dieser Kommissionen neu gewählt worden. Eine Ausnahme gelte für zwei Kommissionen: Die „Vereinskommission“ bestehe „automatisch“ aus dem Vorstand der „Kurd... G...“. Die „Organisationskommission“ verfüge über 25 „Frontarbeiter“; diese Aktivisten hätten gute Arbeit geleistet.
55 
Hinzu kommt die Teilnahme des Klägers an Treffen, bei denen der gefallenen und verstorbenen PKK-Kämpfer oder -Aktivisten gedacht wird (18.05.2008 und ...2008). Wie dem Senat aus einer Reihe anderer Verfahren bekannt ist, sind gerade auch solche Märtyrergedenkveranstaltungen ein wesentliches Element zur Herstellung eines engeren ideologischen und emotionalen Zusammenhalts der PKK-Mitglieder und PKK-Sympathisanten und führen damit zur Verbreiterung und Stärkung der Basis der PKK (Beschluss des Senats vom 17.03.2011 - 11 S 460/11 -, vgl. zum Märtyrerkult bei der PKK auch BVerwG, Beschluss vom 24.02.1010 - 6 A 7.08 - a.a.O.).
56 
Bezeichnend ist der Besuch von Versammlungen anlässlich des Geburtstages von Öcalan (06.04.2003, 03.04.2005). Auch hat der Kläger ausweislich der Feststellungen des Landesamts für Verfassungsschutz an mehreren Demonstrationen zu verschiedenen Anlässen (05.02.2005, 28.01.2006, 16.02.2007, 27.10.2007, 25.10.2008, 20.11.2010) teilgenommen, bei denen jeweils Rufe wie „ Es lebe Öcalan“, „Hoch leben Apo“ oder „PKK“ skandiert und „Freiheit für Öcalan“ gefordert wurde. Bei einer „Kurdistan-Solidaritätsdemonstration“ in H... am 20.11.2010 seien auch Parolen wie „Die PKK ist das Volk, das Volk ist hier“ gerufen und Plakate bzw. Transparente mit der Aufschrift „Freiheit für Öcalan – Frieden für Kurdistan“ mitgeführt worden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt, an dieser Veranstaltung vom 20.11.2010 teilgenommen zu haben, und darüber hinaus erklärt, er nehme an (allen) „offiziell genehmigten Demonstrationen“ teil. Es sei um die Freiheit der Kurden gegangen.
57 
Tatsächlich ist bei der Teilnahme an Demonstrationen besonders zu beachten, dass nicht unverhältnismäßig in das Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.; Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.). Zum einen können aber auch Aktivitäten, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, das Tatbestandsmerkmal des Unterstützens im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllen (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.). Zum anderen ging es bei diesen Demonstrationen nicht nur um Themen, die nicht ausschließlich von der PKK besetzt sind – wie die Forderung eines unabhängigen Kurdistans, die Kritik am Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdisches Zivilbevölkerung, die Anmahnung der Einhaltung von Menschenrechten, oder auch die Kritik an Haftbedingung politischer Gefangener einschließlich Öcalans – sondern um die Bekundung der Anhängerschaft zu Öcalan und der PKK durch entsprechende Parolen und Transparente. Damit bestand eine klare politisch-ideologische Verbindung zur PKK und ihren Zielen bzw. ihren Mitteln zur Durchsetzung dieser Ziele, zu denen auch der Terror zählte und zählt. Dies war und ist auch für den Kläger erkennbar. Er hat dazu in der mündlichen Verhandlung erklärt, es sei ihm egal, welche Parolen gerufen und welche Transparente getragen würden; er selbst habe weder Parolen gerufen noch Plakate getragen. Wie ausgeführt, kommt es darauf jedoch nicht an. Auch überzeugt die Erklärung des Klägers nicht, er habe die Plakate bzw. Transparente nicht lesen können, weil er dann von vorne gegen die Demonstration hätte laufen müssen. Jedenfalls konnte ihm die Solidarisierung mit der PKK schon vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen und den offensichtlich eindeutigen Parolen nicht entgehen, so dass ihm diese zuzurechnen ist.
58 
Vor dem Hintergrund des Charakters und der Vielzahl der vom Kläger besuchten anderen Veranstaltungen, wie den Volksversammlungen, den Feiern anlässlich des Gründungsjahrestages der PKK und dem Geburtstag von Öcalan sowie den Märtyrergedenkfeiern, ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil, es wären zusätzliche Erkenntnisse darüber erforderlich, was der Kläger bei den Veranstaltungen getan habe, unzutreffend. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts waren bereits zum Zeitpunkt von dessen Entscheidung mehr als 13 Beteiligungen des Klägers an Veranstaltungen bekannt. Inzwischen sind es 20, die vom Landesamt für Verfassungsschutz benannt worden sind. Wie ausgeführt, kommt es zudem auf Anlass und Charakter der betreffenden Veranstaltungen an. In Anbetracht des konkreten Falles ist jedenfalls der Hinweis des Verwaltungsgerichts unverständlich, man könne einer Versammlung oder Veranstaltung auch „kopfschüttelnd“ zu Informationszwecken beiwohnen, ohne eine „unterstützende Haltung“ durch Applaus, Rufen von Parolen, Tragen von Schildern oder Transparenten einzunehmen. Dabei wird verkannt, dass bereits die regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen wie den angeführten, welche erkennbar auch dazu dienen, die PKK einschließlich ihrer terroristischen Aktionen zu fördern, eine Unterstützung der PKK darstellt. Die durch die – auch rein passive – Teilnahme ausgedrückte innere Nähe und Verbundenheit zur PKK kann deren Stellung in der Gesellschaft, hier insbesondere unter den in Deutschland lebenden Kurden, günstig beeinflussen, ihre Aktionsmöglichkeiten und ihr Rekrutierungsfeld erweitern und dadurch insgesamt dazu beitragen, das latente Gefährdungspotential der Vereinigung zu erhöhen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 - a.a.O.).
59 
Soweit der Kläger vorträgt, die Vereine, bei denen er Mitglied gewesen und auch heute noch Mitglied sei und in deren Vorstand er gewesen sei, seien nicht verboten gewesen, er sei doch kein Terrorist und er habe auch nur an erlaubten Veranstaltungen teilgenommen, verkennt er, dass § 54 Nr. 5 AufenthG der effektiven Bekämpfung der Vorfeldunterstützung des internationalen Terrorismus durch Herabsetzen der Eingriffsschwelle dient. Sinn und Zweck ist die präventive Gefahrenabwehr. Für die Verwirklichung des Tatbestands kommt es danach weder darauf an, dass die in Frage stehende Vereinigung verboten ist noch darauf, dass die konkrete Unterstützungshandlung strafbar wäre (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.09.2011 - 1 B 19.11 - a.a.O.).
60 
In Anbetracht der bereits zur Überzeugung des Senats festgestellten Umstände kommt weiteren länger zurückliegenden Tatsachen wie etwa der Ingewahrsamnahme des Klägers anlässlich der Besetzung des griechischen Generalkonsulats nach der Festnahme von Öcalan am 16.02.1999 und der Unterzeichnung der PKK-Selbsterklärung im Jahr 2001 nur noch eine das Gesamtbild abrundende Bedeutung zu.
61 
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Übrigen keinen Zweifel an seiner Verehrung von Abdullah Öcalan und seiner Anhängerschaft zur PKK gelassen. Er hat deutlich gemacht, dass er auf Veranstaltungen wie die angeführten, auch solche zur Feier des Gründungsjahrestages der PKK, weiter gehen werde, solange diese nicht verboten seien. Seiner Meinung nach trete die PKK – wie auch er selbst – für die Freiheit der Kurden ein und sei nicht terroristisch. Wenn man die PKK als terroristisch ansähe, wäre er auch ein Terrorist. Soweit der Kläger mehrmals darauf hingewiesen hat, dass er aber kein „Vertreter“ der PKK sei, verkennt er, dass es darauf nicht ankommt.
62 
c) Die hiernach maßgeblichen Umstände – die Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeiten in den Vereinen „Kurd... V...“ und „E... ...“ und die beschriebenen Teilnahmen an PKK-nahen Veranstaltungen – sind auch noch zu berücksichtigen, soweit sie bereits länger zurückliegen.
63 
Das Verwertungsverbot für getilgte Strafen nach § 51 Abs. 1 BZRG kann schon deshalb nicht greifen, weil der Kläger wegen der angeführten Umstände bzw. Aktivitäten nicht strafrechtlich verurteilt worden ist. Ob seine Teilnahme an einer Demonstration der PKK in Dortmund am 16.03.1996 noch berücksichtigt werden könnte, obwohl die deswegen gegen den Kläger mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 05.03.1998 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot verhängte Geldstrafe bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt ist, kann hier offen bleiben. Denn auf diese Tat kommt es in Anbetracht der Vielzahl von sonstigen maßgeblichen Tatsachen – wie die Teilnahme an den angeführten Veranstaltungen 2002 bis 2010 und die Vorstandstätigkeit sowie die Mitgliedschaft in den kurdischen Vereinen in H... – hier nicht an. Jedenfalls ist weder bei Unterstützungshandlungen, die strafbar gewesen wären, aber nicht zu einer Verurteilung geführt haben, noch bei den nicht mit einer Strafe bewehrten Aktivitäten eine „fiktive Tilgung“ mit der Folge eines Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1 BZRG vorzunehmen (ausführlich dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 18.06.2010 - 3 Bs 2/10 - InfAuslR 2011, 193, m.w.N.; zu den Einbürgerungsvoraussetzungen des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.12.2010 - 19 A 1491/05 - AuAS 2011, 89; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.10.2011 - 5 N 30.08 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.05.2009 - 13 S 2428/08 -, juris – auch zum Fall einer möglichen Atypik im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
64 
Die länger zurückliegenden Tätigkeiten des Klägers sowie insbesondere seine Stellung als Vorstand in den Vereinen sind auch nicht aus anderen Gründen nicht mehr „verwertbar“. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte für einen „Verbrauch“, etwa weil die Ausländerbehörde dem Kläger in Kenntnis der Ausweisungsgründe einen Aufenthaltstitel erteilt hätte (vgl. dazu GK-AufenthG, a.a.O., § 5 AufenthG Rn. 106 ff., m.w.N.). Soweit im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.02.2011 die Aktivitäten des Klägers und seine Tätigkeiten in den Vereinsvorständen in solche bis zum Jahr 2002 und solche danach aufgeteilt und nur die neueren berücksichtigt worden sind, ist diese Aufteilung nicht nachvollziehbar. Da der Kläger noch im Mai Jahr 2002 als 2. Vorsitzender in den Vorstand des Vereins „E... ...“ gewählt wurde und diese Funktion danach mindestens ein Jahr lang - so seinen eigenen Angaben nach -, ausweislich des Vereinsregisters sogar bis zur Löschung des Vereins im Jahr 2007 innehatte, hätte diese Vorstandsmitgliedschaft ohnehin mit einbezogen werden müssen. Jedenfalls fehlt es schon in Anbetracht der bis heute andauernden Aktivitäten des Klägers in und für PKK-nahe Vereine in H... bzw. für die PKK und seiner fortdauernden Mitgliedschaft in den Nachfolgevereinen des Vereins „Kurd... V...“ an einer Zäsur, die zur Folge haben könnte, dass frühere Unterstützungshandlungen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
65 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die hier maßgebliche Bestimmung des § 54 Nr. 5 AufenthG (anders als die des § 54 Nr. 5a AufenthG) grundsätzlich weder vom Wortlaut noch nach deren Sinn und Zweck, aber auch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine vom Betroffenen ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefährdung voraussetzt. Eine “gegenwärtige Gefährlichkeit“ muss nur dann festgestellt werden, wenn eine vergangene Mitgliedschaft des Ausländers oder zurückliegende Unterstützungshandlungen (außerhalb einer Mitgliedschaft) zu beurteilen sind (ausführlich dazu Urteile des Senats vom 25.05.2011- 11 S 308/11 - und vom 21.04.2010 - 11 S 200/11 - jew. a.a.O.). Wegen der fortdauernden Unterstützungshandlungen des Klägers und seiner ständigen Präsenz bei lokalen PKK-Veranstaltungen liegt eine solche im Übrigen hier eindeutig vor.
III.
66 
Die Entscheidung, den Kläger wegen des Vorliegens des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG auszuweisen, lässt sich rechtlich nicht beanstanden.
67 
1. Das Regierungspräsidiums ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass es nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 55 AufenthG über die Ausweisung zu entscheiden hat.
68 
a) Offen bleiben kann, ob schon deshalb Ermessen auszuüben ist, weil eine Ausnahme von der Regel des § 54 AufenthG gegeben ist. Allerdings geht das Regierungspräsidium zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat selbst davon aus, dass der Kläger jedenfalls derzeit „aus familiären Gründen“ (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK), und zwar vor allem im Hinblick auf sein jüngstes, noch minderjähriges Kind A..., welches die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nicht abgeschoben werden kann. Mit Schreiben vom 02.12.2011 hat das dafür zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe erklärt, dass dem Kläger daher eine Duldung erteilt werde. Das Vorliegen eines Duldungsgrundes oder eines Abschiebungsverbots führt zwar nicht zur Unzulässigkeit einer Ausweisung, kann aber atypische Umstände in Bezug auf den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG begründen (so zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG: Beschluss des Senats vom 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19; Urteil des Senats vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - a.a.O., m.w.N.¸ vgl. zur Atypik auch GK-AufenthG, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 50 ff., 124 ff.) mit der Folge, dass der Betreffende nur nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Ob deshalb oder aus anderen Gründen von einer Atypik auszugehen ist, bedarf hier aber keiner anschließenden Klärung.
69 
b) Denn die Entscheidung über die Ausweisung des Klägers hat bereits mit Blick auf den dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nach Ermessen zu erfolgen.
70 
Zwar liegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unstreitig nicht vor, weil der Kläger nicht „im Besitz“ einer Niederlassungserlaubnis ist. Weil er mit seinem jüngsten, am ...2005 geborenen deutschen Sohn A... in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, kommt ihm aber nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG besonderer Ausweisungsschutz zu. Er kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen solche Gründe in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 54 AufenthG vorliegen, nach Ermessen über die Ausweisung zu entscheiden.
71 
Ein Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist hier nicht gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen Hailbronner, AuslR, Stand: Sept. 2011, § 56 AufenthG Rn. 23 ff., m.w.N.). Insbesondere liegen keine „tatbezogenen“ besonderen Umstände vor, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen. In Anbetracht der Hartnäckigkeit und Unbelehrbarkeit, mit der der Kläger trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter an PKK-nahen Veranstaltungen teilgenommen hat, und der in der mündlichen Verhandlung von ihm demonstrierten tiefen Verehrung von Öcalan und Anhängerschaft zur PKK ist damit zu rechnen, dass der Kläger weiter die PKK unterstützt.
72 
2. Die danach erforderliche Ermessensentscheidung ist vom Regierungspräsidium in rechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffen worden (§ 114 Satz 1 VwGO).
73 
Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - juris, m.w.N.). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Im Übrigen sind bei der nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zur Ermessensausweisung herabgestuften Regelausweisung die vom Ausländer ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einerseits und dessen private schutzwürdige Belange andererseits auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367, Beschluss vom 21.01.2011 - 1 B 17.10, 1 PKH 8/10 - juris, vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300).
74 
Danach sind hier zugunsten des Klägers in erster Linie seine Familie bzw. seine familiären Bindungen zu berücksichtigen. Seine Ehefrau und fast alle Kinder sind im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Nicht nur der jüngste Sohn A... ist deutscher Staatsgenhöriger; vielmehr hat sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat inzwischen auch seine älteste Tochter einbürgern lassen, bei einer anderen laufe derzeit das Einbürgerungsverfahren. Der Kläger hat berichtet, noch mit allen Kindern in einem Haushalt zu leben. Diesen Umständen, denen sicherlich eine aufenthaltsrechtlich erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, hat das Regierungspräsidium Stuttgart jedoch hinreichend Rechnung getragen. Im Rahmen der von ihm angestellten und in späteren Schriftsätzen sowie in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen hat es auch alle anderen relevanten Belange eingestellt und zutreffend gewichtet.
75 
Zwar hat das Regierungspräsidium in der Ausgangsentscheidung noch angenommen, dass der Kläger auch tatsächlich ausreisen müsse. Es hat aber später allein darauf abgestellt, dass er mit Rücksicht auf seine familiäre Situation nicht abgeschoben werden könne. Im Hinblick darauf ist dem Kläger inzwischen die Duldung aus familiären Gründen erteilt worden. In der mündlichen Verhandlung ist zudem die im Bescheid vom 10.06.2010 verfügte Abschiebungsandrohung aufgehoben worden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger bis auf Weiteres – das bedeutet jedenfalls solange seinen familiären Belangen insbesondere im Hinblick auf das jüngste deutsche Kind keine geringere Bedeutung einzuräumen ist oder sich andere maßgebliche Umstände ändern – zumindest geduldet wird und seine Familie nicht verlassen muss. Die Ausweisung ist damit schon deshalb auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als verhältnismäßig anzusehen.
76 
Die Entscheidung, den Kläger auszuweisen, begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil sich das in erster Linie mit einer Ausweisung verfolgte Ziel, die von dem betreffenden Ausländer ausgehende (Wiederholungs-) Gefahr mit der Ausreise zu bannen, hier bis auf Weiteres nicht verwirklichen lässt. Denn immerhin wird mit der Ausweisung zum einen konsequent jeder Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt, zum anderen werden dadurch die Aufenthaltsbeschränkungen des § 54a AufenthG ausgelöst bzw. der Erlass entsprechender Überwachungsmaßnahmen ermöglicht (Urteil des Senats vom 21.04.2010 - 11 S 200/10 - a.a.O.; vgl. auch Beschluss vom 08.12.2010 - 11 S 2366/10 - a.a.O., ebenso Bayer. VGH, Beschluss vom 10.07.2009 - 10 ZB 09.950 - juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49).
77 
Auch die sonstigen Ermessenserwägungen des Regierungspräsidiums sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Vertreterin des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die Ausweisungsverfügung selbstständig tragend auf den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt sei und dass für diese schon allein die angestellten spezialpräventiven Erwägungen ausschlaggebend seien. Die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers und schutzwürdige persönliche wirtschaftliche und sonstige Bindungen (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) wurden eingestellt und zutreffend gewürdigt. Dabei durfte zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass dieser nur sehr schlecht Deutsch spricht, lediglich wechselnden und unqualifizierten Berufstätigkeiten nachgegangen ist und offensichtlich bis heute nur im Umfeld seiner kurdischen Landsleute und „des Vereins“ Umgang und Bekanntschaften pflegt.
78 
Beim Kläger handelt es sich zwar um keine führende Persönlichkeit in der PKK. Angesichts seiner jahrelangen Unterstützung der PKK, der beschriebenen Hartnäckigkeit, mit der er trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens weiter einschlägige Veranstaltungen besucht hat, und der deshalb weiter bestehenden gegenwärtigen Gefährlichkeit im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG erweist sich die Ausweisung aber auch in Ansehung des langjährigen Aufenthalts des Klägers und insbesondere seiner familiären Bindungen nicht als unverhältnismäßig, und zwar selbst dann, wenn der Kläger nicht weiter geduldet würde (vgl. dazu auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - 41548/06 - [Trabelsi]).
IV.
79 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
80 
Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht odernicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
81 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/ Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
82 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
83 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).
84 
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
85 
Die hier vom Senat allein zu beurteilende Ausweisungsverfügung bleibt nach dem Vorgesagten aber hiervon unberührt.
B)
86 
Die Klage gegen die die Meldeauflage sowie die räumliche Beschränkung unter Ziffer 4 des Bescheids vom 10.06.2010 ist vom Verwaltungsgericht zu Recht als zulässig angesehen worden. Beide Verfügungen stellen die gesetzlichen Pflichten des § 54a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. § 54a Abs. 2 AufenthG konkretisierende Regelungen dar (ebenso Urteil des Senats vom 25.05.2011 - 11 S 308/11 - a.a.O.).
87 
Die Klage ist jedoch auch insoweit unbegründet. Zwar setzen beide Maßnahmen voraus, dass die Ausweisung sofort vollziehbar ist (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 29.11.2010 - 11 S 2481/10 - juris). Dementsprechend wurde auch unter Ziffer 5 des Bescheids vom 10.06.2011 die sofortige Vollziehung angeordnet, weshalb zum Zeitpunkt ihres Erlasses die Verfügung unter dem hier zu behandelnden Aspekt nicht zu beanstanden war. Allerdings wurde mit Beschluss des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 19.11.2010 (11 K 2430/10 - juris) unter anderem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung nunmehr allein wegen der fehlenden Vollziehbarkeit der Ausweisung vorübergehend als rechtswidrig anzusehen wären. Denn mit Eintritt der Rechtskraft des Senatsurteils wäre die Erlassvoraussetzung der Vollziehbarkeit wieder erfüllt. Namentlich müsste in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden in einem von den Beteiligten angestrengten Revisionsverfahren das Bundesverwaltungsgericht, dessen Entscheidung mit ihrem Erlass notwendigerweise rechtkräftig wird, die Klage gegen die auf § 54a AufenthG gestützten Maßnahmen als unbegründet abweisen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung galt bzw. gilt lediglich vorläufig – bis zum Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft der Ausweisung. Dies legt ein Verständnis der aufschiebenden Wirkung nahe, nach welchem auch die Folgemaßnahmen nach § 54a AufenthG vom Wiedereintritt der aufschiebenden Wirkung bis zur Rechtskraft der Entscheidung bezüglich der Ausweisung in ihrer Wirksamkeit nur vorläufig suspendiert sind, selbst wenn die aufschiebende Wirkung insoweit nicht ausdrücklich angeordnet wurde (ebenso zu vergleichbaren verwaltungsverfahrensrechtlichen Konstellationen Kopp/ Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80 Rn. 31; Bader, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 80 Rn. 23). Schließlich würden die Meldepflicht und die räumliche Beschränkung nach § 54a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG auch ohne Konkretisierung durch einen Verwaltungsakt, wie sie hier erfolgt ist, unmittelbar mit der Vollziehbarkeit der Ausweisung kraft Gesetzes (wieder) eintreten. Weitergehende Rechtswirkungen müssen der aufschiebenden Wirkung im Interesse des Betroffenen, insbesondere aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung, nicht beigemessen werden.
88 
In Anbetracht der Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der aktuell bestehenden Gefahr weiterer Unterstützung der PKK durch den Kläger lassen sich die Meldeauflage und die räumliche Beschränkung auch im Übrigen rechtlich nicht beanstanden; sie verstoßen insbesondere nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
89 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 VwGO.
90 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
91 
Beschluss
92 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 und 39 Abs. 1 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.
93 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1986 in Leonberg geborene Kläger ist lediger und kinderloser türkischer Staatsangehöriger. Nach der Geburt lebte er zunächst einige Jahre bei seinen Eltern in Deutschland und wuchs dann bis zu seinem 9. Lebensjahr gemeinsam mit seinem älteren Bruder bei seiner Großmutter in der Türkei auf. In der Türkei besuchte er die 1. und 2. Klasse der Grundschule. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, hielt sich auch in dieser Zeit in Deutschland rechtmäßig als Arbeitnehmer auf. 1995 kehrte der Kläger dann zu seinen Eltern nach Sindelfingen zurück. Der Kläger besuchte in Deutschland zunächst eine Vorbereitungsklasse, dann die Grundschule und wechselte nach der 4. Klasse Grundschule auf das Gymnasium. Von dort musste er nach der 6. Klasse aufgrund unzureichender Leistungen auf die Realschule wechseln. Nachdem er dort die 6. Klasse wiederholt hatte, verließ er schließlich wegen Verhaltensauffälligkeiten und Fehlzeiten die Realschule ohne Abschluss. Im Jahre 2001 und nach dem Besuch verschiedener Schulen erreichte er den Hauptschulabschluss mit dem Notendurchschnitt von 2,3. Eine danach begonnene Lehre als Kfz-Mechaniker endete vorzeitig, weil ihm betriebsbedingt gekündigt worden war. Eine abgeschlossene Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen, da er einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker wegen eigenen Fehlverhaltens wieder verlor. Danach hielt er sich bis 2003 immer wieder vorübergehend in der Türkei auf. Nach seiner Rückkehr trennten sich seine Eltern; er lebte in der Folgezeit bei seiner Mutter. Er ging nach seiner Rückkehr auch nur gelegentlichen unselbständigen Erwerbstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. durch Inhaftierungen unterbrochen waren. Zuletzt arbeitete er von Juni 2008 bis März 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma, jedoch wurde das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsverweigerung fristlos gekündigt.
Ihm wurde am 21.05.1997 eine bis 22.02.2002 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach verlängert wurde, zuletzt gültig bis zum 28.05.2009. Einen Verlängerungsantrag stellte er nicht.
Bereits im Alter von 12 Jahren begann der Kläger mit regelmäßigem Alkoholkonsum, wenig später mit dem zusätzlichen Konsum von Haschisch und Ecstacy sowie Kokain und Heroin. In der Zeit von Oktober 2006 bis Sommer 2007 nahm er - im Zuge einer Bewährungsauflage - an Gesprächen der Drogenberatung Sindelfingen teil, räumte dort seinen Drogenkonsum aber nur teilweise ein. Nach dem Ergebnis eines vom Landgericht Stuttgart in Auftrag gegebenen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 11.11.2009 ist beim Kläger zwar von einem anhaltenden, schädlichen politoxikomanen Alkohol-und Drogenmissbrauch mit im zeitlichen Verlauf wechselndem Ausmaß auszugehen, nicht hingegen von einer Suchterkrankung im engeren Sinne mit körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit. Im Übrigen diagnostizierte der Gutachter beim Kläger eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
Am 29.09.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu zwei Freizeitarresten und zur Erbringung von Arbeitsleistungen.
Am 17.01.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 12.03.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17.01.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einem Jahr Jugendstrafe, die erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 31.08.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der beiden vorgenannten Verurteilungen wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einem Jahr und vier Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung im Berufungsverfahren (vgl. Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18.11.2004) zur Bewährung ausgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang war er bereits vorübergehend vom 10.10.2003 bis 21.11.2003 sowie vom 25.05.2004 bis 18.11.2004 in Untersuchungshaft genommen worden.
Am 25.10.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der drei vorgenannten Verurteilungen wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten.
10 
Am 22.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der vier vorgenannten Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 2 Jahre und sechs Monaten. Der Rest der Strafe wurde bis zum 03.09.2009 zur Bewährung ausgesetzt.
11 
Von einer Ausweisung sahen die Ausländerbehörden zunächst ab, sprachen aber am 15.05.2002 (durch die Ausländerbehörde der Stadt Sindelfingen) sowie am 15.08.2006 (durch das Regierungspräsidium) eine ausländerrechtliche Verwarnung aus.
12 
Am 20.04.2009 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart festgenommen und verbüßte während der U-Haft auch Ersatzfreiheitsstrafen aus vorangegangenen Verurteilungen.
13 
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 04.12.2009, rechtskräftig seit dem 16.04.2010, wurde er wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er in den Morgenstunden des 20.04.2009 zusammen mit einem Mittäter maskiert und mit einem Messer bewaffnet eine Spielothek betreten und den dort Angestellten mit einem auf ihn gerichteten Messer bedroht und zur Freigabe des Weges zur Kassenschublade veranlasst hatte. Dabei erbeuteten sie Bargeld in Höhe von mindestens 4.000,- EUR das sie allerdings auf der anschließenden Flucht größtenteils wieder verloren.
14 
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger mit Verfügung vom 25.06.2010 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei auf seine Kosten an und wies ihn darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, dass seine Abschiebung für den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt werde. Die Ausweisungsverfügung wurde als Ermessensausweisung auf § 55 Abs. 1 AufenthG gestützt. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bestehe, weil der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Seine Ausweisung setze daher außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche, hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung durch ein persönliches Verhalten voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Straftaten. Mit ausführlicher Begründung bejahte das Regierungspräsidium eine solche Wiederholungsgefahr im Bereich der Gewaltkriminalität. Sie komme in der schweren und besonders häufigen Straffälligkeit, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der Ergebnislosigkeit der Hafterfahrung und der ausländerrechtlichen Verwarnungen zum Ausdruck und werde durch die fortbestehende Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkt. Auch ein unterstellter beanstandungsfreier Haftvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu, zumal bereits eine vorherige Haftverbüßung keinerlei nachhaltige Wirkung auf sein Verhalten gehabt habe. Wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegen. Zu seinen Gunsten greife kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG ein, denn ein solcher gelte nur für Unionsbürger. Nationaler Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG greife nicht, weil der Kläger nicht im Besitz der dafür erforderlichen Aufenthaltserlaubnis sei. Unter Würdigung und Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe und auch im Hinblick auf den Schutz nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kam das Regierungspräsidium Stuttgart zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung wegen der durch den Kläger wiederholt begangenen schwerwiegenden Verstöße und der Wiederholungsgefahr verhältnismäßig sei.
15 
Der Kläger erhob am 06.07.2010 zum Verwaltungsgericht Stuttgart Klage und machte geltend: Er lebe seit 1 1/2 Jahrzehnten im Bundesgebiet. Sein Aufenthaltsrecht stütze sich auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG. Der Umstand, dass der Kläger gutachterlich als dissoziale Persönlichkeit eingeordnet worden sei, rechtfertige seine Ausweisung nicht. Die Anpassungsschwierigkeiten in der Türkei wären für ihn unlösbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ausweisung wäre eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates. Eine solche Gefahr stelle der Kläger nicht dar. In der Sache verdeutliche auch EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - Rs C-145/09 , dass nach dem Maßstab des Art. 28 Abs. 3 lit. a) 2004/38/EG eine Ausweisung des Klägers ausscheide. Seine Straftat gefährde die Sicherheit des Staates nicht.
16 
Der Beklagte trat unter Berufung auf die Ausführungen in der angegriffenen Verfügung der Klage entgegen.
17 
Mit Urteil vom 28.03.2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Das Regierungspräsidium habe die Ausweisung zutreffend auf § 55 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 und 14 ARB 1/80 gestützt und den Kläger ermessensfehlerfrei aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze, denn er sei in Deutschland geboren worden und habe über fünf Jahre bei seinem Vater, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe, gelebt. Das Aufenthaltsrecht gelte unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst eine Beschäftigung ausübe oder nicht. Aufgrund dieser Rechtsstellung bestehe für den Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80, und er könne, selbst wenn er nach nationalem Recht einen Ist-Ausweisungstatbestand (§ 53 AufenthG) verwirklicht habe, nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters finde Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Unionsbürgerrichtlinie auf den Status des Klägers weder Anwendung noch sonst Berücksichtigung. Das Regierungspräsidium Stuttgart sei weiter mit Recht davon ausgegangen, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Ausweisung des Klägers nicht entgegenstehe. Eine Ausweisung des Klägers komme lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut gegeben sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe diese Voraussetzungen zutreffend bejaht. Es bestehe nach der Verurteilung vom 04.12.2009 eine erhebliche Gefahr, dass der Kläger wieder ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten begehen werde. Im angefochtenen Bescheid habe das Regierungspräsidium eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen und beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter Straftaten der Beschaffungs- und Gewaltkriminalität festgestellt. Dabei habe es sich auf die Vielzahl der seit 2000 begangenen Delikte, auf die hohe Rückfallgeschwindigkeit, auf seine Unbelehrbarkeit auch nach entsprechenden Verwarnungen und Inhaftierungen gestützt. Selbst die Tatsache, dass einer seiner Brüder im Jahre 2004 bereits wegen schwerer Straftaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben worden und ihm damit die ausländerrechtlichen Folgen von delinquentem Verhalten ganz konkret vor Augen geführt worden seien, habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die angesichts des strafrechtlichen Werdegangs große Gefahr weiterer Gewaltkriminalität werde auch durch die vom Gutachter festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstruktur verstärkt. Da der Kläger keine Aufenthaltserlaubnis besitze, genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG keinen besonderen Ausweisungsschutz. Das Regierungspräsidium habe das Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Danach seien bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung habe das Regierungspräsidium zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei und sich seit rund 1 1/2 Jahrzehnten, bis auf kurze Unterbrechung, ununterbrochen rechtmäßig hier aufgehalten habe. Das Regierungspräsidium habe ferner die Entwicklung der Lebensverhältnisse des Klägers während seines lang andauernden Aufenthalts berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass er zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nur gelegentlich unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen, überwiegend aber beschäftigungslos gewesen sei. Er habe sich im Bundesgebiet keine sichere wirtschaftliche Lebensgrundlage aufgebaut. Seine fehlende Integration komme auch in beharrlichen Verstößen gegen die deutsche (Straf-) Rechtsordnung zum Ausdruck. Das Regierungspräsidium habe zutreffend die wirtschaftliche Bindung des Klägers im Bundesgebiet durch sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt. Es habe ferner das Ermessen auch im Hinblick auf die persönlichen Bindungen des Klägers, nämlich seine Beziehung zu seiner noch lebenden Mutter und seinem Onkel, pflichtgemäß ausgeübt. Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit dem Kläger in einer familiären Lebensgemeinschaft lebten, seien gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinreichend berücksichtigt worden. Zutreffend sei erkannt worden, dass die Ausweisung mit der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Kläger künftig daran hindere, die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und dass damit ein Eingriff in Art. 6 GG vorliege. Allerdings verbiete Art. 6 GG auch einen für die Beteiligten schwerwiegenden Eingriff nicht schlechthin. Im vorliegenden Fall beruhe die Ausweisung auf einem wiederholten, schweren kriminellen Fehlverhalten des Klägers. Der staatliche Schutz der Gesellschaft vor etwaigen weiteren Beeinträchtigungen habe ebenfalls Verfassungsrang und müsse in diesem Fall wegen der konkreten Wiederholungsgefahr Vorrang genießen. Der Kläger habe die zu einem Eingriff in Art. 6 GG führenden Gründe selbst geschaffen. Die Bindung zu seinen Familienangehörigen habe ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Die Bindung eines volljährigen erwachsenen Menschen zu seinen Verwandten sei ferner durch eine fortschreitende „Abnabelung" geprägt. Dem Kläger könne daher eine eigenverantwortliche Lebensführung zugemutet werden. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt. Angesichts der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten sei der Allgemeinheit das Risiko einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers unter dem Gesichtspunkt des vorrangigen Schutzes der Bevölkerung vor Gewaltdelikten nicht zuzumuten. Die Ausweisung sei zur Erreichung des beabsichtigten Zwecks erforderlich und angemessen. Ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen durch schwerwiegende Straftaten sei nicht ersichtlich. Die Rückkehr in seine Heimat sei dem Kläger auch zuzumuten. Zwar sei er in Deutschland geboren und aufgewachsen; trotzdem sei davon auszugehen, dass er als Sohn türkischer Staatsangehöriger die türkische Sprache mindestens in den Grundzügen beherrsche. Dafür sprächen auch sein mehrmonatiger Schulaufenthalt in der Türkei und seine kurzzeitigen Aufenthalte dort. Auch einer seiner Brüder, der bereits 2004 dorthin abgeschoben worden sei, lebe in seinem Heimatland. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie vom Regierungspräsidium nicht bereits bei Erlass befristet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbotes nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle insofern auf die Umstände des Einzelfalls ab. Angesichts des hier mit der Ausweisung verfolgten gewichtigen öffentlichen Interesses und der demgegenüber geringer wiegenden Belange des Klägers sei es nicht ermessensfehlerhaft, ihn zunächst unbefristet auszuweisen, die Frage der Befristung aber von seiner künftigen persönlichen Entwicklung abhängig zu machen und in einem gesonderten Verfahren zu prüfen. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen völker- und europarechtlichen Vorschriften. Einer Ausweisung des Klägers stehe nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen, denn der hier überwundene Ausweisungsschutz des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sei weitergehend als derjenige aus Art. 3 Abs. 3 ENA. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen das durch Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Zwar stelle die Ausweisung einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Dieser sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn die Ausweisung sei, wie dargelegt, in § 55 AufenthG gesetzlich vorgesehen, und sie stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Grundordnung unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig sei. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage habe ebenfalls keinen Erfolg.
18 
Am 01.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Er berief sich zunächst auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und darauf, dass nach den vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tsakouridis aufgestellten Grundsätzen im Falle der Ausweisung die Resozialisierung des Klägers gefährdet wäre. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Sache Ziebell macht der Kläger nunmehr geltend, die angegriffene Verfügung sei schon wegen der Verletzung des sog. Vier-Augen-Prinzips des Art. 9 RL 64/221/EWG aufzuheben, das mit Rücksicht auf die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.03.2011 - 6 K 2480/10 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 aufzuheben.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Berufung zurückzuweisen.
23 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen und stellt insbesondere ein subjektives Recht des Klägers auf Resozialisierung infrage. Ein derartiger Rechtsanspruch würde dazu führen, dass nahezu jede Ausweisung eines straffälligen Ausländers ausgeschlossen sei. Im Übrigen seien die Überlegungen des EuGH in der Rechtssache Tsakouridis ungeachtet der nicht möglichen Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie nicht übertragbar, weil türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 inne hätten, keine Freizügigkeit innerhalb der Union genössen. Das sog. Vier-Augen-Prinzip gelte entgegen der Auffassung des Klägers nicht mehr weiter. Denn zum einen wäre die Fortgeltung mit Art. 59 ZP unvereinbar. Ungeachtet dessen sei dieses auch nicht durch die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 aufrechterhalten, weil diese sich nur an die Mitgliedstaaten wende.
24 
Der Senat hat eine Stellungnahme der JVA Heilbronn über die Entwicklungen des Klägers im Vollzug eingeholt. Insoweit wird auf das Schreiben der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 verwiesen.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26 
Dem Senat lagen die Ausländerakten, die Akten des Regierungspräsidiums sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der 1988 in Stuttgart geborene ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs als einziges Kind im elterlichen Haushalt auf. Der Vater ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, die Mutter besitzt die kroatische Staatsangehörigkeit. Der Kläger besuchte zunächst die Grundschule und wechselte nach der 5. Klasse Hauptschule auf die Realschule. Dort wiederholte er die 6. Realschulklasse. Nachdem er das Klassenziel der 9. Realschulklasse nicht erreicht hatte, wechselte er für ein Berufsvorbereitungsjahr erneut die Schule und erreichte dort 2006 den Hauptschulabschluss. Der Kläger bemühte sich anschließend nicht um einen Ausbildungsplatz oder um eine Arbeitsstelle, sondern lebte von Zuwendungen der Eltern.
Der Kläger ist seit dem 14.03.2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.
Ein Verfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung und Beleidigung eines Mitschülers wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 22.02.2005 gemäß § 45 Abs. 2 JGG eingestellt.
Am 16.08.2007 schlug er einen Passanten auf den Rücken, als dieser ihn auf seine überhöhte Geschwindigkeit und undisziplinierte Fahrweise ansprach und sich von ihm entfernen wollte, nachdem der Kläger ihn zunächst bedroht und schließlich noch beleidigt hatte. Dieses Verfahren wurde ebenfalls eingestellt.
Am 28.08.2007 wurde der Kläger wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes vorläufig fest- und aufgrund eines am 29.08.2007 vom Amtsgericht Stuttgart erlassenen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen.
Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 05.03.2008 wurde der Kläger wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt. Das Landgericht ordnete gleichzeitig die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Kläger hatte am 21.08.2007 aus Eifersucht zusammen mit einem von ihm angestifteten Mittäter den 19-jährigen französischen Staatsangehörigen Ivan S. ermordet.
Der Chefarzt der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. gab am 23.01.2009 einen Führungsbericht über den Kläger ab. Darin heißt es u.a., dass eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der begangenen Straftat beim Kläger bislang nicht stattgefunden habe. Von einer Verantwortungsübernahme sei dieser noch weit entfernt.
Nach Anhörung wies das Regierungspräsidiums Stuttgart daraufhin den Kläger mit Verfügung vom 25.05.2009 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an, wobei er darauf hingewiesen wurde, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe und der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei (Ziffer 2). Gleichzeitig wurde er darüber informiert, dass seine Abschiebung - vorbehaltlich der Bestandskraft der Verfügung - im Zeitpunkt der Haftentlassung beabsichtigt sei. Die Abschiebung wurde dem Kläger für diesen Zeitpunkt angekündigt.
In der Begründung heißt es u.a.: Der Kläger besitze eine Rechtsposition und ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und genieße aufgrund dessen Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Danach gälten die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 nur vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt seien. Dabei seien die materiell- rechtlichen Grundsätze zu beachten, die für freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Anwendung fänden. Die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setze demnach insbesondere voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine strafrechtliche Verurteilung könne eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen sogenannten Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr besonders schwerwiegender Straftaten. Der Kläger sei vom Landgericht Stuttgart am 05.03.2008 wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Gleichzeitig sei die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Die vom Kläger begangene Straftat stelle als Kapitalverbrechen ein persönliches Verhalten im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dar. Dieses gebe Anlass, den Kläger aus dem Bundesgebiet auszuweisen. Daran ändere auch die vom Strafgericht aufgrund des psychiatrischen Gutachtens getroffene Feststellung einer krankhaft seelischen Störung und einer dadurch erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit und damit auch erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB nichts. Die vom Kläger - wenn auch im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit - begangene Gewalttat des Mordes stelle zweifelsfrei einen Verstoß, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Sie sei auch ein schwerwiegender Ausweisungsanlass. Die Ausweisung erfolge wegen der Schwere der abgeurteilten Straftat sowie der konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Verstöße gegen die geltende Rechtsordnung. Im Falle des Klägers bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr einer ähnlich gelagerten schweren Straftat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Kläger weiterhin krank und neige zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen und die Wahrscheinlichkeit spreche nach Auffassung des Sachverständigen dafür, dass beim Kläger - etwa im Rahmen einer Zuspitzung der Situation - weiter mit erheblichen Gewalttaten zu rechnen sei. Die Neigung zu Aggressionshandlungen und Gewalttätigkeiten habe der Kläger in der Vergangenheit wiederholt gezeigt. Wegen der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat und der bestehenden hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe einer Ausweisung Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Für freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wie auch für türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 besitzen, sei eine Ausweisung ungeachtet des tatsächlich verwirklichten Ausweisungstatbestandes nur im Ermessenswege auf der Grundlage des § 55 AufenthG zulässig. Das Regierungspräsidium Stuttgart gehe davon aus, dass für den Kläger auch die nationalen Schutzvorschriften des § 56 AufenthG Anwendung fänden. Danach könne der Kläger, der eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mehr als 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Ein solcher Fall liege beim Kläger vor. Da, wie dargelegt, eine hohe und konkrete Wiederholungsgefahr bestehe, sei die Rechtshürde des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG überwunden. Ein nationales Ausweisungsverbot liege damit nicht vor und über die Ausweisung sei im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 nach Ermessen zu entscheiden. Mit dem von ihm begangenen Kapitalverbrechen erfülle der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Danach könne eine Ausweisung erfolgen, wenn der betreffende Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen habe. Nach einer umfänglichen Würdigung der schutzwürdigen persönlichen wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers kam das Regierungspräsidium zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung keine unverhältnismäßige Folge der schweren Gewalttat des Klägers darstelle, auch wenn diese im Zustand der verminderten Steuerungs- und Schuldfähigkeit begangen worden sei. Die Ausweisung als Maßnahme der polizeilichen Gefahrenabwehr wurde unter Berücksichtigung der sehr hohen Wiederholungsgefahr nicht als unverhältnismäßig angesehen und sei auch mit Art. 8 EMRK vereinbar. Einer Ausweisung stehe auch nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen. Der Kläger habe, wie oben dargelegt, gegen die öffentliche Ordnung verstoßen und damit könne der völkerrechtliche Ausweisungsschutz aus Art. 3 Nr. 3 des ENA ihn nicht vor einer Ausweisung schützen. Zudem sei der Schutz aus Art. 3 Nr. 3 ENA nicht höher als die Rechtsschranke aus Art. 14 ARB 1/80, die im Falle des Klägers ebenfalls überwunden sei. Die Abschiebungsandrohung habe ihre Rechtsgrundlage in § 59 AufenthG. Da sich der Kläger in Haft bzw. im Maßregelvollzug befinde, bedürfe es in seinem Fall nach § 59 Abs. 5 AufenthG keiner Fristsetzung. Vielmehr werde ein Ausländer in diesen Fällen aus der Haft bzw. Unterbringung abgeschoben. Es sei davon auszugehen, dass bis dahin über eine ggf. erhobene Klage rechtskräftig entschieden und die Ausweisung damit unanfechtbar und die Ausreisepflicht vollziehbar sein werde.
10 
Der Kläger erhob am 02.06.2009 Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart.
11 
Zur Begründung trug er unter anderem vor: Der Kläger erfülle als türkischer Staatsangehöriger die Voraussetzungen gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Die Ausweisung sei rechtswidrig. Zunächst sei Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/98/EG im Rahmen des Art. 14 ARB 1/80 anzuwenden. Die Vorschrift führe nicht nur dazu, dass § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU anzuwenden sei, vielmehr werde dadurch auch der Begriff der öffentlichen Sicherheit eingeengt. Schutzgut des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG seien die Sicherheit des Staates und seiner Institutionen und das Überleben der Bevölkerung. Dieses sei vom Kläger niemals gefährdet worden. Weiter verstoße seine Ausweisung gegen Art. 8 EMRK. Der erzieherische Gedanke in dieser Bestimmung werde vom Beklagten vorliegend verleugnet. Zudem beherrsche der Kläger auch nicht die türkische Sprache. Der Vater habe sich mit der Mutter, einer kroatischen Staatsangehörigen, darauf verständigt, nur in deutscher Sprache miteinander zu kommunizieren. Der Kläger sei danach faktischer Inländer. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass keiner der Mittäter bei der schrecklichen Tat türkisch gesprochen habe. Weiter bestehe die Gefahr, dass der Kläger bei einer Abschiebung in die Türkei den bereits in der Haft unternommenen Suizidversuch vollenden werde.
12 
Der Beklagte trat der Klage entgegen und nahm im Wesentlichen Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid. Ergänzend trug er vor, dass dem Vorbringen des Klägers, die türkische Sprache nicht einmal in den Grundzügen zu beherrschen, entgegengehalten werden müsse, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung auch hier im Bundesgebiet geborene türkische Staatsangehörige die türkische Sprache zumindest in rudimentären Teilen vermittelt bekämen und auch sprächen.
13 
Mit Urteil vom 21.10.2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei (ARB 1/80) zugutekomme. Er besitze als in Deutschland geborener Familienangehöriger eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80. Beide Elternteile des Klägers verfügten über ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet. Obwohl der Kläger selbst über keine Berufsausbildung verfüge und auch zu keiner Zeit berufstätig gewesen sei, habe er die von seinem Vater abgeleiteten Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren. Aufgrund dieser Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genieße der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und könne - ungeachtet der Erfüllung eines sogenannten Ist- oder Regelausweisungstatbestands nach nationalem Recht - nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend sei. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters sei im Falle des Klägers Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG nicht zu berücksichtigen. Beim Kläger komme eine Ausweisung lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut bestehe. Diese Voraussetzungen seien vom Regierungspräsidium zutreffend bejaht worden. Die Gefahr, dass der Kläger ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten wieder begehen werde, sei nach Berücksichtigung aller Umstände nicht ausgeschlossen. Dabei seien geringere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung zu stellen, wenn die Verurteilung - wie hier - wegen schwerwiegender Delikte erfolgt sei. Es sei allgemein anerkannt, dass je schwerer die zu besorgende Beeinträchtigung wiege, desto geringer die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit neuer Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seien. Der Kläger habe einen Mord, also ein Verbrechen schwerster Kriminalität begangen. Bei einer solchen Verfehlung sei eine auch entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten ausreichend, um eine negative Prognose zu stellen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei für den konkreten Fall zu prüfen, ob eine Wiederholungsgefahr bestehe. Grundlage dafür sei eine umfassende Beurteilung der Person des Ausländers, seines Verhaltens, seiner Lebensverhältnisse, Art und Schwere der Tat, Umstände der Begehung, Art und Höhe der Strafe, sowie die weitere Entwicklung nach der Straftat. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter schwerwiegender Straftaten festgestellt. Dabei habe es sich auf Sachverständigenausführungen gestützt, nach denen der Kläger weiterhin krank sei und zudem zu Aggressionen und Autoaggressionen neige. Bereits im Jahre 2005 habe er Mitschülern Faustschläge ins Gesicht verpasst und 2007 einen Passanten, der ihn wegen seiner undisziplinierten Fahrweise mit dem Pkw angesprochen gehabt habe, bedrängt und in den Rücken geschlagen. Der Kläger habe ferner auch seine Mutter geschlagen und sei seiner früheren Freundin gegenüber wiederholt gewalttätig geworden. In Verbindung mit der beim Kläger diagnostizierten krankhaften seelischen Störung könne dies durchaus zu weiteren Gewalttätigkeiten führen bzw. solche auslösen. Nach der fachärztlichen Stellungnahme des Dr. S., Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, habe sich der Kläger bislang mit der von ihm begangenen Straftat nicht auseinandergesetzt und diese nicht aufgearbeitet. Von einer Verantwortungsübernahme sei er noch weit entfernt. Der Beklagte habe sein Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.
14 
Am 12.11.2009 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und sogleich unter Stellung eines Antrags zunächst dahingehend begründet, dass die Ausweisungsverfügung gegen Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG verstoße. Der Kläger beherrsche die türkische Sprache nicht und sei angesichts des bei ihm festgestellten niedrigen Intelligenzquotienten auch nicht in der Lage, diese zu erlernen. Der Kläger habe ohne die Zustimmung der Eltern vom Kinderarzt Ritalin verschrieben bekommen, das insbesondere in Kombination mit Drogen visuelle Halluzinationen, psychotisches Verhalten sowie Aggressionen auslösen könne, weshalb die Hoffnung und Erwartung bestehe, dass der Kläger resozialisierbar sei. Nach Ergehen der Vorabentscheidung in der Sache Ziebell durch den EuGH am 08.12.2011 macht der Kläger nunmehr geltend, dass die angegriffene Verfügung gegen das in Art. 9 RL 64/221/EWG und das dort niedergelegte „Vier-Augen-Prinzip“ verstoße, das mit Rücksicht auf die sog. „Stand-Still-Klausel“ des Art.13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
15 
Der Kläger beantragt,
16 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.10.2009 - 8 K 2123/09 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2009 aufzuheben.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
die Berufung zurückzuweisen.
19 
Zur Begründung verweist er darauf, dass es jedenfalls dem Kläger zumutbar und möglich sei, in der noch länger andauernden Haft die türkische Sprache in den Grundzügen zu lernen. Wenn insoweit auf den niedrigen Intelligenzquotienten verwiesen werde, müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger immerhin mehrere Jahre die Realschule besucht habe.
20 
Durch Beschluss des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 wurde angeordnet, dass die Strafvollstreckung entgegen dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vor der Unterbringung zu erfolgen hat. Die Beschwerde des Klägers hiergegen wies das Landgericht Heidelberg nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens Dr. P. vom 12.07.2010 durch Beschluss vom 11.11.2010 zurück.
21 
Durch Beschluss vom 30.12.2009 war im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren Ziebell das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
22 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
23 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart, die Strafakten des Landgerichts Stuttgart und die Strafvollstreckungsakten vor.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
25 
Auch nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage ist die Ausweisungsentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
I.
26 
Da der Kläger abgeleitet von seinem ursprünglich als Arbeitnehmer beschäftigen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
27 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
28 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-317/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
29 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
30 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
31 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010 Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
35 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
36 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94 Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ), wobei insoweit eine sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
37 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
38 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
39 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
40 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
41 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risikos gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts der vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
42 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
43 
Ausgehend hiervon stellt die Ausweisung eine nach Art. 14 ARB 1/80 zulässige und namentlich verhältnismäßige Maßnahme dar. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Dr. P. vom 12.07.2010 und den nachfolgenden Beschlüssen des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 sowie des Landgerichts Heidelberg vom 11.11.2010 eindrücklich ablesen lässt, hat bislang eine grundlegende Auseinandersetzung des Klägers mit der von ihm begangenen Tat wie auch insgesamt mit seiner gesamten bisherigen Lebenssituation nicht stattgefunden, was jedoch unerlässlich ist, um zu einer wenigstens im Ansatz günstigeren Sozialprognose zu gelangen. Nach der ausführlich begründeten Feststellung des Gutachters liegt beim Kläger eine therapiebedürftige ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor. Eine Therapie ist bislang nicht durchgeführt worden, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich der Kläger hierfür nicht in dem erforderlichen Maße geöffnet hat, was auch in seiner jüngsten, auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung, sich sobald als möglich in die Türkei abschieben zu lassen, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses zugrunde gelegt, geht vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus, was eine Beendigung des Aufenthalts rechtfertigt.
44 
Die Ausweisung stellt in Anbetracht des erheblichen, vom Kläger unverändert ausgehenden Gefahrenpotentials auch vor dem Hintergrund, dass er im Bundesgebiet geboren wurde und niemals in der Türkei gelebt hat, eine verhältnismäßige und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbare Maßnahme dar. Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass er gegenwärtig die türkische Sprache nicht beherrscht, sondern alltagstaugliche Sprachkenntnisse erst erwerben muss. Entgegen der Auffassung seines Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch keine unlösbaren Schwierigkeiten für den Kläger, diese Sprachkenntnisse zu erwerben. Seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge hat er immerhin zusammen mit einem in der JVA ... einsitzenden türkischen Staatsangehörigen mittlerweile begonnen, die türkische Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass er den Hauptschulabschluss erreicht und zuvor auch mehrere Jahre mit teilweise sogar durchschnittlichen Leistungen die Realschule besucht hat, steht der Annahme einer unzureichenden geistigen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegen.
45 
Eine unverhältnismäßige Maßnahme liegt hier schon deshalb nicht vor, weil der Kläger es selbst gegenwärtig ausdrücklich wünscht, in die Türkei zurückgeführt zu werden, um dort, wie er in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, möglichst schnell und nicht erst nach Ablauf der Haftzeit im August 2017 einen Neuanfang zu versuchen. Bei einer solchen Ausgangslage wäre die Annahme, dass eine Aufenthaltsbeendigung unzumutbar und daher unverhältnismäßig sein könnte, bereits im Ansatz verfehlt. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten, der sich einer Klagerücknahme verweigert hat, weshalb wegen der fehlenden Postulationsfähigkeit des Klägers das Verfahren weitergeführt werden musste, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht mehr verfahrenshandlungsfähig und damit prozessunfähig sein könnte, weshalb der Prozess auch nicht nach § 241 ZPO i.V.m. § 173 VwGO unterbrochen ist, ganz abgesehen davon, dass nach § 246 ZPO bei anwaltlicher Vertretung eine Unterbrechung nicht allein kraft Gesetzes eintritt. Selbst wenn es richtig sein sollte, dass es bei einer gleichzeitigen Einnahme von Ritalin und dem Konsum von Drogen, namentlich von Cannabis bei den Konsumenten zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vergleichbaren Bewusstseinsstörungen kommen kann, bestehen - auch nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - keine Anhaltspunkte dafür, dass solches beim Kläger gegenwärtig der Fall sein könnte. Die diesbezügliche Einschätzung des Prozessbevollmächtigten beruht auf Spekulation. Zwar ist es richtig, dass der Kläger nunmehr wieder mit Ritalin behandelt wird. Nach dem Bericht des Sozialinspektors O. wurde auch bei einer allerdings einzigen, am 09.02.2012 durchgeführten Urinkontrolle der Konsum von Cannabis nachgewiesen. Sämtliche Urinkontrollen danach blieben jedoch wiederum negativ. Der Kläger hat auch gegenüber dem Senat betont, dass ein weiterer Cannabiskonsum nicht stattgefunden und es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – auch mit Rücksicht auf die verstrichene Zeit – keinerlei Grundlage für die vom Prozessbevollmächtigen angestellten Vermutungen. Ob die Entscheidung des Klägers in jeder Hinsicht vernünftig ist, ist eine andere Frage. Unvernünftige Entscheidungen begründen jedoch keine Verfahrenshandlungsunfähigkeit.
46 
Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die gleichfalls in diesem Zusammenhang im Berufungsverfahren geäußerte Vermutung des Prozessbevollmächtigen, der Kläger könne wegen des Konsums von Drogen und der Einnahme von Ritalin entgegen der Einschätzung des Landgerichts Stuttgart im Urteil vom 05.03.2008 schuldunfähig gewesen sein, keinerlei tatsächliche Grundlage hat. Denn nach den ausdrücklichen Einlassungen des Klägers gegenüber Dr. P. (vgl. dessen Gutachten S. 24 f.) hatte er seit Abschluss des Berufsvorbereitungsjahrs im Sommer 2006 bis zur Tat kein Ritalin mehr eingenommen, sondern nur noch gekifft.
47 
Aber ungeachtet dessen folgt angesichts der erheblichen vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahren für Leib oder Leben anderer Mitmenschen auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Tatsache der Geburt im Bundesgebiet und der fehlenden Sprachkenntnisse keine Unverhältnismäßigkeit (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - [Trabelsi]). Nach dieser Rechtsprechung ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits. Die Umstände, dass der Kläger in Deutschland geboren, niemals in der Türkei gelebt hat und die türkische Sprache nicht beherrscht, sind zwar von erheblicher Bedeutung, ein absolutes Ausweisungshindernis begründen sie jedoch nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger jedenfalls beruflich bislang in keiner Weise integriert war und vor seiner Inhaftierung wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stand, führen sie auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung, wenn man davon ausgehen kann, dass er in der Lage sein wird, alltagstaugliche Sprachkenntnisse zu erwerben.
48 
2. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 - RFRL) nicht deshalb als rechtswidrig, insbesondere als unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen nicht befristet wurden.
49 
Allerdings steht einer Prüfung der Ausweisung am Maßstab der Richtlinie nicht entgegen, dass diese zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der hier im Streit befindlichen Ausweisung vom 25.05.2009 noch nicht umzusetzen war (vgl. Art. 20 Abs. 1 RFRL). Denn maßgeblich ist insoweit grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45-06 - BVerwGE 130, 20), soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderen ergibt. Eine gegenteilige Annahme wird auch nicht durch die vom EuGH in der Rechtssache Polat (Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06) entwickelten Grundsätze nahegelegt.
50 
Mit Blick auf den Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie zeichnen sich Übergangsfälle der vorliegenden Art dadurch aus, dass der zu beurteilende Sachverhalt zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist gewissermaßen eröffnet wurde, als am 25.05.2009 die Ausweisung verbunden mit einer Abschiebungsandrohung erlassen wurde. Dieser Sachverhalt ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Denn das einen zentralen Bestandteil der Rückführungsrichtlinie bildende Verfahren der Aufenthaltsbeendigung im eigentlichen Sinn, nämlich - die auf welche Art auch immer - durchzuführende Aufenthaltsbeendigung, hat noch gar nicht stattgefunden. Im Regelfall geht das Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL erst mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung „einher“ (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA lit. a) RFRL; vgl. zu Besonderheiten des vorliegenden Falles noch im Folgenden).
51 
In einer derartigen regelhaften Fallkonstellation eines noch nicht abgeschlossenen Sachverhalts hat der Europäische Gerichtshof im Sinne einer möglichst baldigen und effektiven Anwendung der Grundprinzipien der Richtlinie ohne weiteres deren Anwendbarkeit bejaht. So hat er im Urteil vom 30.11.2009 (C-357/09 PPU Rdn. 37 ff.) in der Rechtssache Kadzoev angenommen, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL vorgegebenen maximalen Haftzeiten auch für solche Inhaftierungen gelten, die vor der Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist begonnen hatten. Im Urteil vom 28.04.2011 (C-61/11 PPU) in der Rechtssache El Dridi, der nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs eine Rückführungsentscheidung vom 08.05.2004 zugrunde lag, ging er wiederum für alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte ebenfalls von der Anwendbarkeit der Richtlinie aus. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in beiden Entscheidungen jeweils den Umstand besonders hervorgehoben, dass es dort um Freiheitsentziehungen ging, die die einschneidensten Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie darstellen. Es handelt sich aber hierbei nicht um strukturelle Besonderheiten, die im Übrigen keine Geltung beanspruchen können.
52 
Wäre hiernach die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, so ist allerdings der vorliegende Fall durch die Besonderheiten gekennzeichnet, dass nach Auffassung des Senats eine Ausweisungsverfügung gar keine Rückkehrentscheidung ist und über eine Befristung erst (aber dann spätestens) von Amts wegen im Kontext der eigentlichen Aufenthaltsbeendigung zu befinden ist. Wollte man dies anders sehen, so hätte die Bundesrepublik nach Auffassung des Senats von der eingeräumten Opt-Out-Möglichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b RFRL) in zulässiger Weise Gebrauch gemacht (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris und 07.12.2011 - 11 S 897/11 - juris).
53 
Nur wenn man die hier nicht geteilte Auffassung verträte, dass bereits in der Rückkehrentscheidung selbst eine Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots zu treffen wäre, würde sich in aller Deutlichkeit die dann entscheidungserhebliche Frage stellen, ob hier gewissermaßen nachträglich nach den Grundsätzen der Rechtssache Polat, diese Rechtslage auch heute noch als Maßstab für die gerichtliche Beurteilung heranzuziehen wäre. Nach Auffassung des Senats wäre dieses jedoch nach dem grundsätzlichen Ausgangspunkt des Europäischen Gerichthofs in den Rechtssachen Kadzoev und El Dridi zu bejahen, da die Wirkung des Einreiseverbots aus der Natur der Sache erst Wirkung entfalten kann, wenn die Aufenthaltsbeendigung abgeschlossen wurde. Auch hier legt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auf eine effektive, möglichst frühzeitige Geltung der maßgeblichen Grundsätze der Rückführungsrichtlinie ausgerichtet ist, wozu gerade auch die Einräumung einer Rückkehrperspektive für die Betroffenen gehört, eine Berücksichtigung auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nahe. Diese Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs liegt nach Überzeugung des Senats nicht zuletzt auch darin begründet, dass – anders als in der Rechtssache Polat, in der bereits gemeinschaftsrechtliche Regelungen vorhanden waren, die nur durch die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) abgelöst worden waren – hier der Komplex der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bislang gemeinschaftsrechtlich überhaupt nicht geregelt war.
54 
3. Die Ausweisung erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil der angegriffene Bescheid nicht in einem weiteren Verwaltungsverfahren überprüft worden war. Denn nach der Rechtsprechung des Senats ist das sog. „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht mehr anzuwenden (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris)
II.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
56 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
57 
Beschluss vom 10. Februar 2012
58 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
24 
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
25 
Auch nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage ist die Ausweisungsentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
I.
26 
Da der Kläger abgeleitet von seinem ursprünglich als Arbeitnehmer beschäftigen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
27 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
28 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie, zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-317/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
29 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
30 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
31 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010 Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
35 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
36 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94 Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ), wobei insoweit eine sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
37 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
38 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
39 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
40 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
41 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risikos gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts der vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
42 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
43 
Ausgehend hiervon stellt die Ausweisung eine nach Art. 14 ARB 1/80 zulässige und namentlich verhältnismäßige Maßnahme dar. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Dr. P. vom 12.07.2010 und den nachfolgenden Beschlüssen des Amtsgerichts Wiesloch vom 16.10.2009 sowie des Landgerichts Heidelberg vom 11.11.2010 eindrücklich ablesen lässt, hat bislang eine grundlegende Auseinandersetzung des Klägers mit der von ihm begangenen Tat wie auch insgesamt mit seiner gesamten bisherigen Lebenssituation nicht stattgefunden, was jedoch unerlässlich ist, um zu einer wenigstens im Ansatz günstigeren Sozialprognose zu gelangen. Nach der ausführlich begründeten Feststellung des Gutachters liegt beim Kläger eine therapiebedürftige ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor. Eine Therapie ist bislang nicht durchgeführt worden, und zwar in erster Linie deshalb, weil sich der Kläger hierfür nicht in dem erforderlichen Maße geöffnet hat, was auch in seiner jüngsten, auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung, sich sobald als möglich in die Türkei abschieben zu lassen, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses zugrunde gelegt, geht vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus, was eine Beendigung des Aufenthalts rechtfertigt.
44 
Die Ausweisung stellt in Anbetracht des erheblichen, vom Kläger unverändert ausgehenden Gefahrenpotentials auch vor dem Hintergrund, dass er im Bundesgebiet geboren wurde und niemals in der Türkei gelebt hat, eine verhältnismäßige und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbare Maßnahme dar. Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass er gegenwärtig die türkische Sprache nicht beherrscht, sondern alltagstaugliche Sprachkenntnisse erst erwerben muss. Entgegen der Auffassung seines Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch keine unlösbaren Schwierigkeiten für den Kläger, diese Sprachkenntnisse zu erwerben. Seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge hat er immerhin zusammen mit einem in der JVA ... einsitzenden türkischen Staatsangehörigen mittlerweile begonnen, die türkische Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass er den Hauptschulabschluss erreicht und zuvor auch mehrere Jahre mit teilweise sogar durchschnittlichen Leistungen die Realschule besucht hat, steht der Annahme einer unzureichenden geistigen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegen.
45 
Eine unverhältnismäßige Maßnahme liegt hier schon deshalb nicht vor, weil der Kläger es selbst gegenwärtig ausdrücklich wünscht, in die Türkei zurückgeführt zu werden, um dort, wie er in der mündlichen Verhandlung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, möglichst schnell und nicht erst nach Ablauf der Haftzeit im August 2017 einen Neuanfang zu versuchen. Bei einer solchen Ausgangslage wäre die Annahme, dass eine Aufenthaltsbeendigung unzumutbar und daher unverhältnismäßig sein könnte, bereits im Ansatz verfehlt. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten, der sich einer Klagerücknahme verweigert hat, weshalb wegen der fehlenden Postulationsfähigkeit des Klägers das Verfahren weitergeführt werden musste, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht mehr verfahrenshandlungsfähig und damit prozessunfähig sein könnte, weshalb der Prozess auch nicht nach § 241 ZPO i.V.m. § 173 VwGO unterbrochen ist, ganz abgesehen davon, dass nach § 246 ZPO bei anwaltlicher Vertretung eine Unterbrechung nicht allein kraft Gesetzes eintritt. Selbst wenn es richtig sein sollte, dass es bei einer gleichzeitigen Einnahme von Ritalin und dem Konsum von Drogen, namentlich von Cannabis bei den Konsumenten zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vergleichbaren Bewusstseinsstörungen kommen kann, bestehen - auch nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - keine Anhaltspunkte dafür, dass solches beim Kläger gegenwärtig der Fall sein könnte. Die diesbezügliche Einschätzung des Prozessbevollmächtigten beruht auf Spekulation. Zwar ist es richtig, dass der Kläger nunmehr wieder mit Ritalin behandelt wird. Nach dem Bericht des Sozialinspektors O. wurde auch bei einer allerdings einzigen, am 09.02.2012 durchgeführten Urinkontrolle der Konsum von Cannabis nachgewiesen. Sämtliche Urinkontrollen danach blieben jedoch wiederum negativ. Der Kläger hat auch gegenüber dem Senat betont, dass ein weiterer Cannabiskonsum nicht stattgefunden und es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – auch mit Rücksicht auf die verstrichene Zeit – keinerlei Grundlage für die vom Prozessbevollmächtigen angestellten Vermutungen. Ob die Entscheidung des Klägers in jeder Hinsicht vernünftig ist, ist eine andere Frage. Unvernünftige Entscheidungen begründen jedoch keine Verfahrenshandlungsunfähigkeit.
46 
Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die gleichfalls in diesem Zusammenhang im Berufungsverfahren geäußerte Vermutung des Prozessbevollmächtigen, der Kläger könne wegen des Konsums von Drogen und der Einnahme von Ritalin entgegen der Einschätzung des Landgerichts Stuttgart im Urteil vom 05.03.2008 schuldunfähig gewesen sein, keinerlei tatsächliche Grundlage hat. Denn nach den ausdrücklichen Einlassungen des Klägers gegenüber Dr. P. (vgl. dessen Gutachten S. 24 f.) hatte er seit Abschluss des Berufsvorbereitungsjahrs im Sommer 2006 bis zur Tat kein Ritalin mehr eingenommen, sondern nur noch gekifft.
47 
Aber ungeachtet dessen folgt angesichts der erheblichen vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahren für Leib oder Leben anderer Mitmenschen auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Tatsache der Geburt im Bundesgebiet und der fehlenden Sprachkenntnisse keine Unverhältnismäßigkeit (vgl. etwa Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 - [Boultif] InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 - [Üner] NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04 - [Maslov II] InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 - [Mutlag] InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - [Trabelsi]). Nach dieser Rechtsprechung ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer der Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits. Die Umstände, dass der Kläger in Deutschland geboren, niemals in der Türkei gelebt hat und die türkische Sprache nicht beherrscht, sind zwar von erheblicher Bedeutung, ein absolutes Ausweisungshindernis begründen sie jedoch nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger jedenfalls beruflich bislang in keiner Weise integriert war und vor seiner Inhaftierung wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stand, führen sie auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung, wenn man davon ausgehen kann, dass er in der Lage sein wird, alltagstaugliche Sprachkenntnisse zu erwerben.
48 
2. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 - RFRL) nicht deshalb als rechtswidrig, insbesondere als unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen nicht befristet wurden.
49 
Allerdings steht einer Prüfung der Ausweisung am Maßstab der Richtlinie nicht entgegen, dass diese zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der hier im Streit befindlichen Ausweisung vom 25.05.2009 noch nicht umzusetzen war (vgl. Art. 20 Abs. 1 RFRL). Denn maßgeblich ist insoweit grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45-06 - BVerwGE 130, 20), soweit sich aus dem materiellen Recht nichts anderen ergibt. Eine gegenteilige Annahme wird auch nicht durch die vom EuGH in der Rechtssache Polat (Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06) entwickelten Grundsätze nahegelegt.
50 
Mit Blick auf den Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie zeichnen sich Übergangsfälle der vorliegenden Art dadurch aus, dass der zu beurteilende Sachverhalt zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist gewissermaßen eröffnet wurde, als am 25.05.2009 die Ausweisung verbunden mit einer Abschiebungsandrohung erlassen wurde. Dieser Sachverhalt ist aber bis zum heutigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Denn das einen zentralen Bestandteil der Rückführungsrichtlinie bildende Verfahren der Aufenthaltsbeendigung im eigentlichen Sinn, nämlich - die auf welche Art auch immer - durchzuführende Aufenthaltsbeendigung, hat noch gar nicht stattgefunden. Im Regelfall geht das Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL erst mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung „einher“ (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA lit. a) RFRL; vgl. zu Besonderheiten des vorliegenden Falles noch im Folgenden).
51 
In einer derartigen regelhaften Fallkonstellation eines noch nicht abgeschlossenen Sachverhalts hat der Europäische Gerichtshof im Sinne einer möglichst baldigen und effektiven Anwendung der Grundprinzipien der Richtlinie ohne weiteres deren Anwendbarkeit bejaht. So hat er im Urteil vom 30.11.2009 (C-357/09 PPU Rdn. 37 ff.) in der Rechtssache Kadzoev angenommen, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL vorgegebenen maximalen Haftzeiten auch für solche Inhaftierungen gelten, die vor der Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist begonnen hatten. Im Urteil vom 28.04.2011 (C-61/11 PPU) in der Rechtssache El Dridi, der nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs eine Rückführungsentscheidung vom 08.05.2004 zugrunde lag, ging er wiederum für alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte ebenfalls von der Anwendbarkeit der Richtlinie aus. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in beiden Entscheidungen jeweils den Umstand besonders hervorgehoben, dass es dort um Freiheitsentziehungen ging, die die einschneidensten Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie darstellen. Es handelt sich aber hierbei nicht um strukturelle Besonderheiten, die im Übrigen keine Geltung beanspruchen können.
52 
Wäre hiernach die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, so ist allerdings der vorliegende Fall durch die Besonderheiten gekennzeichnet, dass nach Auffassung des Senats eine Ausweisungsverfügung gar keine Rückkehrentscheidung ist und über eine Befristung erst (aber dann spätestens) von Amts wegen im Kontext der eigentlichen Aufenthaltsbeendigung zu befinden ist. Wollte man dies anders sehen, so hätte die Bundesrepublik nach Auffassung des Senats von der eingeräumten Opt-Out-Möglichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b RFRL) in zulässiger Weise Gebrauch gemacht (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris und 07.12.2011 - 11 S 897/11 - juris).
53 
Nur wenn man die hier nicht geteilte Auffassung verträte, dass bereits in der Rückkehrentscheidung selbst eine Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots zu treffen wäre, würde sich in aller Deutlichkeit die dann entscheidungserhebliche Frage stellen, ob hier gewissermaßen nachträglich nach den Grundsätzen der Rechtssache Polat, diese Rechtslage auch heute noch als Maßstab für die gerichtliche Beurteilung heranzuziehen wäre. Nach Auffassung des Senats wäre dieses jedoch nach dem grundsätzlichen Ausgangspunkt des Europäischen Gerichthofs in den Rechtssachen Kadzoev und El Dridi zu bejahen, da die Wirkung des Einreiseverbots aus der Natur der Sache erst Wirkung entfalten kann, wenn die Aufenthaltsbeendigung abgeschlossen wurde. Auch hier legt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auf eine effektive, möglichst frühzeitige Geltung der maßgeblichen Grundsätze der Rückführungsrichtlinie ausgerichtet ist, wozu gerade auch die Einräumung einer Rückkehrperspektive für die Betroffenen gehört, eine Berücksichtigung auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nahe. Diese Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs liegt nach Überzeugung des Senats nicht zuletzt auch darin begründet, dass – anders als in der Rechtssache Polat, in der bereits gemeinschaftsrechtliche Regelungen vorhanden waren, die nur durch die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) abgelöst worden waren – hier der Komplex der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bislang gemeinschaftsrechtlich überhaupt nicht geregelt war.
54 
3. Die Ausweisung erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil der angegriffene Bescheid nicht in einem weiteren Verwaltungsverfahren überprüft worden war. Denn nach der Rechtsprechung des Senats ist das sog. „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht mehr anzuwenden (vgl. zu alledem ausführlich Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris)
II.
55 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
56 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
57 
Beschluss vom 10. Februar 2012
58 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29. April 2009 - 4 K 1175/08 - aufgehoben.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27. März 2008 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich u.a. gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet.
Der am ...1984 in Albstadt geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs weitgehend bei seiner mittlerweile 55 Jahre alten Mutter und seinen 4 älteren Geschwistern (2 Brüder und 2 Schwestern) in Winterlingen auf. Im ersten Grundschuljahr ging er mit seinem Vater, der wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung die Bundesrepublik Deutschland verlassen musste, vorübergehend für etwa sechs Monate in die Türkei. Im zweiten Grundschuljahr hielt er sich für acht Monate mit seiner Mutter in der Türkei auf. Ein Bruder des Klägers wurde vor längerer Zeit ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben. Sein Vater, zu dem er seit seiner Rückkehr aus der Türkei keinen Kontakt mehr hat, lebt nach wie vor in der Türkei. Die Eltern leben seit dieser Zeit getrennt, die Ehe ist seit 1994 geschieden. Die Mutter war über viele Jahre mit Unterbrechungen als Näherin erwerbstätig. Sie bezieht nunmehr Rente und erhält ergänzend Sozialleistungen. Der Kläger besuchte von 1989 bis 1999 die Grund- und Förderschule. Einen Schulabschluss erlangte er dort nicht. Danach absolvierte er zunächst ein einjähriges Praktikumsjahr und begann anschließend im August 2000 eine Ausbildung als Metallfeinbearbeiter, die er aber schon nach 3 Monaten abbrach. In der Folgezeit ging er jeweils für kurze Zeit mehreren Gelegenheitsjobs nach und war immer wieder, wie auch zuletzt arbeitslos.
Im Januar 2003 lernte der Kläger während eines Türkeiurlaubs eine 1987 geborene türkische Staatsangehörige kennen, die er am 12.02.2003 in der Türkei heiratete. Seine Ehefrau lebt nach wie vor in der Türkei. Ein Antrag auf Ehegattennachzug wurde im April 2005 von der zuständigen Ausländerbehörde abgelehnt. Am 26.05.2006 wurde ein gemeinsames Kind in der Türkei geboren; dieses lebt bei der Mutter. Im Bundesgebiet war der Kläger zuletzt vor seiner Festnahme mit einer Freundin zusammen. Seit dem 20.03.2000 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fort gilt.
Der Kläger ist strafrechtlich bislang wie folgt in Erscheinung getreten:
1. Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 15.11.2001, rechtskräftig seit 23.11.2001, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis; Ableistung von 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit; Tatzeit: April 2001.
2. Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 21.03.2002, rechtskräftig seit 26.03.2002, wegen Hehlerei; Ableistung von 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit; Tatzeit: Juli 2001.
3. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 26.03.2002, rechtskräftig seit 10.06.2002, wegen Diebstahls in 3 Fällen; Jugendstrafe von 7 Monaten, deren Vollstreckung für 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Einbezogen wurde das Urteil des Amtsgerichts Albstadt vom 21.03.2002; letzte Tat: Oktober 2001.
4. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 01.10.2002, rechtskräftig seit 03.03.2003, wegen Diebstahls in Tateinheit mit unbefugtem Gebrauch eines Fahrzeugs und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis; Jugendstrafe von 1 Jahr ohne Bewährung. Einbezogen wurde die Entscheidung vom 26.03.2002 des Amtsgerichts Hechingen; letzte Tat: 25.02.2002.
5. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 22.07.2003, rechtskräftig seit 30.07.2003, wegen Sachbeschädigung und unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis; Jugendstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten ohne Bewährung. Einbezogen wurden die Entscheidungen des Amtsgerichts Hechingen vom 01.10.2002 und vom 26.03.2002; letzte Tat: 07.12.2002 Die Strafe wurde vom 24.03.2003 bis zum 12.01.2004 verbüßt. Mit Beschluss des Amtsgerichts Adelsheim vom 17.12.2003 wurde der Rest der Jugendstrafe bis zum 28.12.2006 zur Bewährung ausgesetzt.
10 
6. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 27.07.2004, rechtskräftig seit 04.08.2004, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 2 Fällen; Jugendstrafe von 1 Jahr und 5 Monaten, deren Vollstreckung für 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Einbezogen wurden die Entscheidungen des Amtsgerichts Hechingen vom 22.07.2003, 01.10.2002 und 26.03.2002; letzte Tat: 13.05.2004. Die Strafaussetzung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20.02.2006, rechtskräftig seit 14.03.2006, widerrufen.
11 
7. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 12.07.2005, rechtskräftig seit diesem Tag, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 2 Fällen; Freiheitsstrafe von 3 Monaten, deren Vollstreckung für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde; letzte Tat: 31.12.2004.
12 
8. Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 10.01.2006, rechtskräftig seit 18.01.2006, wegen gefährlicher Körperverletzung; Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten ohne Bewährung. Einbezogen wurde die Entscheidung des Amtsgerichts Hechingen vom 12.07.2005; Tatzeitpunkt: 10.04.2005. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20.02.2006, rechtskräftig seit 14.03.2006, wurde die Strafaussetzung aus dem Urteil des Amtsgerichts Hechingen vom 27.07.2004 (Ziffer 6) widerrufen.
13 
9. Urteil des Landgerichts Hechingen vom 22.05.2006, rechtskräftig seit 11.10.2006, wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung; Freiheitsstrafe von 6 Jahren ohne Bewährung; Tatzeitpunkt: 21.12.2005.
14 
Nach der Verurteilung zu 4. und zu 6. wurde der Kläger jeweils im Juli 2003 und im August 2004 ausländerrechtlich verwarnt. Zwei bereits früher eingeleitete Ausweisungsverfahren wurden von der Behörde nicht weiter betrieben. Wegen der Straftaten unter 9. wurde er am 22.12.2005 festgenommen und befand sich bis Januar 2011 in Haft.
15 
Aufgrund der letzten Straftat wurde gegen den Kläger erneut ein Ausweisungsverfahren eingeleitet. Mit Schreiben vom 10.03.2006 wurde er zu einer beabsichtigten Ausweisung angehört. Mit Schreiben vom 23.04.2006 schilderte er zunächst seinen Werdegang und führte sodann aus, dass er mit seiner Eheschließung in der Türkei am 12.02.2003 einen Neuanfang in Deutschland gesucht habe. Nach der Ablehnung der Familienzusammenführung sei sein Leben jedoch weiter negativ verlaufen. Er habe seine Arbeitsstelle verloren und sei schließlich für 7 Wochen zu seiner Ehefrau in die Türkei gefahren. Anschließend habe er in Deutschland trotz der Unterstützung durch seine Schwestern keine Arbeit gefunden. Er bereue seine Taten und bitte, nicht aus Deutschland abgeschoben zu werden. Auch werde seine Frau im Mai 2006 ein Kind entbinden; gemeinsam würden sie auf eine neue Chance hoffen. Im Fall der Abschiebung müsse er zudem zum Militär, was er auf keinen Fall wolle.
16 
Mit Bescheid vom 27.05.2008 wies das Regierungspräsidium Tübingen - Bezirksstelle für Asyl - den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (1.) und drohte ihm die Abschiebung direkt aus der Strafhaft heraus oder gegebenenfalls nach Ablauf eines Monats nach der Haftentlassung in die Türkei an (2.). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Ausweisung erfolge im Hinblick auf die strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers gleichwohl als Ermessensausweisung. Dabei werde unterstellt, dass dem Kläger der Schutz von Art. 14 ARB 1/80 zugutekomme. Insgesamt komme die Ermessensausübung auch unter Berücksichtigung dieser und weiterer einschlägiger Vorschriften sowie den persönlichen Verhältnissen zu dem Ergebnis, dass die Ausweisung insbesondere unter Berücksichtigung der letzten Verurteilung geboten sei. Die mit der letzten Verurteilung durch das Landgericht Hechingen geahndeten Straftaten seien der schweren Kriminalität zuzuordnen und der Kläger habe auch mit einer erheblichen kriminellen Energie gehandelt. Aufgrund seiner Vorstrafen und - wie im Urteil des Landgerichts bei der Strafzumessung ausgeführt - unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem Kläger auch ein zweifacher Bewährungsbruch vorzuhalten sei, liege hier eine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Hierfür spreche weiter, dass sich der Kläger in der Vergangenheit auch von ausländerrechtlichen Verwarnungen, einer Haftverbüßung und den gegen ihn eingeleiteten, früheren Ausweisungsverfahren nicht von weiteren Straftaten habe abhalten lassen. An dieser Beurteilung ändere auch der Umstand nichts, dass der Kläger besonderen Ausweisungsschutz genieße, denn die insoweit erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung lägen hier, wie ausgeführt, vor. Auch seine persönlichen Umstände rechtfertigten nicht die Annahme eines atypischen Sachverhalts. Er sei zwar hier geboren, aber in einem türkischen Familienverbund aufgewachsen, spreche nach wie vor seine Muttersprache und sei nicht nachhaltig wirtschaftlich und beruflich in der Bundesrepublik integriert. Zwar habe er den Hauptschulabschluss zwischenzeitlich in der Haft nachgeholt, sei aber bisher ohne abgeschlossene Berufsausbildung und habe jeweils nur in kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen gestanden. Unter weiterer Berücksichtigung seiner Heirat mit seiner in der Türkei befindlichen Ehefrau, seinen mehrfachen Urlaubsreisen in die Türkei und seines Alters sei für ihn die Rückkehr in die Türkei nicht mit unzumutbaren Belastungen verbunden, zumal dort auch sein Vater und sein ausgewiesener Bruder lebten. Insgesamt verbleibe es daher auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Ermessensausweisung. Hieran ändere schließlich der Bericht der Justizvollzugsanstalt vom 29.02.2008 nichts. Dieser zeige zwar in Teilbereichen eine positive Entwicklung und ein normales, beanstandungsfreies Vollzugsverhalten, lasse aber keine Aussage über eine gelungene und abgeschlossene Nachreifung zu, die die Wiederholungsgefahr entfallen lasse. Letztlich verstoße die Ausweisung weder gegen Art. 6 GG noch gegen Art. 8 EMRK und auch nicht gegen Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG.
17 
Am 07.06.2008 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen und machte gelten: Er könne nach Art. 7 Satz 1 und 14 Abs. 1 ARB 1/80 i. V. m. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nur ausgewiesen werden, wenn er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit des Staates stelle er indes nicht dar, unabhängig von dem für ihn bislang günstigen Haftverlauf, der auch gegen eine ausreichende Wiederholungsgefahr spreche.
18 
Der Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid entgegen.
19 
Das Verwaltungsgericht holte einen Führungsbericht der JVA Ravensburg vom 12.11.2008 und eine Ergänzung vom 01.04.2009 ein.
20 
In der mündlichen Verhandlung änderte der Beklagte die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 27.05.2008 dahingehend ab, dass eine Abschiebung frühestens einen Monat nach Bestandskraft der Ausweisungsverfügung erfolge.
21 
Der Kläger wurde angehört und führte im Wesentlichen aus, seine Frau wohne bei seiner Mutter in der Türkei. Die Wohnung gehöre seiner Mutter. Seine Mutter pendele zwischen der Türkei und der Bundesrepublik. Die Wohnung befinde sich in ... bei Ankara; seine Mutter stamme aus diesem Ort. Zu seinem Vater habe er seit seinem 5. oder 6. Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Sein Bruder wohne auch in diesem Ort. Diesem schreibe er in türkischer Sprache; er (der Kläger) sei zweisprachig. Hier im Bundesgebiet habe er eine eigene, selbst gemietete Wohnung gehabt, aber auch noch bei seiner Mutter gewohnt. Seine hier befindliche Freundin habe auch eine eigene Wohnung gehabt. Von der Freundin im Bundesgebiet wisse seine Frau nichts. Er habe damals noch keine Verantwortung übernehmen können. Von seiner Inhaftierung wisse seine Frau, von den Straftaten aber nur teilweise. Gegenwärtig stehe er mit seiner Frau in telefonischem Kontakt und schreibe ihr auch gelegentlich. Mit der früheren Freundin habe er seit 2 oder 2 ½ Jahren keinen Kontakt mehr. In der Zeit der Begehung seiner Straftaten habe er regelmäßig Drogen genommen und auch regelmäßig Alkohol getrunken. Angesprochen auf den letzten JVA-Bericht räumte er ein, vor etwa 3 Monaten einmal THC-positiv gewesen zu sein. Bei Kollegen sei beim Hofgang ein Joint gekreist und er habe ein paar Züge genommen. 6 bis 8 Wochen später sei bei einer weiteren Urinkontrolle wieder alles in Ordnung gewesen. Das Jointrauchen sei ein einmaliger Vorgang gewesen. Seit etwa 2 Monaten nehme er im Vollzug einmal die Woche an den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker - Gruppe teil. Er meine aber, kein Suchtproblem zu haben. Er sei reifer geworden. Er habe es auf dem harten Weg lernen müssen und habe es nun endlich begriffen.
22 
Mit Urteil vom 29.04.2009 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab.
23 
Es führte u.a. aus: Rechtsgrundlagen der Ausweisung seien §§ 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2, 53 Nr. 1, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie Satz 2 AufenthG. Im Hinblick auf den besonderen Ausweisungsschutz des im Bundesgebiet geborenen Klägers sei die Ausweisung zu Recht (nur) als Ermessensausweisung verfügt worden. Hinsichtlich der Ausweisung werde auf die umfassenden und zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27.05.2008 verwiesen, denen das Gericht folge. Die Ermessensausübung des Regierungspräsidiums sei auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlerfrei und im Wesentlichen zutreffend auf die vom Kläger weiterhin ausgehende erhebliche Wiederholungsgefahr gestützt. Die Ausweisung sei auch unter Berücksichtigung der Anforderungen aus Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i. V. m. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nicht zu beanstanden und verstoße nicht gegen Art 8 EMRK. Schließlich sei die Abschiebungsandrohung mit der in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärten Abänderung rechtmäßig. Vom Kläger gehe weiterhin eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus.
24 
Das Urteil wurde dem Kläger am 30.09.2009 zugestellt.
25 
Auf den rechtzeitig gestellten und begründeten Antrag ließ der Senat mit Beschluss vom 30.11.2009 die Berufung zu.
26 
Am 10.12.2009 begründete der Kläger unter Stellung eines Antrags die Berufung zunächst wie folgt: Das angegriffene Urteil verletze Art. 14 ARB 1/80 und verkenne den auch hier anwendbaren besonderen Schutz nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Ziebell, bis zu deren Entscheidung das Berufungsverfahren geruht hatte, macht der Kläger nunmehr geltend, dass die angegriffene Ausweisungsverfügung deshalb rechtwidrig sei, weil das nicht zuletzt wegen der Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter zu beachtende, in Art. 9 RL 64/221/EWG niedergelegte „Vier-Augen-Prinzip“ verletzt worden sei.
27 
Durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen vom 11.01.2011 wurde nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Landgerichts Hechingen vom 22.05.2006 sowie des Amtsgerichts Hechingen vom 10.01.2006 bei einer Bewährungszeit von drei Jahren die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, für die Dauer von einem Jahr eine ambulante Drogentherapie nach Weisung des Bewährungshelfers zu unterziehen. Der Entscheidung lag ein kriminologisch-kriminalprognostisches Gutachten der Universität Tübingen (Dr. Reich) vom 01.12.2010 sowie befürwortende Stellungnahmen der JVA Rottenburg sowie der Staatsanwaltschaft Hechingen zugrunde.
28 
Der Kläger beantragt,
29 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 29. April 2009 - 4 K 1175/08 - zu ändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 27. Mai 2008 aufzuheben.
30 
Der Beklagte beantragt,
31 
die Berufung zurückzuweisen.
32 
Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache sei das „Vier-Augen-Prinzip“ obsolet. Auch nach der Entlassung des Klägers aus der Strafhaft könne in Anbetracht der Tatsache, dass er Intensivtäter sei, nicht davon ausgegangen werden, dass die Wiederholungsgefahr gemindert oder gar entfallen sei. Die im Verhältnis zur kriminellen Vita nur kurze Zeit der Bewährung von einem Jahr erlaube keine substantiierte Legalprognose zugunsten des Klägers, zumal er sich hinsichtlich der Vorsprachen bei der Drogenberatung in der ersten Jahreshälfte 2011 nicht immer zuverlässig erwiesen habe.
33 
Der Senat hat eine Stellungnahme des Bewährungshelfers des Klägers eingeholt. Insoweit wird auf dessen Schreiben vom 29.02.2012 verwiesen.
34 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
35 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums, des Verwaltungsgerichts, die Strafvollsteckungsakten sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
36 
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.
37 
Nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage kann die Ausweisungsentscheidung des Beklagten keinen Bestand mehr haben.
38 
I. Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
39 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
40 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
41 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
42 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
43 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
47 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
48 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
49 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
50 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
51 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
53 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
54 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
55 
Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht bislang davon aus, dass einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG keine Bindungswirkung zukommt, was u.a. auf die unterschiedlichen Prognosemaßstäbe zurückgeführt wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 - NVwZ 2001, 442; Discher, in: GK-AufenthG Vor §§ 53 ff. Rdn. 1241 ff.). Allerdings soll einer solchen Aussetzung immerhin eine gewisse Indizwirkung zukommen. Die Relativierung derartiger Aussetzungsentscheidungen auf eine bloße Indizwirkung wird jedoch den unions- und assoziationsrechtlichen Anforderungen nicht vollständig gerecht. Denn es würde sich bei einer derartigen Sichtweise ein nicht gerechtfertigter Widerspruch auftun. Der Ansatz von der bloßen Indizwirkung unterstellt, dass gleichwohl im Falle der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung ohne weiteres ein gesellschaftliches Grundinteresse des Mitgliedstaats weiterhin tatsächlich und hinreichend schwerwiegend gefährdet und eine Beschränkung der Freizügigkeit bzw. ein Entzug des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts gerechtfertigt sein kann. Andererseits bringt jedoch die Gesellschaft des Mitgliedstaats gerade durch diese Aussetzung ihre Wertung zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Seine Ausweisung in ein Land, in dem er schon längere Zeit nicht mehr oder sogar niemals gelebt hat, muss regelmäßig als kontraproduktiv und einer Resozialisierung hinderlich begriffen werden. Nimmt man noch hinzu, dass nach den oben dargelegten besonderen unionsrechtlichen bzw. assoziationsrechtlichen Maßstäben erhebliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten gestellt werden müssen, so dürfen derartige Aussetzungen auch deshalb nicht gering gewichtet und bewertet werden, weil sie von einer mit der Beurteilung von der Täterpersönlichkeiten und deren Lebensumfeld vertrauten Fachgerichtsbarkeit ausgesprochen und veranlasst werden. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn zur Vorbereitung der Aussetzungsentscheidung fachkundige Stellungnahmen oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt wurden. Da andererseits den Aussetzungsentscheidungen keine ausdrücklich gesetzlich angeordnete Bindungs- oder Tatbestandswirkung zukommt, kann das Verwaltungsgericht eine solche Entscheidung ausnahmsweise unbeachtet lassen, wenn sie sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Im Regelfall jedoch ist eine solche Aussetzungsentscheidung in der Weise zu berücksichtigen, dass die Ausweisung keinem Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaates (mehr) entspricht.
56 
2. Ausgehend hiervon ist von Folgendem auszugehen: Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen hat mit Beschluss vom 11.01.2011 (... StVK ... + .../...) die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, dass der Kläger sich innerhalb des ersten Jahres einer Drogentherapie zu unterziehen hat. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschluss beruht auf einem kriminologisch-kriminalprognostischen Gutachten der Universität Tübingen (Dr. R.) vom 01.12.2011, das nach zwei umfangreichen Explorationen erstellt wurde. Dieses Gutachten, das sich auch umfassend mit der Aktenlage beschäftigt, erweist sich in seiner differenzierten und durchaus kritische Aspekte nicht unterdrückenden Sicht als überzeugend. Nimmt man hinzu, dass zur Vorbereitung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer noch eine umfassende Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Rottenburg eingeholt worden war, die die wesentlichen Entwicklungsschritte, die der Kläger insbesondere im Jahre 2010 gemacht hat, deutlich macht und eine vorzeitige Freilassung befürwortet, so vermag der Senat keine Gesichtspunkte zu erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Landgerichts Tübingen infrage zu stellen. Die Entscheidung des Landgerichts ist auch nicht deshalb überholt, weil der Kläger drei Termine bei der Drogenberatung nicht wahrgenommen hat. Die vom Kläger hierfür gegebene Erklärung, wonach er wegen der anstrengenden Nachtarbeit die Termine verschlafen oder vergessen habe, vermag zwar nicht völlig zu überzeugen. Eine einzelne Säumnis mag bei der für den Kläger sicherlich völlig neuen Belastungssituation in einem geregelten Arbeitsverhältnis der konkreten Art ohne weiteres verständlich sein. Eine dreimalige Säumnis innerhalb eines Zeitraums von einem knappen dreiviertel Jahr ist allerdings weniger nachvollziehbar, zumal dem Kläger klar sein musste, dass seine Bewährung auf dem Spiel stehen kann. Auch wenn dieser Regelverstoß daher nicht bagatellisiert werden darf, so kann andererseits nicht übersehen werden, dass der Bewährungshelfer in seiner Stellungnahme die aktuelle Bereitschaft des Klägers, mit ihm zusammenzuarbeiten, sehr positiv hervorgehoben und weiterhin nach über einem Jahr in Freiheit eine sehr positive Prognose abgegeben hat, wobei sicherlich auch eine Rolle gespielt hat, dass aufgrund der durchgeführten Urinkontrollen von einem Drogenkonsum nicht ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Säumnis des Klägers der Strafvollstreckungskammer keine Veranlassung gegeben hat, die Bewährungszeit zu verlängern oder die Bewährung gar zu widerrufen. Hiervon abgesehen hat der Kläger zur Überzeugung des Senats nach seiner Haftentlassung eine positive Entwicklung durchlaufen. Ihm ist es bereits kurze Zeit nach der Entlassung gelungen, eine Beschäftigung zu finden; mittlerweile steht er in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, mit dem er seinen Lebensunterhalt sichern kann; auch seine Wohnsituation ist geklärt. Dieses zusammengefasst ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt nach den oben dargelegten Maßstäben kein Grundinteresse der Gesellschaft mehr betroffen ist und die Ausweisung nicht mehr von Art. 14 ARB 1/80 getragen wird. Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Sohn und seine Ehefrau nach Deutschland zu holen, so wird dies seine Situation aller Voraussicht nach weiter stabilisieren.
57 
Hat die Ausweisung keinen Bestand mehr, so war auch die unselbstständige Abschiebungsandrohung aufzuheben.
58 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
59 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen zur Anwendung und Auslegung des Assoziationsrechts von grundsätzlicher Bedeutung sind (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
60 
Beschluss vom 7. März 2012
61 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
62 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
36 
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.
37 
Nach der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats maßgeblichen Sach- und Rechtslage kann die Ausweisungsentscheidung des Beklagten keinen Bestand mehr haben.
38 
I. Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann sein Aufenthalt gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (i.V.m. § 55 Abs. 1 AufenthG) nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
39 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, ebenda Rn. 73).
40 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs. C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs. 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs. C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie, eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
41 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
42 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 80).
43 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention erfolgen, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
47 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 47).
48 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr bringt der Gerichtshof mit dieser Formel nur mit anderen Worten den in seiner ständigen Rechtsprechung für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs. C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs. C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
49 
Diese in der Entscheidung angelegte und angemahnte besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt nach Auffassung des Senats auch die Berücksichtigung einer aktiven und positiven Mitarbeit des oder der Betroffenen am Resozialisierungsprozess insbesondere während des Vollzugs der Strafhaft, die aber erkennbar über ein bloßes Wohlverhalten hinausgehen muss, weshalb auch insoweit die infolge der Ausweisung eintretende mögliche Gefährdung eines in Gang gesetzten positiven Resozialisierungsprozesses (vgl. auch § 2 StVollzG) einen wichtigen Abwägungsfaktor ausmachen kann. In Fällen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die im Bundesgebiet geboren und/oder hier einen ganz überwiegenden Teil ihres gesamten Lebens verbracht haben, vermag der Umstand einer konkreten Gefährdung eines positiven Resozialisierungsprozesses unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zwar assoziationsrechtlich keine strikte Rechtsgrenze einer Ausweisung auszumachen, er kann jedoch im Einzelfall von solchem Gewicht sein, dass es einer besonderen Begründung bedarf, um gleichwohl eine Ausweisung verfügen zu dürfen. Es müssen – namentlich wenn der Resozialisierungsprozess weit fortgeschritten ist und weitere gewichtige positive Integrationsfaktoren hinzukommen – besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, gleichwohl das reale Risiko eines Scheiterns des Resozialisierungsprozesses in Kauf zu nehmen.
50 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
51 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291 und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
53 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
54 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
55 
Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht bislang davon aus, dass einer Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 und 2 StGB oder nach § 88 Abs. 1 und 2 JGG keine Bindungswirkung zukommt, was u.a. auf die unterschiedlichen Prognosemaßstäbe zurückgeführt wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 - NVwZ 2001, 442; Discher, in: GK-AufenthG Vor §§ 53 ff. Rdn. 1241 ff.). Allerdings soll einer solchen Aussetzung immerhin eine gewisse Indizwirkung zukommen. Die Relativierung derartiger Aussetzungsentscheidungen auf eine bloße Indizwirkung wird jedoch den unions- und assoziationsrechtlichen Anforderungen nicht vollständig gerecht. Denn es würde sich bei einer derartigen Sichtweise ein nicht gerechtfertigter Widerspruch auftun. Der Ansatz von der bloßen Indizwirkung unterstellt, dass gleichwohl im Falle der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung ohne weiteres ein gesellschaftliches Grundinteresse des Mitgliedstaats weiterhin tatsächlich und hinreichend schwerwiegend gefährdet und eine Beschränkung der Freizügigkeit bzw. ein Entzug des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts gerechtfertigt sein kann. Andererseits bringt jedoch die Gesellschaft des Mitgliedstaats gerade durch diese Aussetzung ihre Wertung zum Ausdruck, dass sie um des Täters und seiner Resozialisierung willen - durchaus nicht risikofrei - bereit ist, diesem ein Leben in Freiheit, wenn auch zunächst mit gewissen Auflagen, zu ermöglichen. Es kann dann schwerlich einem Grundinteresse der gesamten Gesellschaft des Mitgliedstaats entsprechen, den Betroffenen gleichwohl vom eigenen Territorium zu entfernen und ihm die Chance einer Resozialisierung in dem Land, in dem er zuletzt gelebt hat, zu nehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er in diesem Land längere Zeit gelebt und dort wesentliche Teile seiner Sozialisierung erfahren hat. Seine Ausweisung in ein Land, in dem er schon längere Zeit nicht mehr oder sogar niemals gelebt hat, muss regelmäßig als kontraproduktiv und einer Resozialisierung hinderlich begriffen werden. Nimmt man noch hinzu, dass nach den oben dargelegten besonderen unionsrechtlichen bzw. assoziationsrechtlichen Maßstäben erhebliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten gestellt werden müssen, so dürfen derartige Aussetzungen auch deshalb nicht gering gewichtet und bewertet werden, weil sie von einer mit der Beurteilung von der Täterpersönlichkeiten und deren Lebensumfeld vertrauten Fachgerichtsbarkeit ausgesprochen und veranlasst werden. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn zur Vorbereitung der Aussetzungsentscheidung fachkundige Stellungnahmen oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt wurden. Da andererseits den Aussetzungsentscheidungen keine ausdrücklich gesetzlich angeordnete Bindungs- oder Tatbestandswirkung zukommt, kann das Verwaltungsgericht eine solche Entscheidung ausnahmsweise unbeachtet lassen, wenn sie sich als offenkundig fehlerhaft erweist oder aber infolge aktueller Entwicklungen überholt ist und damit keine zuverlässige Prognosegrundlage mehr abgeben kann. Im Regelfall jedoch ist eine solche Aussetzungsentscheidung in der Weise zu berücksichtigen, dass die Ausweisung keinem Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaates (mehr) entspricht.
56 
2. Ausgehend hiervon ist von Folgendem auszugehen: Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen hat mit Beschluss vom 11.01.2011 (... StVK ... + .../...) die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt mit der Auflage, dass der Kläger sich innerhalb des ersten Jahres einer Drogentherapie zu unterziehen hat. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschluss beruht auf einem kriminologisch-kriminalprognostischen Gutachten der Universität Tübingen (Dr. R.) vom 01.12.2011, das nach zwei umfangreichen Explorationen erstellt wurde. Dieses Gutachten, das sich auch umfassend mit der Aktenlage beschäftigt, erweist sich in seiner differenzierten und durchaus kritische Aspekte nicht unterdrückenden Sicht als überzeugend. Nimmt man hinzu, dass zur Vorbereitung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer noch eine umfassende Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Rottenburg eingeholt worden war, die die wesentlichen Entwicklungsschritte, die der Kläger insbesondere im Jahre 2010 gemacht hat, deutlich macht und eine vorzeitige Freilassung befürwortet, so vermag der Senat keine Gesichtspunkte zu erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Landgerichts Tübingen infrage zu stellen. Die Entscheidung des Landgerichts ist auch nicht deshalb überholt, weil der Kläger drei Termine bei der Drogenberatung nicht wahrgenommen hat. Die vom Kläger hierfür gegebene Erklärung, wonach er wegen der anstrengenden Nachtarbeit die Termine verschlafen oder vergessen habe, vermag zwar nicht völlig zu überzeugen. Eine einzelne Säumnis mag bei der für den Kläger sicherlich völlig neuen Belastungssituation in einem geregelten Arbeitsverhältnis der konkreten Art ohne weiteres verständlich sein. Eine dreimalige Säumnis innerhalb eines Zeitraums von einem knappen dreiviertel Jahr ist allerdings weniger nachvollziehbar, zumal dem Kläger klar sein musste, dass seine Bewährung auf dem Spiel stehen kann. Auch wenn dieser Regelverstoß daher nicht bagatellisiert werden darf, so kann andererseits nicht übersehen werden, dass der Bewährungshelfer in seiner Stellungnahme die aktuelle Bereitschaft des Klägers, mit ihm zusammenzuarbeiten, sehr positiv hervorgehoben und weiterhin nach über einem Jahr in Freiheit eine sehr positive Prognose abgegeben hat, wobei sicherlich auch eine Rolle gespielt hat, dass aufgrund der durchgeführten Urinkontrollen von einem Drogenkonsum nicht ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Säumnis des Klägers der Strafvollstreckungskammer keine Veranlassung gegeben hat, die Bewährungszeit zu verlängern oder die Bewährung gar zu widerrufen. Hiervon abgesehen hat der Kläger zur Überzeugung des Senats nach seiner Haftentlassung eine positive Entwicklung durchlaufen. Ihm ist es bereits kurze Zeit nach der Entlassung gelungen, eine Beschäftigung zu finden; mittlerweile steht er in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, mit dem er seinen Lebensunterhalt sichern kann; auch seine Wohnsituation ist geklärt. Dieses zusammengefasst ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt nach den oben dargelegten Maßstäben kein Grundinteresse der Gesellschaft mehr betroffen ist und die Ausweisung nicht mehr von Art. 14 ARB 1/80 getragen wird. Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Sohn und seine Ehefrau nach Deutschland zu holen, so wird dies seine Situation aller Voraussicht nach weiter stabilisieren.
57 
Hat die Ausweisung keinen Bestand mehr, so war auch die unselbstständige Abschiebungsandrohung aufzuheben.
58 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
59 
Die Revision wird zugelassen, weil die aufgeworfenen Fragen zur Anwendung und Auslegung des Assoziationsrechts von grundsätzlicher Bedeutung sind (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
60 
Beschluss vom 7. März 2012
61 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
62 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2010 - 1 K 1516/08 - geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
Er wurde 1974 im heutigen Kirgisistan geboren und ist kirgisischer Staatsangehöriger. In seinem Heimatland besuchte er acht Jahre lang die Schule, absolvierte eine Ausbildung zum Traktoristen und Maschinenführer und arbeitete anschließend in einer Kolchose und in verschiedenen anderen landwirtschaftlichen Betrieben. Dort leistete er auch Wehrdienst. Im Oktober 2000 heiratete er die damals sechzehnjährige deutschstämmige L. D., die einen 1998 geborenen Sohn mit in die Ehe brachte, den er später adoptierte. Im April 2001 kam der gemeinsame Sohn A. zur Welt. Im Juli 2001 übersiedelte seine Ehefrau mit den Kindern, ihrer Mutter und ihrer Schwester, die mit einem Bruder des Klägers verheiratet ist, in die Bundesrepublik Deutschland. Im Januar 2002 reiste auch der Kläger zusammen mit seinem Bruder nach Deutschland ein und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis, die regelmäßig verlängert wurde. Zuletzt war er im Besitz einer bis Januar 2007 gültigen Aufenthaltserlaubnis. Die Entscheidung über seinen Verlängerungsantrag wurde wegen des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens ausgesetzt. Die Familie lebte zunächst zwei Jahre in Sachsen, wo der Kläger einen Sprachkurs besuchte und den Gabelstaplerführerschein machte. Nachdem der Kläger 2004 eine Arbeitsstelle in S. gefunden hatte, zog er zunächst alleine dort hin. Kurze Zeit danach folgte ihm seine Familie. In der Nähe von S. wohnen auch sein Bruder und seine Schwägerin.
Mit Urteil des Landgerichts Rottweil vom 03.08.2007, rechtskräftig seit 28.02.2008, wurde der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. In den Gründen dieses Urteils heißt es: Der Kläger habe am 22.10.2006 erstmals erfahren, dass seine Ehefrau eine Liebesbeziehung zu M. B. unterhalte. Sie sei nicht bereit gewesen, diese zu beenden. Der Kläger habe sich am 30.10.2006 in die Nähe des Wohnhauses des M.B. in T. begeben. Als M.B. dort eingetroffen und auf seine Haustüre zugegangen sei, habe sich der Kläger an diesen herangeschlichen und habe ihn mit einer mitgeführten Eisenstange von ca. 50 bis 60 cm Länge von hinten mit Wucht auf den Kopf geschlagen. Anschließend habe er den Fliehenden verfolgt und ihm auf der Straße mindestens 13mal mit der Eisenstange auf den Kopf geschlagen, bis dieser regungslos liegen geblieben sei. Einige Personen aus der Nachbarschaft hätten diesen Vorgang beobachtet, den Kläger aber nicht von den Schlägen durch Zurufen abbringen können. Der Kläger habe mit absolutem Vernichtungswillen gehandelt. Der Anblick des „Nebenbuhlers“ habe bei ihm eine heftige Gemütswallung ausgelöst, die zu einer rechtserheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Der Kläger habe sich zwar dahingehend eingelassen, M.B. sei, nachdem er mit dem Auto angekommen sei, ausgestiegen und ihm direkt entgegengegangen. Er sei gar nicht dazu gekommen, etwas zu sagen, schon habe M.B. nach der Polizei geschrien und ihn irgendwie getroffen. M.B. haben ihm etwas auf den Kopf geschlagen, wobei er nicht wisse womit. Ansonsten habe er keine Erinnerung mehr. Auch daran, dass er selbst geschlagen habe, könne er sich nicht erinnern. Eine Eisenstange habe er nicht dabei gehabt; woher diese gekommen sei, wisse er nicht. Diese Einlassungen seien durch die Beweisaufnahme widerlegt. Die Kammer gehe allerdings zugunsten des Klägers davon aus, dass er den endgültigen Tötungsvorsatz erst unmittelbar vor der Tatausführung gefasst habe. M.B. habe schwere Schädel- und Gesichtsverletzungen erlitten, die mehrere Operationen nötig gemacht hätten. Auf dem rechten Auge habe er die Sehkraft vollständig und irreparabel verloren. Auch seinen Geruchssinn habe er vollständig und seinen Geschmackssinn weitgehend verloren. Wegen der Folgen der Verletzungen sei er mit 50 % GdB als Schwerbehinderter eingestuft worden. Abgesehen von der vorgenommenen Verschiebung des Strafrahmens wegen der Minderung der Steuerungsfähigkeit, habe die Kammer von einer weiteren Milderung wegen des nur vorliegenden Totschlagversuchs abgesehen. Gegen eine weitere Milderung habe vor allem gesprochen, dass dieser ganz in der Nähe zur Vollendung gelegen habe. M.B habe nur wegen der sofort eingeleiteten intensiv-medizinischen Rettungsmaßnahmen überleben können und während des einwöchigen künstlichen Komas zwischen Leben und Tod geschwebt. Weiter seien die ganz erheblichen, lebenslang bleibenden und teilweise in ihrem Ausmaß noch gar nicht absehbaren Folgen der Verletzungen zu berücksichtigen gewesen. Wegen der besonderen schulderhöhenden Merkmale sei bei der Gesamtwürdigung ein minderschwerer Fall auszuschließen.
Am 31.10.2006 war der Kläger verhaftet worden. Er verbüßt derzeit seine Freiheitsstrafe.
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger mit Bescheid vom 14.07.2008 aus der Bundesrepublik aus, drohte ihm die Abschiebung nach Kirgisistan nach der Unanfechtbarkeit dieser Verfügung an und ordnete die Abschiebung aus der Haft heraus an. Zur Begründung wurde ausgeführt: Es lägen die Voraussetzungen einer Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG vor. Der Kläger genieße jedoch besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Deshalb könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden; außerdem werde die zwingende Ausweisung zur Ausweisung im Regelfall herabgestuft. Mit der abgeurteilten Tat habe er die öffentliche Sicherheit und Ordnung in besonders schwerwiegendem Maße beeinträchtigt. Zugunsten des Klägers gehe das Regierungspräsidium davon aus, dass wegen der familiären Verhältnisse ein atypischer Ausnahmefall vorliege, weshalb über die Ausweisung nach Ermessen entschieden werde. Gleichfalls sei zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er bis zu seiner Verhaftung mit seiner deutschen Ehefrau und seinen zwei deutschen Kindern zusammengelebt habe, dass er während seines gesamten Aufenthalts im Bundesgebiet gearbeitet und für den Unterhalt seiner Familie gesorgt habe, dass Deutschland nach der Übersiedlung aus Kirgisistan zum Mittelpunkt seines Lebens geworden und er bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei. Das öffentliche Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor weiteren von ihm begangenen Straftaten überwiege aber die privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Vom Kläger gehe eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Rechtsverletzungen aus. Die Begehung der abgeurteilten Tat zeige eine latente Gewaltbereitschaft, die eine gewaltfreie Problemlösung verhindert habe. Diese Eigenschaften könnten auch in Zukunft sein Verhalten in Konfliktsituationen bestimmen. Auch generalpräventive Gründe sprächen für die Ausweisung.
Am 11.08.2008 erhob der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg. Zur Begründung trug er vor: Er werde von seinen beiden Kindern monatlich in der Haftanstalt besucht. Auf den Fortbestand dieser Vater-Kind-Beziehung seien seine beiden Söhne angewiesen. Auch für ihn sei es sehr wichtig, für seine beiden Kinder da zu sein. Er wisse, dass er einen großen Fehler gemacht habe und bereue seine Tat. In Kirgisistan habe er keine Existenz und keine Familie. Deutschland sei für ihn seine neue Heimat geworden.
Der Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angefochtenen Bescheids entgegen.
Das Gericht erhob Beweis durch Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. K. (vom 16.06.2010) und hörte diesen in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung des Gutachtens an.
Durch Urteil vom 27.10.2010 hob das Verwaltungsgericht Freiburg den angefochtenen Bescheid auf und führte zur Begründung aus: Der dem Kläger zustehende besondere Ausweisungsschutz habe gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Folge, dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Solche Gründe lägen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel u. a. in den Fällen des § 53 AufenthG vor. Die Regelung enthalte allerdings keine Automatik, sondern erfordere eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorlägen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen ließen. Werde die Ausweisung - wie hier - auf spezialpräventive Gründe gestützt, liege bei dem nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießenden Personenkreis ein schwerwiegender Grund nur dann vor, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohten und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut ausgehe. In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität seien diese Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung zwar grundsätzlich zu bejahen. Wegen des durch § 56 Abs. 1 AufenthG gewährleisteten besonderen Ausweisungsschutzes sei jedoch eine gesteigerte Wiederholungsgefahr im Sinne einer erhöhten Gefährdung erforderlich. Das gelte auch in Fällen schwerer Kriminalität. Gemessen hieran könne nicht angenommen werden, vom Kläger ginge eine in diesem Sinne gesteigerte Wiederholungsgefahr aus. Der Sachverständige komme in seinem schriftlichen kriminalprognostischen Gutachten zu dem Ergebnis, beim Kläger könne zwar die Begehung einer erneuten Straftat nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Die erneute Begehung einer Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit, wie sie der Verurteilung durch das Landgericht Rottweil zugrunde liege, sei jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Die Kammer folge dem Sachverständigen in seiner prognostischen Beurteilung der vom Kläger künftig ausgehenden Rückfallgefahr. Die vom Beklagten gegen das schriftliche Gutachten vorgebrachten Bedenken seien unberechtigt. Der Sachverständige habe in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens plausibel und nachvollziehbar angegeben, dass sich seine kriminalprognostische Einschätzung in erster Linie und ganz entscheidend auf die Exploration des Klägers stütze. Von entscheidender Bedeutung für die Einschätzung, beim Kläger sei mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Wiederholung einer vergleichbaren Straftat zu erwarten, sei die Annahme des Gutachters, dass die abgeurteilte Straftat eine Beziehungstat mit einer hochspezifischen Täter-Opfer-Beziehung gewesen sei. Auch die tatsächlichen Annahmen des Sachverständigen zur Biografie des Klägers seien nicht zu beanstanden. Der Sachverständige sei aufgrund des Akteninhalts, der mit dem Kläger geführten Gespräche sowie der Telefongespräche mit der Schwägerin und der Ehefrau zu der Annahme gelangt, der Kläger habe bis zu seiner Straftat einen gewaltfreien Lebenswandel geführt. Das Merkmal mangelhafte Verhaltenskontrolle erfüllten nur solche Personen, die bei geringstem Anlass und häufig sofort aggressiv reagierten. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Dagegen wende das beklagte Land zu Unrecht ein, der Gutachter hätte sich zur Feststellung eines bisher gewaltfreien Lebenswandels nicht auf die Befragung des Klägers und naher Verwandter beschränken dürfen. Weder den vorgelegten Verwaltungsakten noch dem Strafurteil des Landgerichts Rottweil ließen sich irgendwelche Anhaltspunkte für das Gegenteil entnehmen. Dass der Kläger bei der abgeurteilten Tat gegen sein Opfer auf äußerst brutale Weise vorgegangen sei, werte der Gutachter als einen Gesichtspunkt, der zwar gegen eine günstige Prognose sprechen könne. Ein durchschlagendes Gewicht messe er diesem Gesichtspunkt jedoch nicht bei. Der Sachverständige habe zum einen darauf hingewiesen, dass der Kläger - im Gegensatz zu seiner bisherigen Lebensführung - erstmals bei der Tat ein äußerst aggressives und brutales Verhalten gezeigt habe. Vor allem aber müsse nach Auffassung des Gutachters bei der Bewertung dieses Verhaltens für die Rückfallprognose berücksichtigt werden, dass die hochspezifische Beziehungstat durch eine extreme Konfliktsituation ausgelöst worden sei, in die der Kläger durch den wenige Tage vor der Tat offenbar gewordenen Ehebruch seiner Frau gestürzt worden sei. Auch der im strafgerichtlichen Verfahren eingesetzte Sachverständige komme zu dem Ergebnis, dass die Steuerungs-, Hemmungs- und Handlungsfähigkeit des Klägers während der Tat infolge eines Affekts zum Tatzeitpunkt rechtserheblich beeinträchtigt gewesen sein könne. Dem sei das Landgericht in seinem Strafurteil gefolgt und habe einen Affektzustand mit schuldeinschränkender Wirkung im Sinne des § 21 StGB bejaht. Es spreche von einem tief greifenden Konflikt des Klägers, weil er wegen des Ehebruchs und des anschließenden Verhaltens seiner Frau damit habe rechnen müssen, dass sich diese zusammen mit den Kindern auf Dauer von ihm trennen werde. Das habe ihn in eine tiefe Krise gestürzt, die bis zur Tat angedauert habe. Für die Kammer sei es nachvollziehbar und überzeugend, wenn der Sachverständige aufgrund dieser besonderen Umstände zu dem Ergebnis gelange, beim Kläger liege keine Persönlichkeitsstruktur mit latenter Gewaltbereitschaft vor. Der Sachverständige komme zu dem Ergebnis, dass eine Auseinandersetzung des Klägers mit seiner Straftat bisher kaum stattgefunden habe, was für die kriminalprognostische Beurteilung ungünstig einzuschätzen sei; denn der Kläger habe die Tat weitgehend verdrängt und stelle den Tathergang im Gegensatz zu den Feststellungen im rechtskräftigen Strafurteil zum Teil anders dar. Einer günstigen Kriminalprognose stehe dieser Umstand aber deshalb nicht entgegen, weil der Gutachter nach seinen sachverständigen Verhaltensbeobachtungen während der Gespräche zu dem Ergebnis gekommen sei, dass beim Kläger durchaus ein Schuldbewusstsein vorhanden sei. Der Sachverständige habe in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, bei seiner abschließenden kriminalprognostischen Beurteilung im schriftlichen Gutachten sei er davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Entlassung aus der Strafhaft trotz der Schwierigkeiten, sich auf Deutsch zu verständigen, die erforderlichen Hilfen in Form von Therapien und Gesprächen erhalte. Der Sachverständige gehe zu Recht davon aus, dass der Kläger aus der Strafhaft nicht ohne solche Behandlungsmaßnahmen entlassen werde. Denn das Strafvollzugsgesetz sehe ausdrücklich vor, dass der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden solle, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Kläger habe sowohl gegenüber dem Sachverständigen als auch dem Gericht mehrfach bekundet, dass er zur Teilnahme an derartigen Hilfsmaßnahmen bereit sei. Auch soweit das Regierungspräsidium die Ausweisung auf generalpräventive Erwägungen stütze, könne dies die Maßnahme nicht rechtfertigen.
10 
Am 09.12.2010 wurde das Urteil dem Beklagten zugestellt.
11 
Auf den am 17.12.2010 vom Beklagten gestellten Antrag ließ der Senat mit Beschluss vom 25.01.2011 die Berufung zu. Der Beschluss wurde dem Beklagten am 31.01.2011 zugestellt.
12 
Am 04.03.2011 beantragte der Beklagte Wiedereinsetzung in die versäumte Begründungsfrist und legte zugleich den Begründungsschriftsatz (vom 31.01.2011) in Kopie vor.
13 
Zur Begründung trägt er zunächst vor: Der Schriftsatz vom 31.01.2011 sei am 31.01.2011 zum Postversand gegeben worden. Er sei im elektronischen Verzeichnis, das vom Referat 15 geführt und in das alle Schreiben nach Abgang mit Datum des Postversands eingetragen würden, verzeichnet. Das Schreiben müsse daher auf dem Postweg verloren gegangen sein. Der Unterzeichner habe am 31.01.2011 die Berufungsbegründung verfasst und das Schreiben zum Postversand gegeben. Anschließend habe die Servicekraft Frau F. das Schreiben mit der Post versendet. Nachdem es das Haus verlassen habe, sei es in das elektronische Verzeichnis als Postausgang für den 31.01.2011 aufgenommen worden. In einem weiteren Schriftsatz (vom 28.03.2011) wird vorgetragen: Nachdem der Unterzeichner die Berufungsbegründung am 31.01.2011 verfasst und ausgedruckt gehabt habe, habe er das Schreiben in einer Umlaufmappe in das Postausgangsfach des Referats 15 gelegt. Frau F. habe diese Mappe am 31.01.2011 aus dem Postausgangsfach entnommen, habe die Entwurfsfassung im Feld für den Postausgangsvermerk abgezeichnet und das Entwurfsschreiben in der Postumlaufmappe dem Sachbearbeiter des Falles, Herrn K. in dessen Fach gelegt. Anschließend habe sie das Originalschreiben der Sekretärin, Frau R. vorgelegt. Diese habe sich das Schreiben angeschaut und es im elektronischen Postausgangsverzeichnis mit den Bemerkungen „K.“, „VGH Mannheim“, „L., S. und „AU Verwaltungsrechtssache“ eingetragen. Sodann habe sie das Originalschreiben in einen Briefumschlag gesteckt, habe diesen verschlossen und den Brief in die gelbe Postausgangskiste des Regierungspräsidiums gelegt. Am 01.02.2011 habe der Hausmeister des Dienstgebäudes Schwendistraße 12, Herr B., die Postausgangskiste zur Hauptpoststelle des Regierungspräsidiums gebracht. Dort würden täglich alle für den Postversand bestimmten Schreiben frankiert und auf den Postweg gegeben. Der im vorliegenden Fall gewählte Weg für den Versand entspreche der seit Jahren praktizierten Verfahrensweise. Der ordnungsgemäße Ablauf werde dabei fortlaufend kontrolliert und überwacht. Im Übrigen legt der Beklagte schriftliche Erklärungen von Frau F., Frau R. und Herrn B. vor. In einem weiteren Schriftsatz vom 13.04.2011 wird ausgeführt: Die Tatsache, dass Frau F. den Schriftsatz anschließend Frau R. vorgelegt habe, werde durch die Tatsache dokumentiert, dass Frau F. das Schreiben in das elektronische Postausgangsverzeichnis eingetragen habe. Hätte Frau F. das Schreiben nicht in Händen gehalten und dafür gesorgt, dass es auf den Postweg gegeben werde, so würde sich auf dem Schreiben nicht ihr handschriftlicher Vermerk befinden und Frau R. hätte das Schreiben nicht in das Verzeichnis eintragen können. Deshalb könnten Frau F. und Frau R. heute auch noch sichere Angaben machen. Der Eintrag in das Ausgangsverzeichnis, das Verpacken und Zukleben des Briefs sowie das Legen in die gelbe Postausgangskiste stellten einen einheitlichen Vorgang dar. Zunächst schaue sich Frau R. dabei den jeweiligen Schriftsatz an, um zu erkennen, wer den Brief verfasst habe und welche Sache das Schreiben betreffe. Sodann trage sie diese Daten in das Postverzeichnis ein, stecke den Brief dann in einen Umschlag und verschließe diesen. In unmittelbarem Anschluss hieran lege sie den Brief dann in die neben ihrem Schreibtisch stehende Postausgangskiste. Dies entspreche ständiger Praxis, ohne dass es bislang in einem einzigen Fall zu Problemen gekommen sei.
14 
In der Sache trägt er vor: Entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Freiburg habe der Gutachter seine Feststellung, dass die erneute Begehung einer Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit, wie sie der Verurteilung durch das Landgericht Rottweil zugrunde liege, mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei, nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten. Diese Einschätzung gelte nur dann, wenn der Kläger eine Therapie erhalte und auch nach der Haftentlassung begleitet werde. Weiter habe der Gutachter eingeschränkt, dass der Kläger die deutsche Sprache nicht in einem für eine Therapie in erforderlichen Maße beherrsche. Grundvoraussetzung für seine Annahme sei es daher, dass der Kläger Deutsch lerne, zu einer Therapie bereit sei und diese dann während der Haftzeit erfolgreich durchgeführt werde. Dass der Kläger eine fortlaufende Therapie auf Russisch während der Haftzeit erhalten könne, sei unwahrscheinlich, weil für eine solche Therapie nicht genug Therapeuten in der Justizvollzugsanstalt zur Verfügung stehen würden. Erhalte der Kläger jedoch während der Haftzeit keine Therapie, steige die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Begehung schwerer Straftaten. Das Verwaltungsgericht habe sich darauf beschränkt, den vom Gesetzgeber des Strafvollzugsgesetzes gewünschten Idealzustand in Bezug zu nehmen. Der Gutachter gehe davon aus, dass der Kläger über schlechte Konfliktverarbeitungsmechanismen verfüge. Weiterhin habe sich das Verwaltungsgericht nicht in ausreichendem Maße mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Kläger wirklich ernsthaft an einer Therapie interessiert sei. So habe er in der mündlichen Verhandlung am 24.03.2010 auf Frage, ob es Gespräche mit einem Psychologen gegeben habe, geantwortet: „Ich brauche doch keinen Psychologen. Ich bin doch nicht verrückt.“ Diese Einstellung werde auch durch die Ausführungen im Gutachten bestätigt. Dort werde festgestellt, dass der Kläger nicht an therapeutischen Gesprächen interessiert sei. Zu diesem Ergebnis sei auch ein weiterer Facharzt gekommen, welcher im Strafverfahren den Kläger begutachtet habe. Unberücksichtigt habe das Verwaltungsgericht auch die Frage eines Misserfolgs einer eventuellen Therapie gelassen. Das Verwaltungsgericht habe nur darauf abgestellt, dass der Kläger nach den gesetzlichen Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes nicht ohne Behandlungsmaßnahmen entlassen werde. Seine Entlassung werde jedoch völlig unabhängig von einer Therapiebereitschaft oder der Durchführung einer Therapie nach Ende der Strafhaft erfolgen. Das Verwaltungsgericht sei auch von einem falschen Maßstab hinsichtlich der Wiederholungsgefahr ausgegangen. Nach der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung sei es für die Frage der Wiederholungsgefahr lediglich maßgeblich, ob vom Kläger die Gefahr der Begehung eines weiteren (versuchten) Totschlagsdelikt oder einer „gleichartigen Tat“ ausgehe. Hiernach sei die Verwirklichung einer Vielzahl anderer Straftaten, beispielsweise eine Vergewaltigung, ein Raub oder Diebstahl oder auch Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, für die Frage einer beim Kläger bestehenden Wiederholungsgefahr ohne Bedeutung. Demgegenüber sei es ausreichend, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen ernsthaft drohe und damit eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut bestehe. Wenn man jedoch mit dem Verwaltungsgericht lediglich auf die Gefahr der Begehung eines erneuten Totschlagsdelikts abstellen wollte, hätte es sich umso mehr aufdrängen müssen, auf die Relativität des Gefahrenbegriffs einzugehen. Zu seiner brutalen und menschenverachtenden Tat stehe der Kläger im Übrigen bis heute nicht. So habe der Kläger auch in den der Begutachtung zu Grunde liegenden persönlichen Gesprächen am 20. und 23. April 2010 behauptet, das Tatopfer habe ihn zuerst angegriffen und sei auf ihn losgegangen, so dass es zu einem Gerangel gekommen sei. Der Kläger habe bekräftigt, dass er die Eisenstange nicht zum Tatort mitgenommen habe, vielmehr habe das Tatopfer angefangen, ihn anzugreifen, so dass er eine Verletzung an Hand und Kopf erlitten habe.
15 
Ferner lasse das Verwaltungsgericht die Tatsache unberücksichtigt, dass die familiäre Situation des Klägers ungeklärt sei. Während der bisherigen Haftzeit von über vier Jahren habe der Kläger lediglich ein einziges Mal Besuch von seiner Ehefrau erhalten. In Briefen, die sie an ihn geschrieben habe, sei es allein um Unterlagen, die sie für Ansprüche der Kinder gegenüber Behörden benötigt habe, gegangen. Vor diesem Hintergrund sei es völlig offen, ob nach einer Haftentlassung in Deutschland die Ehe fortgesetzt werde. Ebenfalls unklar sei, wie sich der Umgang des Klägers bei einer Haftentlassung in Deutschland zu seinen Kindern gestalten werde. Der Kläger habe klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine oberste Priorität sei, Umgang und Kontakt zu seinen Kindern zu haben. Sollte es hierbei - auch aufgrund des Verhaltens seiner Ehefrau in einem Scheidungsverfahren - zu Problemen kommen, sei nicht absehbar, wie er reagieren werde. Prof. Dr. K. habe ein Gefahr- und Konfliktpotential erkannt, falls es zu Problemen bei dem Umgang mit den Kindern kommen werde. Grundsätzlich sei er bei Erstellung seines Gutachtens jedoch davon ausgegangen, dass das familiäre Zusammenleben wieder aufgenommen werden könne und der Kläger im Laufe seines weiteren Lebens mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr in eine ähnliche Situation geraten werde.
16 
Obwohl auch das Verwaltungsgericht erkannt habe, dass es dem Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur extrem schwer falle, seine Empfindungen - wie etwa Gefühle des Mitleids für sein Opfer - in Worten auszudrücken, sei es nicht darauf eingegangen, welche Folgen dies für die Frage einer Wiederholungsgefahr habe. Auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den selbständig tragenden generalpräventiven Gründen der Ausweisung gingen fehl.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2010 - 1 K 1516/08 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen.
21 
Seiner Ansicht nach habe der Beklagte nicht unverschuldet die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Das Vorbringen sei widersprüchlich. Abgesehen davon müsse es überraschen, dass sich alle Beteiligten im Detail gerade an diesen bestimmten Brief und die konkrete Verfahrensweise noch erinnern könnten. Auch habe Frau R. zuerst den Eintrag in das elektronische Verzeichnis und erst anschließend die Sendung überhaupt versandfertig gemacht. Der weitere Transport der Schriftstücke zur zentralen Hauptpoststelle sei nicht hinreichend sicher gestellt; es sei offen, welche Mitarbeiter hierfür zuständig und ob diese ausreichend zuverlässig seien. Auch wichen die vorgelegten persönlichen Erklärungen vom Vortrag im Schriftsatz vom 28.03.2011 ab. So werde dort vorgetragen, Frau F. habe das Schreiben an Frau R. übergeben. Frau F. und Frau R. hätten hingegen angegeben, dass das Schreiben von Frau F. auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt worden sei, wo diese es vorgefunden habe. Im Übrigen mache er sich die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Eigen.
22 
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. K. eingeholt, die dieser unter dem 21.03.2011 abgegeben hat.
23 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
24 
Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Freiburg, die Strafakten des Landgerichts Rottweil sowie Gefangenenpersonalakten des Klägers vor.

Entscheidungsgründe

 
A.
25 
Die Berufung ist zulässig. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) versäumt. Er hat jedoch fristgemäß die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (§ 60 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO). Die Tatsache, dass in dem innerhalb der Frist vorgelegten Schriftsatz vom 04.03.2011 der maßgebliche Sachverhalt bzw. Geschehensablauf nur in den Grundzügen vorgetragen und erst später präzisiert wurde, insbesondere auch hinsichtlich der getroffenen organisatorischen Vorkehrungen, ist unschädlich. Er hat auch glaubhaft gemacht, ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen zu sei, weshalb ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
26 
Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die fragliche Postsendung im Machtbereich des Regierungspräsidiums auf eine zurechenbare Art und Weise verloren gegangen sein könnte. Dabei gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe und Anforderungen wie sie auch auf die Tätigkeit von Rechtsanwälten angewandt werden. Auch hier wird nur unmittelbares Verschulden des Behördenleiters oder des selbstständig mit der Organisation der Fristüberwachung betrauten Beamten zugerechnet, nicht jedoch das Verschulden anderer Bediensteter (von Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 60 Rdn. 13 m.w.N.). Ein derartiges originäres Verschulden ist nicht erkennbar. Insbesondere ist die Organisation und Überwachung der Versendung fristwahrender Schriftsätze ausreichend zuverlässig. Der vom Kläger beanstandete Umstand, dass Frau R. bereits, nachdem sie sich des Inhalts des Schriftstücks vergewissert hat, die Eintragung in das elektronische Register vornimmt, ist unschädlich, wenn, wie hier, sichergestellt ist, dass sie dieses sowie das Eintüten und Einlegen in die Postausgangskiste in einem Arbeitsgang vornimmt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich etwa aufgrund der Verhältnisse am Arbeitsplatz von Frau R., etwa wegen häufiger Ablenkungen durch Telefonanrufe etc., hier Unzuträglichkeiten ergeben können bzw. schon tatsächlich ergeben hätten, was jedoch nicht ersichtlich ist. Einen weitergehenden Nachweis, dass der Schriftsatz dann auch tatsächlich zur Post gelangt ist, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht verlangt, ebenso wenig wie eine genaue Darlegung, wann und wo er verloren gegangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 16.02.2010 – VIII ZB 76/09 – NJW 2010, 1378). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der weitere Postlauf zur Hauptpoststelle und von dort zur Post selbst mangelhaft organisiert gewesen sein könnte, zumal es sich hierbei um einfach strukturierte Routineabläufe handelt. Eine andere Frage ist, ob bei dieser Sachlage ausreichende Vorsorge getroffen wurde, dass die Schriftsätze unverzüglich und auch rechtzeitig das Haus verlassen und zur Post gelangen, um dann entsprechende Fristen zu wahren. Darum geht es hier jedoch nicht. Denn der fragliche Schriftsatz ist vermutlich gar nicht beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen. Er ist bei einer Zustellung des Zulassungsbeschlusses am 31.01.2011 jedenfalls so rechtzeitig vom Referat 15 in den Postlauf gegeben worden, dass der Verlust des Schriftsatzes kausal für die Fristversäumung gewesen sein muss.
27 
Die schriftsätzlichen Ausführungen sowie die hierzu vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen von Frau F. und Frau R. sind auch im Wesentlichen nicht unauflösbar widersprüchlich. Zwar klingen die ursprünglichen Ausführungen im Schriftsatz vom 04.03.2011 sowie vom 21.03.2011 zunächst so, als ob Frau F. die Sendung zum Postversand gebracht hätte. Der folgende Schriftsatz vom 28.03.2011 schildert die Abläufe hingegen zulässigerweise differenzierter und gibt die arbeitsteilige Handlungsweisen genauer wieder, ohne dass hieraus geschlossen werden kann, es würden unwahre Angaben gemacht. Kein Widerspruch besteht auch zwischen den Angaben im Schriftsatz vom 28.03.2011, wonach Frau F. das Schreiben Frau R. „vorgelegt“ habe, während in deren persönlichen Erklärungen ausgeführt wurde, Frau F. habe es auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt. Widersprüchlich erscheinen zunächst die Angaben nur insofern, als es im Schriftsatz vom 21.03.2011 heißt, Frau F. habe, nachdem das Schriftstück das Haus verlassen habe, dieses in das elektronische Verzeichnis für den 31.01.2011 aufgenommen. Denn unter dem 28.03.2011 wurde vorgetragen, Frau R. habe den Eintrag gemacht, bevor das Schriftstück das Haus verlassen habe. Der Beklagtenvertreter hat jedoch nochmals in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er ursprünglich der Auffassung gewesen sei, der knappe Vortrag würde ausreichen. Er habe dann aber als Reaktion auf das Vorbringen des Klägers und die Anforderungen des Gerichts weitere Gespräche mit den Mitarbeiterinnen geführt und daher den Vortrag präzisieren und genauer darlegen müssen, weshalb es auch - wegen früherer Verkürzungen - zu gewissen Unterschieden in der Darstellung gekommen sei. Der Umstand, dass nunmehr ausgeführt wird, die Postausgangskiste sei erst am 01.02.2011 zur zentralen Poststelle gebracht worden, stellt nach Überzeugung des Senats eine solche zulässige Präzisierung dar, da auch in den früheren Erklärungen nicht explizit davon die Rede gewesen war, der Schriftsatz sei schon am 31.01.2011 bei der Deutschen Post AG eingegangen.

B.
28 
Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen. Auch nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - NVwZ 2008, 434) ergibt sich nichts anderes.
29 
I. Der Kläger hat, indem er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt wurde, den zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht.
30 
1. Da er mit seiner deutschen Ehefrau und seinen beiden deutschen Kindern bis zum Zeitpunkt der Verhaftung in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hatte, genießt er nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz und darf nur ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen.
31 
Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - NVwZ 2009, 727 m.w.N.) liegt ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nur dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz mit den Regelungen des § 56 AufenthG bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung streng einzelfallbezogen ein deutliches Übergewicht hat. Ein solches Übergewicht kann aus den besonderen Umständen der jeweils die Ausweisung auslösenden Verhaltensweisen des Ausländers folgen. Danach können Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität, namentlich schwere Gewaltdelikte, einen solchen schwerwiegenden Grund ausmachen, wobei als kumulativ festzustellende Voraussetzung die Ausweisung zur Unterbindung erneuter vom Ausländer ausgehender Gefahren geboten sein muss (vgl. auch Senatsurteil vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 -EzAR 033 Nr. 8).
32 
Stützt die Ausländerbehörde ihre Ausweisungsverfügung auf spezialpräventive Gründe, so ist diese (im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes) nur dann gerechtfertigt, wenn für die Gefahr erneuter Rechtsgutsverletzungen konkrete Anhaltspunkte bestehen. Der Ausweisungsgrund ist nicht schwerwiegend mit der zwingenden Rechtsfolge, dass eine Abschiebung unzulässig ist, wenn allein eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen der öffentlichen Sicherheit besteht, weil nicht hinreichend ausgeschlossen werden kann, dass der Ausländer sein schwerwiegendes früheres Fehlverhalten wiederholen oder andere Taten von vergleichbarem Gewicht begehen wird. Es sind somit qualifizierte Anforderungen an die Feststellung einer Wiederholungsgefahr zu stellen, weshalb konkrete Anhaltspunkte dafür ausgemacht werden müssen, dass auch in Zukunft bedeutsame Gefahren für ein wichtiges Schutzgut ernsthaft zu besorgen sind (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 - VBlBW 2003, 474). Mit anderen Worten: Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach Maßgabe der Schwere der Rechtsgutsverletzung (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 - InfAuslR 1985, 33) ist nicht statthaft. Allerdings ordnet für die hier zu beurteilende Fallkonstellation § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausdrücklich an, dass im Falle des § 53 AufenthG in der Regel schwerwiegende Gründe vorliegen, weshalb es hier keiner konkreten positiven Feststellungen bedarf, sondern lediglich Umstände festgestellt werden müssen, die eine Atypik begründen. Solche Umstände sind hier nicht gegeben.
33 
Im Falle des Klägers bestehen – ungeachtet der gesetzlichen Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG – im Übrigen auch die für die Annahme eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes gebotenen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wieder in schwerwiegender Weise gegen die Strafrechtsordnung verstoßen könnte. Die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. K. (vgl. S. 1 und 5) macht unmissverständlich deutlich, dass beim Kläger ein nicht vollständig zu vernachlässigendes Potential unzureichend entwickelter Konfliktvermeidungs- und Konfliktbewältigungsstrategien vorhanden ist, das einer therapeutischen Aufarbeitung bedarf, um eine ausreichend verantwortliche Verhaltenssteuerung einigermaßen zuverlässig zu gewährleisten. Allerdings geht der Gutachter davon aus, dass eine eigentliche Therapie nicht unbedingt erforderlich ist, sondern dass auch umfassende und eingehende therapeutische bzw. psychologische Gespräche und ein Resozialisierungsprogramm sowie ein Anti-Gewalt-Training ausreichen; er stellt beides prinzipiell als gleichwertig nebeneinander (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 30; Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2010, S. 3 und 5; ergänzende Stellungnahme S. 1). Diese Voraussetzung kommt nicht nur deutlich in seinen grundsätzlichen Ausführungen zu den zwingenden Erfordernissen einer Vorbereitung in der Haft zum Ausdruck, sondern liegt ersichtlich auch seinen abschließenden Bemerkungen über die unerlässlichen Anforderungen an die Gestaltung der Bewährungszeit zugrunde. Nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht hinreichend prognostiziert werden, dass mit der erforderlichen Verlässlichkeit bis zur Haftentlassung eine Therapie erfolgreich abgeschlossen sein wird, oder jedenfalls die therapeutischen bzw. psychologischen Gespräche mit dem erforderlichen Ergebnis durchgeführt sein werden. Im Gegenteil: Es spricht alles dafür, dass dieses nicht der Fall sein wird. Zwar hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 27.10.2010 ausweislich der Niederschrift behauptet, er habe mit dem russischsprechenden Psychotherapeuten bzw. Psychologen W. in der Vollzugsanstalt drei therapeutische Gespräche geführt, wovon eines einen halben Tag und die anderen beiden jeweils etwa eine Stunde gedauert hätten. Auf diesbezügliche Fragen des Senats in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger schon von sich aus nicht mehr davon gesprochen, dass er Gespräche von einer solchen Dauer geführt habe, woraus unübersehbar deutlich wird, dass er insoweit beim Verwaltungsgericht die Unwahrheit gesagt hat, um sich in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Er hat gegenüber dem Senat lediglich ganz allgemein behauptet, in zwei Gesprächen, die aber nach den eigenen Angaben wesentlich kürzer gewesen waren (eine Stunde oder auch nur eine halbe Stunde), sei auch über die Tat gesprochen worden. Der Senat kann unterstellen, dass auch die Tat erwähnt worden sein wird, jede andere Annahme wäre lebensfremd. Entscheidend ist vielmehr allein die Dauer bzw. Häufigkeit der Gespräche und deren Qualität. Zu seiner Überzeugung steht nach der eingeholten schriftlichen Erklärung von Herrn W. vom 03.05.2011 aber fest, dass eine erforderliche intensive Befassung mit und Aufarbeitung der Tat nicht erfolgt ist. Dies wäre angesichts der vom Kläger selbst zugestandenen Kürze und der Zahl der Treffen mit Herrn W. auch gar nicht möglich. Auch muss der Senat davon ausgehen, dass der Kläger kein wirkliches Interesse daran hat, obwohl ihm in der Justizvollzugsanstalt die Chance von Gesprächen in seiner Muttersprache geboten wird. Eine gegenteilige Überzeugung hat der Kläger mit seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Senat nicht herbeiführen können. Abgesehen davon hat Herr W. dieses in seiner Stellungnahme auch klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Senat sieht in diesem Zusammenhang keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, wie der Prozessbevollmächtigte vermutet, dass Herr W. aus auch bei diesem liegenden Gründen keine Gesprächsbasis gefunden hatte, weshalb ein beim Kläger an sich bestehender ernsthafter Wunsch und Wille zu einer intensiven Aufarbeitung der Tat nicht erfüllt werden konnte, ohne dass er dieses zu vertreten hätte. Dies ganz losgelöst von der Frage, ob dieses unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr überhaupt erheblich sein kann. Für den Senat ist insgesamt nicht ersichtlich, weshalb Herr W. in seiner Stellungnahme vom 03.05.2011 unwahre Angaben gemacht haben sollte. Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass der Kläger ein erhebliches Interesse hat, wahrheitswidrig ein Interesse an einer Therapie zu behaupten, nachdem ihm nunmehr nach der gesamten Vorgeschichte klar geworden sein muss, dass er nur auf diese Weise eine Chance haben kann, die Ausweisung noch abwenden zu können. Diese ist auch nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zweifelsfrei unwahren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu sehen. Jedenfalls kann, nachdem nunmehr 3 ½ Jahre seit der Verurteilung verstrichen sind, ohne dass der Kläger diesbezüglich irgendetwas auf den Weg gebracht hat, die bloße verbale Behauptung, an einer Therapie interessiert zu sein, ein positive Einschätzung nicht begründen.
34 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine völlig ungeklärte eheliche und familiäre Situation ein vom Senat zu seinen Lasten zu berücksichtigender gefahrerhöhender Umstand, der keineswegs nur abstrakt ist und damit unerheblich wäre. Der Kläger hält zwar nach seinen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung formal an seiner Ehe fest und will sich nicht scheiden lassen, was insoweit nachvollziehbar ist, weil er andernfalls den mit der Ehe verbundenen erhöhten Ausweisungsschutz verlieren würde. Andererseits will er mit seiner Ehefrau gegenwärtig nichts zu tun haben und hat diese seit seiner Inhaftierung vor 4 ½ Jahren allenfalls ein Mal gesehen; er will sie nach seinen eindeutigen und kategorischen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch zukünftig nicht sehen und hat mit ihr auch keinen nennenswerten, ihre Beziehung betreffenden brieflichen Kontakt. Es ist für den Senat nicht nachzuvollziehen, weshalb der Kläger nur für den Fall, dass er hier bleiben dürfe, seine Beziehung zu der Ehefrau „ankurbeln“ wolle, was er auch immer darunter verstehen mag. Denn wenn ihm wirklich etwas an der Beziehung zu seiner Ehefrau liegen würde, müsste er sich in jedem Fall und bedingungslos um die Beziehung bemühen. Nach alledem muss sich aufdrängen, dass spätestens im Falle der Haftentlassung ein ernst zu nehmendes Risiko besteht, dass sich die Ehefrau endgültig von ihm trennt oder bereits getrennt hat. Dann jedoch steht die Frage an, was mit den Kindern geschehen wird. Diese Fragestellung beinhaltet ein erhebliches Konfliktpotential, das auch mit schweren Kränkungen verbunden sein kann, zumal dann, wenn die Ehefrau den Kläger nicht oder jedenfalls wenig an dem Leben der Kinder teilhaben lassen will. Auch der Gutachter sieht dieses ebenso (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 2 und 5). Dass der Kläger mit tiefer gehenden persönlichen Konflikten und Kränkungen nicht umgehen kann, hat er in der Vergangenheit eindrücklich gezeigt, wie er ebenso - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - deutlich gemacht hat, dass er nicht ernsthaft bereit ist, hieran zu arbeiten.
35 
Gegen den Kläger spricht – jedenfalls in einer Gesamtschau – nach Überzeugung des Senats auch, dass er nach der Tat und insbesondere nach der strafgerichtlichen Verurteilung bis heute die Tat, jedenfalls wesentliche Tatbeiträge seinerseits, im Grunde leugnet und sich nicht vorbehaltlos seiner Schuld stellt. Zwar übersieht der Senat nicht, dass nach der fachlichen Einschätzung des Gutachters (vgl. S. 3 der ergänzenden Stellungnahme) nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger, wie auch viele andere vergleichbar strukturierte Täter, an seine Grenzen stößt und eine möglicherweise zusätzlich vorhandene Störung der Wahrnehmung offenbar auch dem Schutz der eigenen psychischen Stabilität dient. Immerhin weist der Gutachter darauf hin, dass es tatsächlich zu erheblichen Erinnerungsausfällen gekommen sein kann. All das mag das Verhalten zunächst nachvollziehbar erscheinen lassen. Gleichwohl spricht gegen eine - wie auch oben in anderem Zusammenhang erörterte - Auseinandersetzungsbereitschaft mit der Tat, dass der Kläger über ein Leugnen hinaus im Grunde wesentliche, wenn nicht überwiegende Tatbeiträge bzw. Verschuldensanteile auf das Opfer verschiebt. Dies gilt jedenfalls, wenn man sein gesamtes Verhalten im Zusammenhang betrachtet und die bereits oben gewürdigten Angaben zur Therapiebereitschaft und den mit Herrn W. geführten Gesprächen angemessen berücksichtigt.
36 
Anders als der Beklagte dies sieht, können allerdings bei der Beurteilung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht andere Deliktsgruppen wie Vergewaltigung, Raub, Diebstahl oder Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz einbezogen werden. Auch wenn es sich – wie der Gutachter richtigerweise ausführt – hier nicht um eine klassische Affekttat gehandelt hat, so war es doch gewissermaßen eine Beziehungstat. Hinzukommt, dass der Gutachter keine besondere, mit erhöhter Aggressivität einhergehende Persönlichkeitsstörung festgestellt hat; der Gutachter verneint ausdrücklich eine allgemeine Gewaltbereitschaft (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 21, 26 und 29), was der Beklagte offenbar aus dem Auge verloren hat. Ausgehend von den Ausführungen des Gutachters besteht kein Ansatz dafür, dass die Begehung solcher Taten auch angedacht werden müsste.
37 
Der weitere tatsächliche Ausgangspunkt des Gutachters wie auch des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei Ersttäter, wird zwar von der Beklagten in Frage gestellt, weil diese Annahme nur auf den Angaben des Klägers im Strafverfahren wie auch gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie telefonischen Auskünften der Ehefrau und der Schwägerin beruht. Eine weitere, in erster Linie nur in Kirgisistan mögliche Ermittlung ist jedoch nach Auffassung des Senats nicht geboten, zumal der Beklagte sich auch nicht zu solchen im Verwaltungsverfahren veranlasst sah. Es besteht kein Anlass, dem Kläger zu misstrauen, auch nicht deshalb, weil er behauptet hat, angegriffen worden zu sein, weil er unzutreffende Angaben über die Gespräche mit Herrn W. gemacht hat. Wenn der Kläger im Bundesgebiet nicht weiter strafrechtlich und polizeilich in Erscheinung getreten ist, was im Strafverfahren zu Tage getreten wäre, bestand für den Gutachter kein ausreichender Ermittlungsansatz für weitere Nachforschungen im sozialen Umfeld des Klägers.
38 
Auch wenn der Gutachter eine infolge der Hafterfahrung eingetretene Nachreifung festgestellt haben will (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 4 f.), so verbleibt namentlich auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung des Senats ein rechtlich erhebliches Risiko der Begehung einer vergleichbaren Gewalttat.
39 
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die vom Beklagten betonte Feststellung der formellen Voraussetzungen des § 66 b a.F. StGB durch die Staatsanwaltschaft nichts besagt, weil hier gerade keinerlei Aussage zu den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung („wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“) gemacht wurde.
40 
Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung wiederum über bestimmte Prozentränge für eine Eintrittswahrscheinlichkeit diskutiert haben und sie das auch schon in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 getan hatten, möchte der Senat - wie auch schon das Verwaltungsgericht - abschließend eine wichtige Aussage des Gutachters in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 hervorheben, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt. Er hatte dort ausdrücklich betont, dass sich die benannten Prozentränge nur aus einzelnen Checklisten und Tests ergäben und allein dienenden und ergänzenden Charakter haben können. Sie dürften in keinem Fall die auf der Exploration beruhende endgültige kriminalprognostische Beurteilung ersetzen oder maßgeblich mitbestimmen.
41 
2. Ist der die Ausweisung tragende Grund schwerwiegend, so ist an sich der Kläger gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat den Kläger, insbesondere wegen der vorhandenen minderjährigen Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - VwZ 2008, 326) allerdings zutreffend nur im Ermessenswege ausgewiesen. Es ist damit von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall ausgegangen, denn allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG wird dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300). Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass die Ehefrau des Klägers und auch er weiter an der Ehe festhalten, weshalb diesem Umstand aufenthaltsrechtlich eine erhebliche und weit reichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, zumal da die Ehefrau deutsche Staatsangehörige ist (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133; vom 27.09.1978 - 1 C 79.76 - BVerwGE 56, 246; vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 - NVwZ 1989, 770; auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschluss vom 15.6.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311). Weiter wird der Schutz erheblich verstärkt durch den Umstand, dass der Kläger nach wie vor das Sorgerecht hinsichtlich seiner deutschen Kinder hat und auch während der Haft mit diesen regelmäßig Kontakt pflegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.1980 - I 55.75 - BVerwGE 60, 126; vom 19.10.1982 - 1 C 100.78 - EzAR 124 Nr. 6). Die Frage des konkreten Schutzes wird nicht allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG erschöpfend beantwortet, ihr ist vielmehr im Rahmen der Ermessensausübung nochmals umfassend und differenziert nachzugehen. Der Schutz der deutsch/ausländischen Familie wird dabei nicht durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau und die Kinder selbst aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388).
42 
Der Beklagte hat im Rahmen der von ihm angestellten und in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen alle relevanten Belange eingestellt und auch zutreffend gewichtet. Der Beklagte hat zwar erwogen, dass die Ehefrau und seine Kinder wegen ihrer Herkunft mit dem Kläger nach Kirgisistan zurückkehren und ihnen dieses vorübergehend zuzumuten sein könnte, hat aber bei seiner Ermessenentscheidung die endgültige Trennung letztlich unterstellt. Was das Gewicht der Folgen der Trennung betrifft, kann der Senat nicht unberücksichtigt lassen, dass gegenwärtig keinerlei persönliche Beziehung zur Ehefrau besteht und der Kläger eine Wiederaufnahme strikt abgelehnt hat und weiter ablehnt. Der Kläger konnte dem Senat auch in der mündlichen Verhandlung nicht plausibel machen, dass er ernsthaft an einer Klärung der Beziehung mit dem Ziel einer Wiederaufnahme zu arbeiten gewillt ist. Auch die Beziehung zu seinen beiden Kindern ist nach den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben auch unter angemessener Berücksichtigung der haftbedingten Erschwernisse eher lose und lässt eine intensive Teilhabe am Leben der Kinder vermissen. Es wurde auch nicht geltend gemacht, dass aus der ebenfalls maßgeblichen Sicht der Kinder eine besonders enge Bindung an den Vater besteht. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob in der Justizvollzugsanstalt F. häufigere persönliche Besuche möglich wären. Immerhin hat sich der Kläger gar nicht darauf berufen, dass diese nicht möglich wären, sondern ausschließlich geltend gemacht, der Bruder habe nicht mehr Zeit bzw. den Kindern werde bei der Autofahrt leicht schlecht. Der letztgenannte Grund leuchtet dem Senat nicht ein, wenn ein tiefer gehendes Interesse der Kinder bzw. des Klägers an einem unmittelbaren persönlichen Kontakt bestehen würde. Für diese Bewertung ist für den Senat maßgeblich, dass der Kläger beispielsweise keine genaueren Angaben über die Art der vom älteren Sohn besuchte Schule machen konnte, sondern erst auf entsprechende Nachfrage sagte, dass er nicht wisse, wie man die Schule bezeichne, und pauschal von „Mittelschule“ sprach. Dieser Umstand wie auch die Tatsache, dass er nur sehr allgemeine Angaben über den schulischen Werdegang der Kinder und deren sonstige Aktivitäten machen konnte, zeigen deutlich, dass das Interesse an seinen Kindern nicht besonders entwickelt ist. Beispielsweise konnte der Kläger nicht einmal präzise Angaben darüber machen, wo der ältere Sohn Taekwon-Do trainiere, ob etwa im Rahmen des Sportunterrichts oder außerhalb des schulischen Rahmens. Auch seine Schilderungen über den Ablauf der Besuchsaufenthalte in der Haft blieben sehr an der Oberfläche und blass. Vor dem Hintergrund der eher größeren Abstände der Besuche in der Haft konnte der Senat nicht nachvollziehen, dass er in 4 ½ Jahren seine Kinder nur 1 bis 2 Mal angerufen hat. Die Erklärung, dass er aus der Justizvollzugsanstalt auf deren Mobiltelefone nicht anrufen dürfe, wertet der Senat als Ausflucht. Denn es fehlt jeder Anhalt dafür, dass die Kinder nicht auch über einen Festnetzanschluss erreichbar sein könnten, auch wenn die Mutter über einen solchen nicht verfügen sollte. Wenn schon ein telefonischer Kontakt praktisch nicht stattfindet, so wäre bei einer wirklich gelebten intensiven persönlichen Beziehung wenigstens ein intensiver schriftlicher Kontakt zu erwarten gewesen, den der Senat aber auch nicht feststellen konnte. Nach den Angaben des Klägers schickt er lediglich Postkarten, und dann auch nur an Geburtstagen und etwa an Weihnachten. Angesichts dieser persönlichen und familiären Verhältnisse und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger erst im Alter von knapp 28 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist und nur 4 ½ Jahre straffrei im Bundesgebiet gelebt hat, erweist sich die Ausweisung in Ansehung der nicht von der Hand zu weisenden Besorgnis der Begehung vergleichbarer Gewalttaten und insbesondere unter Berücksichtigung der außerordentlich gravierenden Folgen der Tat auch nicht als unverhältnismäßig (vgl. auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz -InfAuslR 2001, 476; vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279; vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04, Maslov/Deutschland II - InfAuslR 2008, 333).
43 
Der Senat kann daher offen lassen, ob die Ausweisung auch allein durch generalpräventive Erwägungen getragen wäre (vgl. hierzu Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris).
44 
II. Für den Kläger ergeben sich auch aus Europarecht keine weitergehende Rechte, die seiner Ausweisung entgegenstehen.
45 
1. a) Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache C-34/09 (Ruiz Zambrano) in einem familiär ähnlich gelagerten Fall u.a. entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann.
46 
Ob damit, insbesondere was die Beurteilung der Rechte drittstaatsangehöriger Familienmitglieder betrifft, eine generelle Gleichstellung mit solchen Unionsbürgern verbunden ist, die bereits einmal von ihrer mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und ob etwa die Bestimmungen der Unionsbürger-RL 2004/38/EG (namentlich dessen Art. 28) entsprechend anzuwenden sind (vgl. zum Anwendungsbereich deren Art. 3 Abs. 1 und nunmehr auch EuGH, Urteil vom 05.05.2011, Rs C-434/09, McCarthy), kann der Senat offenlassen (vgl. zu dieser Frage auch das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 20.01.2011 - 11 S 1069/10 - InfAuslR 2011, 133). Denn Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG stünde einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. hierzu unten) und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG wäre ohnehin im Falle des Klägers nicht anwendbar, da er sich noch nicht 10 Jahre im Bundesgebiet aufhält.
47 
Folge der nicht möglichen unmittelbaren Anwendbarkeit der Unionsbürger-RL 2004/38/EG ist dann auch, dass das FreizügigkeitsG/EU hier ebenfalls nicht unmittelbar anzuwenden ist, es vielmehr bei der Geltung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regeln zu verbleiben hat. Diese sind allerdings unionsrechtskonform zu handhaben.
48 
b) Auch wenn infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 in Art. 24 der Grundrechtecharta (GRCh) die Kinderrechte gestärkt und bekräftigt werden, gilt der nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Ruiz Zambrano“ aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV folgende Aufenthaltsanspruch der drittstaatsangehörigen Eltern - ungeachtet einer möglichen entsprechenden Anwendbarkeit des Art. 28 RL 2004/38/EG -nicht unbeschränkt. Wie für den Fortbestand der Unionsbürgerschaft selbst (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010, Rs. C-135/08, Rottmann, Rn. 55), muss auch für deren Reichweite der primärrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fruchtbar gemacht werden (vgl. Art. 5 Abs. 4 EUV). Hiernach gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Um hierbei die von Art. 6 Abs. 2 EUV sowie Art. 52 Abs. 3 und 7 GRCh angestrebte Einheitlichkeit des europäischen Menschenrechtsschutzes, d.h. den angestrebten materiell-rechtlichen Gleichlauf zwischen EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates zu erreichen, sind bei straffällig gewordenen Eltern die vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof zu Art. 8 EMRK entwickelten sog. Boultif/Üner-Kriterien heranzuziehen (EGMR, Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476; Urteil vom 05.07.2005 - 46410/99 <Üner> - InfAuslR 2005, 450), die der Gerichtshof etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) zusammengefasst hat.
49 
Ob der Eingriff in das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht des Elternteils nach Art. 20 AEUV sowie das geschützte Familien- und Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, entscheidet sich mithin immer im konkreten Einzelfall unter Abwägung der aufgeführten verschiedenen Belange. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, führt jedoch auch die Anwendung der Boultif/Üner-Kriterien im konkreten Einzelfall des Klägers nicht zu einem ihm günstigen Ergebnis.
50 
c) Die Ausweisung des Klägers, dem grundsätzlich der unionsbürgerrechtliche Schutz nach Art. 20 AEUV zukommt, erweist sich auch nicht bei Berücksichtigung der sonstigen Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs zu Ausweisungen als rechtswidrig. Zwar ist die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG (in entsprechender Anwendung) und der hierzu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann eröffnet, wenn in restriktiver Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Ausnahmebestimmungen unter Ausschluss generalpräventiver Überlegungen aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung von diesem ausgeht, die darüber hinaus ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren muss (vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74, Bonsignore - Slg. 1975, 297; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - Slg. 1975, 1219; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - Slg. 1977, 1999; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81, Adoui und Cornuaille - Slg. 1982, 1665; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86, Kommission/Bundesrepublik - Slg. 1989, 2363; vom 19.01.1999 - C-348/96, Calfa - Slg 1999, I-11). Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich im Verständnis des Gerichtshofs auf ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann ausreichen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erkennen lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulus und Oliveri - Slg. 2004, I-5257). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - a.a.O.). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet ist. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59).
51 
aa) Der Europäische Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes „gesellschaftliches Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - a.a.O.). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
bb) Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Diese Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Europäischen Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit nur die „ultima ratio“ sein darf, stehen einem solchen Verständnis entgegen; es ist auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unionsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet.
53 
Das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit, jedenfalls aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats immer dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, ist dieses im Falle des Klägers anzunehmen.
54 
cc) Der Senat geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Schutzes vorliegen, auch wenn der Kläger aktuell seinen Kindern – abgesehen von gelegentlichen kleineren Geschenken – keinen Unterhalt leistet. Denn die Tatsache, dass er dies bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig getan hat und er nunmehr aus objektiven Gründen daran gehindert ist, muss genügen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er nach seiner Entlassung, so er über Erwerbseinkommen verfügt, weiter Unterhalt leisten wird.
55 
Angesichts der weiter bestehenden relevanten und nicht zu vernachlässigenden Wiederholungsgefahr erweist sich jedoch auch in Anwendung der unionsrechtlichen und menschenrechtlichen Maßstäbe die Ausweisung als ermessensfehlerfrei sowie als verhältnismäßig und durch ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Bewohner gerechtfertigt. Insbesondere hat der Beklagte sich nach der Erörterung möglicher unionsrechtlicher Vorgaben in der mündlichen Verhandlung dieser vergewissert und seine Ermessenserwägungen überprüft sowie seine unionsrechtlich tragfähigen Überlegungen, weshalb an der Ausweisungsverfügung festgehalten werden soll, nachvollziehbar dargelegt (vgl. Seite 3 der Niederschrift vom 04.05.2011).
56 
III. Die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung der Abschiebung aus der Haft finden ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG. Der Senat kann offen lassen, ob sich für die Ausgestaltung einer Abschiebungsandrohung nunmehr besondere Vorgaben aus der Rückführungs-RL 2008/115/EG ergeben. Denn die Richtlinie gilt nach deren Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 nur für Rückkehrentscheidungen (vgl. auch deren Art. 6), die gegenüber illegal aufhältigen Ausländern ergehen. Der Kläger ist jedoch erst mit Wirksamwerden der Ausweisungsverfügung, die in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG zum Erlöschen gebracht hat, zum illegal aufhältigen Ausländer geworden.
57 
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Zulassung der Revision auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
58 
Beschluss
59 
vom 4. Mai 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
61 
Der Beschluss ist unanfechtbar.
62 
Funke-Kaiser Prof. Dr. Bergmann Dr. Bauer

Gründe

 
A.
25 
Die Berufung ist zulässig. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) versäumt. Er hat jedoch fristgemäß die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (§ 60 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO). Die Tatsache, dass in dem innerhalb der Frist vorgelegten Schriftsatz vom 04.03.2011 der maßgebliche Sachverhalt bzw. Geschehensablauf nur in den Grundzügen vorgetragen und erst später präzisiert wurde, insbesondere auch hinsichtlich der getroffenen organisatorischen Vorkehrungen, ist unschädlich. Er hat auch glaubhaft gemacht, ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen zu sei, weshalb ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
26 
Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die fragliche Postsendung im Machtbereich des Regierungspräsidiums auf eine zurechenbare Art und Weise verloren gegangen sein könnte. Dabei gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe und Anforderungen wie sie auch auf die Tätigkeit von Rechtsanwälten angewandt werden. Auch hier wird nur unmittelbares Verschulden des Behördenleiters oder des selbstständig mit der Organisation der Fristüberwachung betrauten Beamten zugerechnet, nicht jedoch das Verschulden anderer Bediensteter (von Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 60 Rdn. 13 m.w.N.). Ein derartiges originäres Verschulden ist nicht erkennbar. Insbesondere ist die Organisation und Überwachung der Versendung fristwahrender Schriftsätze ausreichend zuverlässig. Der vom Kläger beanstandete Umstand, dass Frau R. bereits, nachdem sie sich des Inhalts des Schriftstücks vergewissert hat, die Eintragung in das elektronische Register vornimmt, ist unschädlich, wenn, wie hier, sichergestellt ist, dass sie dieses sowie das Eintüten und Einlegen in die Postausgangskiste in einem Arbeitsgang vornimmt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich etwa aufgrund der Verhältnisse am Arbeitsplatz von Frau R., etwa wegen häufiger Ablenkungen durch Telefonanrufe etc., hier Unzuträglichkeiten ergeben können bzw. schon tatsächlich ergeben hätten, was jedoch nicht ersichtlich ist. Einen weitergehenden Nachweis, dass der Schriftsatz dann auch tatsächlich zur Post gelangt ist, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht verlangt, ebenso wenig wie eine genaue Darlegung, wann und wo er verloren gegangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 16.02.2010 – VIII ZB 76/09 – NJW 2010, 1378). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der weitere Postlauf zur Hauptpoststelle und von dort zur Post selbst mangelhaft organisiert gewesen sein könnte, zumal es sich hierbei um einfach strukturierte Routineabläufe handelt. Eine andere Frage ist, ob bei dieser Sachlage ausreichende Vorsorge getroffen wurde, dass die Schriftsätze unverzüglich und auch rechtzeitig das Haus verlassen und zur Post gelangen, um dann entsprechende Fristen zu wahren. Darum geht es hier jedoch nicht. Denn der fragliche Schriftsatz ist vermutlich gar nicht beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen. Er ist bei einer Zustellung des Zulassungsbeschlusses am 31.01.2011 jedenfalls so rechtzeitig vom Referat 15 in den Postlauf gegeben worden, dass der Verlust des Schriftsatzes kausal für die Fristversäumung gewesen sein muss.
27 
Die schriftsätzlichen Ausführungen sowie die hierzu vorgelegten eidesstattlichen Erklärungen von Frau F. und Frau R. sind auch im Wesentlichen nicht unauflösbar widersprüchlich. Zwar klingen die ursprünglichen Ausführungen im Schriftsatz vom 04.03.2011 sowie vom 21.03.2011 zunächst so, als ob Frau F. die Sendung zum Postversand gebracht hätte. Der folgende Schriftsatz vom 28.03.2011 schildert die Abläufe hingegen zulässigerweise differenzierter und gibt die arbeitsteilige Handlungsweisen genauer wieder, ohne dass hieraus geschlossen werden kann, es würden unwahre Angaben gemacht. Kein Widerspruch besteht auch zwischen den Angaben im Schriftsatz vom 28.03.2011, wonach Frau F. das Schreiben Frau R. „vorgelegt“ habe, während in deren persönlichen Erklärungen ausgeführt wurde, Frau F. habe es auf den Schreibtisch von Frau R. gelegt. Widersprüchlich erscheinen zunächst die Angaben nur insofern, als es im Schriftsatz vom 21.03.2011 heißt, Frau F. habe, nachdem das Schriftstück das Haus verlassen habe, dieses in das elektronische Verzeichnis für den 31.01.2011 aufgenommen. Denn unter dem 28.03.2011 wurde vorgetragen, Frau R. habe den Eintrag gemacht, bevor das Schriftstück das Haus verlassen habe. Der Beklagtenvertreter hat jedoch nochmals in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er ursprünglich der Auffassung gewesen sei, der knappe Vortrag würde ausreichen. Er habe dann aber als Reaktion auf das Vorbringen des Klägers und die Anforderungen des Gerichts weitere Gespräche mit den Mitarbeiterinnen geführt und daher den Vortrag präzisieren und genauer darlegen müssen, weshalb es auch - wegen früherer Verkürzungen - zu gewissen Unterschieden in der Darstellung gekommen sei. Der Umstand, dass nunmehr ausgeführt wird, die Postausgangskiste sei erst am 01.02.2011 zur zentralen Poststelle gebracht worden, stellt nach Überzeugung des Senats eine solche zulässige Präzisierung dar, da auch in den früheren Erklärungen nicht explizit davon die Rede gewesen war, der Schriftsatz sei schon am 31.01.2011 bei der Deutschen Post AG eingegangen.

B.
28 
Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen. Auch nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - NVwZ 2008, 434) ergibt sich nichts anderes.
29 
I. Der Kläger hat, indem er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt wurde, den zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht.
30 
1. Da er mit seiner deutschen Ehefrau und seinen beiden deutschen Kindern bis zum Zeitpunkt der Verhaftung in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hatte, genießt er nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz und darf nur ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen.
31 
Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - NVwZ 2009, 727 m.w.N.) liegt ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nur dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz mit den Regelungen des § 56 AufenthG bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung streng einzelfallbezogen ein deutliches Übergewicht hat. Ein solches Übergewicht kann aus den besonderen Umständen der jeweils die Ausweisung auslösenden Verhaltensweisen des Ausländers folgen. Danach können Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität, namentlich schwere Gewaltdelikte, einen solchen schwerwiegenden Grund ausmachen, wobei als kumulativ festzustellende Voraussetzung die Ausweisung zur Unterbindung erneuter vom Ausländer ausgehender Gefahren geboten sein muss (vgl. auch Senatsurteil vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 -EzAR 033 Nr. 8).
32 
Stützt die Ausländerbehörde ihre Ausweisungsverfügung auf spezialpräventive Gründe, so ist diese (im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes) nur dann gerechtfertigt, wenn für die Gefahr erneuter Rechtsgutsverletzungen konkrete Anhaltspunkte bestehen. Der Ausweisungsgrund ist nicht schwerwiegend mit der zwingenden Rechtsfolge, dass eine Abschiebung unzulässig ist, wenn allein eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen der öffentlichen Sicherheit besteht, weil nicht hinreichend ausgeschlossen werden kann, dass der Ausländer sein schwerwiegendes früheres Fehlverhalten wiederholen oder andere Taten von vergleichbarem Gewicht begehen wird. Es sind somit qualifizierte Anforderungen an die Feststellung einer Wiederholungsgefahr zu stellen, weshalb konkrete Anhaltspunkte dafür ausgemacht werden müssen, dass auch in Zukunft bedeutsame Gefahren für ein wichtiges Schutzgut ernsthaft zu besorgen sind (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 - VBlBW 2003, 474). Mit anderen Worten: Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach Maßgabe der Schwere der Rechtsgutsverletzung (vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 - InfAuslR 1985, 33) ist nicht statthaft. Allerdings ordnet für die hier zu beurteilende Fallkonstellation § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausdrücklich an, dass im Falle des § 53 AufenthG in der Regel schwerwiegende Gründe vorliegen, weshalb es hier keiner konkreten positiven Feststellungen bedarf, sondern lediglich Umstände festgestellt werden müssen, die eine Atypik begründen. Solche Umstände sind hier nicht gegeben.
33 
Im Falle des Klägers bestehen – ungeachtet der gesetzlichen Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG – im Übrigen auch die für die Annahme eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes gebotenen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wieder in schwerwiegender Weise gegen die Strafrechtsordnung verstoßen könnte. Die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. K. (vgl. S. 1 und 5) macht unmissverständlich deutlich, dass beim Kläger ein nicht vollständig zu vernachlässigendes Potential unzureichend entwickelter Konfliktvermeidungs- und Konfliktbewältigungsstrategien vorhanden ist, das einer therapeutischen Aufarbeitung bedarf, um eine ausreichend verantwortliche Verhaltenssteuerung einigermaßen zuverlässig zu gewährleisten. Allerdings geht der Gutachter davon aus, dass eine eigentliche Therapie nicht unbedingt erforderlich ist, sondern dass auch umfassende und eingehende therapeutische bzw. psychologische Gespräche und ein Resozialisierungsprogramm sowie ein Anti-Gewalt-Training ausreichen; er stellt beides prinzipiell als gleichwertig nebeneinander (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 30; Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2010, S. 3 und 5; ergänzende Stellungnahme S. 1). Diese Voraussetzung kommt nicht nur deutlich in seinen grundsätzlichen Ausführungen zu den zwingenden Erfordernissen einer Vorbereitung in der Haft zum Ausdruck, sondern liegt ersichtlich auch seinen abschließenden Bemerkungen über die unerlässlichen Anforderungen an die Gestaltung der Bewährungszeit zugrunde. Nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht hinreichend prognostiziert werden, dass mit der erforderlichen Verlässlichkeit bis zur Haftentlassung eine Therapie erfolgreich abgeschlossen sein wird, oder jedenfalls die therapeutischen bzw. psychologischen Gespräche mit dem erforderlichen Ergebnis durchgeführt sein werden. Im Gegenteil: Es spricht alles dafür, dass dieses nicht der Fall sein wird. Zwar hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 27.10.2010 ausweislich der Niederschrift behauptet, er habe mit dem russischsprechenden Psychotherapeuten bzw. Psychologen W. in der Vollzugsanstalt drei therapeutische Gespräche geführt, wovon eines einen halben Tag und die anderen beiden jeweils etwa eine Stunde gedauert hätten. Auf diesbezügliche Fragen des Senats in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger schon von sich aus nicht mehr davon gesprochen, dass er Gespräche von einer solchen Dauer geführt habe, woraus unübersehbar deutlich wird, dass er insoweit beim Verwaltungsgericht die Unwahrheit gesagt hat, um sich in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Er hat gegenüber dem Senat lediglich ganz allgemein behauptet, in zwei Gesprächen, die aber nach den eigenen Angaben wesentlich kürzer gewesen waren (eine Stunde oder auch nur eine halbe Stunde), sei auch über die Tat gesprochen worden. Der Senat kann unterstellen, dass auch die Tat erwähnt worden sein wird, jede andere Annahme wäre lebensfremd. Entscheidend ist vielmehr allein die Dauer bzw. Häufigkeit der Gespräche und deren Qualität. Zu seiner Überzeugung steht nach der eingeholten schriftlichen Erklärung von Herrn W. vom 03.05.2011 aber fest, dass eine erforderliche intensive Befassung mit und Aufarbeitung der Tat nicht erfolgt ist. Dies wäre angesichts der vom Kläger selbst zugestandenen Kürze und der Zahl der Treffen mit Herrn W. auch gar nicht möglich. Auch muss der Senat davon ausgehen, dass der Kläger kein wirkliches Interesse daran hat, obwohl ihm in der Justizvollzugsanstalt die Chance von Gesprächen in seiner Muttersprache geboten wird. Eine gegenteilige Überzeugung hat der Kläger mit seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Senat nicht herbeiführen können. Abgesehen davon hat Herr W. dieses in seiner Stellungnahme auch klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Senat sieht in diesem Zusammenhang keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, wie der Prozessbevollmächtigte vermutet, dass Herr W. aus auch bei diesem liegenden Gründen keine Gesprächsbasis gefunden hatte, weshalb ein beim Kläger an sich bestehender ernsthafter Wunsch und Wille zu einer intensiven Aufarbeitung der Tat nicht erfüllt werden konnte, ohne dass er dieses zu vertreten hätte. Dies ganz losgelöst von der Frage, ob dieses unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr überhaupt erheblich sein kann. Für den Senat ist insgesamt nicht ersichtlich, weshalb Herr W. in seiner Stellungnahme vom 03.05.2011 unwahre Angaben gemacht haben sollte. Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass der Kläger ein erhebliches Interesse hat, wahrheitswidrig ein Interesse an einer Therapie zu behaupten, nachdem ihm nunmehr nach der gesamten Vorgeschichte klar geworden sein muss, dass er nur auf diese Weise eine Chance haben kann, die Ausweisung noch abwenden zu können. Diese ist auch nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zweifelsfrei unwahren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu sehen. Jedenfalls kann, nachdem nunmehr 3 ½ Jahre seit der Verurteilung verstrichen sind, ohne dass der Kläger diesbezüglich irgendetwas auf den Weg gebracht hat, die bloße verbale Behauptung, an einer Therapie interessiert zu sein, ein positive Einschätzung nicht begründen.
34 
Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine völlig ungeklärte eheliche und familiäre Situation ein vom Senat zu seinen Lasten zu berücksichtigender gefahrerhöhender Umstand, der keineswegs nur abstrakt ist und damit unerheblich wäre. Der Kläger hält zwar nach seinen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung formal an seiner Ehe fest und will sich nicht scheiden lassen, was insoweit nachvollziehbar ist, weil er andernfalls den mit der Ehe verbundenen erhöhten Ausweisungsschutz verlieren würde. Andererseits will er mit seiner Ehefrau gegenwärtig nichts zu tun haben und hat diese seit seiner Inhaftierung vor 4 ½ Jahren allenfalls ein Mal gesehen; er will sie nach seinen eindeutigen und kategorischen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch zukünftig nicht sehen und hat mit ihr auch keinen nennenswerten, ihre Beziehung betreffenden brieflichen Kontakt. Es ist für den Senat nicht nachzuvollziehen, weshalb der Kläger nur für den Fall, dass er hier bleiben dürfe, seine Beziehung zu der Ehefrau „ankurbeln“ wolle, was er auch immer darunter verstehen mag. Denn wenn ihm wirklich etwas an der Beziehung zu seiner Ehefrau liegen würde, müsste er sich in jedem Fall und bedingungslos um die Beziehung bemühen. Nach alledem muss sich aufdrängen, dass spätestens im Falle der Haftentlassung ein ernst zu nehmendes Risiko besteht, dass sich die Ehefrau endgültig von ihm trennt oder bereits getrennt hat. Dann jedoch steht die Frage an, was mit den Kindern geschehen wird. Diese Fragestellung beinhaltet ein erhebliches Konfliktpotential, das auch mit schweren Kränkungen verbunden sein kann, zumal dann, wenn die Ehefrau den Kläger nicht oder jedenfalls wenig an dem Leben der Kinder teilhaben lassen will. Auch der Gutachter sieht dieses ebenso (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 2 und 5). Dass der Kläger mit tiefer gehenden persönlichen Konflikten und Kränkungen nicht umgehen kann, hat er in der Vergangenheit eindrücklich gezeigt, wie er ebenso - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - deutlich gemacht hat, dass er nicht ernsthaft bereit ist, hieran zu arbeiten.
35 
Gegen den Kläger spricht – jedenfalls in einer Gesamtschau – nach Überzeugung des Senats auch, dass er nach der Tat und insbesondere nach der strafgerichtlichen Verurteilung bis heute die Tat, jedenfalls wesentliche Tatbeiträge seinerseits, im Grunde leugnet und sich nicht vorbehaltlos seiner Schuld stellt. Zwar übersieht der Senat nicht, dass nach der fachlichen Einschätzung des Gutachters (vgl. S. 3 der ergänzenden Stellungnahme) nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger, wie auch viele andere vergleichbar strukturierte Täter, an seine Grenzen stößt und eine möglicherweise zusätzlich vorhandene Störung der Wahrnehmung offenbar auch dem Schutz der eigenen psychischen Stabilität dient. Immerhin weist der Gutachter darauf hin, dass es tatsächlich zu erheblichen Erinnerungsausfällen gekommen sein kann. All das mag das Verhalten zunächst nachvollziehbar erscheinen lassen. Gleichwohl spricht gegen eine - wie auch oben in anderem Zusammenhang erörterte - Auseinandersetzungsbereitschaft mit der Tat, dass der Kläger über ein Leugnen hinaus im Grunde wesentliche, wenn nicht überwiegende Tatbeiträge bzw. Verschuldensanteile auf das Opfer verschiebt. Dies gilt jedenfalls, wenn man sein gesamtes Verhalten im Zusammenhang betrachtet und die bereits oben gewürdigten Angaben zur Therapiebereitschaft und den mit Herrn W. geführten Gesprächen angemessen berücksichtigt.
36 
Anders als der Beklagte dies sieht, können allerdings bei der Beurteilung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht andere Deliktsgruppen wie Vergewaltigung, Raub, Diebstahl oder Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz einbezogen werden. Auch wenn es sich – wie der Gutachter richtigerweise ausführt – hier nicht um eine klassische Affekttat gehandelt hat, so war es doch gewissermaßen eine Beziehungstat. Hinzukommt, dass der Gutachter keine besondere, mit erhöhter Aggressivität einhergehende Persönlichkeitsstörung festgestellt hat; der Gutachter verneint ausdrücklich eine allgemeine Gewaltbereitschaft (vgl. Gutachten vom 16.06.2010, S. 21, 26 und 29), was der Beklagte offenbar aus dem Auge verloren hat. Ausgehend von den Ausführungen des Gutachters besteht kein Ansatz dafür, dass die Begehung solcher Taten auch angedacht werden müsste.
37 
Der weitere tatsächliche Ausgangspunkt des Gutachters wie auch des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei Ersttäter, wird zwar von der Beklagten in Frage gestellt, weil diese Annahme nur auf den Angaben des Klägers im Strafverfahren wie auch gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie telefonischen Auskünften der Ehefrau und der Schwägerin beruht. Eine weitere, in erster Linie nur in Kirgisistan mögliche Ermittlung ist jedoch nach Auffassung des Senats nicht geboten, zumal der Beklagte sich auch nicht zu solchen im Verwaltungsverfahren veranlasst sah. Es besteht kein Anlass, dem Kläger zu misstrauen, auch nicht deshalb, weil er behauptet hat, angegriffen worden zu sein, weil er unzutreffende Angaben über die Gespräche mit Herrn W. gemacht hat. Wenn der Kläger im Bundesgebiet nicht weiter strafrechtlich und polizeilich in Erscheinung getreten ist, was im Strafverfahren zu Tage getreten wäre, bestand für den Gutachter kein ausreichender Ermittlungsansatz für weitere Nachforschungen im sozialen Umfeld des Klägers.
38 
Auch wenn der Gutachter eine infolge der Hafterfahrung eingetretene Nachreifung festgestellt haben will (vgl. die ergänzende Stellungnahme, S. 4 f.), so verbleibt namentlich auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung des Senats ein rechtlich erhebliches Risiko der Begehung einer vergleichbaren Gewalttat.
39 
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die vom Beklagten betonte Feststellung der formellen Voraussetzungen des § 66 b a.F. StGB durch die Staatsanwaltschaft nichts besagt, weil hier gerade keinerlei Aussage zu den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung („wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“) gemacht wurde.
40 
Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung wiederum über bestimmte Prozentränge für eine Eintrittswahrscheinlichkeit diskutiert haben und sie das auch schon in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 getan hatten, möchte der Senat - wie auch schon das Verwaltungsgericht - abschließend eine wichtige Aussage des Gutachters in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2010 hervorheben, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt. Er hatte dort ausdrücklich betont, dass sich die benannten Prozentränge nur aus einzelnen Checklisten und Tests ergäben und allein dienenden und ergänzenden Charakter haben können. Sie dürften in keinem Fall die auf der Exploration beruhende endgültige kriminalprognostische Beurteilung ersetzen oder maßgeblich mitbestimmen.
41 
2. Ist der die Ausweisung tragende Grund schwerwiegend, so ist an sich der Kläger gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat den Kläger, insbesondere wegen der vorhandenen minderjährigen Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - VwZ 2008, 326) allerdings zutreffend nur im Ermessenswege ausgewiesen. Es ist damit von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall ausgegangen, denn allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG wird dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umstände auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300). Der Senat geht in diesem Zusammenhang zugunsten des Klägers davon aus, dass die Ehefrau des Klägers und auch er weiter an der Ehe festhalten, weshalb diesem Umstand aufenthaltsrechtlich eine erhebliche und weit reichende, durch Art. 6 Abs. 1 Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zukommt, zumal da die Ehefrau deutsche Staatsangehörige ist (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133; vom 27.09.1978 - 1 C 79.76 - BVerwGE 56, 246; vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 - NVwZ 1989, 770; auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschluss vom 15.6.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311). Weiter wird der Schutz erheblich verstärkt durch den Umstand, dass der Kläger nach wie vor das Sorgerecht hinsichtlich seiner deutschen Kinder hat und auch während der Haft mit diesen regelmäßig Kontakt pflegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.1980 - I 55.75 - BVerwGE 60, 126; vom 19.10.1982 - 1 C 100.78 - EzAR 124 Nr. 6). Die Frage des konkreten Schutzes wird nicht allein durch die Herabstufung im Rahmen des § 56 Abs. 1 AufenthG erschöpfend beantwortet, ihr ist vielmehr im Rahmen der Ermessensausübung nochmals umfassend und differenziert nachzugehen. Der Schutz der deutsch/ausländischen Familie wird dabei nicht durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau und die Kinder selbst aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388).
42 
Der Beklagte hat im Rahmen der von ihm angestellten und in der mündlichen Verhandlung ergänzten umfassenden Ermessenserwägungen alle relevanten Belange eingestellt und auch zutreffend gewichtet. Der Beklagte hat zwar erwogen, dass die Ehefrau und seine Kinder wegen ihrer Herkunft mit dem Kläger nach Kirgisistan zurückkehren und ihnen dieses vorübergehend zuzumuten sein könnte, hat aber bei seiner Ermessenentscheidung die endgültige Trennung letztlich unterstellt. Was das Gewicht der Folgen der Trennung betrifft, kann der Senat nicht unberücksichtigt lassen, dass gegenwärtig keinerlei persönliche Beziehung zur Ehefrau besteht und der Kläger eine Wiederaufnahme strikt abgelehnt hat und weiter ablehnt. Der Kläger konnte dem Senat auch in der mündlichen Verhandlung nicht plausibel machen, dass er ernsthaft an einer Klärung der Beziehung mit dem Ziel einer Wiederaufnahme zu arbeiten gewillt ist. Auch die Beziehung zu seinen beiden Kindern ist nach den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben auch unter angemessener Berücksichtigung der haftbedingten Erschwernisse eher lose und lässt eine intensive Teilhabe am Leben der Kinder vermissen. Es wurde auch nicht geltend gemacht, dass aus der ebenfalls maßgeblichen Sicht der Kinder eine besonders enge Bindung an den Vater besteht. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob in der Justizvollzugsanstalt F. häufigere persönliche Besuche möglich wären. Immerhin hat sich der Kläger gar nicht darauf berufen, dass diese nicht möglich wären, sondern ausschließlich geltend gemacht, der Bruder habe nicht mehr Zeit bzw. den Kindern werde bei der Autofahrt leicht schlecht. Der letztgenannte Grund leuchtet dem Senat nicht ein, wenn ein tiefer gehendes Interesse der Kinder bzw. des Klägers an einem unmittelbaren persönlichen Kontakt bestehen würde. Für diese Bewertung ist für den Senat maßgeblich, dass der Kläger beispielsweise keine genaueren Angaben über die Art der vom älteren Sohn besuchte Schule machen konnte, sondern erst auf entsprechende Nachfrage sagte, dass er nicht wisse, wie man die Schule bezeichne, und pauschal von „Mittelschule“ sprach. Dieser Umstand wie auch die Tatsache, dass er nur sehr allgemeine Angaben über den schulischen Werdegang der Kinder und deren sonstige Aktivitäten machen konnte, zeigen deutlich, dass das Interesse an seinen Kindern nicht besonders entwickelt ist. Beispielsweise konnte der Kläger nicht einmal präzise Angaben darüber machen, wo der ältere Sohn Taekwon-Do trainiere, ob etwa im Rahmen des Sportunterrichts oder außerhalb des schulischen Rahmens. Auch seine Schilderungen über den Ablauf der Besuchsaufenthalte in der Haft blieben sehr an der Oberfläche und blass. Vor dem Hintergrund der eher größeren Abstände der Besuche in der Haft konnte der Senat nicht nachvollziehen, dass er in 4 ½ Jahren seine Kinder nur 1 bis 2 Mal angerufen hat. Die Erklärung, dass er aus der Justizvollzugsanstalt auf deren Mobiltelefone nicht anrufen dürfe, wertet der Senat als Ausflucht. Denn es fehlt jeder Anhalt dafür, dass die Kinder nicht auch über einen Festnetzanschluss erreichbar sein könnten, auch wenn die Mutter über einen solchen nicht verfügen sollte. Wenn schon ein telefonischer Kontakt praktisch nicht stattfindet, so wäre bei einer wirklich gelebten intensiven persönlichen Beziehung wenigstens ein intensiver schriftlicher Kontakt zu erwarten gewesen, den der Senat aber auch nicht feststellen konnte. Nach den Angaben des Klägers schickt er lediglich Postkarten, und dann auch nur an Geburtstagen und etwa an Weihnachten. Angesichts dieser persönlichen und familiären Verhältnisse und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger erst im Alter von knapp 28 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist und nur 4 ½ Jahre straffrei im Bundesgebiet gelebt hat, erweist sich die Ausweisung in Ansehung der nicht von der Hand zu weisenden Besorgnis der Begehung vergleichbarer Gewalttaten und insbesondere unter Berücksichtigung der außerordentlich gravierenden Folgen der Tat auch nicht als unverhältnismäßig (vgl. auch die vom EGMR entwickelten sog. „Boultif/Üner-Kriterien, mit denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung plausibel und operationabel gemacht werden kann; vgl. Urteil vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz -InfAuslR 2001, 476; vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279; vom 23.06.2008 - Nr. 1683/04, Maslov/Deutschland II - InfAuslR 2008, 333).
43 
Der Senat kann daher offen lassen, ob die Ausweisung auch allein durch generalpräventive Erwägungen getragen wäre (vgl. hierzu Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris).
44 
II. Für den Kläger ergeben sich auch aus Europarecht keine weitergehende Rechte, die seiner Ausweisung entgegenstehen.
45 
1. a) Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit Urteil vom 08.03.2011 in der Rechtssache C-34/09 (Ruiz Zambrano) in einem familiär ähnlich gelagerten Fall u.a. entschieden, dass dem drittstaatsangehörigen Vater eines Kindes mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates, dem er Unterhalt gewährt, unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft (des Kindes) nach Art. 20 AEUV ein Aufenthalts- und Arbeitsanspruch zustehen kann.
46 
Ob damit, insbesondere was die Beurteilung der Rechte drittstaatsangehöriger Familienmitglieder betrifft, eine generelle Gleichstellung mit solchen Unionsbürgern verbunden ist, die bereits einmal von ihrer mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und ob etwa die Bestimmungen der Unionsbürger-RL 2004/38/EG (namentlich dessen Art. 28) entsprechend anzuwenden sind (vgl. zum Anwendungsbereich deren Art. 3 Abs. 1 und nunmehr auch EuGH, Urteil vom 05.05.2011, Rs C-434/09, McCarthy), kann der Senat offenlassen (vgl. zu dieser Frage auch das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 20.01.2011 - 11 S 1069/10 - InfAuslR 2011, 133). Denn Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG stünde einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. hierzu unten) und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG wäre ohnehin im Falle des Klägers nicht anwendbar, da er sich noch nicht 10 Jahre im Bundesgebiet aufhält.
47 
Folge der nicht möglichen unmittelbaren Anwendbarkeit der Unionsbürger-RL 2004/38/EG ist dann auch, dass das FreizügigkeitsG/EU hier ebenfalls nicht unmittelbar anzuwenden ist, es vielmehr bei der Geltung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regeln zu verbleiben hat. Diese sind allerdings unionsrechtskonform zu handhaben.
48 
b) Auch wenn infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 in Art. 24 der Grundrechtecharta (GRCh) die Kinderrechte gestärkt und bekräftigt werden, gilt der nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Ruiz Zambrano“ aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV folgende Aufenthaltsanspruch der drittstaatsangehörigen Eltern - ungeachtet einer möglichen entsprechenden Anwendbarkeit des Art. 28 RL 2004/38/EG -nicht unbeschränkt. Wie für den Fortbestand der Unionsbürgerschaft selbst (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010, Rs. C-135/08, Rottmann, Rn. 55), muss auch für deren Reichweite der primärrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fruchtbar gemacht werden (vgl. Art. 5 Abs. 4 EUV). Hiernach gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Um hierbei die von Art. 6 Abs. 2 EUV sowie Art. 52 Abs. 3 und 7 GRCh angestrebte Einheitlichkeit des europäischen Menschenrechtsschutzes, d.h. den angestrebten materiell-rechtlichen Gleichlauf zwischen EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates zu erreichen, sind bei straffällig gewordenen Eltern die vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof zu Art. 8 EMRK entwickelten sog. Boultif/Üner-Kriterien heranzuziehen (EGMR, Urteil vom 02.08.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476; Urteil vom 05.07.2005 - 46410/99 <Üner> - InfAuslR 2005, 450), die der Gerichtshof etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) zusammengefasst hat.
49 
Ob der Eingriff in das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht des Elternteils nach Art. 20 AEUV sowie das geschützte Familien- und Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, entscheidet sich mithin immer im konkreten Einzelfall unter Abwägung der aufgeführten verschiedenen Belange. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, führt jedoch auch die Anwendung der Boultif/Üner-Kriterien im konkreten Einzelfall des Klägers nicht zu einem ihm günstigen Ergebnis.
50 
c) Die Ausweisung des Klägers, dem grundsätzlich der unionsbürgerrechtliche Schutz nach Art. 20 AEUV zukommt, erweist sich auch nicht bei Berücksichtigung der sonstigen Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs zu Ausweisungen als rechtswidrig. Zwar ist die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG (in entsprechender Anwendung) und der hierzu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann eröffnet, wenn in restriktiver Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Ausnahmebestimmungen unter Ausschluss generalpräventiver Überlegungen aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung von diesem ausgeht, die darüber hinaus ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren muss (vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74, Bonsignore - Slg. 1975, 297; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - Slg. 1975, 1219; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - Slg. 1977, 1999; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81, Adoui und Cornuaille - Slg. 1982, 1665; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86, Kommission/Bundesrepublik - Slg. 1989, 2363; vom 19.01.1999 - C-348/96, Calfa - Slg 1999, I-11). Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich im Verständnis des Gerichtshofs auf ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann ausreichen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erkennen lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulus und Oliveri - Slg. 2004, I-5257). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77, Bouchereau - a.a.O.). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet ist. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59).
51 
aa) Der Europäische Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes „gesellschaftliches Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75, Rutili - a.a.O.). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
52 
bb) Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Diese Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartig weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in den dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Europäischen Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit nur die „ultima ratio“ sein darf, stehen einem solchen Verständnis entgegen; es ist auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unionsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet.
53 
Das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit, jedenfalls aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats immer dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird. Wie der Senat unter I. ausgeführt hat, ist dieses im Falle des Klägers anzunehmen.
54 
cc) Der Senat geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Schutzes vorliegen, auch wenn der Kläger aktuell seinen Kindern – abgesehen von gelegentlichen kleineren Geschenken – keinen Unterhalt leistet. Denn die Tatsache, dass er dies bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig getan hat und er nunmehr aus objektiven Gründen daran gehindert ist, muss genügen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er nach seiner Entlassung, so er über Erwerbseinkommen verfügt, weiter Unterhalt leisten wird.
55 
Angesichts der weiter bestehenden relevanten und nicht zu vernachlässigenden Wiederholungsgefahr erweist sich jedoch auch in Anwendung der unionsrechtlichen und menschenrechtlichen Maßstäbe die Ausweisung als ermessensfehlerfrei sowie als verhältnismäßig und durch ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Bewohner gerechtfertigt. Insbesondere hat der Beklagte sich nach der Erörterung möglicher unionsrechtlicher Vorgaben in der mündlichen Verhandlung dieser vergewissert und seine Ermessenserwägungen überprüft sowie seine unionsrechtlich tragfähigen Überlegungen, weshalb an der Ausweisungsverfügung festgehalten werden soll, nachvollziehbar dargelegt (vgl. Seite 3 der Niederschrift vom 04.05.2011).
56 
III. Die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung der Abschiebung aus der Haft finden ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG. Der Senat kann offen lassen, ob sich für die Ausgestaltung einer Abschiebungsandrohung nunmehr besondere Vorgaben aus der Rückführungs-RL 2008/115/EG ergeben. Denn die Richtlinie gilt nach deren Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 nur für Rückkehrentscheidungen (vgl. auch deren Art. 6), die gegenüber illegal aufhältigen Ausländern ergehen. Der Kläger ist jedoch erst mit Wirksamwerden der Ausweisungsverfügung, die in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG zum Erlöschen gebracht hat, zum illegal aufhältigen Ausländer geworden.
57 
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Zulassung der Revision auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
58 
Beschluss
59 
vom 4. Mai 2011
60 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
61 
Der Beschluss ist unanfechtbar.
62 
Funke-Kaiser Prof. Dr. Bergmann Dr. Bauer

(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

1.
vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder
2.
auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2) Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

(3) Er kann verpflichtet werden, in einem anderen Wohnort oder in bestimmten Unterkünften auch außerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde zu wohnen, wenn dies geboten erscheint, um

1.
die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden und die Einhaltung vereinsrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Auflagen und Verpflichtungen besser überwachen zu können oder
2.
die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden.

(4) Um die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5, zu einer Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 oder zu einer Abschiebungsanordnung nach § 58a geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden, kann der Ausländer auch verpflichtet werden, zu bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen und bestimmte Kommunikationsmittel oder Dienste nicht zu nutzen, soweit ihm Kommunikationsmittel verbleiben und die Beschränkungen notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Um die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden, können Beschränkungen nach Satz 1 angeordnet werden, soweit diese notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwenden.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen 1 bis 4 ruhen, wenn sich der Ausländer in Haft befindet. Eine Anordnung nach den Absätzen 3 und 4 ist sofort vollziehbar.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - geändert.

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wird aufgehoben.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1971 in Charleroi, Belgien, geborene Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung.
Er ist türkischer Staatsangehöriger und lebte von seiner Geburt bis 1979/80 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in Belgien, danach kehrte die Familie in die Türkei zurück. Dort besuchte der Kläger das Gymnasium, das er mit einem dem Abitur vergleichbaren Abschluss beendete. Am 06.05.1996 heiratete er in Cavusbasi Köyü/Türkei die am ... in B..., Deutschland, geborene Hatice Y., welche damals noch türkischer Staatsangehörigkeit war; am 17.08.1996 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. In der Folge erhielt er zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse, ab dem 16.07.2001 war er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, welche ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt.
Die Ehefrau des Klägers wurde am 06.07.1998 eingebürgert. Die Eheleute haben vier gemeinsame Kinder, zwei Töchter (geboren am 16.08.1997 und am 01.05.2001) und zwei Söhne (geboren am 17.07.1998 und am 14.04.2008), welche ebenfalls deutsche Staatsangehörige sind.
Ab dem 10.03.1997 war der Kläger zunächst bei verschiedenen Firmen beschäftigt, vom 02.11.1998 bis zum 31.10.2001 bei der Firma F., wobei er vom 27.02.2001 bis zum 09.07.2001 Krankengeld von der AOK bezog. Nach längerer Arbeitslosigkeit war er ab 2003 immer wieder selbstständig tätig - unterbrochen durch mehrmonatige Aushilfstätigkeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit -, zunächst mit einem Einzelhandel mit Lebensmitteln und Obst, welchen er von seiner Ehefrau übernommen hatte (von Juli 2003 bis Juni 2004), später (vom September 2006 bis zum Februar 2007) mit dem Gewerbe „Kleintransporte (Paketdienst)“, sodann mit einer Gebäudereinigung (ab dem 21.11.2007).
Zum 05.06.2008 meldete er das Wettbüro T. in Karlsruhe an. Am 18.12.2008 wurde er wegen des Verdachts der Geiselnahme u.a. in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - wurden der Kläger und die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der Mitangeklagte T.K. der Beihilfe zur Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Der Kläger wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, seine Mitangeklagten B.A. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, Y.K. von vier Jahren und zehn Monaten, E.G. von drei Jahren und sechs Monaten und T.K. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde hinsichtlich T.K. zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten wurden außerdem verurteilt, an die Nebenklägerin N.G. Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,-- EUR nebst Zinsen zu zahlen, wobei die seitens B.A. und Y.K. bereits erbrachten Beträge in Höhe von 2.500,-- EUR (B.A.) bzw. 3.000,-- EUR (Y.K.) auf den Schmerzensgeldbetrag anzurechnen seien. Das Urteil wurde nach Verwerfung der unter anderem vom Kläger eingelegten Revision diesem gegenüber am 10.12.2009 rechtskräftig.
Nach den Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 war Y.K. als Geschäftsführer in dem vom Kläger betriebenen Wettbüro beschäftigt und hätte Anfang des Jahres 2009 als Teilhaber einsteigen sollen. B.A. war bei einer Automatenaufstellerfirma tätig und für die Wartung der im Wettbüro aufgestellten Spielautomaten zuständig. Die Mitangeklagten E.G. und T.K., ein Schwager des Y.K., hielten sich häufig als Gäste im Wettbüro auf. Das Opfer der Straftaten, N.G., war auf Empfehlung des B.A. seit September 2008 als Aushilfe angestellt. Nachdem am 29.11.2008 zwischen 2.00 Uhr und 2.30 Uhr in das Wettbüro eingebrochen und aus Spielautomaten und einem offenen Tresor insgesamt Bargeld in Höhe von etwa 2.500,-- EUR entwendet worden war, verdächtigten die Angeklagten die im Wettbüro angestellte N.G. und deren Freund der Beteiligung an dem Einbruch. Anlass war unter anderem, dass ein Augenzeuge etwa zum Zeitpunkt des Einbruchs ein Auto bemerkt hatte, das dem des Freundes von N.G. ähnelte. Außerdem hatte N.G. wenige Stunden nach dem Einbruch per SMS mitgeteilt, sie könne am Morgen nicht zur Arbeit erscheinen, weil ihr Schwiegervater gestorben sei, was aber - wie sich nach und nach herausstellte - tatsächlich nicht stimmte. Um N.G. zu einem Geständnis zu zwingen, brachten die fünf Angeklagten diese am 30.11.2008 gegen 12.30 Uhr dazu, mit ihnen in den Keller des Wettbüros zu gehen. Dort versetzte B.A. der Angestellten N.G. zunächst zwei derart heftige Ohrfeigen, dass sie ein Loch im linken Trommelfell erlitt. Danach hielt B.A. dieser eine von ihm - ohne Wissen der anderen - mitgeführte, nicht ausschließbar ungeladene Schreckschusswaffe, die er zuvor mehrfach durchgeladen hatte, an die Stirn, so dass N.G. befürchtete, erschossen zu werden, und Todesangst verspürte. Unter Ausnutzung der Todesangst von N.G. versuchten die Angeklagten in den nächsten Stunden - allerdings vergeblich -, von dieser ein Geständnis zu erpressen. A.B. drückte ihr ein Kissen auf das Gesicht und tat so, als ob er dieses als Schalldämpfer verwenden würde. Auf Vorschlag des Klägers behauptete er sodann, man habe ein paar Leute zu ihrem Freund geschickt, welche ihn mit einem Baseballschläger "zusammengeschlagen" hätten, woraufhin dieser alles zugegeben hätte. B.A. oder E.G. drohten später damit, N.G. mit einer Handsäge einen Finger abzusägen. Als N.G. darum bat, auf Toilette gehen zu dürfen, wurde ihr dies mit dem Hinweis verweigert, sie solle „in die Hose pissen“. Bei diesen Übergriffen und Bedrohungen leistete T.K. lediglich psychische Beihilfe, während die anderen aktiv beteiligt waren. Nachdem B.A. und E.G. zwischen 14.30 Uhr und 15.00 Uhr den Keller verlassen hatten, wurde N.G. gegen 16.00 Uhr vom Kläger, Y.K. und T.K. freigelassen und von T.K. nach Hause gefahren. N.G. leidet noch heute erheblich unter den psychischen Folgen der Tat. Bezüglich der Strafzumessung wird in dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe hinsichtlich des Klägers unter anderem dargelegt: Die Kammer sei der Auffassung, dass die Voraussetzungen der tätigen Reue (§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 StGB) vorgelegen hätten, weil die Täter von einer weiteren Befragung der Geschädigten abgesehen hätten. Für die Annahme eines minder schwereren Falls der Geiselnahme (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 StGB) spreche, dass der Kläger bereits im Ermittlungsverfahren ein Geständnis abgelegt und dieses in der Hauptverhandlung aufrechterhalten habe, wobei der Kammer das Geständnis allerdings nur bedingt getragen von Einsicht und Reue erscheine, weil der Kläger immer wieder darauf hingewiesen habe, er hätte nicht gegen die weitere Tatausführung einschreiten können. Für ihn spreche außerdem, dass er bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei, sich schriftlich bei der Geschädigten entschuldigt und einen eher geringen Tatbeitrag geleistet habe. Es sei aber auch zu berücksichtigen, dass er als Inhaber des Wettbüros ein Hauptinteresse daran gehabt habe festzustellen, ob seine Angestellte tatsächlich an dem Einbruch beteiligt gewesen sei, dass tateinheitlich zum Verbrechen der Geiselnahme auch ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung begangen worden, dass er über dreieinhalb Stunden an der Tatbegehung beteiligt gewesen sei und dass die Geschädigte nicht nur eine körperliche Verletzung in Form einer Trommelfellperforation mit erheblichen Höreinschränkungen erlitten habe, sondern noch heute schwer unter den psychischen Folgen der Tat leide. Die nicht vertypten Milderungsgründe reichten daher nicht aus, um das Vorliegen eines minder schweren Falles zu bejahen. Unter weiterer Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger tätige Reue im Sinne von §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 4 StGB geleistet habe, sei allerdings unter Heranziehung dieses Strafmilderungsgrundes das Vorliegen eines minder schweren Falles bejaht worden.
Im Anschluss an die Untersuchungshaft verbüßte der Kläger vom 10.12.2009 bis zu seiner Entlassung am 22.12.2011 Strafhaft, ab dem 08.04.2010 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bruchsal. Zwei Drittel der Strafe waren am 17.04.2011 vollstreckt, Endstrafentermin wäre der 17.06.2012 gewesen. In dieser Zeit erhielt der Kläger regelmäßig Besuch von seiner Ehefrau und seinen Kindern sowie von anderen Verwandten und Bekannten. Von September 2010 bis Juli 2011 nahm er zweimal wöchentlich an Deutschkursen teil. Er arbeitete in einem Unternehmerbetrieb der JVA. In Vollzugsplänen und Berichten der JVA Bruchsal vom 05.05.2010, 12.05.2010, 08.02.2011, 12.09.2011 und 12.10.2011 wurde unter anderem dargelegt: Disziplinarrechtlich habe gegen den Kläger nicht eingeschritten werden müssen, es sei auch zu keinen Unregelmäßigkeiten bezüglich Drogen oder Alkohol gekommen. Er könne sehr nervenaufreibend sein, weil er täglich mehrere Anliegen habe, die er durchzusetzen versuche. Er werde dabei jedoch nie aggressiv, sondern zeige fehlendes Verständnis, reagiere weinerlich oder unbeirrbar. Im Unternehmerbetrieb gelte er wegen seiner ständigen Anliegen als Sorgenkind, erledige aber seine Arbeit zuverlässig, es sei nicht zu unentschuldigten Ausfallzeiten gekommen. Er habe noch Schulden in Höhe von etwa 45.000,-- EUR. Während in früheren Stellungnahmen der JVA, unter anderem vom 08.02.2011, Zweifel an einer Tataufarbeitung und einer echten Reue des Klägers geäußert wurden, wurde in einem Bericht vom 12.10.2011 ausgeführt, der Kläger habe über seine Straftat intensiv nachgedacht, könne sich zumindest über den Vergleich mit eigenen Bedrängungserfahrungen in das Opfer einfühlen, sei nicht die treibende Kraft gewesen und scheine seine Straftat tatsächlich zu bereuen. Die Landesstiftung Opferschutz habe am 16.07.2011 bestätigt, dass er 1.000,-- EUR Schmerzensgeld in Raten bezahlt habe. Als stabilisierender Faktor werde seine Familie gesehen. Der psychologische Dienst gehe davon aus, dass ein kriminalprognostisches Gutachten zu dem Schluss kommen werde, dass eine weiterhin bestehende Gefahr nicht festgestellt werden könne.
Bereits mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1). Außerdem wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht (Ziff. 2). Für den Fall, dass er vor der beabsichtigten Abschiebung aus der Haft entlassen werde, wurde er aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einem Monat nach seiner Entlassung zu verlassen; für den Fall, dass er nicht fristgerecht ausreise, wurde ihm die Abschiebung angedroht (Ziff. 3). Zur Begründung wurde dargelegt: Dem Kläger stehe kein erhöhter Ausweisungsschutz aufgrund eines Rechts zum Aufenthalt nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 zu. Eine nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 privilegierte aufenthaltsrechtliche Position habe nicht mehr erworben werden können, weil seine Ehefrau zwei Jahre nach Beginn der ehelichen Lebensgemeinschaft die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 seien ebenfalls nicht entstanden. Bei der Firma F. habe der Kläger zwar vom 02.11.1998 bis zum 26.02.2001 und vom 09.07.2001 bis zum 31.10.2001 gearbeitet. In der Zwischenzeit, vom 27.02.2001 bis zum 08.07.2001, habe er jedoch Krankengeld von der AOK bezogen. Selbst wenn man davon ausginge, dass er drei Jahre ordnungsgemäß bei einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, wäre seine Rechtsstellung nach Art. 6, 2. Spielgelstrich ARB 1/80 wieder erloschen. Denn im Anschluss an die Beschäftigung bei der Firma F. habe er ab November 2001 bis zum 27.07.2003 Leistungen der Agentur für Arbeit bezogen. Seine Ehefrau habe in dieser Zeit ein Gewerbe (Obst- und Gemüsehandel) betrieben. Ab Oktober 2003 habe er dieses übernommen, bis er es im Januar 2004 wieder aufgegeben habe. Nach kurzen Arbeitsverhältnissen, Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie Zeiten der Ausübung zweier anderer Gewerbe, sei schließlich zum 05.06.2008 die Anmeldung des Wettbüros erfolgt. Die Aufnahme einer auf Dauer angelegten selbstständigen Tätigkeit führe jedoch zum Erlöschen bereits entstandener Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid sei daher das Aufenthaltsgesetz. Der Kläger erfülle den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG. Er genieße jedoch wegen der bestehenden Niederlassungserlaubnis und der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau und seinen Kindern besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG. Es sei daher zu prüfen, ob ein schwerwiegender Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorliege. Das sei der Fall. Die vom Kläger und seinen Mittätern aufgrund von Selbstjustiz begangene Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung wiege ausgesprochen schwer. Der Tathergang verdeutliche, dass der Kläger ein erhebliches Maß an krimineller Energie besitze, welches bei verständiger Würdigung aller für und gegen ihn sprechenden Umstände der Tatbegehung die Grenzen der Bagatellkriminalität bei weitem überschreite. Er sei offenkundig nicht in der Lage oder auch nicht gewillt, sich an die im Bundesgebiet bestehende Rechtsordnung zu halten. Deshalb könne ihm keineswegs eine günstige Sozialprognose gestellt werden. Nach den vorliegenden Berichten der JVA habe eine Tataufarbeitung wegen der fehlenden differenzierten Deutschkenntnisse noch nicht erfolgen können. Bislang sei danach auch nicht erkennbar, dass der Kläger ein Schuldbewusstsein oder eine Empathie für das Opfer entwickelt habe. Die Ausweisung sei daher aus spezialpräventiven Gründen geeignet und erforderlich. Sie werde auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt. Es bestehe ein dringendes soziales Bedürfnis, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Gewalttaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Wegen des besonderen Ausweisungsschutzes und mit Blick auf die Familie des Klägers und Art. 8 EMRK liege eine Ausnahme von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG vor, so dass über die Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden sei. Sie sei hier gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig. Der Kläger sei mit einer türkischstämmigen Frau verheiratet, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen habe, und Vater von vier deutschen Kindern. Beruflich sei es ihm nicht gelungen, sich im Bundesgebiet zu integrieren. Der Aufbau eines eigenen Betriebes sei immer wieder gescheitert. In dem zuletzt betriebenen Wettbüro habe er mehrere Personen beschäftigt, ohne diese anzumelden. Dies sowie die Tatsache, dass er bereit gewesen sei, eine von ihm verdächtige Person als Geisel zu nehmen, um aus ihr mit brutalsten physischen und psychischen Methoden ein Geständnis zu erpressen, sei ein Beleg für eine Denkweise, welche nicht den Wertvorstellungen der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland entspreche. Es sei nicht erkennbar, dass der Kläger von seinem Heimatland, das er vor vierzehn Jahren im Alter von 25 verlassen habe, entfremdet sei. In Anbetracht des gravierenden Verstoßes gegen die geltende Rechtsordnung könnten die rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen der Ausweisung, die mit einer Übersiedlung in die Türkei verbunden seien, nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Dies gelte auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Schließlich könne er gegebenenfalls einen Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung stellen. Hilfsweise sei festzustellen, dass die Ausweisung des Klägers auch dann - im Ermessenswege nach Art. 14 ARB 1/80 i.V.m. § 55 AufenthG -gerechtfertigt sei, wenn man davon ausgehe, dass ihm eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zustehe. Für diesen Fall sei die Ausweisung jedoch lediglich auf spezialpräventive Gründe zu stützen. Die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 59 Abs. 1 AufenthG.
Am 04.11.2010 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage, zu deren Begründung er im Wesentlichen vortrug: Eine Trennung von seiner Familie wäre unverhältnismäßig. Weder verfügten er und seine Familie über die erforderlichen finanziellen Mittel für regelmäßige Besuche noch hätte er die Möglichkeit, die Kontakte angemessen aufrechtzuerhalten. Zudem sei die Ausweisung weder aus generalpräventiven noch aus spezialpräventiven Gründen angemessen. Er sei das erste Mal straffällig geworden. Aus dieser - einmaligen -Entgleisung, die nicht verharmlost werden solle, könne nicht auf ein grundsätzliches Verhaltensmuster für die Zukunft geschlossen werden. Im Übrigen sei er vom 01.11.1998 bis zum 31.10.2001 durchgehend bei der Firma F. beschäftigt gewesen, weshalb er als Assoziationsberechtigter anzusehen sei.
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Das beklagte Land trat der Klage entgegen.
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Mit Urteil vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Es bedürfe keiner abschließenden Beurteilung, ob der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 erworben habe, denn eine solche wäre jedenfalls durch die Aufnahme einer Tätigkeit als Selbstständiger erloschen. Weil er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG genieße, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche seien hinsichtlich des spezialpräventiven und bezüglich des generalpräventiven Ausweisungszwecks aufgrund der vom Kläger verübten Straftat gegeben. In Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität seien die Voraussetzungen für eine spezialpräventive Ausweisung grundsätzlich zu bejahen. Beim Kläger bestehe ein gegenüber dem Durchschnittsbürger sogar beträchtlich erhöhtes Risiko, auch künftig wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Dafür sprächen die nicht unerhebliche kriminelle Energie, die er an den Tag gelegt habe, und die konkrete Tatausführung. Diese lasse ein erhebliches Maß an Gewaltanwendung gegenüber Personen erkennen; sie habe zu gravierenden Folgen für das Opfer geführt. Ausweislich eines Berichts der JVA vom 08.02.2011 habe die Freiheitsstrafe nur insoweit die erwünschte Wirkung gezeigt, als der Kläger die negativen Folgen für seine Familie eingesehen habe, mit den Folgen der Tat für das Opfer habe er sich noch nicht erkennbar auseinandergesetzt. Da die Tat zudem eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belege, könne ihm keine günstige Sozialprognose erteilt werden. Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - sei hier wegen der tatsächlich gelebten familiären Gemeinschaft des Klägers mit den vier ehelichen Kindern des Klägers zu sehen. Die entsprechenden Ermessenserwägungen seien im Ergebnis rechtsfehlerfrei. Die dem Kläger als Mittäter der begangenen Straftaten zurechenbare Gewaltanwendung wiege derart schwer, dass seine Ausweisung auch mit Blick auf die Schutzwirkungen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig sei.
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Auf den am 14.03.2011 vom Kläger gestellten Antrag hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 17.05.2011 - 11 S 875/11 - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 zugelassen. Diese hat der Kläger am 26.05.2011 unter Stellung eines Antrags begründet.
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Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe holte die Vollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe mit Schreiben vom 03.06.2011 ein kriminalprognostisches Gutachten der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie - Zentrum für Psychiatrie - Wiesloch ein. Das daraufhin erstattete Gutachten von Herrn Dr. Sp..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Herrn S..., Facharzt für Psychiatrie, vom 24.09.2011 kommt zu dem Ergebnis, dass nicht mehr davon ausgegangen werden könne, dass die durch die Tat beim Kläger zutage getretene Gefährlichkeit fortbestünde. Dabei wurde die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat als prognostisch ungünstiger Faktor gewertet. Der Kläger sei bei der Tat aber eher passiv im Hintergrund geblieben. Beim Tatgeschehen komme somit situativen Faktoren (Eingebundenheit in eine Tätergruppe bei Vorhandensein von freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten, Unterordnung unter dominant auftretende Persönlichkeiten) ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zu. Der Kläger habe sich im Rahmen der Haft im Wesentlichen angepasst und korrekt verhalten. Dass er dabei seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen habe, lasse sich nicht als prognoserelevanter Faktor verwerten. Es existierten stabile familiäre Anbindungen. Auch die beruflichen Planungen des Klägers erschienen nicht unrealistisch. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich zu dem einzigen ungünstigen Faktor - der fehlenden inneren Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat - deutlich. Nach einer Anhörung des Klägers am 16.12.2011 wurde mit Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 21.12.2011 die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt; der Kläger wurde der Leitung und Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Daraufhin wurde er am 22.12.2011 aus dem Strafvollzug entlassen.
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Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass die Rechtstellung aus Art. 6 ARB 1/80 mit Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit erlösche. Die Ausweisung genüge nicht den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Im Übrigen hätte ein Widerspruchsverfahren durchgeführt bzw. über die Ausweisung noch durch eine „unabhängige Stelle“ entschieden werden müssen. Schon aus diesem Grund sei sie aufzuheben. Unabhängig davon sei die Ausweisung hier mit Blick auf die Tatsache, dass die Ehefrau des Klägers und seine Kinder deutsche Staatsangehörige seien, rechtswidrig. Soweit im Urteil dargelegt werde, der Rechtsstellung der Kinder des Klägers könne durch Besuche der Ehefrau mit den Kindern in der Türkei Rechnung getragen werden, werde nicht die dem Kläger gemäß Art. 20 AEUV zukommende europarechtliche Rechtsposition berücksichtigt. Anzugreifen sei auch, dass die erste Instanz eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung mangels Befristung verneine. Dies verstoße gegen Art. 8 EMRK. Nach dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 bestehe die bei der Tat zutage getretene Gefährlichkeit inzwischen nicht mehr. Die Arbeitssuche des Klägers nach seiner Haftentlassung sei durch seine erheblichen gesundheitlichen Probleme belastet gewesen. Er habe am 20./21.04.2012 in eine Klinik aufgenommen und später erneut - vom 06.06. bis zum 14.06.2012 - stationär behandelt werden müssen. Zum 24.07.2012 habe er dann einen Arbeitsplatz als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe gefunden, wonach er bei einer durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit von 25 bis 30 Wochenstunden 1.000,-- EUR brutto monatlich verdiene.
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Nachdem das Regierungspräsidiums Karlsruhe in der mündlichen Verhandlung die Sperrwirkungen der Ausweisung vom 22.10.2010 auf zwei Jahre befristet hat, beantragt der Kläger,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 - 4 K 3079/10 - zu ändern und den Bescheid vom 22.10.2010 aufzuheben,
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hilfsweise: das beklagte Land zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen.
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Das beklagte Land beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Es trägt vor: Das Verwaltungsgericht Karlsruhe habe zutreffend die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 22.10.2010 bestätigt und berücksichtigt, dass eine Rechtsstellung aus Art. 6 ARB 1/80 - selbst wenn der Kläger sie erworben hätte - dadurch erloschen wäre, dass er eine Tätigkeit als Selbstständiger aufgenommen habe. Durch die Ausweisung werde kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens begründet. Der Kontakt zur Ehefrau und den Kindern des Klägers könne durch Besuche in der Türkei, Briefe, Telefonate und E-Mails aufrechterhalten werden. Da der Kläger die deutsche Sprache nicht richtig beherrsche und sich bei Besuchen in türkischer Sprache unterhalten habe, sei davon auszugehen, dass die Familie ebenfalls mit der Türkei vertraut sei. Ein Leben in der Türkei wäre für den Kläger auch nicht unzumutbar, weil er zuvor ebenfalls dort gelebt habe, dort noch seine Mutter und Geschwister wohnten und er auch die türkische Sprache beherrsche. Zu dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 sei auszuführen: In dem Gutachten werde einmal mehr die „weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung“ des Klägers mit seiner Tat und den Folgen für das Opfer bestätigt. Die von ihm signalisierte Betroffenheit über das Leid des Opfers wirke auf die Gutachter sogar „affektiv eher flach und vordergründig“. Für die Gutachter sei der Eindruck entstanden, dass der Kläger „insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen erschien“. Ein tiefergehendes Mitgefühl für das Opfer sei trotz verbaler Bekundung wenig spürbar gewesen. Diese Einschätzung decke sich mit einem Bericht der JVA Bruchsal vom 08.02.2011, demzufolge „eine wirkliche Tataufarbeitung ... nicht sichtbar“ werde, und dem Eindruck, den der Kläger beim erstinstanzlichen Gericht hinterlassen habe. Das Verwaltungsgericht habe sich immerhin zu der deutlichen Formulierung veranlasst gesehen, „dass er sich mit seiner Gewaltproblematik noch nicht, jedenfalls in nicht ausreichendem Maße, auseinandergesetzt hat und die Tat eine hohe Bereitschaft für eine im Heimatland des Klägers in bestimmten Bereichen auch heute noch übliche und gesellschaftlich akzeptierte Selbstjustiz belegt“. Mit anderen Worten: Wenn sich der Kläger in einer vergleichbaren Situation wiederfinde, in der jemand der Wahrheit auf die Sprünge helfen wolle, sei nach wie vor keine ethische Schranke bei ihm installiert, die ihn davor bewahre mitzumachen. Das Gutachten vom 24.09.2011 werte zwar zugunsten des Klägers, dass den situativen Faktoren ein wesentliches Gewicht am Zustandekommen der Tat zugekommen sei. Es liefere aber nicht den geringsten neuen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kläger das nächste Mal der Gruppendynamik entziehen oder gar widersetzen würde, wenn Gewalt ins Spiel komme. Aus diesen Gründen bestehe keine Veranlassung, von der aufgrund der mündlichen Verhandlung in erster Instanz gewonnenen und vom Verwaltungsgericht zutreffend begründeten Einschätzung Abstand zu nehmen.
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Auf einen Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 11.08.2011 - 11 S 2027/11 - die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 angeordnet.
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In einem Bericht der Bewährungshelferin vom 24.07.2012 sowie einem ergänzenden Schreiben vom 25.09.2012 wird dargelegt: Insgesamt sei in dem bisherigen Bewährungsverlauf nichts zu beanstanden. Der Kläger habe sich - zunächst vergeblich - intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts sei es ihm gelungen, seinen Führerschein der Klasse 3 wieder zu erlangen. Insgesamt sei es dem Kläger nach der Haftentlassung nicht gut gegangen, er habe noch sehr unter den Nachwirkungen gelitten und sei durch seinen behandelnden Arzt wegen Depressionen medikamentös behandelt worden. Am 25.05.2012 habe er sich wegen starker Schmerzen ins Krankenhaus begeben müssen. Nach mehreren Untersuchungen seien ihm am 21.06.2012 stationär mehrere Nierensteine entfernt worden. Er habe sich wirklich bemüht, wieder zu der „arbeitenden Bevölkerung“ zu gehören. Seit dem 24.07.2012 sei er als Fahrer beschäftigt; er verdiene monatlich etwa 1.000,-- EUR. Er hätte die Möglichkeit, einen Kiosk in Karlsruhe-Durlach zu übernehmen; seine Ehefrau würde dann mit ihm zusammenarbeiten.
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Dem Senat liegen die Akten des Regierungspräsidiums Karlsruhe über das Ausweisungsverfahren (2 Hefte), die ausländerrechtlichen Akten des Landratsamts Karlsruhe bezüglich des Klägers (2 Hefte), seiner Ehefrau (1 Heft) und der ältesten Tochter (1 Heft), die Gefangenenpersonalakten der JVA Bruchsal (1 Heft), die Strafakten betreffend das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 30.06.2009 - 3 KLs 110 Js 41778/08 - (8 Hefte) sowie das Bewährungsheft des Landgerichts Karlsruhe - 15 BWL 213/11 - vor. Diese sind ebenso wie die Akten über das Klageverfahren beim Verwaltungsgerichts Karlsruhe - 4 K 3079/10 -, über das vorliegende Berufungsverfahren - 11 S 1470/11 - und über das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - 11 S 2027/11 -Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
24 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht und ordnungsgemäß begründete (§ 124a Abs. 6 und Abs. 3 Satz 4 VwGO) Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.03.2011 hat Erfolg. Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 22.10.2010 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156, und vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris) begründet. Die darin unter Ziffer 1 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unter Ziffern 2 und 3 sind rechtswidrig und verletzen dadurch den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einer Entscheidung über den vom Kläger im Berufungsverfahren lediglich hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung des beklagten Landes zur Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Wirkungen der Ausweisung "auf sofort" (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O.) bedarf es daher nicht.
I.
25 
Die auf §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG beruhende (dazu unter 1. und 2.) Ausweisung des Klägers, die hier im Ermessen des beklagten Landes steht (3.), ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig (4.).
26 
1. Maßgebliche Rechtsgrundlage sind die §§ 53 Nr. 1, 56 Abs. 1, 55 AufenthG.
27 
Insbesondere sind nicht etwa allein wegen des Umstands, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers deutsche Staatsangehörige sind, besondere unionsrechtliche Anforderungen zu beachten (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 05.05.2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - InfAuslR 2011, 268, und vom 15.11.2011 - Rs. C-256/11, Dereci - InfAuslR 2012, 47; Senatsurteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412).
28 
Eine nur beschränkte Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG folgt hier auch nicht aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80; vgl. insbesondere Art. 14 ARB 1/80). Eine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 hat der Kläger nicht erworben, weil seine Ehefrau vor Ablauf von drei Jahren nach Zuzug des Klägers eingebürgert wurde und die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat (vgl. dazu Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 4 Rn. 156 m.w.N.). Ob er jemals die Voraussetzungen des - hier allein in Betracht kommenden - 2. Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt hat, kann offen bleiben. Denn er hat eine eventuelle Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch die spätere Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten, zuletzt den Betrieb des Wettbüros - aufgrund dessen der Kläger jedenfalls dem Arbeitsmarkt auf unabsehbare Zeit nicht mehr zur Verfügung stand - verloren (streitig, ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - InfAuslR 2004, 230; Bayer. VGH, Urteil vom 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - juris; vgl. zum Streitstand GK-AufenthG, Stand: September 2012, IX - 1 Art. 6 Rn. 238 f.; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2012, D 5.1, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 46). Letztlich kommt es aber auf diese Frage hier nicht an. Folge einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers wäre ein erhöhter Ausweisungsschutz (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris m.w.N.). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, erweist sich die Ausweisung auch dann als rechtswidrig und ist daher aufzuheben, wenn ihm dieser nicht zukäme.
29 
2. Allerdings sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Ist-Ausweisung" nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das ist hier wegen der Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Karlsruhe vom 30.06.2009 wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten der Fall.
30 
3. Trotz Erfüllung des an sich zwingenden Ausweisungsgrundes des § 53 Nr. 1 AufenthG steht die Ausweisung des Klägers jedoch im Ermessen und ist deshalb nach § 55 AufenthG zu beurteilen. Der Kläger genießt unstreitig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz (a). Er darf daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG, also auch hier, vor. Diesbezüglich ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen (b). Hier ist aber eine Ausnahme von der "Regelrechtsfolge" des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geboten, wonach der betreffende Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG "in der Regel" ausgewiesen wird. Über seine Ausweisung ist daher nach Ermessen zu entscheiden (c).
31 
a) § 56 Abs. 1 AufenthG ist aus zwei Gründen anzuwenden: Zum einen besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis und hält sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), zum anderen lebt er mit deutschen Familienangehörigen - seiner Ehefrau und seinen Kindern - in familiärer Lebensgemeinschaft (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG).
32 
b) Der danach für eine Ausweisung des Klägers erforderliche schwerwiegende Grund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ist gegeben.
33 
Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5 bis 5b und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass - hier des § 53 AufenthG - als weniger gewichtig erscheinen lassen. Davon ist auszugehen, wenn im konkreten Fall weder die spezial- noch die generalpräventiven Ausweisungszwecke des betreffenden Ausweisungstatbestands in dem erforderlichen Ausmaß vorliegen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, m.w.N.; vgl. auch Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72).
34 
Im Falle des Klägers ist zwar nicht mit Blick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck (aa), aber vor dem Hintergrund der zulässigen generalpräventiven Erwägungen ein schwerwiegender Ausweisungsgrund (bb) zu bejahen.
35 
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass vom Kläger die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgeht. Die Ausweisung kann daher nicht mehr auf spezialpräventive Gründe gestützt werden.
36 
Allerdings ist der Ausweisungsanlass - die vom Kläger begangene Straftat der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - besonders gravierend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 - juris, vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris, vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3, und vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -InfAuslR 2005, 18), der sich der Senat anschließt (einschränkend noch Senatsurteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492, und vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291), gelten bei Straftaten mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. In den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 AufenthG besteht auch eine gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn man danach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab folgt, bedeutet dies aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. m.w.N.). Dies gilt nicht nur bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr bei Assoziationsberechtigten oder Unionsbürgern, sondern jedenfalls auch bei Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zusteht. Auch in diesen Fällen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von dem Betreffenden eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Lässt sich die Begehung weiterer Straftaten lediglich nicht ausschließen, ist eine dem besonderen Ausweisungsschutz Rechnung tragende erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht gegeben, so dass auch der Ausweisungsgrund nicht schwer wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - a.a.O., sowie - zu den entsprechenden Vorgängerregelungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 11 Abs. 1 AuslG 1965 - Urteile vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8, und vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 - InfAuslR 1989, 152; Beschluss vom 10.02.1995 - 1 B 221.04 - InfAuslR 1995, 273, m.w.N.).
37 
Der Senat ist aufgrund der vorliegenden Akten und Unterlagen, insbesondere des von der Strafvollstreckungskammer im Verfahren auf Aussetzung der Reststrafe eingeholten, nachvollziehbaren und überzeugenden kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011, sowie aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem keine nennenswerte Gefahr der Wiederholung von entsprechenden Straftaten (mehr) ausgeht.
38 
Zu Lasten des Klägers sind in diesem Zusammenhang allerdings zunächst neben der Schwere des begangenen Delikts die konkreten Tatumstände zu berücksichtigen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger zwar nicht der Haupttäter war, er jedoch als Inhaber des Wettbüros eine besondere Verantwortung für das Geschehen trug, und dass er über einen Zeitraum von über dreieinhalb Stunden an der Geiselnahme mitgewirkt hat, bei welcher durch eine menschenunwürdige Befragung unter Anwendung und Androhung von Gewalt der Versuch unternommen wurde, von der Angestellten N.G. ein Geständnis für den vermeintlich von dieser bzw. deren Freund begangenen Einbruch zu erhalten. Der Kläger war dabei auch nicht etwa nur passiv beteiligt, sondern unterstützte seine Mittäter aktiv. Bereits am Vorabend der Tat war verabredet worden, N.G. Ohrfeigen zu versetzen. Zwar nahm der Haupttäter B.A. die Schreckschusspistole ohne Wissen der anderen mit. Zum einen schritten sie aber nicht gegen B.A. ein, welcher den Eindruck erweckte, N.G. erschießen zu wollen. Zum anderen nutzten sie die dadurch bei N.G. entstandene Todesangst in der Folge weiter aus bei ihren Bemühungen, ein Geständnis zu erzwingen, und hielten diese aufrecht. Der Kläger hatte außerdem die Kellertür selbst verschlossen und versperrte mit seinen Füßen den Ausgang, so dass das Opfer keine Chance hatte, den Keller zu verlassen. Er beteiligte sich aktiv an Vorhaltungen und an den Forderungen, die Tat einzuräumen, wenngleich weniger intensiv als die Mitangeklagten B.A., Y.K. und E.G. Nachdem N.G. bereits mit der Schreckschusswaffe bedroht worden war und Todesangst litt, schaltete er auf Aufforderung des Haupttäters B.A. das Licht aus, so dass eine noch bedrohlichere Atmosphäre entstand. Später schlug er dem Haupttäter auf Türkisch vor, N.G. mit der Behauptung zusätzlich unter Druck zu setzen, man habe zwischenzeitlich ihren Freund mit einem Baseballschlager "zusammengeschlagen", woraufhin dieser gestanden hätte. Nachdem B.A. den Keller verlassen hatte, befragten der Kläger, Y.K. und T.K. das Opfer N.G. zunächst weiter, bevor sie diese freiließen. Der Kläger nahm damit massive körperliche und psychische Schädigungen der N.G. billigend in Kauf. Wenn auch er und die verbliebenen Mittäter in der Folge von einer weiteren Tatausführung absahen, weshalb das Strafgericht von einer tätigen Reue ausgegangen ist, teilt der Senat die Einschätzung des Regierungspräsidiums, dass die Tat und die Tatumstände für ein erhebliches Maß an krimineller Energie des Klägers sprechen. Es handelt sich um eine besonders gravierende und mit einer erschreckenden Härte und Mitleidlosigkeit begangene Straftat.
39 
Der Kläger hat sich zudem, abgesehen von mehreren Gesprächen mit einem Psychologen in der Justizvollzugsanstalt, nicht mit professioneller Hilfe mit der Tat und den Auswirkungen für das Opfer auseinandergesetzt. An der Tiefe der von ihm in der Vergangenheit in Gesprächen geäußerten Betroffenheit über das Geschehen sind nicht nur in den ersten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, sondern auch in dem kriminalprognostischen Gutachten vom 24.09.2011 Zweifel geäußert worden. In dem Gutachten heißt es, es bestehe der Eindruck, dass der Kläger insgesamt emotional stärker durch die Folgen der Tat für ihn und seine Familie als durch die Folgen für das Opfer betroffen sei. Auch habe er seinen eigenen Tatbeitrag im Rahmen der Begutachtung tendenziell eher heruntergespielt. Es hätten sich somit keine Hinweise für eine tiefergehende innere Auseinandersetzung mit der Tat, respektive mit dem eigenen Beitrag zum Tatgeschehen, gefunden. So habe dieser nicht plausibel und nachvollziehbar darlegen können, weshalb er sich in keiner erkennbaren Weise für das Opfer eingesetzt habe, obgleich er das Handeln seiner Mittäter missbilligt haben wolle. Die von ihm angeführte Begründung, dass er Angst davor gehabt hätte, der Mittäter B.A. könnte die Waffe gegen ihn selbst einsetzen, erscheine insgesamt wenig plausibel. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Straftat und den in der eigenen Person liegenden diesbezüglich relevanten Einstellungen und Motiven wird von den Gutachtern daher in prognostischer Hinsicht als ungünstiger Faktor gewertet. Tatsächlich hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar erklären können, wie es so weit hat kommen können, vor allem, warum er nicht irgendwann eingeschritten ist. Offensichtlich kann er sich das bis heute selbst nicht erklären. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließ sich aber eine - glaubhafte - starke Betroffenheit und Reue entnehmen. Dies wurde unter anderem deutlich, als er erläuterte, dass er sich vorgestellt habe, das Opfer wären seine Ehefrau oder seine Tochter gewesen, und dass ihm klar geworden sei, welche Folgen die Tat für N.G. habe. Abgesehen von dem bereits entrichteten Schmerzensgeld für N.G. würde er gerne alles unternehmen, damit es ihr besser gehe.
40 
Selbst wenn sich danach bis heute letztlich nicht erklären lässt, wie es zu einer solchen Straftat hat kommen können, und eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Tat fehlt, besteht beim Kläger nicht die Gefahr einer Wiederholung erheblicher Straftaten. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass die Straftat inzwischen fast vier Jahre zurückliegt. Der Kläger war über drei Jahre lang in Untersuchungs- und Strafhaft, welche ihn erkennbar tief beeindruckt hat. Zuvor hat er sich - abgesehen von einem nicht einschlägigen und nicht mehr zu berücksichtigenden Straßenverkehrsdelikt im Jahr 1998 - über 10 Jahre lang straffrei und bis zur Übernahme des Wettbüros - dessen Beschäftige allerdings nicht alle ordnungsgemäß angemeldet gewesen seien - ohne Beanstandungen in Deutschland aufgehalten. Nach dem Gutachten vom 24.09.2011 finden sich keine Hinweise für Berührungspunkte mit "spezifisch delinquenznahem Milieu" und auch keine Hinweise für eine tiefer in der Persönlichkeit des Klägers verankerte delinquente Neigung, etwa eine dissoziale Akzentuierung in seiner Persönlichkeit. Anhaltspunkte für eine Sucht oder eine Bindung an ein entsprechendes Milieu liegen nicht vor. Vor allem lebte und lebt er in einer stabilen partnerschaftlichen Beziehung. Die Gutachter bescheinigen ihm, dass die von ihm bekundeten Sorgen um die Entwicklung der Familie und der Kinder nachvollziehbar und glaubhaft sind. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Kläger tatsächlich einen starken Rückhalt durch seine Familie und weitere Verwandte hat. In Deutschland leben noch zwei seiner Brüder. Mit seiner Frau und seinen Kindern besucht er oft die Familie seiner Ehefrau, das heißt deren Eltern und Geschwister, oder einen seiner beiden Brüder, der ebenfalls in der Nähe wohnt. Seine Ehefrau, er und die Kinder unternehmen am Wochenende gemeinsame Ausflüge. Sie begleiten den Sohn, der Handball in der Verbandsliga spielt, zu dessen Spielen, gehen auf den Jahrmarkt, ins Kino, auf Messen oder zu Verwandtenbesuchen. Der Kläger ist dafür zuständig, seinen Kindern bei Hausaufgaben im Fach Mathematik zu helfen. Er hat glaubhaft erklärt, dass er sich jetzt nur noch um seine Familie kümmern wolle. Zu den früheren Mittätern oder deren Umfeld hat der Kläger keinerlei Kontakt mehr. Die danach bestehenden starken Bindungen des Klägers an seine Familie und sein soziales Umfeld wertet der Senat, ebenso wie die Gutachter, als prognostisch günstige Kriterien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung des Regierungspräsidiums, der Kläger könnte erneut in eine Situation geraten, in welcher besondere "situative Faktoren" wie die im kriminalprognostischen Gutachten beschriebenen - etwa das Eingebundensein in eine Tätergruppe mit freundschaftlichen Beziehungen und Loyalitäten und die Unterordnung unter eine dominant auftretende Persönlichkeit - zu einer ähnlichen Straftat mit Gewaltanwendung führen könnten, fernliegend.
41 
Soweit in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt mehrmals darauf hingewiesen wird, dass der Kläger versuche, eigene Anliegen hartnäckig durchzusetzen, lässt dies keinen negativen Schluss bezüglich der Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten zu. Jedenfalls wurden während seiner Haftzeit gegen ihn keine Disziplinarmaßnehmen verhängt und er arbeitete ohne Beanstandungen in Betrieben der Justizvollzugsanstalt. Zudem nahm er an einem Deutschkurs teil. Auch die Gutachter betonen, dass der Umstand, dass der Kläger seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse jeweils mit einem gewissen Nachdruck vorgetragen haben solle, nicht als prognoserelevanter Faktor verwertet werden könne. Sie kommen daher in ihrer zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die weitgehend fehlende innere Auseinandersetzung des Klägers mit der Tat der einzige prognostisch ungünstige Faktor sei, welcher zusätzlich dadurch relativiert werde, dass die Tat nicht in hohem Maße in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers verankert erscheine, sondern eng mit spezifischen situativen Konstellationen verknüpft gewesen sei. Die prognostisch günstigen Faktoren überwögen im Vergleich deutlich. In der Gesamtwürdigung sei somit trotz der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit der Tat nicht mehr davon auszugehen, dass beim Kläger dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe.
42 
Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Die Einschätzung der Gutachter wurde auch von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe im Beschluss über die Aussetzung der Reststrafe vom 21.12.2011 geteilt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen wegen der unterschiedlichen Maßstäbe und Prognosezeitpunkte nur eingeschränkte Bedeutung bei der im Ausweisungsverfahren zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3; weitergehend allerdings bei Assoziationsberechtigten: Senatsurteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 - InfAuslR 2012, 203), so ist die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe hier jedenfalls als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Die Strafvollstreckungskammer ist nach Einholung des kriminalprognostischen Gutachtens vom 24.09.2011 zum Ergebnis gekommen, dass eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortet werden könne. Sie hat zur Begründung ebenfalls darauf verwiesen, dass der Kläger bis zu der Geiselnahme strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und ein sozial voll integriertes Leben geführt habe. Der Anteil des Klägers an der verurteilten Straftat stelle sich, gerade bei den Gewalttätigkeiten, eher als gering dar. Der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, die Tatsache, dass sich der Kläger mit der Tat allenfalls ansatzweise auseinandergesetzt habe, sei zwar als ungünstig zu beurteilen, im Hinblick auf die spezifische situative Konstellation bei der Tat und die im Übrigen festgestellte Eingebundenheit des Klägers seien aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine entsprechenden Taten zu erwarten. Der Kläger selbst habe in der mündlichen Anhörung auf die Strafvollstreckungskammer einen überaus positiven Eindruck gemacht. Sie sei daher davon überzeugt, dass es ihm mit der Hilfe und der Aufsicht eines Bewährungshelfers gelingen werden, künftig ein straffreies Leben zu führen, zumal er dabei sei, sich in einer anderen Berufssparte zu etablieren.
43 
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind zudem weitere Umstände gegeben, die eine günstige Prognose rechtfertigen. Der Kläger hat sich seit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und der Haftentlassung vor fast einem Jahr weiter bewährt. Er hat keine Schulden mehr. Weil er zunächst Probleme hatte, eine bereits bestehende Fahrerlaubnis für LKW mit einem Gesamtgewicht von über 7,5 t ausgestellt zu bekommen, gelang es ihm zwar nicht sofort nach der Haftentlassung, eine Arbeitsstelle zu finden. Seit Juli 2012 ist er aber als Fahrer bei einer Firma in Karlsruhe angestellt. In einem Schreiben der Firma vom 28.09.2012 wird bestätigt, dass dieser gewissenhaft, zuverlässig und pünktlich sei; an einer Weiterbeschäftigung bestehe Interesse. Die Bewährungshelferin des Klägers äußert sich in einem Bericht vom 24.07.2012 insgesamt ebenfalls positiv. Sie bestätigt, dass sich der Kläger intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht, diesen wegen der Probleme mit dem Führerschein aber zunächst nicht erhalten habe. Nach der Haftentlassung sei es ihm zunächst gesundheitlich nicht gut gegangen, er sei wegen einer Depression ärztlich behandelt worden und habe im Mai und Juni wegen Nierenschmerzen und Nierensteinen stationär behandelt werden müssen. An dem bisherigen Bewährungsverlauf sei insgesamt nichts zu beanstanden, der Kläger halte vereinbarte Termine regelmäßig ein, spreche bei auftauchenden Problemen auch ohne Termin vor. Zur Zeit genügt der Verdienst des Klägers - seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nach inzwischen in Höhe von 800,- bis 1.200,-- EUR netto monatlich - zwar noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Er und seine Ehefrau haben jedoch konkrete Pläne, mit Hilfe einer selbstständigen Tätigkeit wieder ohne staatliche Unterstützungen leben zu können. Der Kläger ist weiter nicht nur in seine eigene "Kernfamilie" eingebunden, sondern hat zudem regelmäßigen Kontakt zu seinen Schwiegereltern, seinem Bruder und anderen Verwandten.
44 
bb) Wenn danach auch davon auszugehen ist, dass mit Blick auf die spezialpräventiven Gesichtspunkte ein atypischer Sachverhalt vorliegt, mithin kein Regelfall des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, ist aber das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bezüglich der vom beklagten Land angeführten generalpräventiven Gesichtspunkte zu bejahen.
45 
Generalpräventiv motivierte Ausweisungen können - ausnahmsweise - auch bei Ausländern zulässig sein, denen besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG zukommt, wenn eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch eine Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - InfAuslR 1997, 8). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 - a.a.O.).
46 
Nach diesen Grundsätzen kann die Ausweisung hier wegen der Art und Schwere der Straftat - der Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - und der geschilderten konkreten, sich über mehrere Stunden hinziehenden Tatausführung auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Eine abschreckende Wirkung erscheint auch mit Blick darauf wichtig, dass es sich um einen Fall von besonders skrupelloser "Selbstjustiz" gehandelt hat. Schließlich war der Einbruch in das Wettbüro des Klägers vom 29.11.2008 bereits bei der Polizei angezeigt worden. Nach Bekanntwerden der Umstände, die aus Sicht des Klägers und der Mitangeklagten für eine Täterschaft der Angestellten N.G. bzw. ihres Freundes sprachen, hatte Y.K. noch am selben Abend die Polizei auch darüber informiert. Ausweislich der Feststellungen im Strafurteil vom 30.06.2009 hatte der Polizeibeamte, welcher aufgrund der vagen Verdächtigungen keinen Grund gesehen hatte, umgehend einzuschreiten, Y.K ausdrücklich davor gewarnt, eigene Aktionen zu unternehmen. Dies hatte Y.K dem Kläger berichtet. Trotzdem verabredeten Y.K., der Kläger und die weiteren Mittäter, N.G. zur Rede zu stellen, um - gegebenenfalls mit Hilfe von Ohrfeigen - ein Geständnis zu erzwingen, und begingen am nächsten Morgen die Straftat.
47 
c) Ist der die Ausweisung tragende Grund somit hinsichtlich der generalpräventiven Gesichtspunkte schwerwiegend, so ist der Kläger an sich gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel auszuweisen, weil er den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Das Regierungspräsidium hat insoweit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und den vier deutschen Kindern allerdings zu Recht einen Ausnahmefall angenommen, der eine Abweichung von dieser Regel gebietet, und nach Ermessen entschieden.
48 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - InfAuslR 2008, 116, m.w.N.) ist von einem die Regel durchbrechenden Ausnahmefall bereits dann auszugehen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls erfordern. Es kann offen bleiben, ob dies bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schutzbereich der betroffenen Grundrechte bzw. Menschenrechte, hier Art. 6 und Art. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK, lediglich berührt ist oder ob bereits in diesem Zusammenhang die Feststellung eines qualifizierten Eingriffs erforderlich ist. Denn jedenfalls würde im Fall des Klägers wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau und deutschen Kindern allein durch die Herabstufung von der "Ist-Ausweisung" zu einer "Regelausweisung" durch § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG dem besonderen Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK noch nicht hinreichend einzelfallbezogen Rechnung getragen. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind dann wesentlich konkreter und einzelfallbezogener neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönlichen Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen und eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. zu alledem auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - InfAuslR 2007, 443).
49 
4. Das danach dem Regierungspräsidium bei der Entscheidung über die Ausweisung zustehende und nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbare Ermessen ist hier von vornherein "auf Null reduziert", weil die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen mit Blick auf die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen sind.
50 
Bei der Entscheidung, ob eine im Ermessen der Ausländerbehörde stehende Ausweisung tatsächlich verfügt wird, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten, nämlich die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige oder Lebenspartner des Ausländer, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, und die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Dabei sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Betroffenen zu beachten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Liegt ein Eingriff in diese Rechte vor, ist ohnehin eine einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien vorzunehmen (BVerwG, Beschluss vom 10.02.2011 - 1 B 22.10 - Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5, m.w.N.; Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 26.08 - InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange (unter dem Aspekt des durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens) zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesem Sinne „notwendig“, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog auszugehen, den so genannten Boultif/Üner-Kriterien (vgl. zu den Kriterien im Einzelnen: EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00, Boultif - InfAuslR 2001, 476, vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05, Mutlag - InfAuslR 2010, 325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne des Art. 8 EMRK als "nicht notwendig", ist das Ermessen der Behörde mit der Folge "auf Null reduziert", dass eine Ausweisung des Betreffenden ausscheidet.
51 
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Ausweisung des Klägers hier unzulässig. Der Kläger ist bereits seit 1996 mit seiner Ehefrau verheiratet, welche in Deutschland geboren ist und seit 1998 die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Mir ihr und den vier gemeinsamen, zwischen 4 und 15 Jahre alten Kindern, die ebenfalls Deutsche sind, lebt er in enger familiärer Lebensgemeinschaft. Diesem Umstand kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Ehefrau und Kinder noch verstärkt wird (vgl. schon BVerwG, Urteile vom 03.05.1973 - I C 33.72 - BVerwGE 42, 133, vom 27.09.1978 - I C 79.76 - BVerwGE 56, 246, vom 17.01.1989 - 1 C 46.86 -InfAuslR 1989, 159; vgl. auch auch BVerfG, Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386; Kammerbeschlüsse vom 15.06.1993 - 2 BvR 900/93 - InfAuslR 1994, 311, und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Dies wird auch nicht etwa durch den Umstand relativiert, dass die Ehefrau früher noch die türkische Staatsangehörigkeit hatte bzw. deren Eltern aus dem Heimatland des Klägers stammen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 30.09.2009 - 13 S 440/09 -; HessVGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 - InfAuslR 2003, 388). Insbesondere kann von der Ehefrau und den Kindern nicht verlangt werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreisen.
52 
Die bestehenden tiefen Bindungen des Klägers zu seiner Familie werden belegt durch die vielen Besuche während seiner Haftzeit. Wie ausgeführt, hat der Kläger offensichtlich ein enges und intaktes Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er übernimmt die Erziehung der Kinder gemeinsam mit seiner Ehefrau. In Anbetracht des jungen Alters der Kinder hätte eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung für diese ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320, und vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -juris). Deren Belangen könnte daher auch durch eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten - nicht zu langen - Zeitraum nicht hinreichend Rechnung getragen werden.
53 
Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse einer Ausweisung hier gemindert, weil ungeachtet der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat nicht mehr von einer relevanten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann. Allein die generalpräventiven Erwägungen vermögen den mit einer Ausweisung verbundenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Wie ausgeführt, ist zwar davon auszugehen, dass eine besonders schwerwiegende Straftat vorliegt und deshalb - grundsätzlich - ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, Urteile 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255, vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - InfAuslR 2005, 49, und vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -InfAuslR 1997, 8). Dieses vermag aber in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles den Eingriff in das Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. das Achtungsgebots des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zu rechtfertigen. Dabei ist von besonderer Relevanz, dass die Tat annähernd vier Jahre zurückliegt und der Kläger seine Strafe verbüßt hat. Auch sind die bereits im Rahmen der Prüfung der Wiederholungsgefahr angeführten, für den Kläger sprechenden weiteren Umstände zu berücksichtigen, etwa dass er sich bereits seit 1996 rechtmäßig hier aufhält, zuvor - bis auf das Verkehrsdelikt - nie straffällig geworden war, außerdem dass er sich immer bemüht hat, ausreichend für seine Familie und sich zu sorgen und sich auch seit seiner Haftentlassung bewährt hat.
54 
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausweisung des Klägers hier im Ergebnis selbst dann als unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn man noch vom Bestehen einer geringen, aber die Erheblichkeitsschwelle übersteigenden Wiederholungsgefahr und damit dem Vorliegen spezialpräventiver Ausweisungsgründe ausginge. Denn aus den - zur Unverhältnismäßigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung - angeführten Gründen führt die danach erforderliche Abwägung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegen.
II.
55 
Unter diesen Umständen ist auch die im Bescheid vom 22.10.2010 verfügten Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben.
56 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
57 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
58 
Beschluss vom 23. Oktober 2012
59 
Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG).
60 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1.
zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,
2.
dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und
3.
die verurteilte Person einwilligt.
Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.

(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn

1.
die verurteilte Person erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder
2.
die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß besondere Umstände vorliegen,
und die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.

(3) Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.

(4) Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.

(5) Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(6) Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die der Einziehung von Taterträgen unterliegen.

(7) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag der verurteilten Person, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

(1) Der Vollstreckungsleiter kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann.

(2) Vor Verbüßung von sechs Monaten darf die Aussetzung der Vollstreckung des Restes nur aus besonders wichtigen Gründen angeordnet werden. Sie ist bei einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nur zulässig, wenn der Verurteilte mindestens ein Drittel der Strafe verbüßt hat.

(3) Der Vollstreckungsleiter soll in den Fällen der Absätze 1 und 2 seine Entscheidung so frühzeitig treffen, daß die erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung des Verurteilten auf sein Leben nach der Entlassung durchgeführt werden können. Er kann seine Entscheidung bis zur Entlassung des Verurteilten wieder aufheben, wenn die Aussetzung aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener Tatsachen im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, nicht mehr verantwortet werden kann.

(4) Der Vollstreckungsleiter entscheidet nach Anhören des Staatsanwalts und des Vollzugsleiters. Dem Verurteilten ist Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben.

(5) Der Vollstreckungsleiter kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

(6) Ordnet der Vollstreckungsleiter die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe an, so gelten § 22 Abs. 1, 2 Satz 1 und 2 sowie die §§ 23 bis 26a sinngemäß. An die Stelle des erkennenden Richters tritt der Vollstreckungsleiter. Auf das Verfahren und die Anfechtung von Entscheidungen sind die §§ 58, 59 Abs. 2 bis 4 und § 60 entsprechend anzuwenden. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluß, der die Aussetzung des Strafrestes anordnet, hat aufschiebende Wirkung.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anhörung der Parteien durch Beschluss vorläufig fest, wenn Gegenstand des Verfahrens nicht eine bestimmte Geldsumme in Euro ist oder gesetzlich kein fester Wert bestimmt ist. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Werts können nur im Verfahren über die Beschwerde gegen den Beschluss, durch den die Tätigkeit des Gerichts aufgrund dieses Gesetzes von der vorherigen Zahlung von Kosten abhängig gemacht wird, geltend gemacht werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.

(2) Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt. In Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen oder der Finanzgerichtsbarkeit gilt dies nur dann, wenn ein Beteiligter oder die Staatskasse die Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.

(3) Die Festsetzung kann von Amts wegen geändert werden

1.
von dem Gericht, das den Wert festgesetzt hat, und
2.
von dem Rechtsmittelgericht, wenn das Verfahren wegen der Hauptsache oder wegen der Entscheidung über den Streitwert, den Kostenansatz oder die Kostenfestsetzung in der Rechtsmittelinstanz schwebt.
Die Änderung ist nur innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.