Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
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Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
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vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
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realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
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Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
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Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
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„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
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Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
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In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
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„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
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Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
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Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
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Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
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Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
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Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
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„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
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Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
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Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
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Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
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2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
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Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
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Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
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Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
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a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
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Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
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„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
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Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
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Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
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„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
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77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
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78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
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79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
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Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
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„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
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In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
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In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
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Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
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http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
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Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
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b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
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aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
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Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
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bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
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Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
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Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
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cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

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Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 23. Nov. 2016 - A 5 K 1495/16 zitiert 24 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 4 Subsidiärer Schutz


(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der To

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3 Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 77 Entscheidung des Gerichts


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 101


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16a


(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3e Interner Schutz


(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und2. sicher und legal in diesen Landesteil r

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3d Akteure, die Schutz bieten können


(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden 1. vom Staat oder2. von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,sofern sie willens und in d

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 76 Einzelrichter


(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist od

Verwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG | § 46 Folgen von Verfahrens- und Formfehlern


Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn of

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 28 Nachfluchttatbestände


(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 24 Pflichten des Bundesamtes


(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über sein

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 13 Asylantrag


(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer s

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 73 Widerrufs- und Rücknahmegründe


(1) Die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer1.sich freiwillig erneut dem Schutz d

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 104 Übergangsregelungen


(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend. (2) B

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Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 23. Nov. 2016 - A 5 K 1495/16 zitiert oder wird zitiert von 18 Urteil(en).

Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 23. Nov. 2016 - A 5 K 1495/16 zitiert 16 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

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Tenor I. Der Bescheid des Bundesamts ... vom 24. November 2015 wird in den Ziffern 1. und 3. mit 6. aufgehoben. II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig

Verwaltungsgericht Regensburg Urteil, 29. Juni 2016 - RN 11 K 16.30666

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Tenor I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.04.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, sowei

Verwaltungsgericht München Urteil, 17. März 2016 - M 22 K 15.30256

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Tenor I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2015 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den Klägern zu 3) bis 9) zum Zeitpunkt der Unanf

Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 23. Nov. 2016 - A 5 K 1372/16

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Tenor Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.Die Beklagte trägt die Kosten des gericht

Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht Urteil, 23. Nov. 2016 - 3 LB 17/16

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Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 14. Nov. 2016 - 2 BvR 31/14

bei uns veröffentlicht am 14.11.2016

Tenor 1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 2013 - 14 A 2663/13.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4

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Verwaltungsgericht Münster Urteil, 13. Okt. 2016 - 8 K 2127/16.A

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Tenor Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für

Verwaltungsgericht Trier Urteil, 07. Okt. 2016 - 1 K 5093/16.TR

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Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 06. Okt. 2016 - 12 A 651/16

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Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 05. Sept. 2016 - 14 A 1802/16.A

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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 27. Aug. 2014 - A 11 S 1128/14

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Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. April 2014 - A 12 K 2210/13 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen.

Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Beschluss, 24. Apr. 2014 - 2 L 16/13

bei uns veröffentlicht am 24.04.2014

Tenor Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin – 5. Kammer – vom 14.11.2012 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides vom 23.04.2009 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigensc

Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 15. März 2013 - A 7 K 2987/12

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Tenor Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 wird aufgehoben.Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger im Hinblick auf die Arabische Republik Syrien die Voraussetzungen des § 60 Abs.

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 18. Juli 2012 - 3 L 147/12

bei uns veröffentlicht am 18.07.2012

Tatbestand 1 Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend a

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 03. Nov. 2011 - A 8 S 1116/11

bei uns veröffentlicht am 03.11.2011

Tenor Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter
2 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 23. Nov. 2016 - A 5 K 1495/16.

Verwaltungsgericht Trier Urteil, 08. März 2017 - 7 K 76/17.TR

bei uns veröffentlicht am 08.03.2017

Diese Entscheidung zitiert Tenor Der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2016 wird in der Ziffer 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag der Kläger vom 15. März 2016 auf Zuerkennung internationalen Schutzes

Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 24. Jan. 2017 - A 4 K 5434/16

bei uns veröffentlicht am 24.01.2017

Tenor Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...10.2016 wird hinsichtlich dessen Ziffer 2 aufgehoben.Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte trägt die Kosten des gericht

Referenzen

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

(2) Der Rechtsstreit darf dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor der Kammer mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.

(3) Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(4) In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet ein Mitglied der Kammer als Einzelrichter. Der Einzelrichter überträgt den Rechtsstreit auf die Kammer, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn er von der Rechtsprechung der Kammer abweichen will.

(5) Ein Richter auf Probe darf in den ersten sechs Monaten nach seiner Ernennung nicht Einzelrichter sein.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

Tenor

I.

Der Bescheid des Bundesamts ... vom 24. November 2015 wird in den Ziffern 1. und 3. mit 6. aufgehoben.

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger, nach eigenen Angaben iranische Staatsangehörige, beantragten am 25. Februar 2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Am gleichen Tag wurden sie vor dem Bundesamt ... (BAMF), Außenstelle ..., zur Vorbereitung ihrer Anhörung insbesondere zu ihren persönlichen Verhältnissen und ihrem Einreiseweg befragt.

Zwischen Juni 2014 und März 2015 wurde von der anwaltlich vertretenen Klägerseite mehrfach um die Anberaumung eines Anhörungstermins bzw. um diesbezügliche Auskunft gebeten.

Am 21. Mai 2015 erhoben die Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München. Mit rechtskräftigem Urteil vom 21. Juli 2015 (M 2 K 15.30753) wurde die Beklagte verpflichtet, den Klägern innerhalb von vier Wochen ab Rechtskraft des Urteils mitzuteilen, bis wann voraussichtlich über ihren Asylantrag entschieden wird. Mit Schreiben vom 27. August 2015 teilte die Beklagte dem Klägerbevollmächtigten mit, dass nach Anhörung der Kläger eine Entscheidung bis Anfang 2016 möglich sei.

Am 26. August 2015 übermittelte das BAMF dem Klägerbevollmächtigten per Telefax (und möglicherweise zusätzlich mit einfachem Brief) eine Ladung der Kläger zur persönlichen Anhörung am 6. Oktober 2015.

Mit Schreiben des BAMF vom 6. Oktober 2015 wurde dem Klägerbevollmächtigten mitgeteilt, dass die Kläger den anberaumten Termin zur persönlichen Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht wahrgenommen hätten. Dem Bevollmächtigten werde Gelegenheit gegeben, innerhalb eines Monats schriftlich zu den Asylgründen Stellung zu nehmen. Sollte innerhalb eines Monats keine Antwort eingehen, entscheide das BAMF nach Aktenlage.

Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2015 teilte der Bevollmächtigte dem BAMF mit, dass er die Ladung der Kläger zur persönlichen Anhörung am 26. August 2015 an deren aktuelle Anschrift weitergeleitet habe. Die Kläger hätten ihm am 8. Oktober 2015 mitgeteilt, die Ladung nicht erhalten zu haben. Es werde darum gebeten, einen neuen Anhörungstermin zu bestimmen.

Mit Bescheid des BAMF vom 24. November 2015 (am 30. November 2015 zur Post gegeben), wurden der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), der Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) und der subsidiäre Schutzstatus (Ziffer 3.) jeweils abgelehnt, wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.) und wurden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung (im Fall der Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens) zu verlassen, anderenfalls würden sie nach Iran oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziffer 5.). In Ziffer 6. des Bescheids wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde in dem Bescheid im Wesentlichen ausgeführt: Die Kläger seien ohne genügende Entschuldigung zum Anhörungstermin nicht erschienen. Die Ladung sei ordnungsgemäß an den Bevollmächtigten versandt worden. Die Kläger seien im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten nach § 15 AsylG verpflichtet, sicher zu stellen, dass Poststücke des Bundesamts bei ihnen ankommen. Dies gelte auch bei Vertretung durch einen Rechtsanwalt. Etwaige Übermittlungsfehler zwischen den Klägern und ihrem Bevollmächtigten seien nicht Sache des Bundesamts. Es sei nach Aktenlage und „unter Berücksichtigung der Nichtmitwirkung“ zu entscheiden gewesen. Von der Möglichkeit, ihren ernsthaften und dauerhaften Übertritt zum Christentum im Rahmen der persönlichen Anhörung glaubhaft zu machen, hätten die Kläger keinen Gebrauch gemacht. Bereits das „augenscheinliche Desinteresse an der Weiterführung des Asylverfahrens“ lasse eine Verfolgungsfurcht oder einen ernsthaften Schaden im Heimatland unglaubhaft erscheinen. Allein aufgrund der in Deutschland erfolgten Taufe drohten den Klägern bei ihrer Rückkehr in den Iran nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen.

Am 11. Dezember 2015 erhoben die Kläger gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht München. Sie beantragten zuletzt,

den Bescheid des BAMF vom 24. November 2015 in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. aufzuheben,

hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des BAMF vom 24. November 2015 in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. zu verpflichten, die Kläger als Flüchtlinge gemäß § 3 Abs. 1 AsylG anzuerkennen, hilfsweise, den Klägern subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Iran vorliegen.

Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 18. Januar 2016 im Wesentlichen ausgeführt: Die Behauptung im angefochtenen Bescheid, die Asylantragsteller seien ohne genügende Entschuldigung zum Termin nicht erschienen, sei ebenso unzutreffend wie die, sie hätten innerhalb der ihnen gesetzten Frist die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme nicht wahrgenommen. Richtig sei, dass die Ladung auf den 6. Oktober 2015 die Kläger nicht erreicht habe. Dies sei weder das Verschulden der Kläger noch das ihres Bevollmächtigten gewesen. Die Ladung sei an die zutreffende Adresse weitergegeben worden, aber bei den Klägern nicht angekommen. Ob ein Postverschulden oder ein Verschulden des Hotels, in dem sie untergebracht sind, vorliege, habe nicht geklärt werden können. Die Behauptung, die Kläger hätten ihre Mitwirkungsverpflichtung verletzt, sei unzutreffend. Hierzu zähle nicht, dass ein Asylsuchender Verantwortung für die Deutsche Post oder den Hotelbetreiber übernehmen müsse. Auch der Rechtsanwalt habe nicht für diese einzustehen, vielmehr genüge er seinen Pflichten, wenn er die Postsendung rechtzeitig in den Briefkasten gebe. Das BAMF beschneide bewusst die Rechte der Kläger, obwohl ihm der Glaubensübertritt bekannt sei und die verwendeten Textbausteine zutreffend ausführten, dass dann, wenn eine ernsthafte und dauerhafte religiöse Überzeugung Grundlage des Glaubens sei, eine Verfolgung stattfinde. Es sei zynisch, wenn den Klägern dann wegen eines Postfehlers vorgehalten werde, sie hätten von der Möglichkeit, ihren ernsthaften und dauerhaften Glaubensübertritt vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht. Im Übrigen werden die Asylgründe der Kläger weiter erläutert.

Die Beklagte äußerte sich, von der Aktenvorlage am 22. Dezember 2015 abgesehen, nicht weiter zum Verfahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Gründe

Über die Verwaltungsstreitsache konnte aufgrund der Erklärungen der Beteiligten (Schriftsatz der Klägerseite vom 9. Februar 2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24. Juni 2015) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die zulässige Klage ist im Hauptantrag begründet.

Die Kläger wurden, ohne dass sie dies zu vertreten hätten, vor der abschließenden Entscheidung des BAMF über ihren Asylantrag verfahrensfehlerhaft nicht persönlich angehört (nachfolgend 1.). Im vorliegenden Einzelfall ist dieser Verfahrensfehler der Beklagten auch nicht deswegen als unbeachtlich anzusehen, weil das Verwaltungsgericht die Sache durch Anhörung der Kläger im gerichtlichen Verfahren selbst spruchreif machen und „durchentscheiden“ könnte (nachfolgend 2.). Der Bescheid des BAMF war deshalb (soweit er nicht bereits Bestandskraft erlangte) in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. aufzuheben, da er rechtswidrig ist und die Kläger in ihrem Recht auf Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO.

1. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AsylG, unter denen über den Asylantrag der Kläger ohne deren persönliche Anhörung durch das BAMF nach Aktenlage entschieden werden dürfte, waren nicht gegeben. Vorliegend haben die Kläger den Anhörungstermin am 6. Oktober 2015 nicht schuldhaft versäumt, es liegt weder eigenes noch ihnen zurechenbares Verschulden ihres Bevollmächtigten vor.

Die Beklagte entschied über den Asyl(erst)antrag der Kläger ohne Durchführung einer persönlichen Anhörung der Kläger, weil sie der Auffassung war, dass die Kläger ihre Mitwirkungspflichten verletzt hätten. Sie hätten unentschuldigt einer Ladung zu einem Termin zur persönlichen Anhörung nicht Folge geleistet. Dem ist nicht zu folgen:

Nach Aktenlage und aufgrund der von anwaltlicher Seite versicherten, dem Gericht nicht zweifelhaft erscheinenden Sachverhaltsdarstellung, übermittelte das BAMF die Ladung zur persönlichen Anhörung der Kläger (nur) dem Bevollmächtigten der Kläger am 26. August 2015 per Telefax (und möglicherweise zusätzlich mit einfachem Brief). Der Bevollmächtigte der Kläger leitete die Ladung am gleichen Tag mit einfachem Brief an seine Mandanten weiter, die ihren Aufenthalt schon seit längerer Zeit in einer Unterkunft in ... („Hotel ...“) zu nehmen haben. Dieses Schreiben hat die Kläger aus nicht weiter aufklärbaren Umständen jedoch nicht persönlich erreicht. Auf das Schreiben des BAMF an den Bevollmächtigten vom 6. Oktober 2015, dass wegen der unentschuldigten Versäumnis des Anhörungstermins nun Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben werde (§ 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG), antwortete der Bevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2015, schilderte den Sachverhalt und bat darum, einen neuen Anhörungstermin zu bestimmen. Hierauf erging ohne weitere Reaktion der Beklagten der streitgegenständliche Bescheid.

§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören (eine der in § 24 Abs. 1 Sätze 4 bis 6 AsylG gesetzlich geregelte Ausnahmen hiervon ist zweifelsfrei nicht einschlägig). Mit dieser Pflicht des BAMF korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG Rn. 14), die persönliche Anhörung eines Asylbewerbers bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten Verfahrens vor dem BAMF (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 24 AsylVfG Rn. 8).

Die Verpflichtung des BAMF zur Anhörung entfällt auch nicht nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG, wonach von der persönlichen Anhörung abgesehen werden kann, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung „ohne genügende Entschuldigung nicht folgt“. Vorliegend haben die Kläger den Anhörungstermin am 6. Oktober 2015 nicht schuldhaft versäumt, es liegt weder eigenes noch ihnen zurechenbares Verschulden ihres Bevollmächtigten vor.

Das Gericht hat keine Zweifel am Vortrag des Klägerbevollmächtigten, dass die Ladung zur Anhörung von den Klägern in deren Unterkunft in ... aus Gründen, die diese nicht zu vertreten haben, nicht zur Kenntnis genommen werden konnte. Insoweit sind auch die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles zu berücksichtigen: Die Kläger haben nicht nur im Jahr 2014 mehrfach gegenüber dem BAMF ihren Wunsch, nunmehr persönlich angehört zu werden, artikuliert. Sie haben vor allem auch mit der Durchführung des früheren gerichtlichen Verfahrens, in dem sie die Verpflichtung der Beklagten erstritten, ihnen den voraussichtlichen Entscheidungszeitpunkt für ihren Asylantrag zu benennen, ihr ernsthaftes Interesse am Fortgang ihres Asylverfahrens mehr als deutlich dokumentiert. Auch sind generell betrachtet die Erfolgschancen in Asylverfahren iranischer Asylbewerber, die zum Christentum konvertierten, jedenfalls nicht als schlecht zu bezeichnen. Beide Faktoren zeigen, dass die Kläger kein Interesse an einer Verzögerung, sondern gerade ein Interesse am Fortgang ihres Asylverfahrens haben. Im Übrigen hat auch die Beklagte keinen Anhaltspunkt für ein eigenes schuldhaftes Handeln der Kläger vorgetragen. Anzumerken bleibt, dass dem Gericht bei einer Würdigung des bisherigen Verlaufs des Asylverfahrens der Kläger die Einschätzung der Beklagten im Bescheid, es läge ein „augenscheinliches Desinteresse an der Weiterführung des Asylverfahrens“ vor, unverständlich erscheint.

Auch den Bevollmächtigten der Kläger trifft kein Verschulden (weshalb die Frage einer Zurechnung möglichen Verschuldens des Bevollmächtigten nicht weiter erörtert werden muss). Das BAMF durfte sich bei der Übermittlung der Ladung der Kläger nach § 14 Abs. 3 VwVfG grundsätzlich nur an den Bevollmächtigten halten. Dabei traf das BAMF keine generelle Verpflichtung, die Ladung dem Bevollmächtigten förmlich zuzustellen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2015, § 25 AsylVfG Rn. 23), vorliegend ist der Zugang der formlos übermittelten Ladung beim Bevollmächtigten ohnehin unstreitig. Mit der (ordnungsgemäß adressierten und frankierten) Weiterleitung dieser Ladung auf dem Postweg hat der Bevollmächtigte der Kläger indes die ihn treffenden Verpflichtungen erfüllt. Denn der Absender eines Briefs darf - soweit und solange ihm nicht entgegenstehende Anhaltspunkte bekannt sind oder werden - darauf vertrauen, dass ein rechtzeitig ordnungsgemäß mit der Deutschen Post versandtes Schriftstück nicht auf dem Postweg verloren geht, sondern dass die Adressaten die Möglichkeit der Kenntnisnahme erlangen (vgl. Kallerhoff in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 32 Rn. 25).

Von einem Bevollmächtigten kann im Regelfall (Ausnahmen wären denkbar etwa bei einer bekannt unzuverlässigen Zustellungspraxis in bestimmten Einrichtungen oder Unterkünften, in Zeiten eines Poststreiks, etc.) nicht verlangt werden, dass er sich stets darüber hinaus, etwa durch eine telefonische Nachfrage bei den Empfängern oder durch generelle förmliche Zustellung an seine Mandanten, vergewissert, dass seine Mandanten die Postsendung tatsächlich erhalten haben. Damit würde im Verhältnis des Bevollmächtigten zu seinem Mandanten ein „Mehr“ gegenüber dem Verhältnis des BAMF zum Bevollmächtigten oder Asylbewerber direkt (in denen jeweils eine Zustellung der Ladung zur Anhörung nicht vorgeschrieben ist) verlangt und eine nicht mehr akzeptable Risikoverlagerung zulasten eines Bevollmächtigten im Asylverfahren vorgenommen.

Nachdem die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG nicht gegeben waren, musste der Bevollmächtigte der Kläger auch nicht innerhalb der Monatsfrist nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG die Asylgründe schriftlich darlegen, sondern durfte - wie geschehen - um die nochmalige Anberaumung eines Anhörungstermins bitten. Bei hinreichender Entschuldigung i. S. v. § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG ist ein neuer Termin zu bestimmen (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2015, § 25 AsylVfG Rn. 33; Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 23).

Damit kommt es auch nicht mehr darauf an, ob der Bescheid des BAMF bereits deshalb aufzuheben gewesen wäre, weil die Beklagte jedenfalls verpflichtet gewesen wäre, hinsichtlich des Unterbleibens einer persönlichen Anhörung der Kläger Ermessen auszuüben, wofür der Wortlaut des § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG „kann“ sprechen könnte. Hierfür findet sich im angefochtenen Bescheid kein Anhaltspunkt.

2. Im vorliegenden Einzelfall ist dieser Verfahrensfehler der Beklagten auch nicht deswegen als unbeachtlich anzusehen, weil das Verwaltungsgericht die Sache durch Anhörung der Kläger im gerichtlichen Verfahren selbst spruchreif machen und „durchentscheiden“ könnte.

Nach gefestigter obergerichtlichen Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. BVerwG, U. v. 10.2.1998 - 9 C 28/97 - juris Rn. 9). Dies wird grundsätzlich auch in den Fällen einer zu Unrecht unterbliebenen Anhörung eines Asylbewerbers angenommen (OVG NRW, B. v. 21.4.1997 - 23 A 2412/96.A - juris Rn. 9; HessVGH, B. v. 26.3.1991 - 12 TG 2541/90 - juris Rn. 3). Deshalb ist § 113 Abs. 3 VwGO in Fällen asylrechtlicher Anfechtungsklagen als Ausnahmeregelung anzusehen, von der „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, B. v. 8.10.2012 - 21 ZB 12.30312 - juris Rn. 8). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt insoweit ferner aus (a.a.O, Rn. 9 f.):

„Hieraus folgt, dass nicht schon dann, wenn die Ermittlungen des Bundesamtes ein Defizit aufweisen und damit eine Sachaufklärung durch das Gericht notwendig wird, eine Anwendung des § 113 Abs. 3 VwGO gerechtfertigt ist. § 113 Abs. 3 VwGO will nicht den Verwaltungsgerichten unter Zurückstellung einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits eine zügige Erledigung ermöglichen, vielmehr soll sich das Gericht lediglich unter engen Voraussetzungen entlasten dürfen. Dabei ist vor allem in asylrechtlichen Streitigkeiten zu sehen, dass zum einen die Verwaltungsgerichte durch eine intensive Befassung mit diesem Rechtsgebiet in der Regel auch personell und sachlich mittlerweile gut ausgestattet sind, um notwendige Sachaufklärungsmaßnahmen durchzuführen, und dass zum anderen diese Streitigkeiten nach dem Willen des Gesetzgebers beschleunigt abgewickelt werden sollen. Daraus folgt für die Gerichte, dass sie in aller Regel die Maßnahmen zu ergreifen haben, die eine endgültige und zügige Erledigung des Rechtsstreits bewirken. Aus diesen Gründen wird es in vielen Fällen an den Voraussetzungen des § 113 Abs. 3 VwGO fehlen. Im Einzelfall kann es jedoch Ausnahmen geben, die sich dadurch auszeichnen, dass Sachaufklärungsmaßnahmen notwendig sind, die das normale Maß nicht unerheblich überschreiten, die mit der personellen und sachlichen Ausstattung des Bundesamtes besser zu bewältigen sind und die bei sorgfältiger Durchführung dort auch ohne Verzögerung eine endgültige Klärung des Falles erwarten lassen. Allenfalls in diesem engen Rahmen verbleibt bei asylrechtlichen Anfechtungsklagen ein Anwendungsbereich des § 113 Abs. 3 VwGO (vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz vom 4.4.2005 Az. 7 A 10387/05 ).

Ob die Voraussetzungen für einen solchen Ausnahmefall vorliegen, lässt sich allerdings nur einzelfallbezogen und nicht in verallgemeinerungsfähiger Form klären.“

Im vorliegenden Einzelfall bestehen die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles in diesem Sinne:

Die Kläger stützen ihren Asylantrag insbesondere auf ihre Konversion zum Christentum. In derartigen Fällen kommt es bei iranischen Staatsangehöriger sowohl nach Auffassung der Beklagten (siehe die Ausführungen auf Seite 4 des streitgegenständlichen Bescheids) als auch nach der überwiegenden Rechtsprechung (vgl. z. B. VG München, U. v. 23.9.2014 - M 2 K 14.30777 m. w. N.) ganz wesentlich auf die Frage an, ob die Konversion zum Christentum auf einer ernsthaften inneren Glaubensüberzeugung beruht, mithin eine die religiöse Identität eines Asylbewerbers prägende und nicht lediglich auf Opportunitätserwägungen oder asyltaktischen Gründen beruhende Hinwendung zum christlichen Glauben vorliegt. Diese im Vergleich mit durchschnittlichen Asylverfahren eher schwierig zu klärende Frage lässt sich in aller Regel nur im Wege einer intensiven persönlichen Befragung des Asylbewerbers und nachfolgenden Gesamtwürdigung des dabei gewonnenen Eindrucks vom inhaltlichen Vortrag und von der Persönlichkeit des Asylbewerbers aufklären. Die Bedeutung der persönlichen Anhörung des Asylbewerbers nach § 25 AsylG geht in diesen Fällen noch über die - bereits oben dargestellte - generell hohe Bedeutung der Anhörung zur Wahrung der verfahrensrechtlichen Gewährleistungen eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens hinaus: Ohne eine persönliche Anhörung des Asylbewerbers erscheint nicht nur eine sachgerechte inhaltliche Entscheidung des BAMF in diesen Fällen nicht ansatzweise vorstellbar. Eine durch Dolmetscher begleitete, durch einen Einzelentscheider sorgfältig durchgeführte und dokumentierte Befragung eines iranischen Konvertiten bereits im behördlichen Verfahren stellt im Fall der inhaltlichen Ablehnung seines Asylantrags durch das BAMF nach den Erfahrungen der Kammer auch im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren - zugunsten wie zulasten eines Asylbewerbers - eine wesentliche Entscheidungsgrundlage und -hilfe für eine korrekte, das Asylverfahren in der Regel abschließende verwaltungsgerichtliche Entscheidung dar (vgl. auch HessVGH, U. v. 11.8.1981 - X OE 634/81 - NVwZ 1982, 136/137: „Durch ein Gespräch zwischen dem Asylbewerber und den Bediensteten des Bundesamtes, die die notwendige Sachkunde besitzen und mit den politischen Verhältnissen im Herkunftsland hinreichend vertraut sind, kann am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen des Vorbringens durch gezielte Rückfragen auf der Stelle nachgegangen werden kann.“). Gerade in Fällen wie denjenigen iranischer Konvertiten, in denen beispielsweise die zeitliche Abfolge der einzelnen Schritte der Hinwendung zu einem anderen Glauben wesentliche Bedeutung erlangen kann, können durch eine unterbliebene Anhörung vor dem BAMF wesentlichen Beurteilungskriterien hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Vortrags des Asylbewerbers entfallen. Insoweit dient die behördliche Anhörung nicht nur dem Asylbewerber, dem aufgrund des überwiegend auf eine gerichtliche Tatsacheninstanz begrenzten gerichtlichen Verfahrens ein wesentlicher Verfahrensschritt zur Glaubhaftmachung seiner Asylgründe genommen werden würde. Sie dient ebenso nicht unwesentlich der zusätzlichen und besseren Absicherung einer materiell richtigen abschließenden Gerichtsentscheidung über den Asylantrag. Hierdurch werden auch die Voraussetzungen des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO belegt, wonach die (bloße) Aufhebung des Bescheids „auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich“ sein und es sich um nach Art und Umfang „erhebliche“ Ermittlungen der Behörde handeln muss.

Insoweit gelten hier auch die von der bereits zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung angeführten Argumente, dass eine beim BAMF zu Unrecht unterbliebene Anhörung des Asylbewerbers im Hinblick auf den Rechtsschutz für sein Asylbegehren keine nicht mehr behebbaren tatsächlichen oder rechtlichen Nachteile habe und dass das Bundesamt nicht über eine besondere Sachkunde bei der Aufklärung von Tatsachen besitze, über welche die Verwaltungsgerichte nicht verfügten (HessVGH, B. v. 26.3.1991 - 12 TG 2541/90 - juris Rn. 3), nicht ohne Weiteres.

Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer jedenfalls im vorliegenden Einzelfall einen Ausnahmefall, der es rechtfertigt, wegen der zu Unrecht unterbliebenen persönlichen Anhörung der Kläger vor dem BAMF den Fall nach § 113 Abs. 3 VwGO zur Durchführung der Anhörung an die Beklagte „zurückzuverweisen“ (ebenso generell: VG Meiningen, U. v. 3.4.1998 - 8 K 20107/96.Me - juris Rn. 18 ff.; VG Düsseldorf, U. v. 25.3.1994 - 25 K 9577/93.A - juris; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 24 Rn. 55 ff.).

Der gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfreien Klage war deshalb bereits im Hauptantrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.

(2) Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt. Der Ausländer kann den Asylantrag auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränken. Er ist über die Folgen einer Beschränkung des Antrags zu belehren. § 24 Absatz 2 bleibt unberührt.

(3) Ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist, hat an der Grenze um Asyl nachzusuchen (§ 18). Im Falle der unerlaubten Einreise hat er sich unverzüglich bei einer Aufnahmeeinrichtung zu melden (§ 22) oder bei der Ausländerbehörde oder der Polizei um Asyl nachzusuchen (§ 19). Der nachfolgende Asylantrag ist unverzüglich zu stellen.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.

(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.

(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.

(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.

(2) Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt. Der Ausländer kann den Asylantrag auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränken. Er ist über die Folgen einer Beschränkung des Antrags zu belehren. § 24 Absatz 2 bleibt unberührt.

(3) Ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist, hat an der Grenze um Asyl nachzusuchen (§ 18). Im Falle der unerlaubten Einreise hat er sich unverzüglich bei einer Aufnahmeeinrichtung zu melden (§ 22) oder bei der Ausländerbehörde oder der Polizei um Asyl nachzusuchen (§ 19). Der nachfolgende Asylantrag ist unverzüglich zu stellen.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
die Berufung zurückzuweisen.
12 
Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
13 
Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
14 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
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Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
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Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
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Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
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d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
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bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
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(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
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d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
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bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
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(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
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(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
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(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger im Hinblick auf die Arabische Republik Syrien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bisher nur ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Syrien festgestellt hat.
Der am … 1995 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger christlichen Glaubens und syrisch-orthodoxer Konfession. Er gehört zur aramäischen Volksgruppe.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trug der Kläger vor, er habe zuletzt bei seinen Eltern in Al-Malikiya (kurdisch: Derik) gelebt. Sein Vater sei Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei. Er sei der jüngste von drei Brüdern. Einer der Brüder leiste seinen Militärdienst ab. Ein anderer Bruder arbeite in Kuweit. Zu seinen Ausreisegründen erklärt der Kläger, er habe mit seinen kurdischen Schulkameraden Probleme gehabt. Ständig seien sie belästigt und beleidigt worden, nur weil sie Christen seien. Von kurdischen Jugendlichen seien sie immer wieder geschlagen worden. Auch die Polizei habe den Christen nicht geholfen. Mehrere Male habe er bei der Polizei Anzeige erstattet. Eine solche Anzeige sei jedoch nicht aufgenommen worden. Im Januar 2011 habe er mit kurdischen Jugendlichen eine Auseinandersetzung gehabt. Dabei habe er einen vorderen Schneidezahn teilweise verloren. Er sei dann mit seinem Vater nach Qamischli gereist, wo ein Schleuser ihn erwartet habe. Mit dem Auto sei er in die Türkei weitergereist und von Schleusern auf einen Lkw verbracht worden, mit dem er in die Bundesrepublik eingereist sei.
Der in Deutschland lebende Onkel des Klägers, zugleich dessen Vormund, führte bei der Anhörung ergänzend aus, der Vater des Klägers sei ein bekannter Rechtsanwalt. Er wolle, dass der Kläger in Sicherheit gebracht werde. Der Bruder des Klägers, der Wehrdienst ableiste, sei in Sicherheit: Mehr wolle er aktuell dazu aber nichts sagen. Er wolle in Syrien niemand gefährden.
Mit Bescheid vom 29.08.2012 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen, stellte jedoch fest, dass hinsichtlich Syriens ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG werde wegen der sogenannten Drittstaatenregelung abgelehnt. Es bestehe auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs.1 AufenthG. Der Kläger habe nicht substantiiert und glaubhaft vorgetragen, dass ihm bei Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG drohe. Christen seien allein aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung oder Manifestation dieser Überzeugung keiner asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich relevanten politischen Verfolgung ausgesetzt. Zwar komme es vor allem seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z. B. von bewaffneten Oppositionellen oder auch Deserteuren. Staatlicher Schutz gegen die Bedrohung durch Dritte bzw. nichtstaatliche Akteure könne aber im Einzelfall erlangt werden. Es liege jedoch ein Verbot der Abschiebung gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vor. Nach vorliegenden Erkenntnissen sei für den Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es sei davon auszugehen, dass die Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöse. Misshandlungen drohten auch Jugendlichen und Kindern.
Der Bescheid wurde dem Kläger durch Postzustellungsurkunde am 03.09.2012 zugestellt.
Dagegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 06.09.2012, eingegangen am 10.09.2012, Klage eingereicht und diese wie folgt begründet:
Beim Kläger lägen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Der Kläger habe seine Erlebnisse detailliert und lückenlos vorgetragen und insbesondere auf die ausweglose Lage der Christen in Syrien hingewiesen. Der Kläger habe Syrien verlassen müssen, um nicht Opfer von Blutrache zu werden. Die Cousins des Klägers väterlicherseits, X.Z. und Y.Z., hätten in der von Kurden geprägten Stadt Malikiya eine Metzgerei geführt. Eine Gruppe von Kurden sei in den Laden der Gebrüder Z. gekommen und habe Leber bestellt. Der X.Z. habe der Gruppe gesagt, dass die Leber bereits ausverkauft sei. Die Kurden hätten zum X. gesagt, wenn Du keine Leber hast, dann wollen wir Deine Leber haben. Es sei zu einem Tumult in der Metzgerei gekommen. Dabei sei der X. von der Gruppe geschlagen worden. Der Y. sei seinem Bruder zur Hilfe gekommen. Die Polizei habe die streitenden Parteien getrennt. Nachdem die Polizei weggegangen sei, sei eine größere Gruppe von Kurden mit mindestens 100 Personen in der Metzgerei erschienen. Die Kurden seien auf Lastkraftwagen zu dem Geschäft gekommen. Auf der anderen Seite seien christliche Jugendliche den beiden Brüdern zur Hilfe geeilt. Es sei zu einer Straßenschlacht gekommen, bei der ein Kurde getötet worden sei. Infolgedessen sei für die Dauer von drei Tagen die Stadt von Kurden beherrscht worden. Sie hätten christliche Geschäfte geplündert und die Fahrzeuge der Christen beschädigt. Es habe für drei Tage Chaos in der Stadt geherrscht. Die Kurden hätten die Familie Z. für den Tod des Kurden verantwortlich gemacht. Die Brüder X.Z. und Y.Z. und ein Onkel des Klägers seien anschließend festgenommen worden, obwohl sie keine Schuld am Tod des Kurden getroffen habe. Nach sechs Monaten seien die drei freigekauft worden. Eine Freilassung sei nur mit Hilfe von in Europa lebenden Aramäern möglich gewesen. Es sei viel Geld für die Familie Z. gesammelt worden, um durch Zahlung von Geld die schuldlosen Männer befreien zu können. Über den Vorgang sei auch in dem aramäischen Fernsehsender und in der assyrischen Presse ausgiebig berichtet worden. Die Kurden hätten gegen die Familie Z. Blutrache geschworen, insbesondere gegen die Brüder X.Z. und Y.Z., wobei letztere dann nach Schweden geflüchtet seien. Dort hätten die Brüder Asyl erhalten. Der Vater des Klägers habe aus Sorge um seine Kinder zunächst seine älteren Söhne aus Syrien weggeschafft. Einer der Brüder des Klägers sei nach Kuweit, der andere mittlerweile nach Schweden geflüchtet. Der Vater des Klägers sei zunächst davon ausgegangen, dass dem Kläger keine Gefahr drohe, weil er noch jung sei. Allerdings sei die Lage für den Kläger mit Beginn des Aufstandes in Syrien immer bedrohlicher geworden. Die Kurden profitierten von der rechtslosen Lage und von der in Syrien mittlerweile herrschenden Anarchie. Als der Vater des Klägers bemerkt habe, dass sein jüngster Sohn auch in Gefahr sei, habe er sich kurzerhand entschlossen, dessen Leben durch eine Flucht zu retten. In ländlichen Regionen werde Blutrache sehr oft ausgeübt. Vor allem bei der Volksgruppe der Kurden werde Blutrache traditionsbedingt sehr groß geschrieben. Die Kurden verübten teilweise ihre Blutrache auch noch nach 40 Jahren. Außerdem sei die Volksgruppe der Aramäer bzw. die Angehörigen des christlichen Glaubens in Syrien einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Die Christen stünden zwischen den Rebellen in Syrien und der syrischen Regierung in einer ausweglosen Lage. Dies syrische Regierung nutze die Christen als Schutzschilde aus. Sie bombardierten auch Kirchen und töteten Christen, um dies den Rebellen unterzuschieben. Andererseits würden die Christen von den Rebellen als vogelfrei angesehen, entführt und getötet. Mittlerweile sei gegen die Christen auch der „Jihad“ ausgerufen worden.
Der Kläger beantragt,
10 
Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf Syrien vorliegen.
11 
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
12 
die Klage abzuweisen,
13 
und sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung bezogen.
14 
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Seine Angaben ergeben sich aus der Anlage zum Sitzungsprotokoll.
15 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
16 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer (§ 87 a Abs. 1 und 2 VwGO).
17 
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Arabischen Republik Syrien vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG. Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger i.S.v. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO in seinen Rechten. Maßgeblich für diese Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
18 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
19 
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG setzt ebenso wie die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG voraus, dass dem Betroffenen in seinem Herkunftsstaat bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat zurückzukehren oder, falls der Betroffene unter dem Druck bereits bestehender politischer Verfolgung ausgereist ist, eine solche Verfolgung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
20 
Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt weiter voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris).
21 
Es kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist.
22 
Das Gericht glaubt dem Kläger zwar die im Klageverfahren detailliert geschilderten Vorkommnisse um seine Cousins X.Z. und Y.Z., die den Vater des Klägers offensichtlich (mit-)veranlasst haben, seine Söhne außer Landes zu bringen. Ob der Kläger in diesem Zusammenhang zum Zeitpunkt seiner Ausreise aber tatsächlich konkret von Blutrache bedroht war, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls stellt die vom Kläger angenommene Gefahr keine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar, da sie nicht an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpft. An ein solches Merkmal wie etwa die ethnische Zugehörigkeit, die politische Überzeugung oder die religiöse Grundentscheidung knüpft Blutrache nicht an. Sie ist vielmehr eine archaische Reaktion auf die Tötung eines Mannes, eine Genugtuung für das vergossene Blut und die Beeinträchtigung der Familienehre.
23 
Es kann auch offen bleiben, ob der Kläger unter den gegenwärtig in Syrien herrschenden Bedingungen wegen seines christlichen Glaubens von Verfolgung bedroht ist, er insbesondere vor Übergriffen Dritter staatlichen Schutz erlangen kann. Das Bundesamt ist in seiner Entscheidung zwar selbst davon ausgegangen, dass es seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z.B. bewaffneter Oppositioneller, gegen Christen komme, meint aber, dagegen könne staatlicher Schutz erlangt werden. Dies erscheint schon deshalb fraglich, weil das syrische Regime im Norden immer mehr die Kontrolle verliert und die Grenzstadt Malikiya (kurdisch Derik) im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak wohl von kurdischen Aufständischen beherrscht wird (vgl. etwa NZZ online vom 22.07.2012 „Kurden kontrollieren drei Städte“; eine politische Verfolgung von Christen in Syrien zuletzt verneinend z.B. VG Augsburg, Urteil vom 08.02.2012 - Au 6 K 11.30037 -, m.w.N., juris). Fraglich ist auch, ob der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann.
24 
Ohne dass es für dieses Verfahren noch entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf hingewiesen, dass der Kammer nach der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2013 eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages über die prekäre Lage der Christen in Syrien zugegangen ist (Nr. 09/13 vom 18. März 2013). Nach diesem Bericht häufen sich seit dem verheerenden Brandanschlag vom 11. Februar 2012 in Aleppo, dem 28. Christen zum Opfer fielen, die gewaltsamen Übergriffe gegen diese Minorität. Als einzig nicht-muslimische Glaubensgruppe würden sie von allen Konfliktparteien gleichermaßen der Kollaboration mit dem jeweiligen Gegner verdächtigt, liefen also Gefahr, infolge ihrer Religion zwischen den sich verhärtenden Fronten aufgerieben zu werden. Nach Ansicht führender Regierungsgegner könnten sich Christen nur dadurch vom Verdacht der Kumpanei mit dem Assad-Regime befreien, dass sie kollektiv zu den Aufständischen übertreten würden. Dazu jedoch seien viele Christen nicht bereit. Sie fürchteten, die ursprünglich demokratisch motivierte Opposition, mit deren Zielen sie sympathisierten, sei längst von Gruppierungen unterwandert, die eine mit westlichen Rechtsstaatsvorstellungen unvereinbare Politik betrieben. Auch andere Beobachter befürchteten, die Opposition werde zunehmend von Al Kaida, den Muslimbrüdern oder den Salafisten beeinflusst, und es gehe mittlerweile weniger um die Verbreitung von Demokratie als um die Etablierung einer am Koran orientierten Rechtsordnung.
25 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Änderung nicht absehbar ist, droht dem Kläger jedenfalls derzeit wegen seiner illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt im Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG.
26 
Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (S. 19 f.) wurden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nach Syrien zurückgeführt worden sind, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt und z.T. (mehrwöchig) inhaftiert. Bereits vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März 2011 lagen in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Erkenntnissen über willkürliche Verhaftungen sowie über körperliche und psychische Misshandlungen von abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen durch syrische Behörden, insbesondere den syrischen Geheimdienst, vor (vgl. dazu Urteil der Kammer vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 -, juris, mit ausführlichen Nachweisen). Nach gegenwärtiger Erkenntnislage ist beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger im Rahmen der mit einer Einreise nach Syrien verbundenen Überprüfung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme mit der Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung droht, weil einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen wird. Dabei kann dahin stehen, ob der Kläger tatsächlich eine regimefeindliche politische Einstellung vertritt. Gemäß Art. 10 Abs. 2 der RL 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden oder er sie auch nur vermutet (vgl. dazu Treiber in GK-AufenthG, § 60 Rn. 150 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Die dem Kläger bei einer Wiedereinreise drohende Überprüfung mit der beachtlichen Gefahr asylrelevanter Behandlung stellt damit politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar.
27 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie den allgemein zugänglichen Informationen geht das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor und hat dabei inzwischen bis zu 70.000 Tote in Kauf genommen (vgl. Zeit online vom 23.02.2013: „In dem Konflikt, der sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt hat, wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 70.000 Menschen getötet“). Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Syrien vom 17.02.2012 war bereits zu diesem Zeitpunkt von über 40.000 Verhafteten und Verschwundenen auszugehen. Seit März 2011 seien zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte (u.a. eines 13-jährigen Jungen) und Mordanschläge belegt. Das Regime gehe in einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung vor. Unliebsame öffentliche Äußerungen würden auf der Grundlage der Strafgesetze verfolgt, Medienvertreter inhaftiert oder getötet, die Internetnutzung mit ausgefeilter Software überwacht. Obwohl die syrische Verfassung Folter verbiete, werde von Polizei, Justizvollzugsorganen und Sicherheitsdiensten systematisch Gewalt angewandt. Das Individuum könne sich de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbhiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste komme es zu Drohungen, körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. Nach einem aktuellen Bericht der Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen seien rücksichtsloser und weit verbreiteter Beschuss, die regelmäßige Bombardierung von Städten, Massenmorde und das absichtliche Schießen auf zivile Ziele mittlerweile typisch für das tägliche Leben der Zivilisten in Syrien (Spiegel online vom 11.03.2013). Das Ausland bis auf Russland und China hat sich gegen das syrische Regime gestellt und die Abdankung von Staatspräsident Assad gefordert. Auch die Arabische Liga hat sich dieser Haltung angeschlossen (vgl. etwa Wikipedia, Bürgerkrieg in Syrien, Internationale Reaktionen). Nach mehrfach geäußerter Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist (vgl. etwa das Interview mit Syriens Vize-Außenminister in Spiegel online vom 05.02.2013).
28 
Angesichts der dargestellten gegenwärtigen Menschenrechtslage, des Überlebenskampfes des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland ist davon auszugehen, dass der syrische Staat gegenüber Handlungen wie der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung oder dem längeren Auslandsaufenthalt in hohem Maße unduldsam ist, sie als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansieht und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Diese sind als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 17.12.2012 - 5 K 858/10.KS.A -, nicht veröffentlicht; VG Aachen, Urteile vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - und 21.10.2011 - 9 K 1005/10.A -, jeweils juris; s. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 -, juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 -, juris; VG Chemnitz - A 5 K 390/06 -, juris; dazu, dass gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden droht, vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris).
29 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 und 2 und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Gründe

 
16 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer (§ 87 a Abs. 1 und 2 VwGO).
17 
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Arabischen Republik Syrien vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG. Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger i.S.v. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO in seinen Rechten. Maßgeblich für diese Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
18 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
19 
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG setzt ebenso wie die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG voraus, dass dem Betroffenen in seinem Herkunftsstaat bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat zurückzukehren oder, falls der Betroffene unter dem Druck bereits bestehender politischer Verfolgung ausgereist ist, eine solche Verfolgung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
20 
Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt weiter voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris).
21 
Es kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist.
22 
Das Gericht glaubt dem Kläger zwar die im Klageverfahren detailliert geschilderten Vorkommnisse um seine Cousins X.Z. und Y.Z., die den Vater des Klägers offensichtlich (mit-)veranlasst haben, seine Söhne außer Landes zu bringen. Ob der Kläger in diesem Zusammenhang zum Zeitpunkt seiner Ausreise aber tatsächlich konkret von Blutrache bedroht war, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls stellt die vom Kläger angenommene Gefahr keine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar, da sie nicht an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpft. An ein solches Merkmal wie etwa die ethnische Zugehörigkeit, die politische Überzeugung oder die religiöse Grundentscheidung knüpft Blutrache nicht an. Sie ist vielmehr eine archaische Reaktion auf die Tötung eines Mannes, eine Genugtuung für das vergossene Blut und die Beeinträchtigung der Familienehre.
23 
Es kann auch offen bleiben, ob der Kläger unter den gegenwärtig in Syrien herrschenden Bedingungen wegen seines christlichen Glaubens von Verfolgung bedroht ist, er insbesondere vor Übergriffen Dritter staatlichen Schutz erlangen kann. Das Bundesamt ist in seiner Entscheidung zwar selbst davon ausgegangen, dass es seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z.B. bewaffneter Oppositioneller, gegen Christen komme, meint aber, dagegen könne staatlicher Schutz erlangt werden. Dies erscheint schon deshalb fraglich, weil das syrische Regime im Norden immer mehr die Kontrolle verliert und die Grenzstadt Malikiya (kurdisch Derik) im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak wohl von kurdischen Aufständischen beherrscht wird (vgl. etwa NZZ online vom 22.07.2012 „Kurden kontrollieren drei Städte“; eine politische Verfolgung von Christen in Syrien zuletzt verneinend z.B. VG Augsburg, Urteil vom 08.02.2012 - Au 6 K 11.30037 -, m.w.N., juris). Fraglich ist auch, ob der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann.
24 
Ohne dass es für dieses Verfahren noch entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf hingewiesen, dass der Kammer nach der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2013 eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages über die prekäre Lage der Christen in Syrien zugegangen ist (Nr. 09/13 vom 18. März 2013). Nach diesem Bericht häufen sich seit dem verheerenden Brandanschlag vom 11. Februar 2012 in Aleppo, dem 28. Christen zum Opfer fielen, die gewaltsamen Übergriffe gegen diese Minorität. Als einzig nicht-muslimische Glaubensgruppe würden sie von allen Konfliktparteien gleichermaßen der Kollaboration mit dem jeweiligen Gegner verdächtigt, liefen also Gefahr, infolge ihrer Religion zwischen den sich verhärtenden Fronten aufgerieben zu werden. Nach Ansicht führender Regierungsgegner könnten sich Christen nur dadurch vom Verdacht der Kumpanei mit dem Assad-Regime befreien, dass sie kollektiv zu den Aufständischen übertreten würden. Dazu jedoch seien viele Christen nicht bereit. Sie fürchteten, die ursprünglich demokratisch motivierte Opposition, mit deren Zielen sie sympathisierten, sei längst von Gruppierungen unterwandert, die eine mit westlichen Rechtsstaatsvorstellungen unvereinbare Politik betrieben. Auch andere Beobachter befürchteten, die Opposition werde zunehmend von Al Kaida, den Muslimbrüdern oder den Salafisten beeinflusst, und es gehe mittlerweile weniger um die Verbreitung von Demokratie als um die Etablierung einer am Koran orientierten Rechtsordnung.
25 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Änderung nicht absehbar ist, droht dem Kläger jedenfalls derzeit wegen seiner illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt im Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG.
26 
Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (S. 19 f.) wurden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nach Syrien zurückgeführt worden sind, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt und z.T. (mehrwöchig) inhaftiert. Bereits vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März 2011 lagen in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Erkenntnissen über willkürliche Verhaftungen sowie über körperliche und psychische Misshandlungen von abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen durch syrische Behörden, insbesondere den syrischen Geheimdienst, vor (vgl. dazu Urteil der Kammer vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 -, juris, mit ausführlichen Nachweisen). Nach gegenwärtiger Erkenntnislage ist beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger im Rahmen der mit einer Einreise nach Syrien verbundenen Überprüfung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme mit der Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung droht, weil einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen wird. Dabei kann dahin stehen, ob der Kläger tatsächlich eine regimefeindliche politische Einstellung vertritt. Gemäß Art. 10 Abs. 2 der RL 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden oder er sie auch nur vermutet (vgl. dazu Treiber in GK-AufenthG, § 60 Rn. 150 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Die dem Kläger bei einer Wiedereinreise drohende Überprüfung mit der beachtlichen Gefahr asylrelevanter Behandlung stellt damit politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar.
27 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie den allgemein zugänglichen Informationen geht das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor und hat dabei inzwischen bis zu 70.000 Tote in Kauf genommen (vgl. Zeit online vom 23.02.2013: „In dem Konflikt, der sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt hat, wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 70.000 Menschen getötet“). Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Syrien vom 17.02.2012 war bereits zu diesem Zeitpunkt von über 40.000 Verhafteten und Verschwundenen auszugehen. Seit März 2011 seien zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte (u.a. eines 13-jährigen Jungen) und Mordanschläge belegt. Das Regime gehe in einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung vor. Unliebsame öffentliche Äußerungen würden auf der Grundlage der Strafgesetze verfolgt, Medienvertreter inhaftiert oder getötet, die Internetnutzung mit ausgefeilter Software überwacht. Obwohl die syrische Verfassung Folter verbiete, werde von Polizei, Justizvollzugsorganen und Sicherheitsdiensten systematisch Gewalt angewandt. Das Individuum könne sich de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbhiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste komme es zu Drohungen, körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. Nach einem aktuellen Bericht der Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen seien rücksichtsloser und weit verbreiteter Beschuss, die regelmäßige Bombardierung von Städten, Massenmorde und das absichtliche Schießen auf zivile Ziele mittlerweile typisch für das tägliche Leben der Zivilisten in Syrien (Spiegel online vom 11.03.2013). Das Ausland bis auf Russland und China hat sich gegen das syrische Regime gestellt und die Abdankung von Staatspräsident Assad gefordert. Auch die Arabische Liga hat sich dieser Haltung angeschlossen (vgl. etwa Wikipedia, Bürgerkrieg in Syrien, Internationale Reaktionen). Nach mehrfach geäußerter Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist (vgl. etwa das Interview mit Syriens Vize-Außenminister in Spiegel online vom 05.02.2013).
28 
Angesichts der dargestellten gegenwärtigen Menschenrechtslage, des Überlebenskampfes des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland ist davon auszugehen, dass der syrische Staat gegenüber Handlungen wie der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung oder dem längeren Auslandsaufenthalt in hohem Maße unduldsam ist, sie als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansieht und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Diese sind als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 17.12.2012 - 5 K 858/10.KS.A -, nicht veröffentlicht; VG Aachen, Urteile vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - und 21.10.2011 - 9 K 1005/10.A -, jeweils juris; s. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 -, juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 -, juris; VG Chemnitz - A 5 K 390/06 -, juris; dazu, dass gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden droht, vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris).
29 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 und 2 und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Tenor

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Tenor

1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 2013 - 14 A 2663/13.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die ihnen im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Die am 1. Januar 1978 geborene Beschwerdeführerin zu 1. und ihre beiden Kinder, die am 9. Oktober 2008 und am 1. Januar 2011 geborenen Beschwerdeführer zu 2. und 3., sind syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik beantragten sie hier Asyl. Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 28. März 2013 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab und stellte das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG fest. Bei einer Rückkehr nach Syrien sei mit einer Rückkehrerbefragung zu rechnen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöse.

2

2. a) Die Beschwerdeführer klagten gegen diesen Bescheid. Sie beriefen sich auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt und einen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg. Nach diesen Entscheidungen begründe die erwartbare Folter in den vom syrischen Regime durchgeführten Rückkehrerbefragungen die Flüchtlingseigenschaft.

3

b) In der mündlichen Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin zu 1. persönlich angehört und gab an, dass sie zwischenzeitlich auf Internetseiten der syrischen Opposition zwei regimekritische Artikel veröffentlicht habe, in denen sie das Regime unter anderem wegen der Ermordung von Kindern und des Einsatzes von Giftgas kritisiert habe. Als Kurden würden sie und ihre Kinder in Syrien sowohl von den Islamisten als auch von der Regierung verfolgt.

4

c) Mit Urteil vom 8. Oktober 2013 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Die Anerkennung der Beschwerdeführer als Asylberechtigte scheide schon aufgrund der nicht erwiesenen Einreise auf dem Luftweg aus. Die exilpolitischen Aktivitäten der Beschwerdeführerin zu 1. seien zu unwesentlich, um eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für die Beschwerdeführerin zu 1. zu begründen; derartige Aktivitäten seien derzeit bei einer großen Anzahl bisher unpolitischer syrischer Staatsangehöriger zu beobachten und dienten zum Teil ausschließlich zur Schaffung eines Nachfluchtgrundes. Im Übrigen fordere die Beschwerdeführerin zu 1. nicht explizit den Sturz des derzeitigen Regimes, so dass der syrische Geheimdienst hier von einer irrelevanten Aktivität ausgehen werde. Weiterhin sei in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen geklärt, dass die zu erwartende Rückkehrerbefragung lediglich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG begründe. Es sei fernliegend anzunehmen, dass die um ihr Überleben kämpfenden syrischen Machthaber jeden einzelnen Rückkehrer aus dem Ausland verfolgten, der dort einen Asylantrag gestellt habe.

5

3. a) Die Beschwerdeführer beantragten gegen dieses Urteil die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Die Frage, ob Rückkehrern die Flüchtlingseigenschaft oder nur ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen sei, habe grundsätzliche Bedeutung und werde in der zwischenzeitlich überwiegenden Rechtsprechung zu ihren Gunsten entschieden. Weiterhin habe das Gericht gegen die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verstoßen. Es sei nicht erkennbar, woher es die Erkenntnis bezogen habe, dass sich nunmehr viele bislang unpolitische Syrer zur Erlangung des Flüchtlingsstatus exilpolitisch betätigten. Im Übrigen sei das rechtliche Gehör auch dadurch verletzt, dass der Inhalt der Artikel der Beschwerdeführerin zu 1. nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

6

b) Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 9. Dezember 2013 ab. Die von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Fragen seien in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts im Sinne der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geklärt. Die Artikel der Beschwerdeführerin zu 1. habe das Verwaltungsgericht zur Kenntnis genommen, und die Tatsache der exilpolitischen Aktivitäten durch bisher unpolitische Syrer sei allgemeinkundig.

II.

7

1. Die Beschwerdeführer haben am 6. Januar 2014 Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung des Rechts aus Art. 16a Abs. 1 GG, des Rechts aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG rügen. Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, die exilpolitischen Aktivitäten der Beschwerdeführer seien nicht ausreichend, um eine Furcht vor politischer Verfolgung zu begründen, entspreche nicht der Sachlage. Das syrische Regime verfolge jeden, der sich kritisch zu Assad geäußert habe. Das Gericht widerspreche sich selbst, wenn es auf der einen Seite davon ausgehe, dass bei der Rückkehrerbefragung jeder Rückkehrer gefoltert werden könne, zugleich aber meine, dass die syrischen Geheimdienste relevante von irrelevanter Exilopposition unterschieden. Die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge daraus, dass das Verwaltungsgericht nicht auf einer hinreichend sicheren tatsächlichen Grundlage entschieden habe. Schließlich sei Art. 19 Abs. 4 GG durch die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht verletzt. Diese habe schon angesichts der Vielzahl abweichend entscheidender Verwaltungsgerichte erfolgen müssen. Allein eine Klärung für das Land Nordrhein-Westfalen reiche nicht aus.

8

2. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.

III.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwer-de ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet.

10

1. Die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Dieses gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges (vgl. BVerfGE 92, 365 <410>; 104, 220 <231>; 125, 104 <136 f.>; stRspr). Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>; 84, 366 <369 f.>; 125, 104 <137>). Das gleiche gilt, wenn das Prozessrecht - wie hier der § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG - den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>). Aus diesem Grunde dürfen die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können und die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leerläuft (vgl. zuletzt BVerfGE 125, 104 <137> m.w.N.). Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG beziehungsweise § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern in entsprechender Weise für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 AsylG beziehungsweise § 124 Abs. 2 VwGO selbst (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>; BVerfGK 5, 369 <375 f.>; 10, 208 <213>; 15, 37 <46 f.>).

11

Von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des - hier in Rede stehenden - Zulassungsgrundes nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist eine Rechtssache, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung und Anwendung geboten erscheint (vgl. BVerfGE 125, 104 <140>; BVerfGK 10, 208 <214>). Vom Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung ist regelmäßig dann auszugehen, wenn eine bundesrechtliche Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte uneinheitlich beurteilt wird und es an einer Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht fehlt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 1993 - 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 -, NVwZ 1993, S. 465 f.). Bei Tatsachenfragen kommt es regelmäßig nur auf die Klärung des im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts an, weil wegen der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, § 137 Abs. 2 VwGO, eine weitergehende Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht ausscheidet.

12

2. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen einer klärungsbedürftigen grundsätzlichen Frage zu Unrecht verneint. Es ist - wie sich auch aus seinem in Bezug genommenen Beschluss vom 27. Juni 2013 (14 A 1517/13.A -, juris, Rn. 8 ff.) ergibt - davon ausgegangen, dass lediglich eine tatsächliche Frage im Raum stehe. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr wirft die Zulassungsschrift die Rechtsfrage auf, ob auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 14. Februar 2012 (14 A 2708/10.A, juris, Rn. 36 ff.) subsidiärer Schutz - so das Oberverwaltungsgericht - oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (heute § 3 AsylG) - so der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris, Rn. 4) - zu gewähren ist. In seinem Urteil vom 14. Februar 2012 ist das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen davon ausgegangen, dass nicht nur politisch Verdächtigen, sondern allen nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von gravierender Folter drohe. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg begründet seine - bei als identisch angenommener Tatsachengrundlage - vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen abweichende Rechtsauffassung mit einer eingehenden Auswertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es unerheblich ist, ob der Asylbewerber tatsächlich politisch aktiv war, soweit nur die Behörden des Heimatstaats von einer solchen Betätigung ausgingen (vgl. Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris, Rn. 12). Damit stand eine bundesrechtliche Rechtsfrage im Raum, die nicht - jedenfalls nicht im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - geklärt war. Ihre Einstufung als - zudem geklärte - Tatsachenfrage erschwert den Zugang zur Berufungsinstanz in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise.

13

3. Ist der Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund stattzugeben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen, so bedarf es keiner Auseinandersetzung mit den weiteren Rügen der Beschwerdeführer.

IV.

14

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin – 5. Kammer – vom 14.11.2012 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides vom 23.04.2009 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten der zweiten Instanz. Die Kosten der ersten Instanz tragen die Kläger und die Beklagte je zu 1/2. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der beizutreibenden Kosten abzuwenden, wenn nicht zuvor der Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die in erster Linie auf Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage haben die Kläger in erster Instanz im Hinblick auf das Begehren, als Asylberechtigte anerkannt zu werden, zurückgenommen. Nachdem die Beklagte zugunsten der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG festgestellt hatte, haben die Kläger den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die danach nur noch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 14.11.2012 abgewiesen.

2

Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Klägers.

3

Der Kläger beantragt sinngemäß,

4

die erstinstanzliche Entscheidung zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 23.04.2009 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

5

Die Beklagte hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.

6

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

7

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Senat entscheidet über sie gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, da er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

8

Die Klage ist, soweit das Verfahren in zweiter Instanz noch anhängig ist, begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 1, § 3 AsylVfG, § 113 Abs. 5 VwGO. Der angefochtene Bescheid ist – soweit entgegenstehend – aufzuheben.

9

Als syrischer Asylbewerber ist der Kläger unabhängig von einer Vorverfolgung wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und dem längeren Aufenthalt in Deutschland bedroht. Sein Verhalten wird vom syrischen Staat derzeit als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst, und er hat bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Der Senat schließt sich in dieser Frage der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts München an (vgl. Urteil vom 03.02.2014 – M 22 K 12.3012 – Rn. 25 ff.) und verweist auf die darin verwerteten Quellen sowie die zitierte Rechtssprechung (vgl. außerdem: Hess. VGH, Beschluss vom 27.01.2014 – 3 A 917/13 Z.A -, AuAs 2014, S. 80 ff.). Zu ergänzenden Ausführungen besteht kein Anlass, da sich die Beteiligten auf den Hinweis des Gerichts vom 03.03.2014 nicht geäußert haben.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 161 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 167 VwGO, 711 ZPO.

11

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

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und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

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Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

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d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

30

und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

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(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 04. August 2016 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen die der Klägerin vom Verwaltungsgericht zuerkannte Eigenschaft eines Flüchtlings im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG.

2

Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge reiste sie am 1. Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 27. April 2016.

4

Das Bundesamt hat der Klägerin mit Bescheid vom 13. Mai 2016 den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt (Nr. 1) und den Asylantrag im Übrigen abgelehnt (Nr. 2).

5

Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 23. Juni 2016 Klage erhoben.

6

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Stabsfeldwebel der Syrischen Armee, aus Syrien im April 2013 geflohen. Zum Nachweis der Armeezugehörigkeit werde eine beglaubigte Übersetzung des Militärführerscheins für Unteroffiziere vorgelegt. Der Ehemann sei im Januar 2013 desertiert und mit ihr und den minderjährigen Kindern in die Türkei ausgereist. Nicht bloß ihrem Ehemann, sondern auch ihr, der Klägerin, drohe bei einer Rückkehr nach Syrien die zu erwartende obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sei sie einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter ausgesetzt. Unabhängig hiervon habe sie bereits aufgrund des illegalen Verlassens ihres Heimatlandes, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der damit einhergehenden vermuteten regimekritischen Haltung mit massiver Bedrohung und Verfolgung zu rechnen. Deshalb sei ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dass den von ihr aufgezeigten Umständen asylrechtliche Relevanz beigemessen werde, sei mittlerweile in der verwaltungsgerichtlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt.

7

Die Klägerin hat beantragt,

8

den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2016 in Ziffer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie sei aus Furcht vor dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und somit aus Gründen, die ihre persönliche Sicherheit beträfen, ausgereist, nicht hingegen wegen Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Verfolger. Die von ihr geäußerte Befürchtung, ihr Auslandsaufenthalt könne zu einer Verfolgung führen, lasse keine andere Bewertung zu. Der syrische Staat stelle seit Januar 2015 Pässe in großer Stückzahl aus und ermögliche damit die Ausreise aktiv.

12

Das Verwaltungsgericht hat nach Anhörung der Beteiligten hierzu durch Gerichtsbescheid vom 4. August 2016 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen und den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben.

13

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Klägerin vorverfolgt aus Syrien ausgereist sei, denn ihr stünden beachtliche, den Schutzstatus des § 3 Abs. 1 AsylG auslösende Nachfluchtgründe zur Seite. Mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien sei im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung drohe. Es sei anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. An der im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urt. v. 06.07.2016, - RN 11 K 16.30889 -) dargestellten Lage in Syrien und der gewonnenen asylrechtlichen Einschätzung habe sich nichts verändert.

14

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien habe nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen werde. Vielmehr sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden würden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg als eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansehe. Unter den derzeitigen Umständen werde jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen.

15

Nach den aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Die Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert habe, werde von dem Gericht geteilt.

16

Auch der Annahme der Beklagten, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, sei nicht zu folgen. Nach Angaben von Pro Asyl verfolge das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016). Auch nach der vom Verwaltungsgericht Regensburg zitierten Einschätzung des Auswärtigen Amtes sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.

17

Der Klägerin stehe schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es bestehe nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

18

Die Flüchtlingsanerkennung scheide auch nicht aus anderen Gründen aus, so dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung drohe, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werde widerlegen können.

19

Mit der mit Beschluss des Senats vom 27. September 2016 zugelassenen Berufung verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides vom 4. August 2016.

20

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, es gebe keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobenen Rückkehrern grundsätzlich ungeachtet besonderer persönlicher Umstände oppositionelle Tätigkeit unterstellt werde und die Befragungen und damit teilweise auch einhergehenden Misshandlungen in Anknüpfung an ein asylrechtliches Merkmal erfolgten. Aus den bislang aufgrund der Auskunftslage zur Verfügung stehenden Einzelfällen könne ungeachtet des Unrechtsgehalts dieses staatlichen Handelns keine Motivation des syrischen Staates abgeleitet werden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien deshalb für sich allein kein Grund für Verhaftung oder Repressalien. Dass Rückkehrer generell der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien, begründe daher lediglich einen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Auch aus der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung ließen sich keine belastbaren Erkenntnisse für das Vorliegen einer asylrechtlich erheblichen Gefahr einer politischen Verfolgung herleiten. Der syrische Staat habe weder Veranlassung noch entsprechende Ressourcen, alle zurückgeführten unpolitischen Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund in asylrechtlich relevantem Maße zu verfolgen. Auch die massenhafte Ausstellung von Pässen spreche gegen die Auffassung, dass Rückkehrern wegen eines Auslandsaufenthalts eine regimekritische Gesinnung unterstellt werde.

21

Die Beklagte beantragt,

22

den Gerichtsbescheid, Az. 12 A 222/16, vom 4. August 2016 des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

23

Die Klägerin beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Dass die gegenwärtige Lage in Syrien vom Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt und gewürdigt worden sei, ergebe sich auch aus weiteren Länderberichten. Die eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts seien hingegen nicht geeignet, die Annahmen des Verwaltungsgerichts zu widerlegen. Im Übrigen sei sie, die Klägerin, vorverfolgt ausgereist. Ihr Ehemann sei Unteroffizier bei der syrischen Armee gewesen und habe in einer Abteilung gearbeitet, die sich mit der Ermordung des Libanesen R. beschäftigt habe. 2012 sei ihr Ehemann, als er an der Front habe kämpfen sollen, desertiert und mit seiner Familie im August von Damaskus zunächst nach Latakia geflohen und von dort aus weiter nach Idlib. Aufgrund der Desertation würde ihr, der Klägerin, mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr nach Syrien Verfolgung drohen.

26

Der Senat hat mit Beschluss vom 27. September 2017 Beweis erhoben zu der Frage, ob unverfolgt ausgereiste Rückkehrer wegen einer vermuteten oppositionellen Haltung Befragungen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sind und, sollte dies der Fall sein, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, dass sie deshalb Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sein werden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Wegen des Inhalts der Gutachten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (Bl. 114 f., 118f.).

27

Die Klägerin ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung informatorisch zu den von ihr geltend gemachten Verfolgungsgründen angehört worden. Wegen der von ihr hierzu geltend gemachten Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2016 (Gerichtsakten Bl. 152ff ) Bezug genommen.

28

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakten.

Entscheidungsgründe

29

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 4. August 2016 war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

30

Nach § 3 Abs. 1 AsylG (zitiert nach der hier anwendbaren Variante) ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gemäß § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

31

§ 3a Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als dauerhafte oder systematische schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte (vgl. Marx, AsylVfG-Komm., 8. Aufl., § 3a Rn. 3); in Absatz 2 werden besondere Beispiele für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung bezeichnet. § 3b Abs. 1 AsylG beschreibt abschließend die maßgeblichen Verfolgungsgründe. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG. Wer eine ihm geltende Verfolgungshandlung (§ 3a) sowie den Wegfall nationalen Schutzes (§ 3c - § 3e) darlegen kann, wird als Flüchtling anerkannt, wenn die Verfolgung auf einem oder mehreren der in § 3b Abs. 1 bezeichneten Verfolgungsgründen beruht. Kann die Anknüpfung der Verfolgung an einen Verfolgungsgrund nicht dargelegt werden, besteht nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1) (Marx, a.a.O., § 3a Rn. 50).

32

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, ob eine spezifische Zielrichtung vorliegt, die Wirkung mithin wegen eines geschützten Merkmals erfolgt (BVerfGE 80, 315, 335; BVerfGE 81, 142, 151; Marx, a.a.O., § 3 a, Rn. 54). Danach wohnt dem Begriff der Verfolgung ein finales Element inne, da nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Personen oder Personengruppen zielenden Zugriff erhebliche Wirkung zukommt. Das Kriterium „erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme“ und das Erfordernis, dass die Verfolgung an geschützte Merkmale anknüpfen muss, verdeutlichen, dass es auf die in der Maßnahme objektiv erkennbar werdende Anknüpfung ankommt (Marx, a.a.O., Rn. 54).

33

Dabei ist es für die Annahme von Verfolgung nicht erforderlich, dass von politischer Verfolgung Betroffene entweder tatsächlich oder nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sind. Politische Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist (BVerfG, Kammerbeschluss v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5). In diesem Sinne sieht § 3b Abs. 2 AsylG vor, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Dafür, dass die Verfolger einen Verfolgungsgrund unterstellen, müssen jedoch Umstände ermittelt werden (vgl. Marx, a.a.O., § 3b Rn. 78).

34

Nach der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin ist der Senat davon überzeugt, dass diese unverfolgt ihr Heimatland Syrien verlassen hat. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt der Asylbewerber seiner ihm obliegenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO nur dann, wenn er drohende oder bereits erlittene politische Verfolgung in „schlüssiger“ Form vorträgt. Hierzu ist erforderlich, dass er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (ständ. Rspr. BVerwG, Urt. v. 24.11.1981 - BVerwG 9 C 251.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 31; v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405/89 -, juris, Rn. 8; Beschl. v. 15.08.2003 - 1 B 107/03, 1 PKH 21 PKH 28/03 -, juris Rn. 5). Diese Anforderungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat erstmals in der im Rahmen des Berufungsverfahrens durchgeführten persönlichen Anhörung ausgeführt, ihr Ehemann sei nach Erhalt eines Einsatzbefehls aus der syrischen Armee desertiert und habe mit ihr und den gemeinsamen Kindern Damaskus zunächst in Richtung Latakia verlassen. In Idlib sei er, nachdem er sich als Deserteur offenbart gehabt habe und von einer bewaffneten Person als Mitglied des Ausschusses zur Aufklärung der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri erkannt worden sei, von der Al-Nusra-Front mitgenommen und ca. vierzehn Tage festgehalten worden. Familienangehörige ihres Ehemannes seien ebenfalls festgenommen worden, um den Aufenthaltsort ihres Mannes sowie dessen Familie ausfindig zu machen. Sie selbst seien weiter in die Türkei geflüchtet, von wo sie als einzige weiter nach Deutschland geflüchtet sei. Dieses Vorbringen genügt nicht den Anforderungen an einen schlüssigen, in sich widerspruchsfreien Vortrag. Der Asylbewerber ist gehalten, sich bereits bei der Antragstellung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration über die Tatsachen zu erklären, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.1991 - 9 C 131/90 -, juris Rn. 9). Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung bei der Beklagten erklärt, sie sei mit ihrer Familie aus Furcht vor dem Bürgerkrieg geflohen. Sie hat trotz gezielter Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung nicht zu erklären vermocht, warum sie die 50 Minuten währende Anhörung bei der Beklagten nicht dazu genutzt hat, sich über ihr im Rahmen des anhängigen gerichtlichen Verfahrens erstmalig vorgetragenes individuelles Fluchtschicksal zu erklären. Auch, wenn es dem Asylbewerber grundsätzlich unbenommen bleibt, sein Verfolgungsschicksal später, das heißt in dem sich anschließenden (Gerichts-)Verfahren, zu ergänzen und zu konkretisieren, muss das Kerngeschehen grundsätzlich - wie ausgeführt - bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration in sich stimmig und widerspruchsfrei geschildert werden. Daran mangelt es hier. Die Klägerin hat ihr Vorbringen gegenüber demjenigen vor dem Bundesamt erheblich verändert und dann deutlich gesteigert. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu verändern, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Klagebegründung (kurze) Ausführungen zu der Desertation ihres Ehemannes und der anschließenden Flucht der Familie durch und aus Syrien gemacht hat. Denn auch insoweit handelt es sich bereits um gesteigertes Vorbingen gegenüber der erstmaligen Anhörung. Hinzu kommt, dass die Klägerin ihr schriftsätzlich vorgetragenes und ihr mündliches Vorbringen im Berufungsvorbringen weiter gesteigert hat. Sie hat zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens einen in sich stimmigen widerspruchsfreien Vortrag zu Protokoll erklärt. Vielmehr sind die von der Klägerin vorgebrachten mündlichen Schilderungen zu ihrem Verfolgungsschicksal nicht von persönlichem Erleben getragen. Dies schlussfolgert der Senat insbesondere aus den vage gebliebenen, insgesamt konstruiert wirkenden Angaben zu den Umständen der Flucht aus Latakia und der anschließenden Festnahme des Ehemannes nahe der Stadt Idlib. Welche Motivation hinter der Festnahme gestanden haben soll, bleibt völlig unklar. Auch das vorangegangene Fluchtgeschehen von Latakia nach Idlib mittels eines Lkw, auf dessen Ladefläche der Ehemann der Klägerin versteckt worden sein soll, bleibt in den Schilderungen der Klägerin detailarm und von Zufällen getragen, die ein reales Erleben als eher fernliegend erscheinen lassen. Ebenso bleibt es widersprüchlich, dass der Ehemann nach seiner Desertation und dem Weggang nach Latakia offenbar noch weitere acht Monate bei der Militärpolizei gearbeitet und im Wechsel eine Woche in Damaskus und eine Woche in Latakia gearbeitet haben will. Die Entfernung zwischen beiden Städten beträgt rund 330 km einfache Wegstrecke (Luftlinie gut 227 km).

35

Hätten sich die geschilderten Geschehnisse tatsächlich so zugetragen, bleibt umso mehr unverständlich, warum die Klägerin, die auch persönlich bedroht worden sein will, hierzu keinerlei Ausführungen bei ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten gemacht hat. Weder Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung noch solche im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration haben es vermocht, Widersprüche aufzulösen und das vorgetragene Verfolgungsschicksal in sich stimmiger zu machen. Im Gegenteil: Dass die Klägerin nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung vor dem Senat ihre informatorische Anhörung dahingehend ergänzt hat, sie sei - obwohl sie bekundet hat, in Syrien keiner Vernehmung ausgesetzt gewesen zu sein - bei der Anhörung vor dem Bundesamt an Vernehmungen in Syrien erinnert gewesen und habe Angst bekommen, ist nicht ansatzweise glaubhaft. Hinzu kommt, dass sie, die zudem keiner politischen Vereinigung angehört und sich auch nicht politisch engagiert hat, auch auf Nachfrage nicht zu erklären vermocht hat, warum sie die Frage nach ihrer Befürchtung bei einer Rückkehr in ihre Heimat dahingehend beantwortet hat, sie befürchte eine Bestrafung, weil die ausgereisten Syrer als Verräter gelten würden. Es hätte vielmehr nahe gelegen, bei einem von realem Erleben getragenen Geschehen von sich aus das Verfolgungsschicksal vom Beginn der Asylantragstellung an nachvollziehbar zu schildern.

36

Bei einer derartigen Sachlage war der Senat im Übrigen nicht gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären und etwa Beweis darüber zu erheben, ob die in Kopie und Übersetzung zu den Gerichtsakten gelangten Dokumente (Unteroffizierausweis und Militärführerschein für Unteroffiziere) echte Urkunden der syrischen Armee darstellen und ob es sich bei der dort abgebildeten Person tatsächlich um den Ehemann der Klägerin handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Ein solcher tatsächlicher Anlass besteht im Prozess wegen Anerkennung als Asylberechtigter dann nicht, wenn der Kläger unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form vorträgt (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989, a.a.O., Rn. 8; Beschl. v. 26.11.2007 - 5 B 172/07 - , juris Rn. 3).

37

Hat die Klägerin danach ihr Heimatland unverfolgt verlassen, besteht nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass der totalitäre syrische Staat jeden Rückkehrer pauschal unter eine Art Generalverdacht stellt, der Opposition anzugehören (in diesem Sinne etwa Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris Rn. 7; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 8). In diesem Sinne sind auch die vom Verwaltungsgericht angestellten Erwägungen, die sich im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe sowie auf die vom Verwaltungsgericht Regensburg herangezogenen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (November 2015, Asyldokumentation Nr. 598b) beziehen, nicht geeignet konkrete Anhaltspunkte für eine - pauschal alle Rückkehrer betreffende - Rückkehrgefährdung anzunehmen. Nach den Erwägungen des UNHCR kann aus Syrien ausgereisten syrischen Staatsangehörigen Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die diesen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus denen die Betroffenen stammen. Diese Einschätzung ist jedoch nicht ausreichend für die Annahme, allen aus Syrien ausgereisten Flüchtlingen würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Wiedereinreise asylrelevante Verfolgung drohen.

38

Bei Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe fehlt es vielmehr an einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls insoweit, als dass sich die Klägerin darauf beruft, sie hätte aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Stellung des Asylantrages und des längeren Aufenthaltes im Bundesgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanter Verfolgung seitens des syrischen Staates zu rechnen. Aufgrund der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin geht der Senat davon aus, dass diese unverfolgt ausgereist ist, so dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 23).

39

Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ob das der Fall ist, beurteilt sich nicht aufgrund einer quantitativen, sondern aufgrund einer qualifizierenden Betrachtungsweise. Eine theoretische Möglichkeit, dass sich eine Gefahr realisiert, reicht allerdings nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 (169) m.w.N.; Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 (393); Beschl. v. 31.03.1998 - 9 B 843.97 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris Rn. 25).

40

Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist zur Überzeugung des Senats nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates bei einer Rückkehr in ihr Heimatland zu rechnen hätte. Die Klägerin hat sich in Syrien nicht politisch betätigt, so dass es an dem Vorliegen eines Verfolgungsgrundes - in Betracht käme ersichtlich nur derjenige nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG - fehlt. Sie ist vielmehr wegen des herrschenden Bürgerkrieges und den sich daraus für sich und ihre Familie ergebenden Folgen ausgereist. Der Senat geht davon aus, dass angesichts der erheblichen Zahl der insbesondere im vergangenen Jahr aus Syrien ausgereisten Menschen (knapp 430.000 Flüchtlinge, vgl. ZEIT ONLINE vom 08.06.2016, Asyldokumentation Nr. 599c, und Mediendienst-Integration, Stand: 01.08.2016, Asyldokumentation Nr. 599e) auch dem syrischen Staat bekannt sein dürfte, dass - wie die Klägerin - die weit überwiegende Anzahl der Flüchtenden aus Angst vor dem Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Folgen ihr Heimatland verlassen haben. Allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt stellen daher keine Anzeichen für politische Gegnerschaft zum syrischen Regime dar (so auch Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, juris Rn. 18). Diese Einschätzung deckt sich mit der gegenwärtig vorliegenden Auskunftslage, wonach auf Ebene der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Ebenfalls liegen keine Erkenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien vor (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 07.11.2016, Asyldokumentation Nr. 602). In Übereinstimmung hiermit steht eine Auskunft des Deutschen Orient-Instituts (vom 08.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht, Asyldokumentation Nr. 603), wonach die syrische Regierung, nachdem in beinahe allen Landesteilen im Frühjahr 2011 Proteste und Unruhen ausgebrochen waren, die Kontrolle über größere Teile des Staatsgebiets verloren hat. Danach werden im Osten nach wie vor weiter besiedelte Gebietsteile durch den sogenannten Islamischen Staat kontrolliert. Die Grenzregionen zu Jordanien und der Türkei werden von verschiedenen oppositionellen Rebellengruppen beherrscht; der mehrheitlich kurdische Teil Syriens, besonders im Norden und Nordosten, hat sich selbst zu föderalen Provinzen erklärt. Die Gebiete zwischen den größten Städten im Westen des Landes (vor allem Damaskus und Umland, Hama, Homs, Aleppo und mit Abstrichen auch Latakia) werden durch verschiedene Gruppierungen oder die Regierung kontrolliert. Die Grenzziehung zwischen diesen Zonen unterliegt einer stetigen Veränderung der Frontverläufe und Kontrolle. Befragungen oder Verfolgung durch die syrische Regierung sind also derzeit zunächst nicht in allen Landesteilen realistisch.

41

Diese Auskunft, die sich weiterhin mit der Ausreisegenehmigung und der Einziehung zum Wehrdienst für männliche Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren einschließlich der drohenden Konsequenzen für Deserteure beschäftigt sowie mit der besonderen Gruppe der in Syrien wohnhaften Kurden, bestätigt im Kern die Einschätzung, dass jedenfalls keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien, die nicht im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten stehen wie etwa Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger, Übergriffe oder gar Sanktionen zu erleiden haben. Befragungen sind danach bei einer Wiedereinreise über Damaskus zwar nicht unrealistisch; es ist aber wegen der in der Auskunft hervorgehobenen Personengruppen der Deserteure und Kurden jedenfalls nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass mit einer eventuellen Befragung negative Konsequenzen für diejenigen potentiell Betroffenen zu befürchten sind, die lediglich aufgrund des Bürgerkrieges ihr Heimatland verlassen haben. Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeitet (so bereits die Auskunft der Botschaft Beirut, Referat 313 vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asyldokumentation Nr. 598e).

42

Somit hat die Beklagte der Klägerin zu Recht (nur) subsidiären Schutz gewährt.

43

Die Nebenentscheidungen ergeben sich im Kostenpunkt aus §§ 154 Abs. 1 i. v. m. § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

44

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).


Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. April 2014 - A 12 K 2210/13 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am xx.xx.1983 geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Pakistan. Er kam nach seinen Angaben am 08.02.2012 mit dem Schiff in die Bundesrepublik Deutschland und stellte am 27.02.2012 einen Asylantrag. Zur Begründung machte er geltend: Er habe in Pakistan Probleme gehabt, weil er mit Christen in die Kirche gegangen sei und Christ habe werden wollen. Weiter legte er Informationsmaterial und eine Bescheinigung der Gemeinschaft Entschiedener Christen in H. vom 11.05.2013 und eine Bescheinigung von xxx in H. vom 07.05.2013 vor. Wegen weiterer Einzelheiten seines Vorbringens verweist der Senat auf die Niederschrift seiner Anhörung durch das Bundesamt vom 15.05.2013.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 20.06.2013 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte die Abschiebung nach Pakistan an.
Am 28.06.2013 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart und berief sich darauf, dass er zwischenzeitlich getauft worden sei. Er legte eine Taufkarte vom 02.06.2013, eine Mitgliedskarte des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden vom 28.05.2013, weiteres Informationsmaterial der Gemeinschaft Entschiedener Christen und Informationsmaterial des Immigration and Refugee Board of Canada vom 20.09.2013 vor.
Nach den im Tatbestand des angegriffenen Urteils enthaltenen Feststellungen antwortete der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Gerichts, welche Gründe es für ihn gegeben habe, zum Christentum überzutreten und sich taufen zu lassen: Jesus sei wegen ihrer Sünden vom Kreuz gestiegen. Die Muslime hätten kein Opfer gegeben. Er habe die christliche Religion kennengelernt und wisse jetzt alles. Gott habe sich für sie geopfert. Er selbst sei nicht Christ geworden, weil er sich davon Vorteile versprochen habe. Auf die Frage, welche konkreten Gründe er gehabt habe, nach Deutschland zu kommen, antwortete er: In Pakistan sei er drei- bis viermal in der Kirche gewesen. Die Familie habe das nicht gerne gesehen, auch seine Nachbarn nicht. Seine christlichen Freunde hätten gemeint, er solle lieber in ein christliches Land gehen. Ein christlicher Freund habe einen Schlepper gekannt. Später berichtigte der Kläger: Das Geld sei erst bezahlt worden, nachdem es ihm gelungen sei, nach Deutschland zu kommen. Er habe mit dem Freund Cricket gespielt. Sie seien gemeinsam in die Kirche gegangen. Es habe sich um seine - des Klägers - Ersparnisse gehandelt.
Auf Fragen und Vorhalte seines Prozessbevollmächtigten gab der Kläger weiter an: In Pakistan hätten sie ihm gesagt, er sei jetzt ein Nicht-Gläubiger. Er sei geschlagen und bedroht worden. Sie hätten gesagt, es sei besser, ihn zu töten. Geschlagen worden sei er im achten bzw. neunten Monat des Jahres 2012 (gemeint 2011). Er sei unterwegs zum Gottesdienst gewesen. Sie hätten ihn angehalten und gesagt, sie würden ihn schlagen, ihm Fußtritte geben und ihn umbringen. Einmal sei er geschlagen worden. Deswegen sei er dreimal genäht worden. Er sei zu einem Arzt gegangen, einem Dr. N. in seiner Ortschaft. Seine ganze Familie sei gegen ihn. Er habe keine Verbindung mehr mit der Familie. Zu seiner Taufe führte er aus: Dr. S. habe ihn unterrichtet. Er komme einmal in der Woche am Donnerstagnachmittag. X. sei eine Kirche; es gebe um 18:00 Uhr dort Gottesdienst. Dann tränken sie Tee. Samstags um 11:00 Uhr gebe es einen gemeinsamen Gottesdienst mit allen Personen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers führte aus, der Kläger sei als Moslem in Pakistan mit der christlichen Gemeinde in Berührung gekommen. Die Kontakte seien über einen Freund hergestellt worden. Er sei vom christlichen Glauben fasziniert gewesen, nachdem er drei- bis viermal in der Kirche gewesen sei. Er habe dann Probleme mit der Familie bekommen. Aus seiner Sicht sei die Situation für ihn in Pakistan gefährlich. Es habe bei ihm schon in Pakistan eine Festlegung auf das Christentum gegeben. Ein Verzicht auf die Religionsausübung sei nicht Gegenstand von Überlegungen gewesen. Er gehöre der Gemeinschaft Entschiedener Christen in H. an und wolle den Glauben mit allen teilen. Er wollte den Glauben auch in Pakistan weiterleben. Die Abwendung vom muslimischen Glauben sei aus der Sicht der Hitzköpfe verwerflich. Es stelle sich die Frage, ob der Staat hinreichende Schritte unternehme, den Kläger ggf. zu schützen. Aus staatlichen Verfolgungsmaßnahmen könne man schließen, dass der Staat nicht Garant für den Schutz sein könne.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Mit Urteil vom 10.04.2014 wies das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet ab und führte zur Begründung aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Der Kläger habe das Gericht nicht davon überzeugen können, dass er das von ihm geschilderte Schicksal tatsächlich erlitten habe. Denn der Vortrag enthalte wesentliche Ungereimtheiten und widerspreche zum Teil erheblich der allgemeinen Lebenserfahrung. So seien schon die Angaben des Klägers, warum er sich dem Christentum zugewandt habe und schließlich habe taufen lassen, ausgesprochen vage. Bei der Anhörung habe er hierzu nur angegeben, in der Cricketmannschaft seien auch Christen gewesen. Mit ihnen sei er zusammen in die Kirche gegangen. Man habe ihm gesagt, Jesus Christus habe den Leuten die Augen gegeben, er habe die Verstorbenen wieder lebendig gemacht. Daraufhin sei sein Glaube an die christliche Religion sehr stark gewesen. In der mündlichen Verhandlung habe er hierzu auch nicht viel mehr gesagt. Auf die Frage, welche Gründe es für ihn gegeben habe, zum Christentum überzutreten und sich taufen zu lassen, habe er gesagt: Jesus sei wegen ihrer Sünden vom Kreuz gestiegen. Die Muslime hätten kein Opfer gegeben. Er habe die christliche Religion kennengelernt und wisse jetzt alles. Gott habe sich für sie geopfert. Er selbst sei nicht Christ geworden, weil er sich davon Vorteile versprochen habe. Auffallend sei dabei gewesen, dass er bei der Anhörung und auch in der mündlichen Verhandlung zuerst angegeben habe, in Pakistan sei er drei- bis viermal in die Kirche gegangen, im weiteren Verlauf der Anhörung habe er dann gesagt, er sei fünfmal in der Kirche gewesen. Bei einer so geringen Anzahl von Kirchenbesuchen sei davon auszugehen, dass man sich an diese Anzahl besser erinnere, zumal wenn sie zu einem so wesentlichen Schritt führe, wie den Übertritt zu einer anderen Religion. Nicht verständlich seien die Angaben des Klägers zu dem Arzt, zu dem er nach seinen Angaben gegangen sei, nachdem er geschlagen worden sei. Hierzu habe er bei der Anhörung durch das Bundesamt angegeben, er habe Dr. S. geheißen, mehr wisse er nicht; er glaube, er sei in der Rxxx Rxxx in Lahore. In der mündlichen Verhandlung habe er dagegen gesagt, es habe sich um einen Dr. N. in seiner Ortschaft gehandelt. Es widerspreche auch jeder Lebenserfahrung, dass der Kläger trotz der Bedeutung seines Schritts weder gewusst habe, wann er angefangen habe, in Pakistan in die christliche Kirche zu gehen, noch wann sich der Vorfall abgespielt habe, bei dem er geschlagen worden sei. Die Angaben bei der Anhörung hierzu seien äußerst vage gewesen, nämlich "irgendwann im Jahr 2011" bzw. "das sei 2011" gewesen. Wenn sich ein so bedeutsames Ereignis tatsächlich abgespielt gehabt hätte, hätte der Kläger in der Lage sein müssen, dies zeitlich erheblich konkreter einzuordnen. Weiter widerspreche es jeglicher Lebenserfahrung, dass jemand nach wenigen Kirchenbesuchen, auch wenn er einmal geschlagen worden sei, von seinen christlichen Freunden den Rat erhalte, sofort in ein christliches Land zu gehen, und dies auch sofort tue. Immerhin seien 1,6 % der pakistanischen Bevölkerung Christen. Auch sei es dem Kläger wirtschaftlich gut gegangen. Bei der Anhörung habe er insoweit angegeben, er habe gut gearbeitet und habe das Geld gespart, das er für die Ausreise ausgegeben habe. Es könne weiter nicht festgestellt werden, dass für den Kläger allein wegen seiner Zugehörigkeit zu den Christen in Pakistan eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan deshalb darüber hinausgehend Gefahr drohe, weil er die Religion gewechselt habe und sich dort als Christ betätigen wolle, seien nicht ersichtlich. Auch sei nicht festzustellen, dass dem Kläger Gefahren im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylVfG oder § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG drohten.
Auf den vom Kläger fristgerecht gestellten Antrag ließ der Senat durch Beschluss vom 11.06.2014 die Berufung insoweit zu, als er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt und lehnte im Übrigen den Antrag ab.
10 
Am 23.06.2014 hat der Kläger die Berufung unter Stellung eines Antrags begründet. Er führt aus: Das Verwaltungsgericht habe sich auf den Standpunkt gestellt, trotz feststellbarer Verfolgungshandlungen gegen Christen und ungeachtet der Frage, ob der pakistanische Staat im Hinblick auf die Verfolgung von Christen durch nichtstaatliche Akteure tatsächlich gänzlich schutzwillig und schutzfähig sei, hätten die Verfolgungsmaßnahmen nicht ein solches Ausmaß erreicht, dass die strengen Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung angenommen werden könnten; es sei keine hinreichende Verfolgungsdichte feststellbar.
11 
Dieser Auffassung könne nicht gefolgt werden. Nach neueren Erkenntnismitteln habe die Bedrohungslage der Christen in Pakistan jüngst eine neue, noch nicht dagewesene Qualität erreicht. Bereits im Juni 2013 habe der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil bezüglich der Ahmadi in Pakistan von einer prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen in Pakistan gesprochen. Diese Lage habe sich weiter verschlechtert. Vor diesem Hintergrund drohe der Gruppe der Christen in Pakistan, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansähen, ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Der Schutz religiöser Minderheiten sei in der Verfassung festgeschrieben, auch gebe es Quoten für ihre Vertretung in staatlicher Beschäftigung und politischer Vertretung. Ungeachtet dieser Gesetzeslage seien die als solche erkennbaren Christen in Pakistan aber Diskriminierungen ausgesetzt. Diskriminierungen im wirtschaftlichen Bereich, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt seien verbreitet. Christliche Gemeinden und Institutionen seien Opfer von Landraub durch muslimische Geschäftsleute. Auch der Besitz von geflohenen christlichen Privatpersonen werde von den muslimischen Anwohnern in Besitz genommen. Diskriminierungen und Übergriffe gingen aber nicht nur von privaten Akteuren aus. Es werde von einem Trend zu entschädigungslosen Beschlagnahmen christlicher Friedhöfe und von dem Abriss einer katholischen Einrichtung in Lahore auf Anweisung der örtlichen Regierung im Januar 2012 berichtet. Insbesondere hätten Christen in Pakistan aber schwer unter dem Blasphemiegesetz zu leiden. Zwar gelte das Blasphemiegesetz dem Wortlaut nach unterschiedslos für alle Pakistani. Religiöse Minderheiten seien jedoch besonders betroffen. Zwar sei ein nach dem Blasphemiegesetz verhängtes Todesurteil noch nie vollstreckt worden, allein der Vorwurf der Blasphemie könne jedoch ausreichen, um die soziale Existenz des Beschuldigten und seiner Nachbarn zu zerstören. Ansätze, die darauf abzielten, einen Missbrauch des Blasphemiegesetzes zu verhindern, seien fehlgeschlagen. Ein beträchtlicher Anteil islamischer Kleriker in Pakistan rufe zu Gewalt und Diskriminierung gegen Christen auf. Sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten sei es üblich, über die Lautsprecher von Moscheen dazu zu mobilisieren, gegen religiöse Minderheiten vorzugehen. Ein Vorwurf gegen ein Mitglied der Minderheit genüge, damit sämtliche Angehörige der Minderheit in der betreffenden Gegend als Schuldige betrachtet würden, die bestraft werden müssten. Die National Commission for Justice and Peace habe 2012 elf gezielte Tötungen an Christen registriert. Die Asian Human Rights Commission schätze die Zahl der christlichen Mädchen, die jedes Jahr entführt, vergewaltigt und zwangskonvertiert würden, auf etwa 700.
12 
Die genannten Vorfälle seien Eingriffe in die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Betroffenen. Sie seien als unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu begreifen. Sofern sie die Betroffenen unter Druck setzten, auf die Praktizierung ihres Glaubens zu verzichten oder diese einzuschränken, lägen Eingriffe in die Religionsfreiheit vor. Angesichts der Häufigkeit der Vorfälle in jüngster Zeit und der Vielzahl von Personen, die bei einem einzigen Überfall auf eine Kirche oder ein Viertel betroffen seien, oder etwa bei dem Vorwurf der Blasphemie gegen einen Christen betroffen werden könnten, handele es sich nicht mehr nur um vereinzelte, individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr sei jeder als solcher erkennbare Christ in Pakistan wegen seiner Religion der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit, also einem realen Risiko ausgesetzt. In die Würdigung einzustellen seien hierbei nicht allein die Anzahl der wegen Blasphemie erfolgten Anklagen und Verurteilungen und die Summe der von den Gewaltübergriffen durch Privatpersonen betroffenen Opfer, sondern auch die nicht quantifizierbare Zahl an Christen, die Opfer von Diskriminierung im alltäglichen Bereich, etwa bei der Arbeit, würden.
13 
Akteure im Sinne von § 3d Abs. 1 AsylVfG seien in Pakistan nicht willens und in der Lage, Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylVfG zu bieten. Zahlreiche Quellen berichteten, dass der Staat beim Schutz religiöser Minderheiten vor Angriffen in den verschiedenen Landesteilen versage. Die Polizei sehe bei Übergriffen von Privatpersonen auf Christen lediglich untätig zu und biete keinen Schutz, es werde keine effektive Strafverfolgung der Angreifer betrieben. Es bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative.
14 
Das Verwaltungsgericht habe auch eine nähere Prüfung unterlassen, ob all diese Tatsachen eine systematische, einer Gruppenverfolgung gleichkommende Diskriminierung darstellten. Alle Quellen wiesen auf eine systematische Diskriminierung der Christen hin, die in ihren Folgen einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung gleichkomme.
15 
Was die individuelle Situation des Klägers betreffe, habe das Verwaltungsgericht nicht bezweifelt, dass er im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur bezeichneten Gruppe der Christen in Pakistan gehöre. Der Kläger habe vorgetragen, dass es nach seinem Glaubensverständnis für ihn identitätsbestimmend sei, seinen Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, und dass ein Verzicht auf die Religionsausübung für ihn auch in Pakistan nicht in Betracht komme, sondern er seinen Glauben mit allen teilen wolle. Das Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass der Kläger in Deutschland nach intensivem Taufunterricht die Taufe empfangen habe und am christlichen Leben teilnehme, namentlich durch den Besuch von Gottesdiensten und die Teilnahme an donnerstäglichen Unterweisungen. Zwar seien im pakistanischen Strafgesetzbuch Apostasie, Konversion und Missionierung für Christen nicht unter Strafe gestellt. Der Islam sei jedoch Staatsreligion. Nach islamischem Recht stehe Konversion vom Islam weg unter Todesstrafe. Nach einer im April 2010 in Pakistan durchgeführten Umfrage befürworteten 76 % der Befragten die Todesstrafe für die Abwendung vom Islam. Für Christen, die vom Islam zum Christentum konvertierten und deren Konversion bekannt werde, sei die Situation kritischer als für geborene Christen. In ihrer Familie stießen sie oft auf Unverständnis und würden von ihr bedroht und verstoßen, es werde sogar versucht sie umzubringen, weil der Abfall Schande und Verrat für die ganze Familie sei. Als Konvertierte bekannte Christen seien Opfer schwerer Diskriminierungen, etwa am Arbeitsplatz oder durch Behörden. Dies führe dazu, dass die Konversion zu einer Minderheitenreligion in Pakistan häufig verheimlicht werde. Amnesty International berichte von einem Mord an einem 18-jährigen Mädchen in Pakistan, das von seinem Bruder erschossen worden sei, weil es sich zum Christentum bekannt gehabt habe. Im Mai 2013 sei ein 16-jähriger Junge verschwunden, der vom Islam zum Christentum konvertiert gewesen sei. Zudem würden Konvertiten, die sich vom Islam abgewandt hätten, unmittelbar von staatlicher Seite diskriminiert. Kinder eines muslimischen Ehepaars, das vom Islam weg konvertiere, würden als unrechtmäßig betrachtet, sodass der Staat das Sorgerecht für sie übernehmen könne. Da es nahezu ausnahmslos zu schweren Diskriminierungen und Verletzungen von Menschenrechten komme, sei die Verfolgungsdichte so hoch, dass von einer Gruppenverfolgung auszugehen sei. Es mangele an einer Schutzbereitschaft von Akteuren im Sinn von § 3d AsylVfG. Die unmittelbare Diskriminierung von staatlicher Seite im Hinblick auf die Kinder von konvertierten Ehepaaren verstärke die Annahme, dass der pakistanische Staat nicht nur nicht in der Lage, sondern auch nicht willens sei, Konvertiten Schutz zu bieten. Somit bestehe für Konvertiten erst recht keine innerstaatliche Fluchtalternative. Selbst bei einem Wohnortwechsel, verbunden mit dem Versuch, sich in der neuen Umgebung als geborener Christ auszugeben, bestehe wenig Aussicht, dass die Konversion geheim gehalten werden könne. Auch der Kläger, dessen Zuwendung zum Christentum vor seiner Ausreise in seinem Heimatort bekannt geworden sei, habe keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, die sich geschlossen gegen ihn gestellt habe.
16 
Der Kläger beantragt,
17 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. April 2014 - A 12 K 2210/13 - zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 ihres Bescheids vom 20.06.2013 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
18 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen.
19 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen individuellen Verfolgungsgründen unter Hinzuziehung eines Dolmetschers angehört. Insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
20 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Dem Senat liegen die Behördenakten der Beklagten sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
21 
Die zulässige, unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung bleibt ohne Erfolg.
22 
Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
23 
I. Nach § 3 Abs. 4 AsylVfG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
24 
Nach § 3a Abs. 1 AsylVfG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU - QRL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylVfG (vgl. Art. 12 Abs. 2 QRL) fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss dabei zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
25 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylVfG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
26 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylVfG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 982, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
27 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 lit. d) QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 v.H. für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. zum kausalen und zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
28 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt gewesen war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
29 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen bestehen regelmäßig aus solchen, die in der Vergangenheit wie auch aus solchen, die in der Gegenwart liegen. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (BVerwG, Urteile vom 20.11.1990 - 9 C 74.90 - NVwZ 1991, 382, und - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3b AsylVfG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 05.07.1994 - a.a.O.).
31 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylVfG, Art. 8 QRL).
32 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie nunmehr durch § 3c Nr. 3 AsylVfG (vgl. Art. 6 lit. c) QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
33 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3c Nr. 1 und 2 AsylVfG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylVfG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237)
34 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a. - InfAuslR 2010, 188; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 - InfAuslR 2010,188). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden im Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
35 
II. Dem Kläger ist zunächst nicht aus individuellen Verfolgungsgründen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
36 
Der Senat konnte insbesondere aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung und des in ihr gewonnenen Eindrucks von der Person des Klägers nicht die erforderliche volle Überzeugung davon gewinnen, dass die vom Kläger behaupteten Vorfluchtgründe, namentlich dass er allein wegen mehrerer Kirchenbesuche in erheblichem Maße körperlich misshandelt wurde, der Wahrheit entsprechen.
37 
Der Kläger hatte ausweislich der ihm rückübersetzten und von ihm ausdrücklich bestätigten Niederschrift des Bundesamts vom 15.05.2013 im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass in seiner Gegend „moslemische Jungs“ gewesen seien, die ihm gesagt hätten, er solle nicht in die christliche Kirche gehen; sie hätten ihm Prügel angedroht. Einige Tage später habe man ihn auf dem Weg in die Kirche angehalten und ihm auf den Kopf gehauen. Es seien 10 bis 12 Leute aus seinem Stadtbezirk gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat er gegenüber dem Senat hingegen behauptet, es seien seine beiden älteren Brüder, seine Cousins und Nachbarn gewesen, die ihn angehalten und geschlagen hätten. Eine plausible Erklärung auf den ihm vorgehaltenen Widerspruch konnte der Kläger dem Senat nicht unterbreiten. Dieser Widerspruch ist aus der Sicht des Senats von so großem Gewicht, dass er den von ihm behaupteten und seiner Schilderung nach wesentlichen Fluchtgrund dem Kläger nicht zu glauben vermag. Sicherlich können auch Nachbarn als „Leute aus seinem Stadtbezirk“ verstanden werden, dann aber ist es völlig fernliegend, wenn er, falls sich der Vorfall überhaupt so abgespielt hätte, nicht die Beteiligung engster Familienangehöriger beim Bundesamt erwähnt hätte. Denn es stellt eine ganz andere Qualität der eigenen Betroffenheit dar, wenn die Übergriffe von der eigenen Familie ausgehen. Der Vollständigkeit halber weist der Senat auch darauf hin, dass die Schilderung des Vorfalls auffallend blass geblieben ist und insbesondere eine plausible Darstellung vermissen ließ, wie es ihm gelungen sein soll, bei einer Überzahl von 10 bis 12 Leuten zu fliehen, wie er in der mündlichen Verhandlung behauptet hatte. Nicht nachzuvollziehen ist für den Senat auch, dass der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht sagen konnte, wo sich genau die Praxis des von ihm aufgesuchten Arztes befindet, sondern nur Vermutungen angestellt hatte, obwohl es „sein“ Arzt im eigenen Stadtviertel gewesen sein soll. Sowohl bei der Anhörung durch das Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung ist aus der Sicht des Senats nicht deutlich geworden, weshalb der Kläger sofort nach einem ersten Vorfall das Land unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel verlassen hat und als alleinstehender junger Mann nicht vielmehr erst einmal sein engeres soziales und familiäres Umfeld aufgegeben und in eine andere Stadt gegangen ist. Der bloße Einwand, dass in Pakistan überall Moslems lebten und er sich sicher gewesen sei, dass sie ihn auch dort umgebracht hätten, ist nicht ohne weiteres plausibel, wenn die Gefährdung doch von einem engsten sozialen und familiären Umfeld ausgegangen sein soll, das ihn sehr gut gekannt hätte. Weshalb in einer anderen Stadt hätte veröffentlicht werden sollen, dass er Christ bzw. getauft worden sei, erschließt sich dem Senat nicht. Auch seine Erläuterung, dass er erst hier erfahren haben will, dass man, um Christ zu werden, getauft werden muss, ist nicht nachvollziehbar, wenn er in Pakistan bereits gewusst haben will, dass er Christ werden wolle, weshalb auch die behaupteten engeren Kontakte zu einer christlichen Kirche in Pakistan, über die er zudem auffallend wenig berichten konnte, generell infrage stehen.
38 
Nach der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hatte er seit etwa sechs Jahren Kontakt zu einem Mitspieler christlichen Glaubens mit Namen Zxxx im Cricketclub. Schon beim Bundesamt wie auch beim Verwaltungsgericht blieb der Kläger eine nachvollziehbare Erklärung dafür schuldig, weshalb er erst im Jahre 2011 von Zxxx angesprochen und aufgefordert worden sein will, mit in die Kirche zu gehen, und dieses nicht schon viel früher geschehen sein soll. Er hatte lediglich angegeben, dass sie erst im Jahre 2011 starke Freunde geworden seien, ohne dieses aber näher zu erläutern. Auch in der mündlichen Verhandlung fehlte eine schlüssige Antwort auf entsprechende Fragen des Senats. Bemerkenswert ist zudem, dass der Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt mehrfach davon gesprochen hatte, dass verschiedene „Jungs“ christlichen Glaubens aus dem Club, die enge Freunde von ihm gewesen seien, ihn angesprochen und aufgefordert hätten, in die Kirche zu gehen, während in der mündlichen Verhandlung davon auch nicht mehr im Ansatz die Rede war, sondern nur noch von Zxxx. Die Freunde sollen nach den beim Bundesamt gemachten Angaben auch die Ausreise gemeinsam organisiert haben, wovon der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht mehr gesprochen hatte. Schließlich kann angesichts grundlegender Widersprüche und Unzulänglichkeiten nicht übersehen werden und muss auch jedenfalls in der Gesamtschau zum Nachteil des Klägers gewertet werden, dass er beim Bundesamt den Namen des Freundes mit „Axxx“ angegeben hatte. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Übertragungsfehler gehandelt haben könnte, sieht der Senat nicht. Denn zum einen ist die Ähnlichkeit beider Namen nicht sehr groß, zum anderen wurde die Niederschrift rückübersetzt, ohne dass der Kläger insoweit eine Berichtigung angebracht hätte; auch in der Folgezeit nach Erhalt einer Protokollabschrift ist solches nicht geschehen. Bemerkenswert ist auch, dass der Kläger beim Bundesamt nicht näher eingrenzen konnte, wann er im Jahre 2011 mit den Besuchen in der Kirche begonnen hatte, während er beim Verwaltungsgericht den Vorfall immerhin nunmehr auf den achten oder neunten Monat 2012 (gemeint 2011) relativ präzise datieren konnte. In der mündlichen Verhandlung will er nunmehr mit den Besuchen im neunten Monat begonnen haben, während sich der Vorfall im zehnten Monat abgespielt haben soll. Das wiederum passt offensichtlich nicht zu seinem Vorbringen, er sei nach dem Vorfall nicht mehr zur Familie gegangen, sondern zu Zxxx, bei dem er noch 20 bis 25 Tage geblieben sei bis er mit dem Zug von Lahore nach Quetta gefahren sei, während er beim Bundesamt angegeben hatte, am 23.12.2011 (nicht wie im Protokoll offensichtlich irrtümlich ausgeführt 2012) von Lahore mit dem Zug nach Quetta gefahren zu sein.
39 
III. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht allein deshalb zuerkannt werden, weil er inzwischen Christ ist und im Falle der Rückkehr seinen Glauben aktiv auch in der Öffentlichkeit praktizieren wird. Der Senat geht in diesem Zusammenhang nach den Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass er als getaufter Christ seinem Glauben innerlich verbunden ist und es zu den von ihm als verbindlich verstanden Glaubensinhalten gehört, regelmäßig an den Gottesdiensten seiner Gemeinde teilzunehmen und sich an der Gemeindearbeit zu beteiligen.
40 
Christen in Pakistan droht nach den im Verfahren vom Senat zugrunde gelegten und ausgewerteten Erkenntnismitteln nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wegen ihres Glaubens und ihrer – auch öffentlichen – Glaubensbetätigung einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL ausgesetzt zu sein.
41 
Der Senat geht davon aus, dass in Pakistan mindestens 3 Millionen Christen leben (vgl. AA Lagebericht vom 08.04.2014, S. 6 und 16 – im Folgenden Lagebericht; vgl. aber auch Home Office, Pakistan, Country of Origin Information Report vom 09.10.2013, Ziffer 19.178 – im Folgenden COI – wonach laut einiger Quellen die Zahl in Wirklichkeit das Doppelte betragen soll). Nach der Rechtslage bestehen - anders als bei der religiösen Minderheit der Ahmadis – keine wesentlichen unmittelbaren Diskriminierungen der Christen in Pakistan (vgl. etwa Lagebericht, S. 13 f.; BAA, Bericht zur Fact Finding Mission, Pakistan, Juni 2013, S. 38 ff. und 51 ff. – im Folgenden BAA). Eine Ausnahme besteht insoweit, als der Premierminister sowie der Präsident Muslim sein muss, was teilweise als schlechtes Signal an die Bevölkerung beschrieben wird, dass die Minderheiten auch minderwertig seien (vgl. BAA, S. 51). Allerdings wirkt sich die sog. Blasphemiegesetzgebung auch bei der christlichen Minderheit faktisch zu ihrem Nachteil aus, zumal diese – nicht anders als bei anderen Minderheiten, aber auch bei der Mehrheitsbevölkerung – in erheblichem Maße aus eigensüchtigen Motiven und Gründen von den Anzeigeerstattern missbraucht wird (vgl. ausführlich auch BAA, S. 48 ff.; COI, Ziffer 19.33. ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Angehörigen religiöser Minderheiten in Pakistan, 10.10.2012, S. 6 f. – im Folgenden UNHCR; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2013, S. 27 ff und 101 ff. – im Folgenden HRCP).
42 
Der Senat hat sich zu den Blasphemiegesetzen in seinem den Beteiligten im Einzelnen bekannten Urteil vom 12.06.2013 (A 11 S 757/13 - juris) ausführlich geäußert, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird (vgl. dort Rn. 68 ff.). Wesentlich neue Aspekte haben sich insoweit zwischenzeitlich nicht ergeben. Betroffen sind davon allerdings in erster Linie nicht Angehörige der christlichen Minderheit. Dokumentiert sind zwei nicht rechtskräftige Todesurteile gegen eine christliche Frau und ein christliches Mädchen, ohne dass nähere Umstände hierzu bekannt geworden sind (vgl. etwa Human Rights Watch World Report 2014, S. 367 f. – im Folgenden HRWWR). Im Jahre 2012 kam es zu insgesamt 113 Anklagen (gegenüber 79 im Jahre 2011), davon 12 gegen Christen (Lagebericht, S. 14; vgl. auch HRCP, S. 33 f., die von geringfügig höheren Zahlen ausgeht). Im Jahre 2013 wurden insgesamt gegen 68 Personen Verfahren eingeleitet, darunter gegen 14 Christen; es wurden insgesamt mindestens 16 oder 17 Personen zum Tode und 19 oder 20 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, davon eine Verurteilung eines Christen zu lebenslanger Freiheitsstrafe und zwei Freisprüche von Christen (vgl. US Commission of International Religious Annual Report 2014, S. 76 – Im Folgenden USCIRF I; HRWWR, S. 367; HRCP, S. 33 ff.; vgl. zu weiteren Verurteilungen eines britischen Staatsangehörigen und einer pakistanischen Christin im Jahre 2014 Briefing Notes vom 27.01.2014 und 31.03.2014).
43 
Die Religionsausübung der christlichen Minderheit wird grundsätzlich staatlicherseits nicht eingeschränkt oder behindert. Für das Jahr 2012 wurde allerdings berichtet, dass auch staatliche Stellen sich an der Zerstörung christlicher Einrichtungen beteiligt hätten (vgl. US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2012, S. 126 – Im Folgenden USCIRF II). Vergleichbare Vorkommnisse werden für das Jahr 2013 in den zahlreichen Erkenntnismitteln an keiner Stelle mehr erwähnt (vgl. USCRIF I, S. 75 ff. und US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2013, S. 123 – im Folgenden USCRIF IV).
44 
Die wesentlichen Probleme, mit denen religiöse Minderheiten konfrontiert sind, sind die Auswirkungen der zunehmenden interkonfessionellen Gewaltakte von nicht-staatlicher Seite und Diskriminierungen im gesellschaftlichen Leben (vgl. hierzu schon ausführlich Senatsurteil vom 12.06.2013 – A 11 S 757/13). Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Gewalttaten bislang überwiegend gar nicht gegen Christen, sondern gegen Angehörige der schiitischen Minderheit richten (vgl. BAA, S. 19 f und 47 f.; Lagebericht, S. 16; HRWWR, S. 367; USCIRF I, S. 75). Für das Jahr 2013 wurden insgesamt 658 Tote und 1195 Verletzte gezählt (vgl. Lagebericht S. 16), die gegen religiöse Minderheiten gerichteten interkonfessionellen Gewaltakten zum Opfer gefallen sind, während es sich im Jahre 2012 „nur“ um 507 Tote und 577 Verletzte gehandelt hatte (vgl. COI, Ziffer 19.233). Was die christliche Minderheit betrifft, sind besonders hervorzuheben ein Anschlag auf die anglikanische Allerheiligen-Kirche in Peshawar am 22.09.2013, durch den wohl etwa 100 Personen getötet und über 150 zum Teil schwer verletzt wurden (vgl. Lagebericht, S. 16, und USCIRF I, S. 76). Im März und April attackierte eine aufgehetzte Menschenmenge christliche Siedlungen bzw. Dörfer; bei den Attacken wurden über 100 Häuser zerstört, ohne dass aber Menschenleben zu beklagen waren (vgl. USCIRF I, S. 76; vgl. auch BAA, S. 42 f.; vgl. auch HRCP, S. 94 - zu weiteren – allerdings vereinzelten – Übergriffen auf Kirchen S. 94), wobei auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorfall im März 2013 von langer Hand vorbereitet worden war. Im Wesentlichen alle verwerteten Erkenntnismittel sind sich in diesem Zusammenhang einig, dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane hierbei den erforderlichen Schutz nur lückenhaft gewähren oder jedenfalls viel zu spät eingreifen, wobei dieses oftmals nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass diese Organe überfordert wären, sondern auch auf einer offensichtlich mangelnden Bereitschaft beruht, effektiven Schutz zu gewähren (vgl. etwa BAA, S. 19 ff. und 42 ff.; HRWWR, S. 367; UNHCR, S. 1 f.; vgl. zu unzureichenden Schutzmaßnahmen schon Departement of State‘s International Religious Freedom Report for 2012, Stichwort „Government Inaction“ – Im Folgenden USCIRF III). Allerdings ist auch festzuhalten, dass es fundierte Berichte gibt, dass Polizeiorgane bei dem Versuch, den gebotenen Schutz zu gewähren, ernsthafte Verletzung erlitten haben (vgl. BAA, S. 43; vgl. auch S. 46 zu Schutzmaßnahmen bei Prozessionen). Immerhin haben die Sicherheitsorgane nach gewalttätigen Übergriffen auch Ausgangssperren zum Schutze der Minderheiten und gegenüber muslimischen Klerikern Verbote verhängt, die Stadt zu betreten, um zu verhindern, dass diese zur Gewalt aufstacheln und Hassreden halten (vgl. HRCP S. 76). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang abschließend, dass es nach dem Angriff am 22.09.2013 in Lahore und Islamabad bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Solidaritätsaktionen zugunsten der Christen gab, indem um mehrere Kirchen Menschenketten gebildet wurden (HRCP, S. 94).
45 
Selbst wenn man bei der gebotenen qualitativen Bewertung (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - NVwZ 2011, 56, vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487) berücksichtigt, dass derartige Gewaltakte teilweise nicht vorhergesehen werden und die Angehörigen der religiösen Minderheiten gewissermaßen aus heiterem Himmel treffen können, was es ihnen dann aber unmöglich macht, ihnen auszuweichen, so genügen selbst die für das Jahr 2013 festgestellten Opferzahlen, die nach den verwerteten Erkenntnismitteln überwiegend nicht die christliche Minderheit betreffen, bei weitem nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, jeder Angehörige dieser mindestens drei Millionen zählenden Minderheit müsse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer derartiger Leib oder Leben betreffenden Akte zu werden. Daran ändern nichts die etwa vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 08.04.2014 (S. 16) getroffene Feststellung, dass nach den Ereignissen des Jahres 2013 die Bedrohungslage der christlichen Minderheit in Pakistan eine neue Qualität habe, und die Tatsache, dass die Human Rights Commission of Pakistan davon spricht, dass das Jahr 2013 eines der schwärzesten für die christlichen Gemeinden in Pakistan gewesen sei (HRCP, S. 92). Auch UNHCR ist bislang der Auffassung gewesen, dass eine generelle, vom Einzelfall unabhängige Gefährdung nicht besteht (UNHCR, S. 8). Selbst die Organisation „Open Doors“ (Länderprofile Pakistan), die insgesamt ein durchaus düsteres Bild vermittelt, das aber in den anderen Erkenntnismitteln keine unmittelbare Entsprechung findet, geht davon aus, dass die christlichen Gemeinden sich nach wie vor ungehindert auch mit Öffentlichkeitsbezug versammeln und arbeiten können, auch wenn mitunter die Kirchen von bezahlten Wachleuten geschützt werden. Der Senat kann daher offen lassen, ob der pakistanische Staat den durch Art. 7 Abs. 2 QRL geforderten effektiven Schutz gewährleistet, was aber nach den verwerteten Erkenntnismitteln eher zu verneinen sein dürfte.
46 
Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch nicht ungefährliches religiöses Leben der christlichen Minderheit auch mit unmittelbarem Öffentlichkeitsbezug in Pakistan gibt, wird beispielhaft illustriert durch die – auch neueren – Berichte, die auf der Website http://www.kirche-in-not.de/tag/pakistan erschienen sind und weiter erscheinen. Dass tatsächlich der christliche Glaube in nennenswertem Umfang in Pakistan gelebt und aktiv praktiziert wird, lässt sich auch unschwer daraus ablesen, dass die Kirchen in erheblichem Umfang Schulen und andere Bildungseinrichtungen betreiben (vgl. missio, Länderberichte Religionsfreiheit: Pakistan, 2012, S. 18 – im Folgenden missio; Deutschlandradio Kultur vom 13.01. und 11.02.2014; vgl. auch den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Ausdruck des Internetauftritts der FGA-Church Pakistan). Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Erzdiözesen Karachi und Lahore seit langer Zeit größere Krankhäuser betreiben und auch seit 2009 eigene Fernsehsender unterhalten (Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Lahore Stand 28.03.2014; Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Karachi Stand 28.03.2014).
47 
Die gesellschaftliche und soziale Lage der christlichen Minderheit wird übereinstimmend als durchaus prekär und durch vielfältige Diskriminierungen geprägt beschrieben. Gleichwohl ist das Bild zwiespältig. Die festzustellende Marginalisierung und Diskriminierung beruht dabei keineswegs allein oder ganz überwiegend auf dem christlichen Glauben, sondern hat auch eine wesentliche Wurzel in dem noch nachwirkenden und überkommenen Kastenwesen, weil die Christen zum größten Teil Nachkommen von Hindus sind, die der Kaste der Unberührbaren angehörten (vgl. BAA, S. 52; COI, Ziffer 19.198 und 19.204). Dies hat zur Folge, dass die überwiegende Zahl der Christen der Unterschicht zuzurechnen ist und unter der Armutsgrenze lebt, was im Übrigen auch für andere Minderheiten gilt, und die Rate von Analphabetentum sehr groß ist (vgl. Lagebericht, S. 13 f.; BAA, S. 50 ff.; Immigration und Refugee Board of Canada, Pakistan: Religious conversions, including treatment of converts and forced conversions (2009 – 2012), Ziff. 1 – im Folgenden Canada). Diese Stellung wiederum macht eine wesentliche Ursache dafür aus, dass junge christliche Frauen und Mädchen in besonderem Maße das Opfer von unfreiwilligen Bekehrungen und Verheiratungen nach Entführungen werden (vgl. COI, Ziffer 19.188 und 19.198; UNHCR, S. 7; HRCP, S. 95 f.), wobei auch hier ein wirklich effektiver Schutz durch die pakistanischen Sicherheitsorgane nicht gewährt wird, auch wenn in der Nationalversammlung und auf der staatlichen Führungsebene das Problem gesehen und über Abhilfe diskutiert wird (vgl. Canada Ziff. 1). Allerdings berichtet die Pakistanische Menschenrechtsorganisation für das Jahr 2013 durchaus von erheblich weniger erfolgreichen oder versuchten zwangsweisen Konversionen bzw. Verheiratungen (vgl. HRCP, S. 91). Bei alledem darf letztlich aber zudem nicht die Tatsache ausgeblendet werden, dass Entführungen, Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen von (jungen) Frauen in Pakistan ein durchaus gesamtgesellschaftliches Phänomen und Problem darstellen, das weit über die christliche Minderheit hinausreicht (vgl. COI, Ziff. 23.156 ff.; Lagebericht, S. 19 und 21). Die Christen arbeiten überwiegend in der Landwirtschaft, der Steinbearbeitungs-, Glas-, Teppich- und Fischereiindustrie, für die auch Elemente von Zwangsarbeit festgestellt wurden, gegen die die staatlichen Stellen trotz entsprechender Verbotsgesetze nicht effektiv vorgehen (vgl. UNHCR, S. 8). Die Diskriminierung der christlichen Minderheit findet aber auch hier nicht in erster Linie im staatlichen Sektor statt, in dem allenfalls in Bezug auf höhere Positionen eine signifikante Unterrepräsentierung festzustellen ist (vgl. BAA, S. 51; vgl. zum Bildungswesen und diskriminierenden Bildungsinhalten bzw. zum obligatorischen islamischen Religionsunterricht USCIRF III, Stichwort „Governments Practice“). Die staatliche Seite versucht durchaus, gesellschaftlichen Diskriminierungen entgegen zu arbeiten (vgl. BAA, S. 41 und 52). An einer konsequenten, geschweige denn erfolgreichen auf den nicht-staatlichen Bereich bezogenen Antidiskriminierungspolitik mangelt es zwar. Ein solches Unterlassen stellt jedoch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 (hier v.a. lit. b, c und d) QRL dar, wenn man überhaupt in einem Unterlassen eine relevante Verfolgungshandlung sehen will (vgl. zum Problem grundsätzlich Marx, Handbuch zu Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 11 Rn. 2 ff.), weshalb schon deshalb auch aus einer Gesamtschau aller negativen Faktoren (einschließlich der festgestellten Übergriffe auf Leib und Leben sowie vereinzelter menschenrechtlich fragwürdiger Verfahren wegen eines behaupteten Verstoßes gegen einzelne Bestimmungen der Blasphemiegesetzgebung) keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL abgeleitet werden kann. Denn nur in einer finalen und systematischen Vorenthaltung des staatlichen Schutzes zur Vermeidung erheblicher Menschenrechtsverletzungen kann überhaupt ein zurechenbares und daher flüchtlingsrechtlich relevantes Verhalten erblickt werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 984), was jedoch aus den verwerteten Erkenntnismitteln nicht hinreichend deutlich zutage tritt. Geht man hingegen davon aus, dass in einem Unterlassen generell keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL liegen kann und verortet man die Problemstellung (nur) bei der Frage, welche Anforderungen an das nach Art. 7 Abs. 2 QRL geforderte nationale Schutzsystem zu stellen sind, so führt dies zu keiner anderen Sicht der Dinge. Zwar finden sich in einer Vielzahl von Menschrechtspakten ausdrückliche Diskriminierungsverbote (vgl. etwa Art. 2 AEM; Art. 14 EMRK; Art. 26 IPbpR), die mittlerweile zu einem allgemeinen völkergewohnheitsrechtlichen Diskriminierungsverbot erstarkt sein dürften (vgl. Marx, a.a.O., § 16 Rn 45), das auch Art. 9 Abs. 2 QRL zugrunde liegt, das aber grundsätzlich in erster Linie an staatliche Akteure gerichtet ist. Es existiert jedoch keine allgemeine, auch flüchtlingsrechtlich relevante Verpflichtung, Diskriminierungen durch nicht-staatliche Akteure umfassend zu unterbinden und mit allen Mitteln effektiv zu bekämpfen. Ein auch solche Handlungen, die unterhalb der Schwelle von Eingriffen in Leib, Leben oder persönlicher Freiheit liegen, unterbindendes Schutzsystem wird durch Art. 7 Abs. 2 QRL nicht gefordert. Soweit etwa Art. 7 IPwskR das Recht der Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige oder auf gleiche Möglichkeiten auf beruflichen Aufstieg anerkennt und damit auch nicht-staatliche Akteure im Blick hat, handelt es sich nicht um ein Instrumentarium, das bedingungslos grundlegende menschenrechtliche Standards umschreibt, die flüchtlingsrechtlich eine Verpflichtung zu einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik auslöst und daher Grundlage eines umfassenden flüchtlingsrechtlich relevanten menschenrechtlichen Schutzstandards sein könnte. Dies gilt namentlich dann, wenn - wie dargelegt - die allgemeine sozio-ökonomische Lage der christlichen Minderheit gar nicht monokausal auf ihre Religionszugehörigkeit zurückgeführt werden kann.
48 
Das vom Kläger angesprochene „land grabbing“ privater Akteure ist ein in Pakistan weit verbreitetes Phänomen und richtet sich nicht spezifisch gegen die christliche Minderheit, sondern betrifft auch andere Bewohner des Landes, die sich aufgrund ländlicher feudaler oder sonstiger ubiquitärer mafiöser Strukturen in einer unterlegenen Position befinden und bei denen nicht selten effektiver staatlicher Schutz ausfällt (vgl. COI, Ziff. 35.01; HRCP, S. 253).
49 
Ungeachtet dessen vermag der Senat den zahlreichen verwerteten Erkenntnismitteln auch keinen tragfähigen Ansatz für eine Feststellung zu entnehmen, dass die Lage der christlichen Minderheit generell betrachtet durch eine schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL gekennzeichnet wäre.
50 
Etwas anderes gilt auch nicht allgemein und generell betrachtet für den Personenkreis der vom Islam zum Christentum Konvertierten.
51 
Zunächst ist davon auszugehen, dass die pakistanische Rechtsordnung den Vorgang der Konversion nicht untersagt oder gar strafrechtlich bewertet (vgl. Lagebericht, S. 14). Versuche, die Rechtslage zu Lasten der Konvertiten zu verändern, sind sogar gescheitert und aufgegeben worden (vgl. COI, Ziff. 19.66). Allerdings kann hier die bereits erwähnte Blasphemie-Gesetzgebung zum Einfallstor für Verfolgungen und Diskriminierungen werden, wenn es um die Beurteilung von Äußerungen und Verhaltensweisen im Kontext einer Konversion geht (vgl. missio, S. 13 und 17; Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014, S. 3). Dass aber in signifikantem Umfang der hier zu beurteilende Personenkreis betroffen sein könnte, lässt sich den vielfältigen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, obwohl in ihnen eine unübersehbare Fülle von Einzelinformationen verarbeitet wurden. Auch missio benennt in diesem Kontext keine konkreten Einzelfälle, sondern weist nur auf die Möglichkeit hin. Für die staatliche Ebene wird allerdings berichtet, dass ein Neueintrag der christlichen Religion in den Personalausweisen bzw. Pässen nicht möglich ist, jedenfalls faktisch nicht vorgenommen wird (Canada, Ziffer 3). Zwar wird auch berichtet, dass im Falle einer Konversion beider Ehegatten die Kinder der Konvertierten als „illegitim“ eingestuft werden und der Staat die Kinder sogar in Obhut nehmen kann. Dazu wird aber in den zahlreichen Erkenntnismitteln, die sehr ausführlich über Konversion berichten, insbesondere auch in den spezifisch christlichen bzw. kirchlichen Erkenntnismitteln kein einziger Fall benannt, geschweige denn nachvollziehbar dokumentiert.
52 
Die Probleme liegen wiederum in erster Linie in der gesellschaftlichen Sphäre. Denn nicht unerhebliche Teile der pakistanischen Gesellschaft stehen den religiösen Minderheiten ablehnend, wenn nicht gar feindselig gegenüber. Umso mehr wird dann eine Konversion weg vom Islam missbilligt, was zu hohen Befürwortungsraten für die Verhängung der Todesstrafe führt (vgl. COI, Ziff. 19.67). Wie bereits dargelegt, hat sich diese gesellschaftliche Stimmung aber nicht in entsprechenden erfolgreichen Gesetzesvorhaben niedergeschlagen. Teilweise stößt eine Konversion in der eigenen Familie des Konvertiten auf strikte Ablehnung, was dazu führen kann, dass der Betreffende aus der Familie verstoßen wird. Vereinzelt ist es hier auch zu körperlichen Übergriffen bis zu Tötungen gekommen (vgl. Canada, Ziff. 1 und 3). Den verwerteten Erkenntnismitteln nach kann es sich aber nicht um eine weiter verbreitete oder gar allgegenwärtige Erscheinung handeln.
53 
Die Folgen der gesellschaftlichen und innerfamiliären Ablehnung und Missbilligung gehen dahin, dass Konvertiten es teilweise, jedoch nicht generell, bewusst vermeiden, die Konversion an die Öffentlichkeit zu tragen, und daher ggf. auch den Wohnort wechseln, um nicht in ihrem bisherigen Wohnumfeld aufzufallen, um dann andernorts gewissermaßen als „unbeschriebenes Blatt“ als Christ auftreten und diesen Glauben mit den oben beschriebenen Einschränkungen leben zu können (vgl. etwa Open Doors, Länderprofile Pakistan). Das bedingt aber andererseits, dass es verlässliche Zahlen über die Konversionen vom Islam weg nicht geben kann. Auch wenn angesichts der geschilderten Haltung der Mehrheitsgesellschaft davon auszugehen sein wird, dass die Zahl der erfolgten Lösungen vom Islam oder Konversionen weg vom Islam nicht sehr groß sein wird, so fehlt es doch gegenwärtig an ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass nach Maßgabe der für die Annahme einer Gruppenverfolgung zugrunde zu legenden Prognosemaßstäbe jeder pakistanische Staatsangehörige, der sich vom Islam löst, unterschiedslos ein reales Risiko läuft, von einer schweren Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. a) oder lit. b) QRL betroffen zu sein. Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch den Bericht von Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014 und die dort geschilderte Haltung und Einschätzung eines ehemaligen Muslim bestätigt, die deutlich machen, dass Konversion bzw. auch nur Abkehr vom Islam möglich ist, tatsächlich stattfindet und keineswegs mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Im konkreten Einzelfall mag aufgrund individueller Umstände eine andere Beurteilung erforderlich werden. Unabhängig hiervon sieht der Senat keine durchgreifenden Hindernisse für eine Person in der Lage des Klägers, im Falle von unmittelbaren Anfeindungen und Übergriffen im persönlichen Umfeld seinen Wohnort zu wechseln (vgl. Art. 8 QRL), wie dieses nach den verwerteten Erkenntnismitteln immer wieder geschieht, um ein Leben als Christ führen zu können (vgl. Lagebericht, S. 24; Open Doors, Länderprofile Pakistan; Home Office, Country Information and Guidance, Pakistan: Religious freedom, 2014, Ziff. 2.4.16 f.). Aufgrund besonderer Umstände mag auch hier im Einzelfall etwas anderes gelten. Diese sind jedoch in der Person des Klägers nicht erkennbar geworden. Zwar hat er behauptet, als Cricketspieler in Lahore bekannt zu sein. Dass dieses landesweit der Fall gewesen sein könnte, erschließt sich dem Senat nicht. Denn solches wurde vom Kläger schon nicht nachvollziehbar und substantiiert behauptet. Ungeachtet dessen ist seine Person an keiner Stelle im Internet im Kontext des Cricketsports in Pakistan zu finden, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde.
54 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylVfG. Gründe dafür, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO).

Gründe

 
21 
Die zulässige, unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung bleibt ohne Erfolg.
22 
Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
23 
I. Nach § 3 Abs. 4 AsylVfG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
24 
Nach § 3a Abs. 1 AsylVfG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU - QRL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylVfG (vgl. Art. 12 Abs. 2 QRL) fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss dabei zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
25 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylVfG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
26 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylVfG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 982, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
27 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 lit. d) QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 v.H. für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. zum kausalen und zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
28 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt gewesen war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
29 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen bestehen regelmäßig aus solchen, die in der Vergangenheit wie auch aus solchen, die in der Gegenwart liegen. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (BVerwG, Urteile vom 20.11.1990 - 9 C 74.90 - NVwZ 1991, 382, und - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3b AsylVfG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 05.07.1994 - a.a.O.).
31 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylVfG, Art. 8 QRL).
32 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie nunmehr durch § 3c Nr. 3 AsylVfG (vgl. Art. 6 lit. c) QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
33 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3c Nr. 1 und 2 AsylVfG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylVfG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237)
34 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a. - InfAuslR 2010, 188; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 - InfAuslR 2010,188). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden im Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
35 
II. Dem Kläger ist zunächst nicht aus individuellen Verfolgungsgründen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
36 
Der Senat konnte insbesondere aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung und des in ihr gewonnenen Eindrucks von der Person des Klägers nicht die erforderliche volle Überzeugung davon gewinnen, dass die vom Kläger behaupteten Vorfluchtgründe, namentlich dass er allein wegen mehrerer Kirchenbesuche in erheblichem Maße körperlich misshandelt wurde, der Wahrheit entsprechen.
37 
Der Kläger hatte ausweislich der ihm rückübersetzten und von ihm ausdrücklich bestätigten Niederschrift des Bundesamts vom 15.05.2013 im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass in seiner Gegend „moslemische Jungs“ gewesen seien, die ihm gesagt hätten, er solle nicht in die christliche Kirche gehen; sie hätten ihm Prügel angedroht. Einige Tage später habe man ihn auf dem Weg in die Kirche angehalten und ihm auf den Kopf gehauen. Es seien 10 bis 12 Leute aus seinem Stadtbezirk gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat er gegenüber dem Senat hingegen behauptet, es seien seine beiden älteren Brüder, seine Cousins und Nachbarn gewesen, die ihn angehalten und geschlagen hätten. Eine plausible Erklärung auf den ihm vorgehaltenen Widerspruch konnte der Kläger dem Senat nicht unterbreiten. Dieser Widerspruch ist aus der Sicht des Senats von so großem Gewicht, dass er den von ihm behaupteten und seiner Schilderung nach wesentlichen Fluchtgrund dem Kläger nicht zu glauben vermag. Sicherlich können auch Nachbarn als „Leute aus seinem Stadtbezirk“ verstanden werden, dann aber ist es völlig fernliegend, wenn er, falls sich der Vorfall überhaupt so abgespielt hätte, nicht die Beteiligung engster Familienangehöriger beim Bundesamt erwähnt hätte. Denn es stellt eine ganz andere Qualität der eigenen Betroffenheit dar, wenn die Übergriffe von der eigenen Familie ausgehen. Der Vollständigkeit halber weist der Senat auch darauf hin, dass die Schilderung des Vorfalls auffallend blass geblieben ist und insbesondere eine plausible Darstellung vermissen ließ, wie es ihm gelungen sein soll, bei einer Überzahl von 10 bis 12 Leuten zu fliehen, wie er in der mündlichen Verhandlung behauptet hatte. Nicht nachzuvollziehen ist für den Senat auch, dass der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht sagen konnte, wo sich genau die Praxis des von ihm aufgesuchten Arztes befindet, sondern nur Vermutungen angestellt hatte, obwohl es „sein“ Arzt im eigenen Stadtviertel gewesen sein soll. Sowohl bei der Anhörung durch das Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung ist aus der Sicht des Senats nicht deutlich geworden, weshalb der Kläger sofort nach einem ersten Vorfall das Land unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel verlassen hat und als alleinstehender junger Mann nicht vielmehr erst einmal sein engeres soziales und familiäres Umfeld aufgegeben und in eine andere Stadt gegangen ist. Der bloße Einwand, dass in Pakistan überall Moslems lebten und er sich sicher gewesen sei, dass sie ihn auch dort umgebracht hätten, ist nicht ohne weiteres plausibel, wenn die Gefährdung doch von einem engsten sozialen und familiären Umfeld ausgegangen sein soll, das ihn sehr gut gekannt hätte. Weshalb in einer anderen Stadt hätte veröffentlicht werden sollen, dass er Christ bzw. getauft worden sei, erschließt sich dem Senat nicht. Auch seine Erläuterung, dass er erst hier erfahren haben will, dass man, um Christ zu werden, getauft werden muss, ist nicht nachvollziehbar, wenn er in Pakistan bereits gewusst haben will, dass er Christ werden wolle, weshalb auch die behaupteten engeren Kontakte zu einer christlichen Kirche in Pakistan, über die er zudem auffallend wenig berichten konnte, generell infrage stehen.
38 
Nach der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hatte er seit etwa sechs Jahren Kontakt zu einem Mitspieler christlichen Glaubens mit Namen Zxxx im Cricketclub. Schon beim Bundesamt wie auch beim Verwaltungsgericht blieb der Kläger eine nachvollziehbare Erklärung dafür schuldig, weshalb er erst im Jahre 2011 von Zxxx angesprochen und aufgefordert worden sein will, mit in die Kirche zu gehen, und dieses nicht schon viel früher geschehen sein soll. Er hatte lediglich angegeben, dass sie erst im Jahre 2011 starke Freunde geworden seien, ohne dieses aber näher zu erläutern. Auch in der mündlichen Verhandlung fehlte eine schlüssige Antwort auf entsprechende Fragen des Senats. Bemerkenswert ist zudem, dass der Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt mehrfach davon gesprochen hatte, dass verschiedene „Jungs“ christlichen Glaubens aus dem Club, die enge Freunde von ihm gewesen seien, ihn angesprochen und aufgefordert hätten, in die Kirche zu gehen, während in der mündlichen Verhandlung davon auch nicht mehr im Ansatz die Rede war, sondern nur noch von Zxxx. Die Freunde sollen nach den beim Bundesamt gemachten Angaben auch die Ausreise gemeinsam organisiert haben, wovon der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht mehr gesprochen hatte. Schließlich kann angesichts grundlegender Widersprüche und Unzulänglichkeiten nicht übersehen werden und muss auch jedenfalls in der Gesamtschau zum Nachteil des Klägers gewertet werden, dass er beim Bundesamt den Namen des Freundes mit „Axxx“ angegeben hatte. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Übertragungsfehler gehandelt haben könnte, sieht der Senat nicht. Denn zum einen ist die Ähnlichkeit beider Namen nicht sehr groß, zum anderen wurde die Niederschrift rückübersetzt, ohne dass der Kläger insoweit eine Berichtigung angebracht hätte; auch in der Folgezeit nach Erhalt einer Protokollabschrift ist solches nicht geschehen. Bemerkenswert ist auch, dass der Kläger beim Bundesamt nicht näher eingrenzen konnte, wann er im Jahre 2011 mit den Besuchen in der Kirche begonnen hatte, während er beim Verwaltungsgericht den Vorfall immerhin nunmehr auf den achten oder neunten Monat 2012 (gemeint 2011) relativ präzise datieren konnte. In der mündlichen Verhandlung will er nunmehr mit den Besuchen im neunten Monat begonnen haben, während sich der Vorfall im zehnten Monat abgespielt haben soll. Das wiederum passt offensichtlich nicht zu seinem Vorbringen, er sei nach dem Vorfall nicht mehr zur Familie gegangen, sondern zu Zxxx, bei dem er noch 20 bis 25 Tage geblieben sei bis er mit dem Zug von Lahore nach Quetta gefahren sei, während er beim Bundesamt angegeben hatte, am 23.12.2011 (nicht wie im Protokoll offensichtlich irrtümlich ausgeführt 2012) von Lahore mit dem Zug nach Quetta gefahren zu sein.
39 
III. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht allein deshalb zuerkannt werden, weil er inzwischen Christ ist und im Falle der Rückkehr seinen Glauben aktiv auch in der Öffentlichkeit praktizieren wird. Der Senat geht in diesem Zusammenhang nach den Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass er als getaufter Christ seinem Glauben innerlich verbunden ist und es zu den von ihm als verbindlich verstanden Glaubensinhalten gehört, regelmäßig an den Gottesdiensten seiner Gemeinde teilzunehmen und sich an der Gemeindearbeit zu beteiligen.
40 
Christen in Pakistan droht nach den im Verfahren vom Senat zugrunde gelegten und ausgewerteten Erkenntnismitteln nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wegen ihres Glaubens und ihrer – auch öffentlichen – Glaubensbetätigung einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL ausgesetzt zu sein.
41 
Der Senat geht davon aus, dass in Pakistan mindestens 3 Millionen Christen leben (vgl. AA Lagebericht vom 08.04.2014, S. 6 und 16 – im Folgenden Lagebericht; vgl. aber auch Home Office, Pakistan, Country of Origin Information Report vom 09.10.2013, Ziffer 19.178 – im Folgenden COI – wonach laut einiger Quellen die Zahl in Wirklichkeit das Doppelte betragen soll). Nach der Rechtslage bestehen - anders als bei der religiösen Minderheit der Ahmadis – keine wesentlichen unmittelbaren Diskriminierungen der Christen in Pakistan (vgl. etwa Lagebericht, S. 13 f.; BAA, Bericht zur Fact Finding Mission, Pakistan, Juni 2013, S. 38 ff. und 51 ff. – im Folgenden BAA). Eine Ausnahme besteht insoweit, als der Premierminister sowie der Präsident Muslim sein muss, was teilweise als schlechtes Signal an die Bevölkerung beschrieben wird, dass die Minderheiten auch minderwertig seien (vgl. BAA, S. 51). Allerdings wirkt sich die sog. Blasphemiegesetzgebung auch bei der christlichen Minderheit faktisch zu ihrem Nachteil aus, zumal diese – nicht anders als bei anderen Minderheiten, aber auch bei der Mehrheitsbevölkerung – in erheblichem Maße aus eigensüchtigen Motiven und Gründen von den Anzeigeerstattern missbraucht wird (vgl. ausführlich auch BAA, S. 48 ff.; COI, Ziffer 19.33. ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Angehörigen religiöser Minderheiten in Pakistan, 10.10.2012, S. 6 f. – im Folgenden UNHCR; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2013, S. 27 ff und 101 ff. – im Folgenden HRCP).
42 
Der Senat hat sich zu den Blasphemiegesetzen in seinem den Beteiligten im Einzelnen bekannten Urteil vom 12.06.2013 (A 11 S 757/13 - juris) ausführlich geäußert, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird (vgl. dort Rn. 68 ff.). Wesentlich neue Aspekte haben sich insoweit zwischenzeitlich nicht ergeben. Betroffen sind davon allerdings in erster Linie nicht Angehörige der christlichen Minderheit. Dokumentiert sind zwei nicht rechtskräftige Todesurteile gegen eine christliche Frau und ein christliches Mädchen, ohne dass nähere Umstände hierzu bekannt geworden sind (vgl. etwa Human Rights Watch World Report 2014, S. 367 f. – im Folgenden HRWWR). Im Jahre 2012 kam es zu insgesamt 113 Anklagen (gegenüber 79 im Jahre 2011), davon 12 gegen Christen (Lagebericht, S. 14; vgl. auch HRCP, S. 33 f., die von geringfügig höheren Zahlen ausgeht). Im Jahre 2013 wurden insgesamt gegen 68 Personen Verfahren eingeleitet, darunter gegen 14 Christen; es wurden insgesamt mindestens 16 oder 17 Personen zum Tode und 19 oder 20 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, davon eine Verurteilung eines Christen zu lebenslanger Freiheitsstrafe und zwei Freisprüche von Christen (vgl. US Commission of International Religious Annual Report 2014, S. 76 – Im Folgenden USCIRF I; HRWWR, S. 367; HRCP, S. 33 ff.; vgl. zu weiteren Verurteilungen eines britischen Staatsangehörigen und einer pakistanischen Christin im Jahre 2014 Briefing Notes vom 27.01.2014 und 31.03.2014).
43 
Die Religionsausübung der christlichen Minderheit wird grundsätzlich staatlicherseits nicht eingeschränkt oder behindert. Für das Jahr 2012 wurde allerdings berichtet, dass auch staatliche Stellen sich an der Zerstörung christlicher Einrichtungen beteiligt hätten (vgl. US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2012, S. 126 – Im Folgenden USCIRF II). Vergleichbare Vorkommnisse werden für das Jahr 2013 in den zahlreichen Erkenntnismitteln an keiner Stelle mehr erwähnt (vgl. USCRIF I, S. 75 ff. und US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2013, S. 123 – im Folgenden USCRIF IV).
44 
Die wesentlichen Probleme, mit denen religiöse Minderheiten konfrontiert sind, sind die Auswirkungen der zunehmenden interkonfessionellen Gewaltakte von nicht-staatlicher Seite und Diskriminierungen im gesellschaftlichen Leben (vgl. hierzu schon ausführlich Senatsurteil vom 12.06.2013 – A 11 S 757/13). Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Gewalttaten bislang überwiegend gar nicht gegen Christen, sondern gegen Angehörige der schiitischen Minderheit richten (vgl. BAA, S. 19 f und 47 f.; Lagebericht, S. 16; HRWWR, S. 367; USCIRF I, S. 75). Für das Jahr 2013 wurden insgesamt 658 Tote und 1195 Verletzte gezählt (vgl. Lagebericht S. 16), die gegen religiöse Minderheiten gerichteten interkonfessionellen Gewaltakten zum Opfer gefallen sind, während es sich im Jahre 2012 „nur“ um 507 Tote und 577 Verletzte gehandelt hatte (vgl. COI, Ziffer 19.233). Was die christliche Minderheit betrifft, sind besonders hervorzuheben ein Anschlag auf die anglikanische Allerheiligen-Kirche in Peshawar am 22.09.2013, durch den wohl etwa 100 Personen getötet und über 150 zum Teil schwer verletzt wurden (vgl. Lagebericht, S. 16, und USCIRF I, S. 76). Im März und April attackierte eine aufgehetzte Menschenmenge christliche Siedlungen bzw. Dörfer; bei den Attacken wurden über 100 Häuser zerstört, ohne dass aber Menschenleben zu beklagen waren (vgl. USCIRF I, S. 76; vgl. auch BAA, S. 42 f.; vgl. auch HRCP, S. 94 - zu weiteren – allerdings vereinzelten – Übergriffen auf Kirchen S. 94), wobei auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorfall im März 2013 von langer Hand vorbereitet worden war. Im Wesentlichen alle verwerteten Erkenntnismittel sind sich in diesem Zusammenhang einig, dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane hierbei den erforderlichen Schutz nur lückenhaft gewähren oder jedenfalls viel zu spät eingreifen, wobei dieses oftmals nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass diese Organe überfordert wären, sondern auch auf einer offensichtlich mangelnden Bereitschaft beruht, effektiven Schutz zu gewähren (vgl. etwa BAA, S. 19 ff. und 42 ff.; HRWWR, S. 367; UNHCR, S. 1 f.; vgl. zu unzureichenden Schutzmaßnahmen schon Departement of State‘s International Religious Freedom Report for 2012, Stichwort „Government Inaction“ – Im Folgenden USCIRF III). Allerdings ist auch festzuhalten, dass es fundierte Berichte gibt, dass Polizeiorgane bei dem Versuch, den gebotenen Schutz zu gewähren, ernsthafte Verletzung erlitten haben (vgl. BAA, S. 43; vgl. auch S. 46 zu Schutzmaßnahmen bei Prozessionen). Immerhin haben die Sicherheitsorgane nach gewalttätigen Übergriffen auch Ausgangssperren zum Schutze der Minderheiten und gegenüber muslimischen Klerikern Verbote verhängt, die Stadt zu betreten, um zu verhindern, dass diese zur Gewalt aufstacheln und Hassreden halten (vgl. HRCP S. 76). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang abschließend, dass es nach dem Angriff am 22.09.2013 in Lahore und Islamabad bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Solidaritätsaktionen zugunsten der Christen gab, indem um mehrere Kirchen Menschenketten gebildet wurden (HRCP, S. 94).
45 
Selbst wenn man bei der gebotenen qualitativen Bewertung (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - NVwZ 2011, 56, vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487) berücksichtigt, dass derartige Gewaltakte teilweise nicht vorhergesehen werden und die Angehörigen der religiösen Minderheiten gewissermaßen aus heiterem Himmel treffen können, was es ihnen dann aber unmöglich macht, ihnen auszuweichen, so genügen selbst die für das Jahr 2013 festgestellten Opferzahlen, die nach den verwerteten Erkenntnismitteln überwiegend nicht die christliche Minderheit betreffen, bei weitem nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, jeder Angehörige dieser mindestens drei Millionen zählenden Minderheit müsse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer derartiger Leib oder Leben betreffenden Akte zu werden. Daran ändern nichts die etwa vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 08.04.2014 (S. 16) getroffene Feststellung, dass nach den Ereignissen des Jahres 2013 die Bedrohungslage der christlichen Minderheit in Pakistan eine neue Qualität habe, und die Tatsache, dass die Human Rights Commission of Pakistan davon spricht, dass das Jahr 2013 eines der schwärzesten für die christlichen Gemeinden in Pakistan gewesen sei (HRCP, S. 92). Auch UNHCR ist bislang der Auffassung gewesen, dass eine generelle, vom Einzelfall unabhängige Gefährdung nicht besteht (UNHCR, S. 8). Selbst die Organisation „Open Doors“ (Länderprofile Pakistan), die insgesamt ein durchaus düsteres Bild vermittelt, das aber in den anderen Erkenntnismitteln keine unmittelbare Entsprechung findet, geht davon aus, dass die christlichen Gemeinden sich nach wie vor ungehindert auch mit Öffentlichkeitsbezug versammeln und arbeiten können, auch wenn mitunter die Kirchen von bezahlten Wachleuten geschützt werden. Der Senat kann daher offen lassen, ob der pakistanische Staat den durch Art. 7 Abs. 2 QRL geforderten effektiven Schutz gewährleistet, was aber nach den verwerteten Erkenntnismitteln eher zu verneinen sein dürfte.
46 
Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch nicht ungefährliches religiöses Leben der christlichen Minderheit auch mit unmittelbarem Öffentlichkeitsbezug in Pakistan gibt, wird beispielhaft illustriert durch die – auch neueren – Berichte, die auf der Website http://www.kirche-in-not.de/tag/pakistan erschienen sind und weiter erscheinen. Dass tatsächlich der christliche Glaube in nennenswertem Umfang in Pakistan gelebt und aktiv praktiziert wird, lässt sich auch unschwer daraus ablesen, dass die Kirchen in erheblichem Umfang Schulen und andere Bildungseinrichtungen betreiben (vgl. missio, Länderberichte Religionsfreiheit: Pakistan, 2012, S. 18 – im Folgenden missio; Deutschlandradio Kultur vom 13.01. und 11.02.2014; vgl. auch den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Ausdruck des Internetauftritts der FGA-Church Pakistan). Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Erzdiözesen Karachi und Lahore seit langer Zeit größere Krankhäuser betreiben und auch seit 2009 eigene Fernsehsender unterhalten (Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Lahore Stand 28.03.2014; Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Karachi Stand 28.03.2014).
47 
Die gesellschaftliche und soziale Lage der christlichen Minderheit wird übereinstimmend als durchaus prekär und durch vielfältige Diskriminierungen geprägt beschrieben. Gleichwohl ist das Bild zwiespältig. Die festzustellende Marginalisierung und Diskriminierung beruht dabei keineswegs allein oder ganz überwiegend auf dem christlichen Glauben, sondern hat auch eine wesentliche Wurzel in dem noch nachwirkenden und überkommenen Kastenwesen, weil die Christen zum größten Teil Nachkommen von Hindus sind, die der Kaste der Unberührbaren angehörten (vgl. BAA, S. 52; COI, Ziffer 19.198 und 19.204). Dies hat zur Folge, dass die überwiegende Zahl der Christen der Unterschicht zuzurechnen ist und unter der Armutsgrenze lebt, was im Übrigen auch für andere Minderheiten gilt, und die Rate von Analphabetentum sehr groß ist (vgl. Lagebericht, S. 13 f.; BAA, S. 50 ff.; Immigration und Refugee Board of Canada, Pakistan: Religious conversions, including treatment of converts and forced conversions (2009 – 2012), Ziff. 1 – im Folgenden Canada). Diese Stellung wiederum macht eine wesentliche Ursache dafür aus, dass junge christliche Frauen und Mädchen in besonderem Maße das Opfer von unfreiwilligen Bekehrungen und Verheiratungen nach Entführungen werden (vgl. COI, Ziffer 19.188 und 19.198; UNHCR, S. 7; HRCP, S. 95 f.), wobei auch hier ein wirklich effektiver Schutz durch die pakistanischen Sicherheitsorgane nicht gewährt wird, auch wenn in der Nationalversammlung und auf der staatlichen Führungsebene das Problem gesehen und über Abhilfe diskutiert wird (vgl. Canada Ziff. 1). Allerdings berichtet die Pakistanische Menschenrechtsorganisation für das Jahr 2013 durchaus von erheblich weniger erfolgreichen oder versuchten zwangsweisen Konversionen bzw. Verheiratungen (vgl. HRCP, S. 91). Bei alledem darf letztlich aber zudem nicht die Tatsache ausgeblendet werden, dass Entführungen, Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen von (jungen) Frauen in Pakistan ein durchaus gesamtgesellschaftliches Phänomen und Problem darstellen, das weit über die christliche Minderheit hinausreicht (vgl. COI, Ziff. 23.156 ff.; Lagebericht, S. 19 und 21). Die Christen arbeiten überwiegend in der Landwirtschaft, der Steinbearbeitungs-, Glas-, Teppich- und Fischereiindustrie, für die auch Elemente von Zwangsarbeit festgestellt wurden, gegen die die staatlichen Stellen trotz entsprechender Verbotsgesetze nicht effektiv vorgehen (vgl. UNHCR, S. 8). Die Diskriminierung der christlichen Minderheit findet aber auch hier nicht in erster Linie im staatlichen Sektor statt, in dem allenfalls in Bezug auf höhere Positionen eine signifikante Unterrepräsentierung festzustellen ist (vgl. BAA, S. 51; vgl. zum Bildungswesen und diskriminierenden Bildungsinhalten bzw. zum obligatorischen islamischen Religionsunterricht USCIRF III, Stichwort „Governments Practice“). Die staatliche Seite versucht durchaus, gesellschaftlichen Diskriminierungen entgegen zu arbeiten (vgl. BAA, S. 41 und 52). An einer konsequenten, geschweige denn erfolgreichen auf den nicht-staatlichen Bereich bezogenen Antidiskriminierungspolitik mangelt es zwar. Ein solches Unterlassen stellt jedoch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 (hier v.a. lit. b, c und d) QRL dar, wenn man überhaupt in einem Unterlassen eine relevante Verfolgungshandlung sehen will (vgl. zum Problem grundsätzlich Marx, Handbuch zu Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 11 Rn. 2 ff.), weshalb schon deshalb auch aus einer Gesamtschau aller negativen Faktoren (einschließlich der festgestellten Übergriffe auf Leib und Leben sowie vereinzelter menschenrechtlich fragwürdiger Verfahren wegen eines behaupteten Verstoßes gegen einzelne Bestimmungen der Blasphemiegesetzgebung) keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL abgeleitet werden kann. Denn nur in einer finalen und systematischen Vorenthaltung des staatlichen Schutzes zur Vermeidung erheblicher Menschenrechtsverletzungen kann überhaupt ein zurechenbares und daher flüchtlingsrechtlich relevantes Verhalten erblickt werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 984), was jedoch aus den verwerteten Erkenntnismitteln nicht hinreichend deutlich zutage tritt. Geht man hingegen davon aus, dass in einem Unterlassen generell keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL liegen kann und verortet man die Problemstellung (nur) bei der Frage, welche Anforderungen an das nach Art. 7 Abs. 2 QRL geforderte nationale Schutzsystem zu stellen sind, so führt dies zu keiner anderen Sicht der Dinge. Zwar finden sich in einer Vielzahl von Menschrechtspakten ausdrückliche Diskriminierungsverbote (vgl. etwa Art. 2 AEM; Art. 14 EMRK; Art. 26 IPbpR), die mittlerweile zu einem allgemeinen völkergewohnheitsrechtlichen Diskriminierungsverbot erstarkt sein dürften (vgl. Marx, a.a.O., § 16 Rn 45), das auch Art. 9 Abs. 2 QRL zugrunde liegt, das aber grundsätzlich in erster Linie an staatliche Akteure gerichtet ist. Es existiert jedoch keine allgemeine, auch flüchtlingsrechtlich relevante Verpflichtung, Diskriminierungen durch nicht-staatliche Akteure umfassend zu unterbinden und mit allen Mitteln effektiv zu bekämpfen. Ein auch solche Handlungen, die unterhalb der Schwelle von Eingriffen in Leib, Leben oder persönlicher Freiheit liegen, unterbindendes Schutzsystem wird durch Art. 7 Abs. 2 QRL nicht gefordert. Soweit etwa Art. 7 IPwskR das Recht der Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige oder auf gleiche Möglichkeiten auf beruflichen Aufstieg anerkennt und damit auch nicht-staatliche Akteure im Blick hat, handelt es sich nicht um ein Instrumentarium, das bedingungslos grundlegende menschenrechtliche Standards umschreibt, die flüchtlingsrechtlich eine Verpflichtung zu einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik auslöst und daher Grundlage eines umfassenden flüchtlingsrechtlich relevanten menschenrechtlichen Schutzstandards sein könnte. Dies gilt namentlich dann, wenn - wie dargelegt - die allgemeine sozio-ökonomische Lage der christlichen Minderheit gar nicht monokausal auf ihre Religionszugehörigkeit zurückgeführt werden kann.
48 
Das vom Kläger angesprochene „land grabbing“ privater Akteure ist ein in Pakistan weit verbreitetes Phänomen und richtet sich nicht spezifisch gegen die christliche Minderheit, sondern betrifft auch andere Bewohner des Landes, die sich aufgrund ländlicher feudaler oder sonstiger ubiquitärer mafiöser Strukturen in einer unterlegenen Position befinden und bei denen nicht selten effektiver staatlicher Schutz ausfällt (vgl. COI, Ziff. 35.01; HRCP, S. 253).
49 
Ungeachtet dessen vermag der Senat den zahlreichen verwerteten Erkenntnismitteln auch keinen tragfähigen Ansatz für eine Feststellung zu entnehmen, dass die Lage der christlichen Minderheit generell betrachtet durch eine schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL gekennzeichnet wäre.
50 
Etwas anderes gilt auch nicht allgemein und generell betrachtet für den Personenkreis der vom Islam zum Christentum Konvertierten.
51 
Zunächst ist davon auszugehen, dass die pakistanische Rechtsordnung den Vorgang der Konversion nicht untersagt oder gar strafrechtlich bewertet (vgl. Lagebericht, S. 14). Versuche, die Rechtslage zu Lasten der Konvertiten zu verändern, sind sogar gescheitert und aufgegeben worden (vgl. COI, Ziff. 19.66). Allerdings kann hier die bereits erwähnte Blasphemie-Gesetzgebung zum Einfallstor für Verfolgungen und Diskriminierungen werden, wenn es um die Beurteilung von Äußerungen und Verhaltensweisen im Kontext einer Konversion geht (vgl. missio, S. 13 und 17; Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014, S. 3). Dass aber in signifikantem Umfang der hier zu beurteilende Personenkreis betroffen sein könnte, lässt sich den vielfältigen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, obwohl in ihnen eine unübersehbare Fülle von Einzelinformationen verarbeitet wurden. Auch missio benennt in diesem Kontext keine konkreten Einzelfälle, sondern weist nur auf die Möglichkeit hin. Für die staatliche Ebene wird allerdings berichtet, dass ein Neueintrag der christlichen Religion in den Personalausweisen bzw. Pässen nicht möglich ist, jedenfalls faktisch nicht vorgenommen wird (Canada, Ziffer 3). Zwar wird auch berichtet, dass im Falle einer Konversion beider Ehegatten die Kinder der Konvertierten als „illegitim“ eingestuft werden und der Staat die Kinder sogar in Obhut nehmen kann. Dazu wird aber in den zahlreichen Erkenntnismitteln, die sehr ausführlich über Konversion berichten, insbesondere auch in den spezifisch christlichen bzw. kirchlichen Erkenntnismitteln kein einziger Fall benannt, geschweige denn nachvollziehbar dokumentiert.
52 
Die Probleme liegen wiederum in erster Linie in der gesellschaftlichen Sphäre. Denn nicht unerhebliche Teile der pakistanischen Gesellschaft stehen den religiösen Minderheiten ablehnend, wenn nicht gar feindselig gegenüber. Umso mehr wird dann eine Konversion weg vom Islam missbilligt, was zu hohen Befürwortungsraten für die Verhängung der Todesstrafe führt (vgl. COI, Ziff. 19.67). Wie bereits dargelegt, hat sich diese gesellschaftliche Stimmung aber nicht in entsprechenden erfolgreichen Gesetzesvorhaben niedergeschlagen. Teilweise stößt eine Konversion in der eigenen Familie des Konvertiten auf strikte Ablehnung, was dazu führen kann, dass der Betreffende aus der Familie verstoßen wird. Vereinzelt ist es hier auch zu körperlichen Übergriffen bis zu Tötungen gekommen (vgl. Canada, Ziff. 1 und 3). Den verwerteten Erkenntnismitteln nach kann es sich aber nicht um eine weiter verbreitete oder gar allgegenwärtige Erscheinung handeln.
53 
Die Folgen der gesellschaftlichen und innerfamiliären Ablehnung und Missbilligung gehen dahin, dass Konvertiten es teilweise, jedoch nicht generell, bewusst vermeiden, die Konversion an die Öffentlichkeit zu tragen, und daher ggf. auch den Wohnort wechseln, um nicht in ihrem bisherigen Wohnumfeld aufzufallen, um dann andernorts gewissermaßen als „unbeschriebenes Blatt“ als Christ auftreten und diesen Glauben mit den oben beschriebenen Einschränkungen leben zu können (vgl. etwa Open Doors, Länderprofile Pakistan). Das bedingt aber andererseits, dass es verlässliche Zahlen über die Konversionen vom Islam weg nicht geben kann. Auch wenn angesichts der geschilderten Haltung der Mehrheitsgesellschaft davon auszugehen sein wird, dass die Zahl der erfolgten Lösungen vom Islam oder Konversionen weg vom Islam nicht sehr groß sein wird, so fehlt es doch gegenwärtig an ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass nach Maßgabe der für die Annahme einer Gruppenverfolgung zugrunde zu legenden Prognosemaßstäbe jeder pakistanische Staatsangehörige, der sich vom Islam löst, unterschiedslos ein reales Risiko läuft, von einer schweren Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. a) oder lit. b) QRL betroffen zu sein. Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch den Bericht von Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014 und die dort geschilderte Haltung und Einschätzung eines ehemaligen Muslim bestätigt, die deutlich machen, dass Konversion bzw. auch nur Abkehr vom Islam möglich ist, tatsächlich stattfindet und keineswegs mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Im konkreten Einzelfall mag aufgrund individueller Umstände eine andere Beurteilung erforderlich werden. Unabhängig hiervon sieht der Senat keine durchgreifenden Hindernisse für eine Person in der Lage des Klägers, im Falle von unmittelbaren Anfeindungen und Übergriffen im persönlichen Umfeld seinen Wohnort zu wechseln (vgl. Art. 8 QRL), wie dieses nach den verwerteten Erkenntnismitteln immer wieder geschieht, um ein Leben als Christ führen zu können (vgl. Lagebericht, S. 24; Open Doors, Länderprofile Pakistan; Home Office, Country Information and Guidance, Pakistan: Religious freedom, 2014, Ziff. 2.4.16 f.). Aufgrund besonderer Umstände mag auch hier im Einzelfall etwas anderes gelten. Diese sind jedoch in der Person des Klägers nicht erkennbar geworden. Zwar hat er behauptet, als Cricketspieler in Lahore bekannt zu sein. Dass dieses landesweit der Fall gewesen sein könnte, erschließt sich dem Senat nicht. Denn solches wurde vom Kläger schon nicht nachvollziehbar und substantiiert behauptet. Ungeachtet dessen ist seine Person an keiner Stelle im Internet im Kontext des Cricketsports in Pakistan zu finden, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde.
54 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylVfG. Gründe dafür, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO).

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 21.03.2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.


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Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Der Bescheid vom 01.09.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 2/7 den Klägern und zu 5/7 der Beklagten auferlegt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um die 2010 und 2014 geborenen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Nach eigenen Angaben reisten sie am 06.09.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Am 03.05.2016 stellten sie Asylanträge.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 17.08.2016.

4

Das Bundesamt erkannte den Klägern mit Bescheid vom 01.09.2016 den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1) und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab (Nr. 2).

5

Die Kläger haben am 13.09.2016 Klage erhoben.

6

Die Kläger beantragen,

7

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 01.09.2016 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

8

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

9

Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28.09.2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

10

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Asylakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten (Erklärung der Kläger vom 13.09.2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24.03.2016) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs.2 VwGO), ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist - soweit er die Kläger zu 1) und 2) betrifft - in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger zu 1) und 2) haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

12

Nach Überzeugung des Gerichts befinden sich die Kläger zu 1) und 2) aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten kritischen Überzeugung außerhalb Syriens, § 3 Abs. 1, 4 AsylG.

13

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

14

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

15

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, eine Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - zitiert nach juris Rn. 23). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - zitiert nach juris Rn. 23). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu.

16

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3 b Abs. 2 AsylG. Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, „wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren“ (BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - zitiert nach juris Rn. 37).

17

Es kann dahinstehen, ob die Kläger zu 1) und 2) vorverfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn sie können sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Die Kammer geht mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon aus, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung droht. Es ist anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (grundlegend: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG Greifswald, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -;VG Köln, Urteil vom 18.06.2015 - 20 K 4052/14.A -; VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014, a.a.O.; VG Frankfurt Oder, Urteil vom 26.09.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Gießen, Urteil vom 17.07.2014 - 2 K 3472/12.GI.A -; VG München, Urteil vom 09.07.2014 - M 22 K 14.30752 -; VG Aachen, Urteil vom 21.11.2013 - 9 K 1844/13.A -; VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13.KS.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013 - 7 K 2987/12 -; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 14.03.2013 - RN 6 K 12.30059 -; VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - alle zitiert nach juris; VG Regensburg, Urteil vom 06.07.2016 - RN 11 K 16.30889 - soweit ersichtlich n.v.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

18

Das VG Regensburg (Urteil vom 06.07.2016, a.a.O.) führt hierzu zutreffend aus:

19

„Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a.a.O. m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a.a.O). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a.a.O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014).

20

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konflikts in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.“

21

Es ist nicht ersichtlich, dass sich an der Lage in Syrien und damit auch an dieser Einschätzung etwas geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren auf eine mögliche Gefährdung der Kläger zu 1) und 2) im Falle der Rückkehr nach Syrien eingegangen. Das Gericht kann auch nicht nachvollziehen, weshalb die Beklagte in teilweiser Abkehr ihrer bisherigen behördlichen Entscheidungspraxis Syrern mittlerweile nur noch subsidiären Schutz gewährt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien lässt das Vorbringen der Beklagten gänzlich vermissen.

22

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen wird. Es ist vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg für eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansieht (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013, a.a.O.). Unter den derzeitigen Umständen wird jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012, a.a.O.). Auch die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft an die vom Staat unterstellte politische Überzeugung an (vgl. VG Köln, Urteil vom 22.05.2014 - 20 K 3152.13.A -).

23

Diese Einschätzung wird auch durch die vorhandenen, aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. So zitiert etwa die kanadische Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde (Immigration and Refugee Board of Canada - IRB) in einer Veröffentlichung vom 19.01.2016 unter dem Titel „Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014-December 2015)...” (http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html) eine Aussage des geschäftsführenden Direktors des “Syria Justice and Accountability Center”, das insbesondere Menschenrechtsverletzungen in Syrien nachgeht, vom 14. Dezember 2014, wonach abgewiesene Asylbewerber im Falle einer Rückkehr nach Syrien auf jeden Fall inhaftiert und als Regimegegner oder Oppositionelle behandelt werden. Der betreffende Flüchtling würde gewaltsam gezwungen werden, Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition preiszugeben. Er riskiere im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zu Tode gefoltert oder nach einer Folter für sehr lange Zeit ins Gefängnis gesteckt zu werden. In der genannten Veröffentlichung wird weiter auf die Einschätzung eines Forschungsbeauftragten des Londoner Kings College, der im Vereinigten Königreich als auf Syrien spezialisierter Sachverständiger in Asylverfahren tätig ist, vom 15. Dezember 2015 verwiesen, wonach es zwar syrische Beamte gebe, die anerkennen würden, dass einige Asylbewerber ihr Land möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten, traditionell eingestellte Beamte hingegen Asylbewerber für Regimegegner hielten. Nichts sei vorhersehbar; jedenfalls habe der Konflikt wahrscheinlich das Verdachtsniveau erhöht.

24

Hinsichtlich der Bewertung wird auf die oben in Bezug genommene Rechtsprechung und die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse verwiesen. Im Übrigen wird auf die Einzeldarstellung im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) hingewiesen. Die aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Es sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Weiter heißt es in dem UNHCR-Bericht:

25

„Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten besteht der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition ist es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abzielt. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen sind, kann beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus dem die Betroffenen stammen.“

26

Auch wenn das Gericht nicht an die Einschätzung des UNHCR gebunden ist, teilt es dessen Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert hat.

27

Soweit die Beklagte mitunter vorträgt, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach Angaben von Pro Asyl verfolgt das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016).

28

Das VG Regensburg (Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - zitiert nach juris Rn. 38) hat in diesem Zusammenhang angemerkt:

29

„Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.“

30

Den Klägern zu 1) und 2) steht schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es besteht nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

31

Die Flüchtlingsanerkennung scheidet auch nicht aus anderen Gründen aus. Es besteht mithin die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern zu 1) und 2) bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werden widerlegen können.

32

Den Klägern zu 3) und 4) steht indes kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Sie sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Auch droht ihnen bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts knapp sechs und zwei Jahre alte Kinder. Da diese aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage sind, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihnen - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass ihr Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und sie wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben.

33

Die Kläger zu 3) und 4) haben derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihren Eltern unanfechtbar ist (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die im vorliegenden Gerichtsbescheid ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, der Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, können die Kläger zu 3) und 4) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihnen die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird (VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - juris).

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylG.

35

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Tenor

I.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.04.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II.

Der Kläger zu 3) trägt die Kosten seines Verfahrens, im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Kläger, syrische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der am ...1981 geborene Kläger zu 1), die am ...1991 geborene Klägerin zu 2) und der am ...2014 geborene Kläger zu 3) reisten nach eigenen Angaben am 31.10.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 30.3.2016 Asylanträge. Die persönliche Anhörung der Kläger zu 1) und 2) erfolgte am 30.3.2016. Dort trugen sie im Wesentlichen vor, sie hätten sich bis zu ihrer Ausreise aus Syrien zunächst in der Ortschaft H. und später in N. aufgehalten. Der Kläger zu 1) habe von 2000 bis September 2002 Wehrdienst geleistet. Ihr Heimatland hätten sie vor mehr als zwei Jahren verlassen, danach hätten sie bis zu ihrer Einreise nach Deutschland in der Türkei gelebt. Syrien hätten sie wegen des Krieges verlassen. Sowohl H. als auch N. seien bombardiert worden. Es habe Häuserkämpfe gegeben. Auch ihr Familienhaus sei verbrannt. Es sei gefährlich, auf den Straßen zu laufen. Man wisse nicht, ob einen eine Bombe treffe. Wenn sie in Syrien geblieben wären, wäre der Kläger zu 1) zum Militär eingezogen worden. Er wolle aber nicht kämpfen. Er habe weder mit der Regierung noch mit der Opposition etwas zu tun. Im Falle ihrer Rückkehr hätten sie Angst, dort zu sterben.

Im Übrigen wird auf die aufgenommenen Niederschriften Bezug genommen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 5.4.2016 wurde den Klägern der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Im Übrigen wurden die Asylanträge abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen dargelegt, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, das den Klägern in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Aus dem Vorbringen der Kläger sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung, noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 21.4.2016 erhoben die Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Kläger seien von Mitbewohnern in H., die Anhänger des Regimes von Staatschef Assad gewesen seien, bedroht und zur Flucht aufgefordert worden. Des Weiteren habe eine konkrete Gefahr durch die syrische Armee bestanden, die H. belagert und beschossen habe. Aus diesen Gründen seien die Kläger aus Syrien geflohen. Unabhängig von einer etwaigen Vorverfolgung und sonstigen Vorfluchtgründen sei aufgrund der innenpolitischen Situation in Syrien den Klägern die Flüchtlingseigenschaft wegen beachtlicher Nachfluchtgründe zuzuerkennen. Syrischen Staatsangehörigen drohten wegen illegaler Ausreise aus ihrem Heimatland, der Asylantragstellung und ihrem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine tatsächliche oder vermutete politische Überzeugung Verfolgungsmaßnahmen (Einzelverfolgung nach Gruppenmerkmalen), da die genannten Handlungen vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlichen Gesinnung aufgefasst würden.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 5.4.2016, Az.: 6280681-475, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angegriffenen Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsätzen vom 14.6.2016 und 22.6.2016 bzw. allgemeinen Prozesserklärungen vom 25.2.2016 und 24.3.2016 verzichteten die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO. Die Kläger verzichteten mit Schriftsätzen ihrer Bevollmächtigten vom 14.6.2016 und 22.6.2016 auf eine mündliche Verhandlung. Die Beklagte hat mit den allgemeinen Prozesserklärungen vom 25.2.2016 und 24.3.2016 (Az. 414 - 7604/1.16 und 234 - 7604/2.16) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Die zulässige Klage der Kläger zu 1) und 2) ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger zu 1) und 2) in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Diese haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

Die zulässige Klage des Klägers zu 3) ist dagegen unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist hinsichtlich des Klägers zu 3) rechtmäßig und verletzt diesen nicht in seinen Rechten. Dem Kläger zu 3) steht im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

I.

Die Klage der Kläger zu 1) und 2) ist begründet.

Die Kläger zu 1) und 2) haben Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie sich nach der Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens befinden, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Sie haben Syrien zwar nicht wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen, es droht ihnen jedoch bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von

1. dem Staat,

2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder

3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG vom 1.6.2011 Az. 10 C 25.10). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vor solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 Az. Au 2 K 14.30422). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei.

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 Az. 3 L 147/12). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG vom 18.12.2008 Az. 10 C 27/07). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.

Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unter folgenden Voraussetzungen vor (BVerwG vom 7.2.2008 Az. 10 C 33.07):

„Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> m. w. N.).“

1. Die Kläger zu 1) und 2) sind zwar nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.

Eine Verfolgung durch den syrischen Staat und/oder durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG wegen eines der oben genannten Gründe haben sie weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine politische Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form von sich aus vorzutragen, vgl. § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden kommt dabei besondere Bedeutung zu. Ihm selbst obliegt es, seine Gründe für das Vorliegen politischer Verfolgung folgerichtig, substantiiert, widerspruchsfrei und mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG vom 21.7.1989 Az. 9 B 239/89).

Die Kläger trugen lediglich vor, sie hätten Syrien wegen des Krieges verlassen. Sie seien von Mitbewohnern in H. bedroht und zur Flucht aufgefordert worden. Ihr Wohnort sei bombardiert worden, es habe Häuserkämpfe gegeben, auch ihr Familienhaus sei verbrannt. Es sei gefährlich, auf den Straßen zu laufen, man wisse nicht, ob einen eine Bombe treffe. Wenn sie in Syrien geblieben wären, wäre der Kläger zu 1) zum Militär eingezogen worden; er wolle aber nicht kämpfen.

Eine politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG wurde damit nicht schlüssig dargelegt. Die Kläger haben wegen des Krieges in Syrien ihr Heimatland verlassen. Sie gaben selbst an, weder mit der Regierung noch mit der Opposition etwas zu tun gehabt zu haben. Gegen die Kläger gerichtete Verfolgungshandlungen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen.

2. Den Klägern zu 1) und 2) droht jedoch bei einer Rückkehr in ihre Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung.

a. Das Gericht geht auf der Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen davon aus, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrages im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politischen missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (so auch z. B. VG Köln vom 18.6.2015 Az. 20 K 4052/14.A; VG Augsburg vom 25.11.2014 a. a. O.; VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014 Az. 3 K 1489/13.A; VG Regensburg vom 9.9.2014 Az. RN 1 K 14.30205; VG Gießen vom 17.7.2014 Az. 2 K 3472/12.GI.A; VG München vom 9.7.2014 Az. M 22 K 14.30752; OVG Berlin-Brandenburg vom 9.1.2014 Az. OVG 3 N 91.13; VG Aachen vom 21.11.2013 Az. 9 K 1844/13.A; VGH Baden-Württemberg vom 29.10.2013 Az. A 11 S 2046/13; VG Kassel vom 2.7.2013 Az. 5 K 200/13.KS.A; VG Stuttgart vom 15.3.2013 Az. A 7 K 2987/12; VG Regensburg vom 14.3.2013 Az. RN 6 K 12.30059; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a. a. O.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a. a. O. m. w. N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a. a. O.). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a. a. O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014 a. a. O.).

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.

b. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass sich an dieser Einschätzung etwas entscheidend zum Besseren geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im gerichtlichen Verfahren auf eine - mögliche - Gefährdung der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien eingegangen. Eine (vertiefte) Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien fehlt. Stichhaltige Argumente, die zur Überzeugung des Gerichts eine - teilweise - Abkehr von der bisherigen Entscheidungspraxis der grundsätzlichen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und den in den vergangenen Monaten zunehmenden Übergang auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus rechtfertigen könnten, wurden nicht vorgebracht.

Die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg entwickelten Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Stuttgart vom 15.3.2013 a. a. O.). Während schon vor Beginn der Aufstände im Rahmen des arabischen Frühlings teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. VG Aachen vom 11.1.2012 Az. 9 K 1698/10.A). Die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft damit auch dann an die vom syrischen Staat unterstellte politische Überzeugung an, wenn die Befragung unter anderem der allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene dient (vgl. VG Köln vom 22.5.2014 Az. 20 K 3152.13.A).

Hinzu kommt, dass die Situation der Flüchtlinge, die in die Nachbarländer Syriens geflohen sind, nicht mit der von aus dem westlichen Ausland und Deutschland zurückgeführten Syrern vergleichbar ist, die bereits zahlenmäßig deutlich in der Minderzahl sind. Bei einer Rückführung letzterer über den von den syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen in Damaskus bedarf es für eine Befragung mit der Gefahr anschließender Folterung durch Mitarbeiter der verschiedenen Geheimdienste keiner großen Ressourcen (vgl. VG Hannover vom 10.12.2013 Az. 2 A 6900/12).

Diese Einschätzung wird durch die aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht möglich, seine Lageberichte, wie üblich, in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren. Der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien datiert vom 27. September 2010, also vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen. Seitdem hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft AA an BAMF vom 8.3.2012).

Zwar lägen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten. Allerdings seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien (vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 3.2.2016). Dies stehe überwiegend im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten oder mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Nach einer nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes verlässlichen Studie des „Danish Immigration Service“ vom September 2015 würden desertierten Syrern Militärtribunale, Folter, lebenslange Haft oder Hinrichtung drohen. Werde der Deserteur mit Oppositionsgruppierungen in Verbindung gebracht, bestehe laut dieser Studie für die Familie das Risiko von Sippenhaft. Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute kämen.

Wie sich den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (3. aktualisierte Fassung) vom Oktober 2014 entnehmen lässt, hat sich die Lage in Syrien seit der zweiten aktualisierten Fassung vom Oktober 2013 im Hinblick auf Sicherheit, Menschenrechte, Vertreibung und Bedarf an humanitärer Hilfe weiter verschlechtert. Fast alle Teile des Landes seien zum jetzigen Zeitpunkt in Gewalt verstrickt, wobei die Gewalthandlungen zwischen verschiedenen Akteuren mit teilweise überlappenden Konflikten ausgetragen und durch die Beteiligung ausländischer Kämpfer auf allen Seiten verschärft würden. Kampfhandlungen zwischen den syrischen Regierungstruppen und einer Vielzahl bewaffneter oppositioneller Gruppen würden unvermindert fortgesetzt.

Die aktuellen UNHCR-Erwägungen vom November 2015 (4. aktualisierte Fassung) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Er sei mit verheerenden Konsequenzen für die syrische Bevölkerung, einschließlich einer steigenden Zahl ziviler Opfer, interner und externer Vertreibung in großem Maßstab und einer humanitären Krise von bislang unbekanntem Ausmaß verbunden. Die meisten Hauptstädte der Gouvernements (ausgenommen Raqqa und Idlib) einschließlich der Hauptstadt Damaskus sowie die Küstengebiete der Gouvernements Latakia und Tartus stünden weiterhin unter der teilweisen oder vollständigen Kontrolle der syrischen Streitkräfte. Diese hätten jedoch Berichten zufolge im Laufe des vergangenen Jahres strategisch wichtige Standorte und militärische Stellungen in einigen Gouvernements verloren. In jüngerer Zeit hätten Berichten zufolge Regierungskräfte mit zunehmender Unterstützung von Verbündeten aus dem Ausland eine größere Militäroffensive an mehreren Fronten gestartet, um verlorene Gebiete zurückzuerobern.

Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichen Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammen. Im Lichte der immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien und einer fehlenden politischen Lösung zum jetzigen Zeitpunkt begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichen Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Derartige Maßnahmen sollten bis auf weiteres aufrechterhalten werden.

Das Gericht teilt die Einschätzung des UNHCR, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 verschlechtert hat. Die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden sind, besonders relevant (vgl. EuGH vom 30.5.2013 Az. C-528/11), auch wenn das Gericht an die rechtliche Beurteilung des UNHCR nicht gebunden ist.

Nach den Erkenntnissen von Amnesty International halten die staatlichen Sicherheitskräfte nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft (vgl. Amnesty Report 2016). Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, seien „verschwunden“ geblieben. Unter ihnen hätten sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden seien, befunden. Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste seien auch im Jahr 2015 weit verbreitet gewesen und würden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen im Gewahrsam geführt habe. Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, seien von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen worden. Viele von ihnen hätten lange Zeiträume in Untersuchungshaft verbracht, wo sie gefoltert oder anderweitig misshandelt worden seien. Nach der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 14. April 2015 wurden die von Baschar al Assad erlassenen Amnestien nur mangelhaft und willkürlich umgesetzt.

c. Das Gericht teilt nicht die Auffassung, dass unverfolgt ausgereiste Rückkehrer nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr politisch verfolgt werden (so aber z. B. VG Düsseldorf vom 14.2.2014 Az. 17 K 7717/13.A; OVG NRW vom 13.2.2014 Az. 14 A 215/14.A, vom 9.12.2013 Az. 14 A 2663/13.A). Insoweit fehlt eine substantiierte prognostische Auseinandersetzung mit der Situation aus westlichen Ländern zurückgeführter Asylbewerber. Es muss trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass bei einer Abschiebung eine obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgt, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist. Dass das syrische Regime zu solchen Maßnahmen aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage ist oder kein Interesse mehr an solchen hat, ist allenfalls eine Mutmaßung, die nicht mit Tatsachen untermauert ist und die sich mit den vorliegenden Erkenntnisquellen auch nicht nachvollziehbar begründen lässt. Angesichts der Zuspitzung der Situation in Syrien und dem Überlebenskampf des Assad-Regimes ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung den Verfolgungsdruck auf aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Staatsangehörige mildert oder gar aufgibt. Soweit die Beklagte Maßnahmen, die zur Anerkennung subsidiären Schutzes führen, als hinreichend wahrscheinlich ansieht, ist dies auch für die politische Verfolgung zu erwarten. Syrer, die weit von ihrer Heimat, insbesondere in Europa, ein Asylverfahren betreiben, haben nach der Abschiebung mit so hoher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu erwarten, dass ihnen in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen ist.

d. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht den Klägern zu 1) und 2) nicht zur Verfügung, da sie bei einer Einreise über den Flughafen in Damaskus keinen sicheren Landesteil sicher und legal erreichen können, vgl. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

e. Schließlich scheidet die Flüchtlingsanerkennung auch nicht aus anderen Gründen, wie z. B. dem Alter der Kläger zu 1) und 2), aus. Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie bei einer Rückkehr nach Syrien staatliche Verfolgung erleiden werden, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit bei einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht widerlegen werden können.

II.

Dem Kläger zu 3) steht dagegen kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

a. Der Kläger zu 3) wurde erst nach der Ausreise seiner Eltern aus Syrien geboren. Er ist demnach nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.

b. Auch droht dem Kläger zu 3) bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei dem Kläger zu 3) handelt es sich um ein - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts - 21 Monate altes Kleinkind. Da der Kläger aufgrund seines geringen Alters noch nicht in der Lage ist, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihm - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass sein Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und er wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

c. Der Kläger zu 3) hat derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei seinen Eltern unanfechtbar ist. Die im vorliegenden Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, kann der Kläger zu 3) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihm die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 ff ZPO.

Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 RVG.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

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die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

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und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

I.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2015 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den Klägern zu 3) bis 9) zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2).

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger - die Kläger zu 1) und zu 2) sind die Eltern der Kläger zu 3) bis 9) - sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten über die sog. Balkanroute in das Bundesgebiet ein und stellten am 20. März 2014 Asylanträge. Anträge auf internationalen Schutz hatten die Kläger zuvor bereits in Bulgarien gestellt, woraufhin ihnen mit Bescheiden vom 4. Dezember 2013 dort der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger zu 1) u. a. an, er und einer seiner Söhne seien von Regierungssoldaten verhaftet worden. Sein Sohn sei erheblich verletzt worden. Am nächsten Tag seien sie zwar wieder freigekommen. Der Kläger zu 1) habe im Folgenden aber die Information erhalten, dass sein Leben in Gefahr sei, weil er Rebellen Geld gegeben habe. Ihm sei empfohlen worden, das Land so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Bescheid vom 12. März 2015 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab, forderte die Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik auf und drohte diesen für den Fall, dass sie der Aufforderung nicht fristgerecht nachkommen, die Abschiebung nach Bulgarien an. Weiter wurde festgestellt, dass die Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen.

In den Bescheidsgründen wurde unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - ausgeführt, die Asylanträge seien unzulässig, was aus dem Schutzstatus im sicheren Drittstaat Bulgarien folge (§ 26a AsylVfG - jetzt: AsylG).

Am .... März 2015 ließen die Kläger durch ihren seinerzeitigen Bevollmächtigten gegen den (am 16.03.2015 zugestellten) Bescheid Klage erheben. Sie haben zuletzt beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 12. März 2015 die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise hinsichtlich der Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG festzustellen.

Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen vorgetragen, beim klägerischen Antrag handle es sich um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG, mit dem die Kläger auch die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft begehren würden. Mangels Übernahmezusage durch Bulgarien vor Ergehen der Entscheidung stehe nach den Regelungen der Dublin III-Verordnung die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Verfahrens fest. Weiter sei davon auszugehen, dass sich seit Zuerkennung des subsidiären Schutzes die Lage in Syrien erheblich geändert habe. Der Klägerseite drohe nunmehr auch Verfolgung durch die ISIS. Hinreichender staatlicher Schutz stehe nicht zur Verfügung.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie auf die Bescheidsgründe Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird ergänzend auf die Gerichts- und die Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag begründet, da die Kläger wie tenoriert Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Blick auf den von der Klagepartei formulierten Antrag kein teilweises Unterliegen gegeben ist, es sich vielmehr in Bezug auf den Ausspruch im Urteil zur Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 3) bis 9) in Abhängigkeit von der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) der Sache nach nur um ein Klarstellung handelt.

1. Vorab ist weiter darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts bei der hier gegebenen Konstellation der Ablehnung ohne Sachprüfung als unzulässig grundsätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung einer sog. isolierten Anfechtungsklage besteht, mit Blick auf die Besonderheiten des Falles, weil die Beklagte den Antrag als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG hätte sachlich prüfen müssen, daneben aber auch von der Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage auszugehen ist, wobei der Klagepartei, weil ihr bei einem „Durchentscheiden“ eine Klageinstanz verloren ginge, ein Wahlrecht hinsichtlich des Vorgehens einzuräumen ist (allgemein zu dieser Problematik Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 42 Rn. 18 ff.; siehe hierzu auch BVerwG, U.v. 7.3.1995 - 9 C 264/94 - und, zum Durchentscheiden bei Asylfolgeanträgen, BVerwG, U.v. 10.2.1998 - 9 C 28/97 - beide in juris). Gegen die Umstellung des Klageantrags bestehen daher keine Bedenken (zur Beurteilung des Übergangs von einer isolierten Anfechtungsklage auf die Verpflichtungsklage als bloße Klageerweiterung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 173 Satz 1 VwGO vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2008 - 11 C 08.889 - juris).

2. Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger zu Unrecht unter Berufung auf § 26a AsylG abgelehnt. Des Weiteren scheidet eine Umdeutung in eine Ablehnung nach § 27a AsylG aus (3.). Der Antrag wäre vielmehr, wie schon erwähnt, als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG zu behandeln gewesen, allerdings mit Modifikationen als Folge der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Unter Berücksichtigung der daraus folgenden Anforderungen ist festzustellen, dass den Klägern ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (4).

3. Die Ablehnung eines Asylantrags unter Berufung auf die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG), wie hier geschehen, kommt u. a. dann nicht in Betracht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (§ 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG). Das ist vorliegend der Fall.

3.1 § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG bezieht sich auf die Zuständigkeitsbestimmungen in den sog. Dublin-Verordnungen. Derzeit gilt die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - Dublin III-VO -, mit der die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 - Dublin II-VO - abgelöst wurde.

Wenn und soweit die Dublin-Regelungen anwendbar sind, bestimmt sich die Zuständigkeit allein nach deren Vorgaben. Ist danach davon auszugehen, dass ein anderer Dublinstaat für die Durchführung des Asylverfahrens bzw. nach Abschluss des dortigen Verfahrens für die Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen zuständig ist, erfolgt eine Verbescheidung eines in Deutschland gestellten Asylantrags ohne materielle Prüfung nach § 27a AsylG. Ist nach diesen Bestimmungen dagegen von einer Zuständigkeit Deutschlands auszugehen, hat das Bundesamt den Asylantrag sachlich zu prüfen. Ein Rückgriff auf die Regelung des § 26a AsylG scheidet in einem solchen Fall unabhängig von der Einreise des Asylbewerbers aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG aus.

Die primäre Zielsetzung der Dublin-Regelungen ist darin zu sehen, dass es innerhalb der Mitgliedsstaaten nur einen zuständigen Staat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz geben soll (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) und dieser für den Fall des negativen Verfahrensausgangs auch dafür zu sorgen hat, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Mitgliedsstaaten wieder verlässt, wenn ihm nicht aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht eingeräumt wird. Die Verordnung regelt daher neben der Zuständigkeit für die Durchführung des Verfahrens auf internationalen Schutz weiter auch die Modalitäten der Überstellung des Drittstaatsangehörigen in den zuständigen Mitgliedsstaat (Art. 20 ff. Dublin III-VO), und zwar auch für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige nach Ablehnung seines Antrags in dem zuständigen Mitgliedsstaat in einen anderen Mitgliedsstaat weiterreist und dort ggf. einen weiteren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellt (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO, bisher Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO).

Die Dublin-Regelungen sind folglich anwendbar, wenn über einen (Erst-)Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes im zuständigen Mitgliedsstaat noch nicht abschließend entschieden wurde oder aber - mit Blick auf eine Wiederaufnahmeverpflichtung - der Antrag bestandskräftig abgelehnt wurde. Im letzteren Falle kann allerdings bei erneuter Antragstellung je nach den Umständen auch eine Verpflichtung zur sachlichen Prüfung des weiteren Antrags durch den Mitgliedsstaat, in den der Antragsteller weitergereist ist, entstehen, wenn die für ein Wiederaufnahmeverfahren zu beachtenden Fristen nicht eingehalten wurden (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1.2.2014, Art. 23 K 6).

Zum Begriff des Antrags auf internationalen Schutz verweist die Dublin III-VO in Art. 2 Buchst. b auf Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie/Neufassung), wonach ein solcher Antrag vorliegt, wenn der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt. Die Dublin II-VO bezog sich dagegen nur auf Anträge, die als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedsstaates im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden konnten (vgl. Art. 2 Buchst. c Dublin II-VO), erfasste also nicht auch einen Antrag auf subsidiären Schutz.

Nach Maßgabe der Dublin II-VO galten daher Antragsteller, deren Antrag auf Flüchtlingsanerkennung abgelehnt und denen lediglich der subsidiäre Schutz in einem anderen Mitgliedsstaat zuerkannt wurde, als abgelehnte Asylbewerber mit der Folge, dass diese weiterhin dem Dublinregime unterfielen und sich auch deren Rückführung in den betreffenden Mitgliedsstaat nach den Regelungen der Verordnung richtete (vgl. Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO). Da die Dublin III-VO dagegen auch den subsidiären Schutz einbezieht, dürfte nunmehr in Fällen, bei denen dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedsstaat dieser Status zuerkannt wurde, der dort also zwar nicht als Flüchtling, aber als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist, auch soweit es um die Frage einer Rückführung in den betroffenen Mitgliedsstaat geht, die Verordnung nicht (mehr) anzuwenden sein (a.A. - die Zuerkennung subsidiären Schutzes hindert die Anwendung der Dublin III-VO nicht - wohl Funke-Kaiser, Asylmagazin 2015, 148/150; siehe hierzu auch VGH BW, U.v. 29.4.2015 - A 11 S 57/15 - juris Rn. 37 a.E. - und noch weitergehend Bergmann, ZAR 2015, 81/83).

Nach der hier vertretenen Auffassung sind aber jedenfalls für die Konstellation, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzes noch aufgrund eines Antrags erfolgte, auf den die Dublin II-VO anwendbar war (Übergangsfälle), die Dublin-Regelungen in Bezug auf eine Rückführung in den Schutz gewährenden Staat weiter anzuwenden.

Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 Dublin III-VO bestimmt, dass die Verordnung auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten (das ist der 01.01.2014) gestellt werden - gemeint sind damit nur Erstanträge (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, a. a. O., Art. 49 K 3) - und ab diesem Zeitpunkt, ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung, für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt. Die Dublin III-VO ist danach bei Antragstellern, die ihren maßgeblichen Erstantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt haben, zwar in Bezug auf die Verfahrensregelungen zu Gesuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme, im Übrigen aber nicht anwendbar. Die Festlegung der Zuständigkeit und damit der Pflicht des betroffenen Staates zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen bestimmt sich in diesen Übergangsfällen allein nach den Vorschriften der Dublin II-VO.

Hinsichtlich subsidiär Schutzberechtigter, deren Antrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, verhält es sich nach Auffassung des Gerichts folglich so, dass auf diese - weil die Betroffenen nach der Dublin II-VO als abgelehnte Asylbewerber gelten - weiterhin die Dublin-Regelungen bezüglich der Bestimmung des zuständigen Staates entsprechend den Vorgaben der Dublin II-VO anwendbar sind (so auch Marx, InfAuslR 2014, 227 und Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 31). Die Wiederaufnahmeverpflichtung folgt insoweit aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO. Das Verfahren zur Wiederaufnahme bestimmt sich dagegen nach den Regelungen der Dublin III-VO.

3.2 Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor, da die Kläger ihren Erstantrag noch unter Geltung der Dublin II-VO gestellt haben und ihnen in Bulgarien lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Für eine Überstellung der Kläger nach Bulgarien wären also die Dublin-Regelungen einschlägig gewesen, weshalb eine Ablehnung des Asylantrags unter Berufung auf § 26a AsylG nicht zulässig war.

3.3 Eine Umdeutung der Ablehnung nach § 26a AsylG in eine solche nach § 27a AsylG kommt gleichfalls nicht in Betracht, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des (weiteren) Verfahrens auf die Bundesrepublik übergegangen ist (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO). Die Fristen zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs waren zum Zeitpunkt der Verbescheidung der Anträge längst abgelaufen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass Bulgarien weiterhin bereit wäre, die Kläger im Vollzug der Dublin-Regelungen wieder aufzunehmen.

4. Nach Gemeinschaftsrecht ist mithin von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung des weiteren Asylverfahrens auszugehen. Der Antrag ist aber nicht als Erstantrag zu behandeln, denn es liegt auf der Hand, dass die von den Klägern in Bulgarien gestellten Anträge teilweise - hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - abgelehnt wurden. Das Bundesamt hätte den in der Bundesrepublik gestellten weiteren Asylantrag folglich als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG einstufen und entsprechend verbescheiden müssen.

4.1 Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Umstand, dass den Klägern in Bulgarien subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, der Geltendmachung eines Anspruchs jedenfalls auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen eines Zweitantragsverfahrens nicht entgegensteht.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - (BVerwGE 150, 29), auf das sich die Beklagte insoweit ausweislich der Bescheidsbegründung beruft, betraf eine mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Fallgestaltung, da der Kläger in dem dortigen Verfahren in einem anderen Mitgliedsstaat als Flüchtling anerkannt worden war. Eine solche ausländische Flüchtlingsanerkennung hat zur Folge, dass der Betroffene nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG kraft nationalen Rechts nicht in den Herkunftsstaat abgeschoben werden darf. Einen Anspruch auf eine erneute Statusanerkennung durch das Bundesamt hat er nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aber nicht. Dies gilt über § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch in Bezug auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Im hier zu entscheidenden Fall geht es dagegen um die Konsequenzen, die sich aus der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei vorheriger Gewährung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedsstaat für einen erneuten Asylantrag im Bundesgebiet ergeben.

Was diese hier vorliegende Konstellation angeht, dass eine Aufstockung des Schutzes begehrt wird, ist festzustellen, dass ungeachtet einer fehlenden nationalen Regelung, die eine Ablehnung als unzulässig rechtfertigen könnte, auch das maßgebliche Gemeinschaftsrecht einer solchen Vorgehensweise entgegensteht (vgl. BVerwG, B.v. 23.10.2015 - 1 B 41/15 - juris). Der Übergangsregelung in Art. 52 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie/Neufassung) ist zu entnehmen, dass für vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 gelten. Für vor dem Stichtag gestellte Anträge - wie im Fall der Kläger - bestimmt sich gemeinschaftsrechtlich die Frage der Ablehnung als unzulässig daher nach Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG. Nach Abs. 2 Buchst. a dieser Bestimmung können die Mitgliedsstaaten einen Asylantrag wegen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedsstaat aber nur als unzulässig betrachten, wenn der andere Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Das war hier aber gerade nicht der Fall.

4.2 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts aufgrund des Anwendungsvorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen die sachliche Prüfung vorliegend entgegen § 71a Abs. 1 AsylG nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig gemacht werden darf, vielmehr der Antrag wie ein Erstantrag zu prüfen gewesen wäre. Die wie bereits erwähnt aufgrund der Antragstellung vor dem 20. Juli 2015 weiter anwendbare Richtlinie 2005/85/EG sah in Art. 32 Abs. 2 bis 6 eine Zulässigkeitsprüfung hinsichtlich neuer Elemente und Erkenntnisse sowie das Unterbleiben einer weiteren Prüfung, wenn diese aufgrund Verschuldens des Antragstellers im früheren Verfahren nicht vorgebracht wurden, nur vor, wenn ein Folgeantrag im selben Mitgliedsstaat gestellt wurde (Art. 32 Abs. 1 Satz 1). Auf die Stellung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedsstaat (im Gemeinschaftsrecht werden auch solche Anträge als Folgeantrag bezeichnet) sind diese Einschränkungen nicht übertragbar. Die inhaltliche Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedsstaat entfaltet auch keine sog. Tatbestandswirkung in Bezug auf ein weiteres in einem anderen Mitgliedsstaat durchzuführendes Verfahren. Insoweit verbleibt es also bei einer Prüfung nach den allgemeinen Kriterien (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 2 ff. m. w. N. zur Gegenmeinung; zur im Wesentlichen unveränderten Rechtslage unter Geltung der Richtlinie 2013/32/EU siehe dort Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40).

4.3 Die Kläger können danach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen.

4.3.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich

1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,

2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,

a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder

b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Absätze 2 und 3 der Bestimmung beinhalten Exklusionsklauseln u. a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).

Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutz regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.

Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (weitere Ausschlussklausel bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit).

4.3.2 Die einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen jedenfalls bei den Klägern zu 1) und zu 2) vor.

Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob die Kläger zu 1) und 2) vor verfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylVfG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.

Das erkennende Gericht geht wie auch eine Vielzahl anderer Gerichte (vgl. hierzu etwa VGH BW, B.v. 19.6.2013 - A 11 S 927/13 - und B.v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG LSA, U.v. 18.7.2012 - 3 L 147/12 -; VG Köln, U.v. 26.6.2014 - 20 K 4130/13.A -; VG Frankfurt, U.v. 26.9.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Augsburg, U.v. 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - alle in juris) auf der Grundlage einer Gesamtschau der Verhältnisse in Syrien davon aus, dass Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten hätten und bereits diese Befragung eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslösen würde (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG; zur Situation in Syrien siehe Auswärtiges Amt - AA -, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage - Foltergefahr, Haftbedingungen - siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. AA, Lagebericht vom 27.09.2010, S. 19 f., AA, Ad hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010 und Amnesty International - AI -, Bericht vom 14.03.2012, „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“; siehe zur aktuellen Situation weiter auch die AI-Jahresberichte 2012 bis 2014 und Bundesamt, Syrien - Situation in den Provinzen, April 2014; dazu, dass das Fehlen von „Referenzfällen“ einer prognostischen Wertung in diesem Sinne nicht entgegensteht, vgl. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 - 14 A 2708/10.A - juris; zu § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.).

Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; juris Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.

Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Tatsächlich dürfte sogar von einer Verschärfung der Gefährdungslage für Rückkehrer auszugehen sein, weil sich die Gewinnung von Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten aus Sicht des syrischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund der Parteinahme einer Vielzahl westlicher Staaten für Teile der Opposition (der syrische Bürgerkrieg weist auch Elemente eines Stellvertreterkrieges auf) als bedeutsamer als zu Beginn der Unruhen darstellen dürfte.

Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzunehmende) Gefährdung der Kläger zu 1) und zu 2) (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 - 3 A 917/13.Z.A -; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 - 3 N 91.13 -; a.A. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 - 14 A 2708/10.A - alle in juris).

Eine (zumutbare) inländische Fluchtalternative für Rückkehrer (vgl. § 3e AsylG) besteht derzeit in Syrien nicht (siehe dazu die oben genannten die aktuelle Situation darstellenden Erkenntnismittel).

Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen könnte.

Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass die Kläger zu 1) und zu 2) Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sind und sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG beanspruchen können.

4.3.3 Den Klägern zu 3) bis 9) als minderjährigen Kindern der Kläger zu 1) und 2) ist die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 2 AsylG zu dem Zeitpunkt zuzuerkennen, in dem die Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) unanfechtbar wird.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Der Bescheid vom 01.09.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 2/7 den Klägern und zu 5/7 der Beklagten auferlegt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um die 2010 und 2014 geborenen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Nach eigenen Angaben reisten sie am 06.09.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Am 03.05.2016 stellten sie Asylanträge.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 17.08.2016.

4

Das Bundesamt erkannte den Klägern mit Bescheid vom 01.09.2016 den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1) und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab (Nr. 2).

5

Die Kläger haben am 13.09.2016 Klage erhoben.

6

Die Kläger beantragen,

7

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 01.09.2016 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

8

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

9

Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28.09.2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

10

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Asylakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten (Erklärung der Kläger vom 13.09.2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24.03.2016) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs.2 VwGO), ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist - soweit er die Kläger zu 1) und 2) betrifft - in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger zu 1) und 2) haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

12

Nach Überzeugung des Gerichts befinden sich die Kläger zu 1) und 2) aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten kritischen Überzeugung außerhalb Syriens, § 3 Abs. 1, 4 AsylG.

13

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

14

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

15

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, eine Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - zitiert nach juris Rn. 23). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - zitiert nach juris Rn. 23). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu.

16

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3 b Abs. 2 AsylG. Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, „wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren“ (BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - zitiert nach juris Rn. 37).

17

Es kann dahinstehen, ob die Kläger zu 1) und 2) vorverfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn sie können sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Die Kammer geht mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon aus, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung droht. Es ist anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (grundlegend: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG Greifswald, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -;VG Köln, Urteil vom 18.06.2015 - 20 K 4052/14.A -; VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014, a.a.O.; VG Frankfurt Oder, Urteil vom 26.09.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Gießen, Urteil vom 17.07.2014 - 2 K 3472/12.GI.A -; VG München, Urteil vom 09.07.2014 - M 22 K 14.30752 -; VG Aachen, Urteil vom 21.11.2013 - 9 K 1844/13.A -; VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13.KS.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013 - 7 K 2987/12 -; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 14.03.2013 - RN 6 K 12.30059 -; VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - alle zitiert nach juris; VG Regensburg, Urteil vom 06.07.2016 - RN 11 K 16.30889 - soweit ersichtlich n.v.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

18

Das VG Regensburg (Urteil vom 06.07.2016, a.a.O.) führt hierzu zutreffend aus:

19

„Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a.a.O. m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a.a.O). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a.a.O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014).

20

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konflikts in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.“

21

Es ist nicht ersichtlich, dass sich an der Lage in Syrien und damit auch an dieser Einschätzung etwas geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren auf eine mögliche Gefährdung der Kläger zu 1) und 2) im Falle der Rückkehr nach Syrien eingegangen. Das Gericht kann auch nicht nachvollziehen, weshalb die Beklagte in teilweiser Abkehr ihrer bisherigen behördlichen Entscheidungspraxis Syrern mittlerweile nur noch subsidiären Schutz gewährt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien lässt das Vorbringen der Beklagten gänzlich vermissen.

22

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen wird. Es ist vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg für eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansieht (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013, a.a.O.). Unter den derzeitigen Umständen wird jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012, a.a.O.). Auch die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft an die vom Staat unterstellte politische Überzeugung an (vgl. VG Köln, Urteil vom 22.05.2014 - 20 K 3152.13.A -).

23

Diese Einschätzung wird auch durch die vorhandenen, aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. So zitiert etwa die kanadische Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde (Immigration and Refugee Board of Canada - IRB) in einer Veröffentlichung vom 19.01.2016 unter dem Titel „Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014-December 2015)...” (http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html) eine Aussage des geschäftsführenden Direktors des “Syria Justice and Accountability Center”, das insbesondere Menschenrechtsverletzungen in Syrien nachgeht, vom 14. Dezember 2014, wonach abgewiesene Asylbewerber im Falle einer Rückkehr nach Syrien auf jeden Fall inhaftiert und als Regimegegner oder Oppositionelle behandelt werden. Der betreffende Flüchtling würde gewaltsam gezwungen werden, Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition preiszugeben. Er riskiere im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zu Tode gefoltert oder nach einer Folter für sehr lange Zeit ins Gefängnis gesteckt zu werden. In der genannten Veröffentlichung wird weiter auf die Einschätzung eines Forschungsbeauftragten des Londoner Kings College, der im Vereinigten Königreich als auf Syrien spezialisierter Sachverständiger in Asylverfahren tätig ist, vom 15. Dezember 2015 verwiesen, wonach es zwar syrische Beamte gebe, die anerkennen würden, dass einige Asylbewerber ihr Land möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten, traditionell eingestellte Beamte hingegen Asylbewerber für Regimegegner hielten. Nichts sei vorhersehbar; jedenfalls habe der Konflikt wahrscheinlich das Verdachtsniveau erhöht.

24

Hinsichtlich der Bewertung wird auf die oben in Bezug genommene Rechtsprechung und die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse verwiesen. Im Übrigen wird auf die Einzeldarstellung im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) hingewiesen. Die aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Es sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Weiter heißt es in dem UNHCR-Bericht:

25

„Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten besteht der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition ist es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abzielt. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen sind, kann beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus dem die Betroffenen stammen.“

26

Auch wenn das Gericht nicht an die Einschätzung des UNHCR gebunden ist, teilt es dessen Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert hat.

27

Soweit die Beklagte mitunter vorträgt, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach Angaben von Pro Asyl verfolgt das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016).

28

Das VG Regensburg (Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - zitiert nach juris Rn. 38) hat in diesem Zusammenhang angemerkt:

29

„Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.“

30

Den Klägern zu 1) und 2) steht schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es besteht nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

31

Die Flüchtlingsanerkennung scheidet auch nicht aus anderen Gründen aus. Es besteht mithin die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern zu 1) und 2) bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werden widerlegen können.

32

Den Klägern zu 3) und 4) steht indes kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Sie sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Auch droht ihnen bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts knapp sechs und zwei Jahre alte Kinder. Da diese aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage sind, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihnen - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass ihr Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und sie wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben.

33

Die Kläger zu 3) und 4) haben derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihren Eltern unanfechtbar ist (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die im vorliegenden Gerichtsbescheid ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, der Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, können die Kläger zu 3) und 4) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihnen die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird (VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - juris).

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylG.

35

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am ...1995 in Damaskus geborene, ledige Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ eigenen Angaben zufolge im November 2014 sein Heimatland und reiste am 26.07.2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 26.08.2015 einen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge händigte ihm im Verwaltungsverfahren einen Fragebogen aus, um ihm die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [sein] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen dieses Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger beantwortete in der Folge die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.03.2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus Dahiyat Qudsaya, Damaskus, und habe in Syrien als Koch gearbeitet. Fragen nach der Ableistung von Wehrdienst, einer Tätigkeit für die Sicherheitsbehörden oder die Polizei, der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung oder in einer politischen Organisation verneinte er ebenso wie die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von Kriegsverbrechen, Übergriffen auf die Zivilbevölkerung o.ä. geworden sei. Ihm sei nichts passiert; er habe befürchtet, zum Militär zu müssen, habe aber auch eine bessere Zukunft gewollt und sei deshalb nach Deutschland gereist. Ferner legte der Kläger dem Bundesamt sein syrisches Abiturzeugnis nebst Übersetzung vor sowie einen am 11.11.2015 ausgestellten Auszug aus dem Zivilregister für Personenstandsangelegenheiten. Einem entsprechenden Aktenvermerk vom 01.03.2016 zufolge hält das Bundesamt den Kläger „zweifelsohne“ für einen Syrer.
Mit Bescheid vom 09.03.2016, zugestellt am 31.03.2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung habe er nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich allein auf die allgemeine Gefährdung durch den Krieg in seinem Heimatland berufen. Aus seinem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.
Der Kläger hat am 08.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, es liege ein objektiver Nachfluchtgrund vor, weil davon auszugehen sei, dass das syrische Regime jeden syrischen Staatsangehörigen, der das Land verlasse bzw. fliehe, als potenziellen Regimegegner betrachte. Hinzu komme, dass der Kläger auch als „fahnenflüchtig“ oder als Deserteur betrachtet werde. Im Übrigen sei den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Es sei schwer vorstellbar, dass die Familie des Klägers das Land aus „flüchtlingsrelevanten Gründen“ verlassen habe, ausgerechnet er selbst aber nicht.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, auch diejenigen der Eltern des Klägers (Gesch.-Z. ...), sowie seiner Brüder A. (Gesch.-Z. ...) und Mohamad A. (Gesch.-Z. ...). Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
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Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
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Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
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Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
90 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
93 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
94 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
95 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
96 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
97 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

Tenor

I.

Der Bescheid des Bundesamts ... vom 24. November 2015 wird in den Ziffern 1. und 3. mit 6. aufgehoben.

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger, nach eigenen Angaben iranische Staatsangehörige, beantragten am 25. Februar 2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Am gleichen Tag wurden sie vor dem Bundesamt ... (BAMF), Außenstelle ..., zur Vorbereitung ihrer Anhörung insbesondere zu ihren persönlichen Verhältnissen und ihrem Einreiseweg befragt.

Zwischen Juni 2014 und März 2015 wurde von der anwaltlich vertretenen Klägerseite mehrfach um die Anberaumung eines Anhörungstermins bzw. um diesbezügliche Auskunft gebeten.

Am 21. Mai 2015 erhoben die Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München. Mit rechtskräftigem Urteil vom 21. Juli 2015 (M 2 K 15.30753) wurde die Beklagte verpflichtet, den Klägern innerhalb von vier Wochen ab Rechtskraft des Urteils mitzuteilen, bis wann voraussichtlich über ihren Asylantrag entschieden wird. Mit Schreiben vom 27. August 2015 teilte die Beklagte dem Klägerbevollmächtigten mit, dass nach Anhörung der Kläger eine Entscheidung bis Anfang 2016 möglich sei.

Am 26. August 2015 übermittelte das BAMF dem Klägerbevollmächtigten per Telefax (und möglicherweise zusätzlich mit einfachem Brief) eine Ladung der Kläger zur persönlichen Anhörung am 6. Oktober 2015.

Mit Schreiben des BAMF vom 6. Oktober 2015 wurde dem Klägerbevollmächtigten mitgeteilt, dass die Kläger den anberaumten Termin zur persönlichen Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht wahrgenommen hätten. Dem Bevollmächtigten werde Gelegenheit gegeben, innerhalb eines Monats schriftlich zu den Asylgründen Stellung zu nehmen. Sollte innerhalb eines Monats keine Antwort eingehen, entscheide das BAMF nach Aktenlage.

Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2015 teilte der Bevollmächtigte dem BAMF mit, dass er die Ladung der Kläger zur persönlichen Anhörung am 26. August 2015 an deren aktuelle Anschrift weitergeleitet habe. Die Kläger hätten ihm am 8. Oktober 2015 mitgeteilt, die Ladung nicht erhalten zu haben. Es werde darum gebeten, einen neuen Anhörungstermin zu bestimmen.

Mit Bescheid des BAMF vom 24. November 2015 (am 30. November 2015 zur Post gegeben), wurden der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), der Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) und der subsidiäre Schutzstatus (Ziffer 3.) jeweils abgelehnt, wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.) und wurden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung (im Fall der Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens) zu verlassen, anderenfalls würden sie nach Iran oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziffer 5.). In Ziffer 6. des Bescheids wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde in dem Bescheid im Wesentlichen ausgeführt: Die Kläger seien ohne genügende Entschuldigung zum Anhörungstermin nicht erschienen. Die Ladung sei ordnungsgemäß an den Bevollmächtigten versandt worden. Die Kläger seien im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten nach § 15 AsylG verpflichtet, sicher zu stellen, dass Poststücke des Bundesamts bei ihnen ankommen. Dies gelte auch bei Vertretung durch einen Rechtsanwalt. Etwaige Übermittlungsfehler zwischen den Klägern und ihrem Bevollmächtigten seien nicht Sache des Bundesamts. Es sei nach Aktenlage und „unter Berücksichtigung der Nichtmitwirkung“ zu entscheiden gewesen. Von der Möglichkeit, ihren ernsthaften und dauerhaften Übertritt zum Christentum im Rahmen der persönlichen Anhörung glaubhaft zu machen, hätten die Kläger keinen Gebrauch gemacht. Bereits das „augenscheinliche Desinteresse an der Weiterführung des Asylverfahrens“ lasse eine Verfolgungsfurcht oder einen ernsthaften Schaden im Heimatland unglaubhaft erscheinen. Allein aufgrund der in Deutschland erfolgten Taufe drohten den Klägern bei ihrer Rückkehr in den Iran nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen.

Am 11. Dezember 2015 erhoben die Kläger gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht München. Sie beantragten zuletzt,

den Bescheid des BAMF vom 24. November 2015 in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. aufzuheben,

hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des BAMF vom 24. November 2015 in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. zu verpflichten, die Kläger als Flüchtlinge gemäß § 3 Abs. 1 AsylG anzuerkennen, hilfsweise, den Klägern subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Iran vorliegen.

Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 18. Januar 2016 im Wesentlichen ausgeführt: Die Behauptung im angefochtenen Bescheid, die Asylantragsteller seien ohne genügende Entschuldigung zum Termin nicht erschienen, sei ebenso unzutreffend wie die, sie hätten innerhalb der ihnen gesetzten Frist die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme nicht wahrgenommen. Richtig sei, dass die Ladung auf den 6. Oktober 2015 die Kläger nicht erreicht habe. Dies sei weder das Verschulden der Kläger noch das ihres Bevollmächtigten gewesen. Die Ladung sei an die zutreffende Adresse weitergegeben worden, aber bei den Klägern nicht angekommen. Ob ein Postverschulden oder ein Verschulden des Hotels, in dem sie untergebracht sind, vorliege, habe nicht geklärt werden können. Die Behauptung, die Kläger hätten ihre Mitwirkungsverpflichtung verletzt, sei unzutreffend. Hierzu zähle nicht, dass ein Asylsuchender Verantwortung für die Deutsche Post oder den Hotelbetreiber übernehmen müsse. Auch der Rechtsanwalt habe nicht für diese einzustehen, vielmehr genüge er seinen Pflichten, wenn er die Postsendung rechtzeitig in den Briefkasten gebe. Das BAMF beschneide bewusst die Rechte der Kläger, obwohl ihm der Glaubensübertritt bekannt sei und die verwendeten Textbausteine zutreffend ausführten, dass dann, wenn eine ernsthafte und dauerhafte religiöse Überzeugung Grundlage des Glaubens sei, eine Verfolgung stattfinde. Es sei zynisch, wenn den Klägern dann wegen eines Postfehlers vorgehalten werde, sie hätten von der Möglichkeit, ihren ernsthaften und dauerhaften Glaubensübertritt vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht. Im Übrigen werden die Asylgründe der Kläger weiter erläutert.

Die Beklagte äußerte sich, von der Aktenvorlage am 22. Dezember 2015 abgesehen, nicht weiter zum Verfahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Gründe

Über die Verwaltungsstreitsache konnte aufgrund der Erklärungen der Beteiligten (Schriftsatz der Klägerseite vom 9. Februar 2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24. Juni 2015) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die zulässige Klage ist im Hauptantrag begründet.

Die Kläger wurden, ohne dass sie dies zu vertreten hätten, vor der abschließenden Entscheidung des BAMF über ihren Asylantrag verfahrensfehlerhaft nicht persönlich angehört (nachfolgend 1.). Im vorliegenden Einzelfall ist dieser Verfahrensfehler der Beklagten auch nicht deswegen als unbeachtlich anzusehen, weil das Verwaltungsgericht die Sache durch Anhörung der Kläger im gerichtlichen Verfahren selbst spruchreif machen und „durchentscheiden“ könnte (nachfolgend 2.). Der Bescheid des BAMF war deshalb (soweit er nicht bereits Bestandskraft erlangte) in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. aufzuheben, da er rechtswidrig ist und die Kläger in ihrem Recht auf Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO.

1. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AsylG, unter denen über den Asylantrag der Kläger ohne deren persönliche Anhörung durch das BAMF nach Aktenlage entschieden werden dürfte, waren nicht gegeben. Vorliegend haben die Kläger den Anhörungstermin am 6. Oktober 2015 nicht schuldhaft versäumt, es liegt weder eigenes noch ihnen zurechenbares Verschulden ihres Bevollmächtigten vor.

Die Beklagte entschied über den Asyl(erst)antrag der Kläger ohne Durchführung einer persönlichen Anhörung der Kläger, weil sie der Auffassung war, dass die Kläger ihre Mitwirkungspflichten verletzt hätten. Sie hätten unentschuldigt einer Ladung zu einem Termin zur persönlichen Anhörung nicht Folge geleistet. Dem ist nicht zu folgen:

Nach Aktenlage und aufgrund der von anwaltlicher Seite versicherten, dem Gericht nicht zweifelhaft erscheinenden Sachverhaltsdarstellung, übermittelte das BAMF die Ladung zur persönlichen Anhörung der Kläger (nur) dem Bevollmächtigten der Kläger am 26. August 2015 per Telefax (und möglicherweise zusätzlich mit einfachem Brief). Der Bevollmächtigte der Kläger leitete die Ladung am gleichen Tag mit einfachem Brief an seine Mandanten weiter, die ihren Aufenthalt schon seit längerer Zeit in einer Unterkunft in ... („Hotel ...“) zu nehmen haben. Dieses Schreiben hat die Kläger aus nicht weiter aufklärbaren Umständen jedoch nicht persönlich erreicht. Auf das Schreiben des BAMF an den Bevollmächtigten vom 6. Oktober 2015, dass wegen der unentschuldigten Versäumnis des Anhörungstermins nun Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben werde (§ 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG), antwortete der Bevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2015, schilderte den Sachverhalt und bat darum, einen neuen Anhörungstermin zu bestimmen. Hierauf erging ohne weitere Reaktion der Beklagten der streitgegenständliche Bescheid.

§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören (eine der in § 24 Abs. 1 Sätze 4 bis 6 AsylG gesetzlich geregelte Ausnahmen hiervon ist zweifelsfrei nicht einschlägig). Mit dieser Pflicht des BAMF korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG Rn. 14), die persönliche Anhörung eines Asylbewerbers bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten Verfahrens vor dem BAMF (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 24 AsylVfG Rn. 8).

Die Verpflichtung des BAMF zur Anhörung entfällt auch nicht nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG, wonach von der persönlichen Anhörung abgesehen werden kann, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung „ohne genügende Entschuldigung nicht folgt“. Vorliegend haben die Kläger den Anhörungstermin am 6. Oktober 2015 nicht schuldhaft versäumt, es liegt weder eigenes noch ihnen zurechenbares Verschulden ihres Bevollmächtigten vor.

Das Gericht hat keine Zweifel am Vortrag des Klägerbevollmächtigten, dass die Ladung zur Anhörung von den Klägern in deren Unterkunft in ... aus Gründen, die diese nicht zu vertreten haben, nicht zur Kenntnis genommen werden konnte. Insoweit sind auch die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles zu berücksichtigen: Die Kläger haben nicht nur im Jahr 2014 mehrfach gegenüber dem BAMF ihren Wunsch, nunmehr persönlich angehört zu werden, artikuliert. Sie haben vor allem auch mit der Durchführung des früheren gerichtlichen Verfahrens, in dem sie die Verpflichtung der Beklagten erstritten, ihnen den voraussichtlichen Entscheidungszeitpunkt für ihren Asylantrag zu benennen, ihr ernsthaftes Interesse am Fortgang ihres Asylverfahrens mehr als deutlich dokumentiert. Auch sind generell betrachtet die Erfolgschancen in Asylverfahren iranischer Asylbewerber, die zum Christentum konvertierten, jedenfalls nicht als schlecht zu bezeichnen. Beide Faktoren zeigen, dass die Kläger kein Interesse an einer Verzögerung, sondern gerade ein Interesse am Fortgang ihres Asylverfahrens haben. Im Übrigen hat auch die Beklagte keinen Anhaltspunkt für ein eigenes schuldhaftes Handeln der Kläger vorgetragen. Anzumerken bleibt, dass dem Gericht bei einer Würdigung des bisherigen Verlaufs des Asylverfahrens der Kläger die Einschätzung der Beklagten im Bescheid, es läge ein „augenscheinliches Desinteresse an der Weiterführung des Asylverfahrens“ vor, unverständlich erscheint.

Auch den Bevollmächtigten der Kläger trifft kein Verschulden (weshalb die Frage einer Zurechnung möglichen Verschuldens des Bevollmächtigten nicht weiter erörtert werden muss). Das BAMF durfte sich bei der Übermittlung der Ladung der Kläger nach § 14 Abs. 3 VwVfG grundsätzlich nur an den Bevollmächtigten halten. Dabei traf das BAMF keine generelle Verpflichtung, die Ladung dem Bevollmächtigten förmlich zuzustellen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2015, § 25 AsylVfG Rn. 23), vorliegend ist der Zugang der formlos übermittelten Ladung beim Bevollmächtigten ohnehin unstreitig. Mit der (ordnungsgemäß adressierten und frankierten) Weiterleitung dieser Ladung auf dem Postweg hat der Bevollmächtigte der Kläger indes die ihn treffenden Verpflichtungen erfüllt. Denn der Absender eines Briefs darf - soweit und solange ihm nicht entgegenstehende Anhaltspunkte bekannt sind oder werden - darauf vertrauen, dass ein rechtzeitig ordnungsgemäß mit der Deutschen Post versandtes Schriftstück nicht auf dem Postweg verloren geht, sondern dass die Adressaten die Möglichkeit der Kenntnisnahme erlangen (vgl. Kallerhoff in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 32 Rn. 25).

Von einem Bevollmächtigten kann im Regelfall (Ausnahmen wären denkbar etwa bei einer bekannt unzuverlässigen Zustellungspraxis in bestimmten Einrichtungen oder Unterkünften, in Zeiten eines Poststreiks, etc.) nicht verlangt werden, dass er sich stets darüber hinaus, etwa durch eine telefonische Nachfrage bei den Empfängern oder durch generelle förmliche Zustellung an seine Mandanten, vergewissert, dass seine Mandanten die Postsendung tatsächlich erhalten haben. Damit würde im Verhältnis des Bevollmächtigten zu seinem Mandanten ein „Mehr“ gegenüber dem Verhältnis des BAMF zum Bevollmächtigten oder Asylbewerber direkt (in denen jeweils eine Zustellung der Ladung zur Anhörung nicht vorgeschrieben ist) verlangt und eine nicht mehr akzeptable Risikoverlagerung zulasten eines Bevollmächtigten im Asylverfahren vorgenommen.

Nachdem die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG nicht gegeben waren, musste der Bevollmächtigte der Kläger auch nicht innerhalb der Monatsfrist nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG die Asylgründe schriftlich darlegen, sondern durfte - wie geschehen - um die nochmalige Anberaumung eines Anhörungstermins bitten. Bei hinreichender Entschuldigung i. S. v. § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG ist ein neuer Termin zu bestimmen (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2015, § 25 AsylVfG Rn. 33; Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 23).

Damit kommt es auch nicht mehr darauf an, ob der Bescheid des BAMF bereits deshalb aufzuheben gewesen wäre, weil die Beklagte jedenfalls verpflichtet gewesen wäre, hinsichtlich des Unterbleibens einer persönlichen Anhörung der Kläger Ermessen auszuüben, wofür der Wortlaut des § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG „kann“ sprechen könnte. Hierfür findet sich im angefochtenen Bescheid kein Anhaltspunkt.

2. Im vorliegenden Einzelfall ist dieser Verfahrensfehler der Beklagten auch nicht deswegen als unbeachtlich anzusehen, weil das Verwaltungsgericht die Sache durch Anhörung der Kläger im gerichtlichen Verfahren selbst spruchreif machen und „durchentscheiden“ könnte.

Nach gefestigter obergerichtlichen Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. BVerwG, U. v. 10.2.1998 - 9 C 28/97 - juris Rn. 9). Dies wird grundsätzlich auch in den Fällen einer zu Unrecht unterbliebenen Anhörung eines Asylbewerbers angenommen (OVG NRW, B. v. 21.4.1997 - 23 A 2412/96.A - juris Rn. 9; HessVGH, B. v. 26.3.1991 - 12 TG 2541/90 - juris Rn. 3). Deshalb ist § 113 Abs. 3 VwGO in Fällen asylrechtlicher Anfechtungsklagen als Ausnahmeregelung anzusehen, von der „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, B. v. 8.10.2012 - 21 ZB 12.30312 - juris Rn. 8). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt insoweit ferner aus (a.a.O, Rn. 9 f.):

„Hieraus folgt, dass nicht schon dann, wenn die Ermittlungen des Bundesamtes ein Defizit aufweisen und damit eine Sachaufklärung durch das Gericht notwendig wird, eine Anwendung des § 113 Abs. 3 VwGO gerechtfertigt ist. § 113 Abs. 3 VwGO will nicht den Verwaltungsgerichten unter Zurückstellung einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits eine zügige Erledigung ermöglichen, vielmehr soll sich das Gericht lediglich unter engen Voraussetzungen entlasten dürfen. Dabei ist vor allem in asylrechtlichen Streitigkeiten zu sehen, dass zum einen die Verwaltungsgerichte durch eine intensive Befassung mit diesem Rechtsgebiet in der Regel auch personell und sachlich mittlerweile gut ausgestattet sind, um notwendige Sachaufklärungsmaßnahmen durchzuführen, und dass zum anderen diese Streitigkeiten nach dem Willen des Gesetzgebers beschleunigt abgewickelt werden sollen. Daraus folgt für die Gerichte, dass sie in aller Regel die Maßnahmen zu ergreifen haben, die eine endgültige und zügige Erledigung des Rechtsstreits bewirken. Aus diesen Gründen wird es in vielen Fällen an den Voraussetzungen des § 113 Abs. 3 VwGO fehlen. Im Einzelfall kann es jedoch Ausnahmen geben, die sich dadurch auszeichnen, dass Sachaufklärungsmaßnahmen notwendig sind, die das normale Maß nicht unerheblich überschreiten, die mit der personellen und sachlichen Ausstattung des Bundesamtes besser zu bewältigen sind und die bei sorgfältiger Durchführung dort auch ohne Verzögerung eine endgültige Klärung des Falles erwarten lassen. Allenfalls in diesem engen Rahmen verbleibt bei asylrechtlichen Anfechtungsklagen ein Anwendungsbereich des § 113 Abs. 3 VwGO (vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz vom 4.4.2005 Az. 7 A 10387/05 ).

Ob die Voraussetzungen für einen solchen Ausnahmefall vorliegen, lässt sich allerdings nur einzelfallbezogen und nicht in verallgemeinerungsfähiger Form klären.“

Im vorliegenden Einzelfall bestehen die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles in diesem Sinne:

Die Kläger stützen ihren Asylantrag insbesondere auf ihre Konversion zum Christentum. In derartigen Fällen kommt es bei iranischen Staatsangehöriger sowohl nach Auffassung der Beklagten (siehe die Ausführungen auf Seite 4 des streitgegenständlichen Bescheids) als auch nach der überwiegenden Rechtsprechung (vgl. z. B. VG München, U. v. 23.9.2014 - M 2 K 14.30777 m. w. N.) ganz wesentlich auf die Frage an, ob die Konversion zum Christentum auf einer ernsthaften inneren Glaubensüberzeugung beruht, mithin eine die religiöse Identität eines Asylbewerbers prägende und nicht lediglich auf Opportunitätserwägungen oder asyltaktischen Gründen beruhende Hinwendung zum christlichen Glauben vorliegt. Diese im Vergleich mit durchschnittlichen Asylverfahren eher schwierig zu klärende Frage lässt sich in aller Regel nur im Wege einer intensiven persönlichen Befragung des Asylbewerbers und nachfolgenden Gesamtwürdigung des dabei gewonnenen Eindrucks vom inhaltlichen Vortrag und von der Persönlichkeit des Asylbewerbers aufklären. Die Bedeutung der persönlichen Anhörung des Asylbewerbers nach § 25 AsylG geht in diesen Fällen noch über die - bereits oben dargestellte - generell hohe Bedeutung der Anhörung zur Wahrung der verfahrensrechtlichen Gewährleistungen eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens hinaus: Ohne eine persönliche Anhörung des Asylbewerbers erscheint nicht nur eine sachgerechte inhaltliche Entscheidung des BAMF in diesen Fällen nicht ansatzweise vorstellbar. Eine durch Dolmetscher begleitete, durch einen Einzelentscheider sorgfältig durchgeführte und dokumentierte Befragung eines iranischen Konvertiten bereits im behördlichen Verfahren stellt im Fall der inhaltlichen Ablehnung seines Asylantrags durch das BAMF nach den Erfahrungen der Kammer auch im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren - zugunsten wie zulasten eines Asylbewerbers - eine wesentliche Entscheidungsgrundlage und -hilfe für eine korrekte, das Asylverfahren in der Regel abschließende verwaltungsgerichtliche Entscheidung dar (vgl. auch HessVGH, U. v. 11.8.1981 - X OE 634/81 - NVwZ 1982, 136/137: „Durch ein Gespräch zwischen dem Asylbewerber und den Bediensteten des Bundesamtes, die die notwendige Sachkunde besitzen und mit den politischen Verhältnissen im Herkunftsland hinreichend vertraut sind, kann am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen des Vorbringens durch gezielte Rückfragen auf der Stelle nachgegangen werden kann.“). Gerade in Fällen wie denjenigen iranischer Konvertiten, in denen beispielsweise die zeitliche Abfolge der einzelnen Schritte der Hinwendung zu einem anderen Glauben wesentliche Bedeutung erlangen kann, können durch eine unterbliebene Anhörung vor dem BAMF wesentlichen Beurteilungskriterien hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Vortrags des Asylbewerbers entfallen. Insoweit dient die behördliche Anhörung nicht nur dem Asylbewerber, dem aufgrund des überwiegend auf eine gerichtliche Tatsacheninstanz begrenzten gerichtlichen Verfahrens ein wesentlicher Verfahrensschritt zur Glaubhaftmachung seiner Asylgründe genommen werden würde. Sie dient ebenso nicht unwesentlich der zusätzlichen und besseren Absicherung einer materiell richtigen abschließenden Gerichtsentscheidung über den Asylantrag. Hierdurch werden auch die Voraussetzungen des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO belegt, wonach die (bloße) Aufhebung des Bescheids „auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich“ sein und es sich um nach Art und Umfang „erhebliche“ Ermittlungen der Behörde handeln muss.

Insoweit gelten hier auch die von der bereits zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung angeführten Argumente, dass eine beim BAMF zu Unrecht unterbliebene Anhörung des Asylbewerbers im Hinblick auf den Rechtsschutz für sein Asylbegehren keine nicht mehr behebbaren tatsächlichen oder rechtlichen Nachteile habe und dass das Bundesamt nicht über eine besondere Sachkunde bei der Aufklärung von Tatsachen besitze, über welche die Verwaltungsgerichte nicht verfügten (HessVGH, B. v. 26.3.1991 - 12 TG 2541/90 - juris Rn. 3), nicht ohne Weiteres.

Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer jedenfalls im vorliegenden Einzelfall einen Ausnahmefall, der es rechtfertigt, wegen der zu Unrecht unterbliebenen persönlichen Anhörung der Kläger vor dem BAMF den Fall nach § 113 Abs. 3 VwGO zur Durchführung der Anhörung an die Beklagte „zurückzuverweisen“ (ebenso generell: VG Meiningen, U. v. 3.4.1998 - 8 K 20107/96.Me - juris Rn. 18 ff.; VG Düsseldorf, U. v. 25.3.1994 - 25 K 9577/93.A - juris; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 24 Rn. 55 ff.).

Der gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfreien Klage war deshalb bereits im Hauptantrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.

(2) Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt. Der Ausländer kann den Asylantrag auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränken. Er ist über die Folgen einer Beschränkung des Antrags zu belehren. § 24 Absatz 2 bleibt unberührt.

(3) Ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist, hat an der Grenze um Asyl nachzusuchen (§ 18). Im Falle der unerlaubten Einreise hat er sich unverzüglich bei einer Aufnahmeeinrichtung zu melden (§ 22) oder bei der Ausländerbehörde oder der Polizei um Asyl nachzusuchen (§ 19). Der nachfolgende Asylantrag ist unverzüglich zu stellen.

(1) Das Bundesamt klärt den Sachverhalt und erhebt die erforderlichen Beweise. Das Bundesamt unterrichtet den Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens, über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, sowie über freiwillige Rückkehrmöglichkeiten. Der Ausländer ist persönlich anzuhören. Von einer Anhörung kann abgesehen werden, wenn das Bundesamt

1.
dem Asylantrag vollständig stattgeben will oder
2.
der Auffassung ist, dass der Ausländer aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall ist für die Feststellung der Dauerhaftigkeit der Umstände eine ärztliche Bestätigung erforderlich. Wird von einer Anhörung abgesehen, unternimmt das Bundesamt angemessene Bemühungen, damit der Ausländer weitere Informationen unterbreiten kann.
Von der Anhörung ist abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt und der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt ist. Die Tatsache, dass keine Anhörung stattgefunden hat, darf die Entscheidung nicht negativ beeinflussen. Die Entscheidung nach den Sätzen 4 und 7 ergeht nach Aktenlage.

(1a) Sucht eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig um Asyl nach und wird es dem Bundesamt dadurch unmöglich, die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Antragstellung durchzuführen, so kann das Bundesamt die Anhörung vorübergehend von einer anderen Behörde, die Aufgaben nach diesem Gesetz oder dem Aufenthaltsgesetz wahrnimmt, durchführen lassen. Die Anhörung darf nur von einem dafür geschulten Bediensteten durchgeführt werden. Die Bediensteten dürfen bei der Anhörung keine Uniform tragen. § 5 Absatz 4 gilt entsprechend.

(2) Nach Stellung eines Asylantrags obliegt dem Bundesamt auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.

(3) Das Bundesamt unterrichtet die Ausländerbehörde unverzüglich über

1.
die getroffene Entscheidung und
2.
von dem Ausländer vorgetragene oder sonst erkennbare Gründe
a)
für eine Aussetzung der Abschiebung, insbesondere über die Notwendigkeit, die für eine Rückführung erforderlichen Dokumente zu beschaffen, oder
b)
die nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nummer 1 bis 4 des Aufenthaltsgesetzes der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten.

(4) Eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht innerhalb von sechs Monaten. Das Bundesamt kann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn

1.
sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben,
2.
eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen oder
3.
die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 nicht nachgekommen ist.
Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten.

(5) Besteht aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in Absatz 4 genannten Fristen aufgeschoben werden. In diesen Fällen überprüft das Bundesamt mindestens alle sechs Monate die Lage in dem Herkunftsstaat. Das Bundesamt unterrichtet innerhalb einer angemessenen Frist die betroffenen Ausländer über die Gründe des Aufschubs der Entscheidung sowie die Europäische Kommission über den Aufschub der Entscheidungen.

(6) Die Frist nach Absatz 4 Satz 1 beginnt mit der Stellung des Asylantrags nach § 14 Absatz 1 und 2. Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) zu behandeln, so beginnt die Frist nach Absatz 4 Satz 1, wenn die Bundesrepublik Deutschland als für die Prüfung zuständiger Mitgliedstaat bestimmt ist. Hält sich der Ausländer zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundesgebiet auf, so beginnt die Frist mit seiner Überstellung in das Bundesgebiet.

(7) Das Bundesamt entscheidet spätestens 21 Monate nach der Antragstellung nach § 14 Absatz 1 und 2.

(8) Das Bundesamt informiert den Ausländer für den Fall, dass innerhalb von sechs Monaten keine Entscheidung ergehen kann, über die Verzögerung und unterrichtet ihn auf sein Verlangen über die Gründe für die Verzögerung und den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen mit einer Entscheidung zu rechnen ist.

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.

(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.

(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.

(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.

(2) Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt. Der Ausländer kann den Asylantrag auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränken. Er ist über die Folgen einer Beschränkung des Antrags zu belehren. § 24 Absatz 2 bleibt unberührt.

(3) Ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist, hat an der Grenze um Asyl nachzusuchen (§ 18). Im Falle der unerlaubten Einreise hat er sich unverzüglich bei einer Aufnahmeeinrichtung zu melden (§ 22) oder bei der Ausländerbehörde oder der Polizei um Asyl nachzusuchen (§ 19). Der nachfolgende Asylantrag ist unverzüglich zu stellen.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
13 
Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
14 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
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Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
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1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
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2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
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Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
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(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
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(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
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Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger im Hinblick auf die Arabische Republik Syrien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bisher nur ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Syrien festgestellt hat.
Der am … 1995 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger christlichen Glaubens und syrisch-orthodoxer Konfession. Er gehört zur aramäischen Volksgruppe.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trug der Kläger vor, er habe zuletzt bei seinen Eltern in Al-Malikiya (kurdisch: Derik) gelebt. Sein Vater sei Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei. Er sei der jüngste von drei Brüdern. Einer der Brüder leiste seinen Militärdienst ab. Ein anderer Bruder arbeite in Kuweit. Zu seinen Ausreisegründen erklärt der Kläger, er habe mit seinen kurdischen Schulkameraden Probleme gehabt. Ständig seien sie belästigt und beleidigt worden, nur weil sie Christen seien. Von kurdischen Jugendlichen seien sie immer wieder geschlagen worden. Auch die Polizei habe den Christen nicht geholfen. Mehrere Male habe er bei der Polizei Anzeige erstattet. Eine solche Anzeige sei jedoch nicht aufgenommen worden. Im Januar 2011 habe er mit kurdischen Jugendlichen eine Auseinandersetzung gehabt. Dabei habe er einen vorderen Schneidezahn teilweise verloren. Er sei dann mit seinem Vater nach Qamischli gereist, wo ein Schleuser ihn erwartet habe. Mit dem Auto sei er in die Türkei weitergereist und von Schleusern auf einen Lkw verbracht worden, mit dem er in die Bundesrepublik eingereist sei.
Der in Deutschland lebende Onkel des Klägers, zugleich dessen Vormund, führte bei der Anhörung ergänzend aus, der Vater des Klägers sei ein bekannter Rechtsanwalt. Er wolle, dass der Kläger in Sicherheit gebracht werde. Der Bruder des Klägers, der Wehrdienst ableiste, sei in Sicherheit: Mehr wolle er aktuell dazu aber nichts sagen. Er wolle in Syrien niemand gefährden.
Mit Bescheid vom 29.08.2012 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen, stellte jedoch fest, dass hinsichtlich Syriens ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG werde wegen der sogenannten Drittstaatenregelung abgelehnt. Es bestehe auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs.1 AufenthG. Der Kläger habe nicht substantiiert und glaubhaft vorgetragen, dass ihm bei Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG drohe. Christen seien allein aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung oder Manifestation dieser Überzeugung keiner asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich relevanten politischen Verfolgung ausgesetzt. Zwar komme es vor allem seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z. B. von bewaffneten Oppositionellen oder auch Deserteuren. Staatlicher Schutz gegen die Bedrohung durch Dritte bzw. nichtstaatliche Akteure könne aber im Einzelfall erlangt werden. Es liege jedoch ein Verbot der Abschiebung gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vor. Nach vorliegenden Erkenntnissen sei für den Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es sei davon auszugehen, dass die Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöse. Misshandlungen drohten auch Jugendlichen und Kindern.
Der Bescheid wurde dem Kläger durch Postzustellungsurkunde am 03.09.2012 zugestellt.
Dagegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 06.09.2012, eingegangen am 10.09.2012, Klage eingereicht und diese wie folgt begründet:
Beim Kläger lägen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Der Kläger habe seine Erlebnisse detailliert und lückenlos vorgetragen und insbesondere auf die ausweglose Lage der Christen in Syrien hingewiesen. Der Kläger habe Syrien verlassen müssen, um nicht Opfer von Blutrache zu werden. Die Cousins des Klägers väterlicherseits, X.Z. und Y.Z., hätten in der von Kurden geprägten Stadt Malikiya eine Metzgerei geführt. Eine Gruppe von Kurden sei in den Laden der Gebrüder Z. gekommen und habe Leber bestellt. Der X.Z. habe der Gruppe gesagt, dass die Leber bereits ausverkauft sei. Die Kurden hätten zum X. gesagt, wenn Du keine Leber hast, dann wollen wir Deine Leber haben. Es sei zu einem Tumult in der Metzgerei gekommen. Dabei sei der X. von der Gruppe geschlagen worden. Der Y. sei seinem Bruder zur Hilfe gekommen. Die Polizei habe die streitenden Parteien getrennt. Nachdem die Polizei weggegangen sei, sei eine größere Gruppe von Kurden mit mindestens 100 Personen in der Metzgerei erschienen. Die Kurden seien auf Lastkraftwagen zu dem Geschäft gekommen. Auf der anderen Seite seien christliche Jugendliche den beiden Brüdern zur Hilfe geeilt. Es sei zu einer Straßenschlacht gekommen, bei der ein Kurde getötet worden sei. Infolgedessen sei für die Dauer von drei Tagen die Stadt von Kurden beherrscht worden. Sie hätten christliche Geschäfte geplündert und die Fahrzeuge der Christen beschädigt. Es habe für drei Tage Chaos in der Stadt geherrscht. Die Kurden hätten die Familie Z. für den Tod des Kurden verantwortlich gemacht. Die Brüder X.Z. und Y.Z. und ein Onkel des Klägers seien anschließend festgenommen worden, obwohl sie keine Schuld am Tod des Kurden getroffen habe. Nach sechs Monaten seien die drei freigekauft worden. Eine Freilassung sei nur mit Hilfe von in Europa lebenden Aramäern möglich gewesen. Es sei viel Geld für die Familie Z. gesammelt worden, um durch Zahlung von Geld die schuldlosen Männer befreien zu können. Über den Vorgang sei auch in dem aramäischen Fernsehsender und in der assyrischen Presse ausgiebig berichtet worden. Die Kurden hätten gegen die Familie Z. Blutrache geschworen, insbesondere gegen die Brüder X.Z. und Y.Z., wobei letztere dann nach Schweden geflüchtet seien. Dort hätten die Brüder Asyl erhalten. Der Vater des Klägers habe aus Sorge um seine Kinder zunächst seine älteren Söhne aus Syrien weggeschafft. Einer der Brüder des Klägers sei nach Kuweit, der andere mittlerweile nach Schweden geflüchtet. Der Vater des Klägers sei zunächst davon ausgegangen, dass dem Kläger keine Gefahr drohe, weil er noch jung sei. Allerdings sei die Lage für den Kläger mit Beginn des Aufstandes in Syrien immer bedrohlicher geworden. Die Kurden profitierten von der rechtslosen Lage und von der in Syrien mittlerweile herrschenden Anarchie. Als der Vater des Klägers bemerkt habe, dass sein jüngster Sohn auch in Gefahr sei, habe er sich kurzerhand entschlossen, dessen Leben durch eine Flucht zu retten. In ländlichen Regionen werde Blutrache sehr oft ausgeübt. Vor allem bei der Volksgruppe der Kurden werde Blutrache traditionsbedingt sehr groß geschrieben. Die Kurden verübten teilweise ihre Blutrache auch noch nach 40 Jahren. Außerdem sei die Volksgruppe der Aramäer bzw. die Angehörigen des christlichen Glaubens in Syrien einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Die Christen stünden zwischen den Rebellen in Syrien und der syrischen Regierung in einer ausweglosen Lage. Dies syrische Regierung nutze die Christen als Schutzschilde aus. Sie bombardierten auch Kirchen und töteten Christen, um dies den Rebellen unterzuschieben. Andererseits würden die Christen von den Rebellen als vogelfrei angesehen, entführt und getötet. Mittlerweile sei gegen die Christen auch der „Jihad“ ausgerufen worden.
Der Kläger beantragt,
10 
Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf Syrien vorliegen.
11 
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
12 
die Klage abzuweisen,
13 
und sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung bezogen.
14 
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Seine Angaben ergeben sich aus der Anlage zum Sitzungsprotokoll.
15 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
16 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer (§ 87 a Abs. 1 und 2 VwGO).
17 
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Arabischen Republik Syrien vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG. Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger i.S.v. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO in seinen Rechten. Maßgeblich für diese Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
18 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
19 
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG setzt ebenso wie die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG voraus, dass dem Betroffenen in seinem Herkunftsstaat bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat zurückzukehren oder, falls der Betroffene unter dem Druck bereits bestehender politischer Verfolgung ausgereist ist, eine solche Verfolgung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
20 
Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt weiter voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris).
21 
Es kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist.
22 
Das Gericht glaubt dem Kläger zwar die im Klageverfahren detailliert geschilderten Vorkommnisse um seine Cousins X.Z. und Y.Z., die den Vater des Klägers offensichtlich (mit-)veranlasst haben, seine Söhne außer Landes zu bringen. Ob der Kläger in diesem Zusammenhang zum Zeitpunkt seiner Ausreise aber tatsächlich konkret von Blutrache bedroht war, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls stellt die vom Kläger angenommene Gefahr keine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar, da sie nicht an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpft. An ein solches Merkmal wie etwa die ethnische Zugehörigkeit, die politische Überzeugung oder die religiöse Grundentscheidung knüpft Blutrache nicht an. Sie ist vielmehr eine archaische Reaktion auf die Tötung eines Mannes, eine Genugtuung für das vergossene Blut und die Beeinträchtigung der Familienehre.
23 
Es kann auch offen bleiben, ob der Kläger unter den gegenwärtig in Syrien herrschenden Bedingungen wegen seines christlichen Glaubens von Verfolgung bedroht ist, er insbesondere vor Übergriffen Dritter staatlichen Schutz erlangen kann. Das Bundesamt ist in seiner Entscheidung zwar selbst davon ausgegangen, dass es seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z.B. bewaffneter Oppositioneller, gegen Christen komme, meint aber, dagegen könne staatlicher Schutz erlangt werden. Dies erscheint schon deshalb fraglich, weil das syrische Regime im Norden immer mehr die Kontrolle verliert und die Grenzstadt Malikiya (kurdisch Derik) im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak wohl von kurdischen Aufständischen beherrscht wird (vgl. etwa NZZ online vom 22.07.2012 „Kurden kontrollieren drei Städte“; eine politische Verfolgung von Christen in Syrien zuletzt verneinend z.B. VG Augsburg, Urteil vom 08.02.2012 - Au 6 K 11.30037 -, m.w.N., juris). Fraglich ist auch, ob der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann.
24 
Ohne dass es für dieses Verfahren noch entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf hingewiesen, dass der Kammer nach der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2013 eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages über die prekäre Lage der Christen in Syrien zugegangen ist (Nr. 09/13 vom 18. März 2013). Nach diesem Bericht häufen sich seit dem verheerenden Brandanschlag vom 11. Februar 2012 in Aleppo, dem 28. Christen zum Opfer fielen, die gewaltsamen Übergriffe gegen diese Minorität. Als einzig nicht-muslimische Glaubensgruppe würden sie von allen Konfliktparteien gleichermaßen der Kollaboration mit dem jeweiligen Gegner verdächtigt, liefen also Gefahr, infolge ihrer Religion zwischen den sich verhärtenden Fronten aufgerieben zu werden. Nach Ansicht führender Regierungsgegner könnten sich Christen nur dadurch vom Verdacht der Kumpanei mit dem Assad-Regime befreien, dass sie kollektiv zu den Aufständischen übertreten würden. Dazu jedoch seien viele Christen nicht bereit. Sie fürchteten, die ursprünglich demokratisch motivierte Opposition, mit deren Zielen sie sympathisierten, sei längst von Gruppierungen unterwandert, die eine mit westlichen Rechtsstaatsvorstellungen unvereinbare Politik betrieben. Auch andere Beobachter befürchteten, die Opposition werde zunehmend von Al Kaida, den Muslimbrüdern oder den Salafisten beeinflusst, und es gehe mittlerweile weniger um die Verbreitung von Demokratie als um die Etablierung einer am Koran orientierten Rechtsordnung.
25 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Änderung nicht absehbar ist, droht dem Kläger jedenfalls derzeit wegen seiner illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt im Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG.
26 
Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (S. 19 f.) wurden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nach Syrien zurückgeführt worden sind, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt und z.T. (mehrwöchig) inhaftiert. Bereits vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März 2011 lagen in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Erkenntnissen über willkürliche Verhaftungen sowie über körperliche und psychische Misshandlungen von abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen durch syrische Behörden, insbesondere den syrischen Geheimdienst, vor (vgl. dazu Urteil der Kammer vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 -, juris, mit ausführlichen Nachweisen). Nach gegenwärtiger Erkenntnislage ist beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger im Rahmen der mit einer Einreise nach Syrien verbundenen Überprüfung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme mit der Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung droht, weil einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen wird. Dabei kann dahin stehen, ob der Kläger tatsächlich eine regimefeindliche politische Einstellung vertritt. Gemäß Art. 10 Abs. 2 der RL 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden oder er sie auch nur vermutet (vgl. dazu Treiber in GK-AufenthG, § 60 Rn. 150 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Die dem Kläger bei einer Wiedereinreise drohende Überprüfung mit der beachtlichen Gefahr asylrelevanter Behandlung stellt damit politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar.
27 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie den allgemein zugänglichen Informationen geht das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor und hat dabei inzwischen bis zu 70.000 Tote in Kauf genommen (vgl. Zeit online vom 23.02.2013: „In dem Konflikt, der sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt hat, wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 70.000 Menschen getötet“). Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Syrien vom 17.02.2012 war bereits zu diesem Zeitpunkt von über 40.000 Verhafteten und Verschwundenen auszugehen. Seit März 2011 seien zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte (u.a. eines 13-jährigen Jungen) und Mordanschläge belegt. Das Regime gehe in einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung vor. Unliebsame öffentliche Äußerungen würden auf der Grundlage der Strafgesetze verfolgt, Medienvertreter inhaftiert oder getötet, die Internetnutzung mit ausgefeilter Software überwacht. Obwohl die syrische Verfassung Folter verbiete, werde von Polizei, Justizvollzugsorganen und Sicherheitsdiensten systematisch Gewalt angewandt. Das Individuum könne sich de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbhiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste komme es zu Drohungen, körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. Nach einem aktuellen Bericht der Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen seien rücksichtsloser und weit verbreiteter Beschuss, die regelmäßige Bombardierung von Städten, Massenmorde und das absichtliche Schießen auf zivile Ziele mittlerweile typisch für das tägliche Leben der Zivilisten in Syrien (Spiegel online vom 11.03.2013). Das Ausland bis auf Russland und China hat sich gegen das syrische Regime gestellt und die Abdankung von Staatspräsident Assad gefordert. Auch die Arabische Liga hat sich dieser Haltung angeschlossen (vgl. etwa Wikipedia, Bürgerkrieg in Syrien, Internationale Reaktionen). Nach mehrfach geäußerter Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist (vgl. etwa das Interview mit Syriens Vize-Außenminister in Spiegel online vom 05.02.2013).
28 
Angesichts der dargestellten gegenwärtigen Menschenrechtslage, des Überlebenskampfes des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland ist davon auszugehen, dass der syrische Staat gegenüber Handlungen wie der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung oder dem längeren Auslandsaufenthalt in hohem Maße unduldsam ist, sie als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansieht und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Diese sind als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 17.12.2012 - 5 K 858/10.KS.A -, nicht veröffentlicht; VG Aachen, Urteile vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - und 21.10.2011 - 9 K 1005/10.A -, jeweils juris; s. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 -, juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 -, juris; VG Chemnitz - A 5 K 390/06 -, juris; dazu, dass gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden droht, vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris).
29 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 und 2 und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Gründe

 
16 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer (§ 87 a Abs. 1 und 2 VwGO).
17 
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Arabischen Republik Syrien vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG. Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger i.S.v. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO in seinen Rechten. Maßgeblich für diese Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
18 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
19 
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG setzt ebenso wie die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG voraus, dass dem Betroffenen in seinem Herkunftsstaat bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat zurückzukehren oder, falls der Betroffene unter dem Druck bereits bestehender politischer Verfolgung ausgereist ist, eine solche Verfolgung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
20 
Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt weiter voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris).
21 
Es kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist.
22 
Das Gericht glaubt dem Kläger zwar die im Klageverfahren detailliert geschilderten Vorkommnisse um seine Cousins X.Z. und Y.Z., die den Vater des Klägers offensichtlich (mit-)veranlasst haben, seine Söhne außer Landes zu bringen. Ob der Kläger in diesem Zusammenhang zum Zeitpunkt seiner Ausreise aber tatsächlich konkret von Blutrache bedroht war, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls stellt die vom Kläger angenommene Gefahr keine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar, da sie nicht an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpft. An ein solches Merkmal wie etwa die ethnische Zugehörigkeit, die politische Überzeugung oder die religiöse Grundentscheidung knüpft Blutrache nicht an. Sie ist vielmehr eine archaische Reaktion auf die Tötung eines Mannes, eine Genugtuung für das vergossene Blut und die Beeinträchtigung der Familienehre.
23 
Es kann auch offen bleiben, ob der Kläger unter den gegenwärtig in Syrien herrschenden Bedingungen wegen seines christlichen Glaubens von Verfolgung bedroht ist, er insbesondere vor Übergriffen Dritter staatlichen Schutz erlangen kann. Das Bundesamt ist in seiner Entscheidung zwar selbst davon ausgegangen, dass es seit Ende 2011 vermehrt zu Übergriffen nichtstaatlicher Akteure, z.B. bewaffneter Oppositioneller, gegen Christen komme, meint aber, dagegen könne staatlicher Schutz erlangt werden. Dies erscheint schon deshalb fraglich, weil das syrische Regime im Norden immer mehr die Kontrolle verliert und die Grenzstadt Malikiya (kurdisch Derik) im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak wohl von kurdischen Aufständischen beherrscht wird (vgl. etwa NZZ online vom 22.07.2012 „Kurden kontrollieren drei Städte“; eine politische Verfolgung von Christen in Syrien zuletzt verneinend z.B. VG Augsburg, Urteil vom 08.02.2012 - Au 6 K 11.30037 -, m.w.N., juris). Fraglich ist auch, ob der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann.
24 
Ohne dass es für dieses Verfahren noch entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf hingewiesen, dass der Kammer nach der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2013 eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages über die prekäre Lage der Christen in Syrien zugegangen ist (Nr. 09/13 vom 18. März 2013). Nach diesem Bericht häufen sich seit dem verheerenden Brandanschlag vom 11. Februar 2012 in Aleppo, dem 28. Christen zum Opfer fielen, die gewaltsamen Übergriffe gegen diese Minorität. Als einzig nicht-muslimische Glaubensgruppe würden sie von allen Konfliktparteien gleichermaßen der Kollaboration mit dem jeweiligen Gegner verdächtigt, liefen also Gefahr, infolge ihrer Religion zwischen den sich verhärtenden Fronten aufgerieben zu werden. Nach Ansicht führender Regierungsgegner könnten sich Christen nur dadurch vom Verdacht der Kumpanei mit dem Assad-Regime befreien, dass sie kollektiv zu den Aufständischen übertreten würden. Dazu jedoch seien viele Christen nicht bereit. Sie fürchteten, die ursprünglich demokratisch motivierte Opposition, mit deren Zielen sie sympathisierten, sei längst von Gruppierungen unterwandert, die eine mit westlichen Rechtsstaatsvorstellungen unvereinbare Politik betrieben. Auch andere Beobachter befürchteten, die Opposition werde zunehmend von Al Kaida, den Muslimbrüdern oder den Salafisten beeinflusst, und es gehe mittlerweile weniger um die Verbreitung von Demokratie als um die Etablierung einer am Koran orientierten Rechtsordnung.
25 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Änderung nicht absehbar ist, droht dem Kläger jedenfalls derzeit wegen seiner illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt im Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein sog. asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG.
26 
Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (S. 19 f.) wurden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nach Syrien zurückgeführt worden sind, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt und z.T. (mehrwöchig) inhaftiert. Bereits vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März 2011 lagen in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Erkenntnissen über willkürliche Verhaftungen sowie über körperliche und psychische Misshandlungen von abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen durch syrische Behörden, insbesondere den syrischen Geheimdienst, vor (vgl. dazu Urteil der Kammer vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 -, juris, mit ausführlichen Nachweisen). Nach gegenwärtiger Erkenntnislage ist beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger im Rahmen der mit einer Einreise nach Syrien verbundenen Überprüfung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme mit der Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung droht, weil einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen wird. Dabei kann dahin stehen, ob der Kläger tatsächlich eine regimefeindliche politische Einstellung vertritt. Gemäß Art. 10 Abs. 2 der RL 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden oder er sie auch nur vermutet (vgl. dazu Treiber in GK-AufenthG, § 60 Rn. 150 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Die dem Kläger bei einer Wiedereinreise drohende Überprüfung mit der beachtlichen Gefahr asylrelevanter Behandlung stellt damit politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG dar.
27 
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie den allgemein zugänglichen Informationen geht das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor und hat dabei inzwischen bis zu 70.000 Tote in Kauf genommen (vgl. Zeit online vom 23.02.2013: „In dem Konflikt, der sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt hat, wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 70.000 Menschen getötet“). Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Syrien vom 17.02.2012 war bereits zu diesem Zeitpunkt von über 40.000 Verhafteten und Verschwundenen auszugehen. Seit März 2011 seien zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte (u.a. eines 13-jährigen Jungen) und Mordanschläge belegt. Das Regime gehe in einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung vor. Unliebsame öffentliche Äußerungen würden auf der Grundlage der Strafgesetze verfolgt, Medienvertreter inhaftiert oder getötet, die Internetnutzung mit ausgefeilter Software überwacht. Obwohl die syrische Verfassung Folter verbiete, werde von Polizei, Justizvollzugsorganen und Sicherheitsdiensten systematisch Gewalt angewandt. Das Individuum könne sich de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbhiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste komme es zu Drohungen, körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. Nach einem aktuellen Bericht der Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen seien rücksichtsloser und weit verbreiteter Beschuss, die regelmäßige Bombardierung von Städten, Massenmorde und das absichtliche Schießen auf zivile Ziele mittlerweile typisch für das tägliche Leben der Zivilisten in Syrien (Spiegel online vom 11.03.2013). Das Ausland bis auf Russland und China hat sich gegen das syrische Regime gestellt und die Abdankung von Staatspräsident Assad gefordert. Auch die Arabische Liga hat sich dieser Haltung angeschlossen (vgl. etwa Wikipedia, Bürgerkrieg in Syrien, Internationale Reaktionen). Nach mehrfach geäußerter Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist (vgl. etwa das Interview mit Syriens Vize-Außenminister in Spiegel online vom 05.02.2013).
28 
Angesichts der dargestellten gegenwärtigen Menschenrechtslage, des Überlebenskampfes des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland ist davon auszugehen, dass der syrische Staat gegenüber Handlungen wie der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung oder dem längeren Auslandsaufenthalt in hohem Maße unduldsam ist, sie als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansieht und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Diese sind als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 17.12.2012 - 5 K 858/10.KS.A -, nicht veröffentlicht; VG Aachen, Urteile vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - und 21.10.2011 - 9 K 1005/10.A -, jeweils juris; s. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 -, juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 -, juris; VG Chemnitz - A 5 K 390/06 -, juris; dazu, dass gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden droht, vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris).
29 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 und 2 und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

Tenor

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Tenor

1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 2013 - 14 A 2663/13.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die ihnen im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Die am 1. Januar 1978 geborene Beschwerdeführerin zu 1. und ihre beiden Kinder, die am 9. Oktober 2008 und am 1. Januar 2011 geborenen Beschwerdeführer zu 2. und 3., sind syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik beantragten sie hier Asyl. Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 28. März 2013 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab und stellte das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG fest. Bei einer Rückkehr nach Syrien sei mit einer Rückkehrerbefragung zu rechnen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöse.

2

2. a) Die Beschwerdeführer klagten gegen diesen Bescheid. Sie beriefen sich auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt und einen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg. Nach diesen Entscheidungen begründe die erwartbare Folter in den vom syrischen Regime durchgeführten Rückkehrerbefragungen die Flüchtlingseigenschaft.

3

b) In der mündlichen Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin zu 1. persönlich angehört und gab an, dass sie zwischenzeitlich auf Internetseiten der syrischen Opposition zwei regimekritische Artikel veröffentlicht habe, in denen sie das Regime unter anderem wegen der Ermordung von Kindern und des Einsatzes von Giftgas kritisiert habe. Als Kurden würden sie und ihre Kinder in Syrien sowohl von den Islamisten als auch von der Regierung verfolgt.

4

c) Mit Urteil vom 8. Oktober 2013 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Die Anerkennung der Beschwerdeführer als Asylberechtigte scheide schon aufgrund der nicht erwiesenen Einreise auf dem Luftweg aus. Die exilpolitischen Aktivitäten der Beschwerdeführerin zu 1. seien zu unwesentlich, um eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für die Beschwerdeführerin zu 1. zu begründen; derartige Aktivitäten seien derzeit bei einer großen Anzahl bisher unpolitischer syrischer Staatsangehöriger zu beobachten und dienten zum Teil ausschließlich zur Schaffung eines Nachfluchtgrundes. Im Übrigen fordere die Beschwerdeführerin zu 1. nicht explizit den Sturz des derzeitigen Regimes, so dass der syrische Geheimdienst hier von einer irrelevanten Aktivität ausgehen werde. Weiterhin sei in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen geklärt, dass die zu erwartende Rückkehrerbefragung lediglich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG begründe. Es sei fernliegend anzunehmen, dass die um ihr Überleben kämpfenden syrischen Machthaber jeden einzelnen Rückkehrer aus dem Ausland verfolgten, der dort einen Asylantrag gestellt habe.

5

3. a) Die Beschwerdeführer beantragten gegen dieses Urteil die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Die Frage, ob Rückkehrern die Flüchtlingseigenschaft oder nur ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen sei, habe grundsätzliche Bedeutung und werde in der zwischenzeitlich überwiegenden Rechtsprechung zu ihren Gunsten entschieden. Weiterhin habe das Gericht gegen die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verstoßen. Es sei nicht erkennbar, woher es die Erkenntnis bezogen habe, dass sich nunmehr viele bislang unpolitische Syrer zur Erlangung des Flüchtlingsstatus exilpolitisch betätigten. Im Übrigen sei das rechtliche Gehör auch dadurch verletzt, dass der Inhalt der Artikel der Beschwerdeführerin zu 1. nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

6

b) Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 9. Dezember 2013 ab. Die von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Fragen seien in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts im Sinne der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geklärt. Die Artikel der Beschwerdeführerin zu 1. habe das Verwaltungsgericht zur Kenntnis genommen, und die Tatsache der exilpolitischen Aktivitäten durch bisher unpolitische Syrer sei allgemeinkundig.

II.

7

1. Die Beschwerdeführer haben am 6. Januar 2014 Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung des Rechts aus Art. 16a Abs. 1 GG, des Rechts aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG rügen. Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, die exilpolitischen Aktivitäten der Beschwerdeführer seien nicht ausreichend, um eine Furcht vor politischer Verfolgung zu begründen, entspreche nicht der Sachlage. Das syrische Regime verfolge jeden, der sich kritisch zu Assad geäußert habe. Das Gericht widerspreche sich selbst, wenn es auf der einen Seite davon ausgehe, dass bei der Rückkehrerbefragung jeder Rückkehrer gefoltert werden könne, zugleich aber meine, dass die syrischen Geheimdienste relevante von irrelevanter Exilopposition unterschieden. Die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge daraus, dass das Verwaltungsgericht nicht auf einer hinreichend sicheren tatsächlichen Grundlage entschieden habe. Schließlich sei Art. 19 Abs. 4 GG durch die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht verletzt. Diese habe schon angesichts der Vielzahl abweichend entscheidender Verwaltungsgerichte erfolgen müssen. Allein eine Klärung für das Land Nordrhein-Westfalen reiche nicht aus.

8

2. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.

III.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwer-de ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet.

10

1. Die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Dieses gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges (vgl. BVerfGE 92, 365 <410>; 104, 220 <231>; 125, 104 <136 f.>; stRspr). Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>; 84, 366 <369 f.>; 125, 104 <137>). Das gleiche gilt, wenn das Prozessrecht - wie hier der § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG - den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>). Aus diesem Grunde dürfen die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können und die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leerläuft (vgl. zuletzt BVerfGE 125, 104 <137> m.w.N.). Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG beziehungsweise § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern in entsprechender Weise für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 AsylG beziehungsweise § 124 Abs. 2 VwGO selbst (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>; BVerfGK 5, 369 <375 f.>; 10, 208 <213>; 15, 37 <46 f.>).

11

Von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des - hier in Rede stehenden - Zulassungsgrundes nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist eine Rechtssache, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung und Anwendung geboten erscheint (vgl. BVerfGE 125, 104 <140>; BVerfGK 10, 208 <214>). Vom Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung ist regelmäßig dann auszugehen, wenn eine bundesrechtliche Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte uneinheitlich beurteilt wird und es an einer Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht fehlt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 1993 - 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 -, NVwZ 1993, S. 465 f.). Bei Tatsachenfragen kommt es regelmäßig nur auf die Klärung des im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts an, weil wegen der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, § 137 Abs. 2 VwGO, eine weitergehende Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht ausscheidet.

12

2. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen einer klärungsbedürftigen grundsätzlichen Frage zu Unrecht verneint. Es ist - wie sich auch aus seinem in Bezug genommenen Beschluss vom 27. Juni 2013 (14 A 1517/13.A -, juris, Rn. 8 ff.) ergibt - davon ausgegangen, dass lediglich eine tatsächliche Frage im Raum stehe. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr wirft die Zulassungsschrift die Rechtsfrage auf, ob auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 14. Februar 2012 (14 A 2708/10.A, juris, Rn. 36 ff.) subsidiärer Schutz - so das Oberverwaltungsgericht - oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (heute § 3 AsylG) - so der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris, Rn. 4) - zu gewähren ist. In seinem Urteil vom 14. Februar 2012 ist das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen davon ausgegangen, dass nicht nur politisch Verdächtigen, sondern allen nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von gravierender Folter drohe. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg begründet seine - bei als identisch angenommener Tatsachengrundlage - vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen abweichende Rechtsauffassung mit einer eingehenden Auswertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der es unerheblich ist, ob der Asylbewerber tatsächlich politisch aktiv war, soweit nur die Behörden des Heimatstaats von einer solchen Betätigung ausgingen (vgl. Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris, Rn. 12). Damit stand eine bundesrechtliche Rechtsfrage im Raum, die nicht - jedenfalls nicht im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - geklärt war. Ihre Einstufung als - zudem geklärte - Tatsachenfrage erschwert den Zugang zur Berufungsinstanz in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise.

13

3. Ist der Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund stattzugeben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen, so bedarf es keiner Auseinandersetzung mit den weiteren Rügen der Beschwerdeführer.

IV.

14

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin – 5. Kammer – vom 14.11.2012 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides vom 23.04.2009 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten der zweiten Instanz. Die Kosten der ersten Instanz tragen die Kläger und die Beklagte je zu 1/2. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der beizutreibenden Kosten abzuwenden, wenn nicht zuvor der Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die in erster Linie auf Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage haben die Kläger in erster Instanz im Hinblick auf das Begehren, als Asylberechtigte anerkannt zu werden, zurückgenommen. Nachdem die Beklagte zugunsten der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG festgestellt hatte, haben die Kläger den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die danach nur noch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 14.11.2012 abgewiesen.

2

Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Klägers.

3

Der Kläger beantragt sinngemäß,

4

die erstinstanzliche Entscheidung zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 23.04.2009 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

5

Die Beklagte hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.

6

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

7

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Senat entscheidet über sie gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, da er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

8

Die Klage ist, soweit das Verfahren in zweiter Instanz noch anhängig ist, begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 1, § 3 AsylVfG, § 113 Abs. 5 VwGO. Der angefochtene Bescheid ist – soweit entgegenstehend – aufzuheben.

9

Als syrischer Asylbewerber ist der Kläger unabhängig von einer Vorverfolgung wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und dem längeren Aufenthalt in Deutschland bedroht. Sein Verhalten wird vom syrischen Staat derzeit als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst, und er hat bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Der Senat schließt sich in dieser Frage der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts München an (vgl. Urteil vom 03.02.2014 – M 22 K 12.3012 – Rn. 25 ff.) und verweist auf die darin verwerteten Quellen sowie die zitierte Rechtssprechung (vgl. außerdem: Hess. VGH, Beschluss vom 27.01.2014 – 3 A 917/13 Z.A -, AuAs 2014, S. 80 ff.). Zu ergänzenden Ausführungen besteht kein Anlass, da sich die Beteiligten auf den Hinweis des Gerichts vom 03.03.2014 nicht geäußert haben.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 161 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 167 VwGO, 711 ZPO.

11

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

30

und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

30

und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

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(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 04. August 2016 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen die der Klägerin vom Verwaltungsgericht zuerkannte Eigenschaft eines Flüchtlings im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG.

2

Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge reiste sie am 1. Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 27. April 2016.

4

Das Bundesamt hat der Klägerin mit Bescheid vom 13. Mai 2016 den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt (Nr. 1) und den Asylantrag im Übrigen abgelehnt (Nr. 2).

5

Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 23. Juni 2016 Klage erhoben.

6

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Stabsfeldwebel der Syrischen Armee, aus Syrien im April 2013 geflohen. Zum Nachweis der Armeezugehörigkeit werde eine beglaubigte Übersetzung des Militärführerscheins für Unteroffiziere vorgelegt. Der Ehemann sei im Januar 2013 desertiert und mit ihr und den minderjährigen Kindern in die Türkei ausgereist. Nicht bloß ihrem Ehemann, sondern auch ihr, der Klägerin, drohe bei einer Rückkehr nach Syrien die zu erwartende obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sei sie einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter ausgesetzt. Unabhängig hiervon habe sie bereits aufgrund des illegalen Verlassens ihres Heimatlandes, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der damit einhergehenden vermuteten regimekritischen Haltung mit massiver Bedrohung und Verfolgung zu rechnen. Deshalb sei ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dass den von ihr aufgezeigten Umständen asylrechtliche Relevanz beigemessen werde, sei mittlerweile in der verwaltungsgerichtlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt.

7

Die Klägerin hat beantragt,

8

den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2016 in Ziffer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie sei aus Furcht vor dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und somit aus Gründen, die ihre persönliche Sicherheit beträfen, ausgereist, nicht hingegen wegen Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Verfolger. Die von ihr geäußerte Befürchtung, ihr Auslandsaufenthalt könne zu einer Verfolgung führen, lasse keine andere Bewertung zu. Der syrische Staat stelle seit Januar 2015 Pässe in großer Stückzahl aus und ermögliche damit die Ausreise aktiv.

12

Das Verwaltungsgericht hat nach Anhörung der Beteiligten hierzu durch Gerichtsbescheid vom 4. August 2016 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen und den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben.

13

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Klägerin vorverfolgt aus Syrien ausgereist sei, denn ihr stünden beachtliche, den Schutzstatus des § 3 Abs. 1 AsylG auslösende Nachfluchtgründe zur Seite. Mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien sei im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung drohe. Es sei anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. An der im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urt. v. 06.07.2016, - RN 11 K 16.30889 -) dargestellten Lage in Syrien und der gewonnenen asylrechtlichen Einschätzung habe sich nichts verändert.

14

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien habe nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen werde. Vielmehr sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden würden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg als eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansehe. Unter den derzeitigen Umständen werde jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen.

15

Nach den aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Die Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert habe, werde von dem Gericht geteilt.

16

Auch der Annahme der Beklagten, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, sei nicht zu folgen. Nach Angaben von Pro Asyl verfolge das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016). Auch nach der vom Verwaltungsgericht Regensburg zitierten Einschätzung des Auswärtigen Amtes sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.

17

Der Klägerin stehe schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es bestehe nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

18

Die Flüchtlingsanerkennung scheide auch nicht aus anderen Gründen aus, so dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung drohe, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werde widerlegen können.

19

Mit der mit Beschluss des Senats vom 27. September 2016 zugelassenen Berufung verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides vom 4. August 2016.

20

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, es gebe keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobenen Rückkehrern grundsätzlich ungeachtet besonderer persönlicher Umstände oppositionelle Tätigkeit unterstellt werde und die Befragungen und damit teilweise auch einhergehenden Misshandlungen in Anknüpfung an ein asylrechtliches Merkmal erfolgten. Aus den bislang aufgrund der Auskunftslage zur Verfügung stehenden Einzelfällen könne ungeachtet des Unrechtsgehalts dieses staatlichen Handelns keine Motivation des syrischen Staates abgeleitet werden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien deshalb für sich allein kein Grund für Verhaftung oder Repressalien. Dass Rückkehrer generell der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien, begründe daher lediglich einen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Auch aus der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung ließen sich keine belastbaren Erkenntnisse für das Vorliegen einer asylrechtlich erheblichen Gefahr einer politischen Verfolgung herleiten. Der syrische Staat habe weder Veranlassung noch entsprechende Ressourcen, alle zurückgeführten unpolitischen Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund in asylrechtlich relevantem Maße zu verfolgen. Auch die massenhafte Ausstellung von Pässen spreche gegen die Auffassung, dass Rückkehrern wegen eines Auslandsaufenthalts eine regimekritische Gesinnung unterstellt werde.

21

Die Beklagte beantragt,

22

den Gerichtsbescheid, Az. 12 A 222/16, vom 4. August 2016 des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

23

Die Klägerin beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Dass die gegenwärtige Lage in Syrien vom Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt und gewürdigt worden sei, ergebe sich auch aus weiteren Länderberichten. Die eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts seien hingegen nicht geeignet, die Annahmen des Verwaltungsgerichts zu widerlegen. Im Übrigen sei sie, die Klägerin, vorverfolgt ausgereist. Ihr Ehemann sei Unteroffizier bei der syrischen Armee gewesen und habe in einer Abteilung gearbeitet, die sich mit der Ermordung des Libanesen R. beschäftigt habe. 2012 sei ihr Ehemann, als er an der Front habe kämpfen sollen, desertiert und mit seiner Familie im August von Damaskus zunächst nach Latakia geflohen und von dort aus weiter nach Idlib. Aufgrund der Desertation würde ihr, der Klägerin, mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr nach Syrien Verfolgung drohen.

26

Der Senat hat mit Beschluss vom 27. September 2017 Beweis erhoben zu der Frage, ob unverfolgt ausgereiste Rückkehrer wegen einer vermuteten oppositionellen Haltung Befragungen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sind und, sollte dies der Fall sein, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, dass sie deshalb Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sein werden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Wegen des Inhalts der Gutachten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (Bl. 114 f., 118f.).

27

Die Klägerin ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung informatorisch zu den von ihr geltend gemachten Verfolgungsgründen angehört worden. Wegen der von ihr hierzu geltend gemachten Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2016 (Gerichtsakten Bl. 152ff ) Bezug genommen.

28

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakten.

Entscheidungsgründe

29

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 4. August 2016 war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

30

Nach § 3 Abs. 1 AsylG (zitiert nach der hier anwendbaren Variante) ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gemäß § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

31

§ 3a Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als dauerhafte oder systematische schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte (vgl. Marx, AsylVfG-Komm., 8. Aufl., § 3a Rn. 3); in Absatz 2 werden besondere Beispiele für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung bezeichnet. § 3b Abs. 1 AsylG beschreibt abschließend die maßgeblichen Verfolgungsgründe. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG. Wer eine ihm geltende Verfolgungshandlung (§ 3a) sowie den Wegfall nationalen Schutzes (§ 3c - § 3e) darlegen kann, wird als Flüchtling anerkannt, wenn die Verfolgung auf einem oder mehreren der in § 3b Abs. 1 bezeichneten Verfolgungsgründen beruht. Kann die Anknüpfung der Verfolgung an einen Verfolgungsgrund nicht dargelegt werden, besteht nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1) (Marx, a.a.O., § 3a Rn. 50).

32

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, ob eine spezifische Zielrichtung vorliegt, die Wirkung mithin wegen eines geschützten Merkmals erfolgt (BVerfGE 80, 315, 335; BVerfGE 81, 142, 151; Marx, a.a.O., § 3 a, Rn. 54). Danach wohnt dem Begriff der Verfolgung ein finales Element inne, da nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Personen oder Personengruppen zielenden Zugriff erhebliche Wirkung zukommt. Das Kriterium „erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme“ und das Erfordernis, dass die Verfolgung an geschützte Merkmale anknüpfen muss, verdeutlichen, dass es auf die in der Maßnahme objektiv erkennbar werdende Anknüpfung ankommt (Marx, a.a.O., Rn. 54).

33

Dabei ist es für die Annahme von Verfolgung nicht erforderlich, dass von politischer Verfolgung Betroffene entweder tatsächlich oder nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sind. Politische Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist (BVerfG, Kammerbeschluss v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5). In diesem Sinne sieht § 3b Abs. 2 AsylG vor, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Dafür, dass die Verfolger einen Verfolgungsgrund unterstellen, müssen jedoch Umstände ermittelt werden (vgl. Marx, a.a.O., § 3b Rn. 78).

34

Nach der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin ist der Senat davon überzeugt, dass diese unverfolgt ihr Heimatland Syrien verlassen hat. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt der Asylbewerber seiner ihm obliegenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO nur dann, wenn er drohende oder bereits erlittene politische Verfolgung in „schlüssiger“ Form vorträgt. Hierzu ist erforderlich, dass er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (ständ. Rspr. BVerwG, Urt. v. 24.11.1981 - BVerwG 9 C 251.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 31; v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405/89 -, juris, Rn. 8; Beschl. v. 15.08.2003 - 1 B 107/03, 1 PKH 21 PKH 28/03 -, juris Rn. 5). Diese Anforderungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat erstmals in der im Rahmen des Berufungsverfahrens durchgeführten persönlichen Anhörung ausgeführt, ihr Ehemann sei nach Erhalt eines Einsatzbefehls aus der syrischen Armee desertiert und habe mit ihr und den gemeinsamen Kindern Damaskus zunächst in Richtung Latakia verlassen. In Idlib sei er, nachdem er sich als Deserteur offenbart gehabt habe und von einer bewaffneten Person als Mitglied des Ausschusses zur Aufklärung der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri erkannt worden sei, von der Al-Nusra-Front mitgenommen und ca. vierzehn Tage festgehalten worden. Familienangehörige ihres Ehemannes seien ebenfalls festgenommen worden, um den Aufenthaltsort ihres Mannes sowie dessen Familie ausfindig zu machen. Sie selbst seien weiter in die Türkei geflüchtet, von wo sie als einzige weiter nach Deutschland geflüchtet sei. Dieses Vorbringen genügt nicht den Anforderungen an einen schlüssigen, in sich widerspruchsfreien Vortrag. Der Asylbewerber ist gehalten, sich bereits bei der Antragstellung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration über die Tatsachen zu erklären, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.1991 - 9 C 131/90 -, juris Rn. 9). Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung bei der Beklagten erklärt, sie sei mit ihrer Familie aus Furcht vor dem Bürgerkrieg geflohen. Sie hat trotz gezielter Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung nicht zu erklären vermocht, warum sie die 50 Minuten währende Anhörung bei der Beklagten nicht dazu genutzt hat, sich über ihr im Rahmen des anhängigen gerichtlichen Verfahrens erstmalig vorgetragenes individuelles Fluchtschicksal zu erklären. Auch, wenn es dem Asylbewerber grundsätzlich unbenommen bleibt, sein Verfolgungsschicksal später, das heißt in dem sich anschließenden (Gerichts-)Verfahren, zu ergänzen und zu konkretisieren, muss das Kerngeschehen grundsätzlich - wie ausgeführt - bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration in sich stimmig und widerspruchsfrei geschildert werden. Daran mangelt es hier. Die Klägerin hat ihr Vorbringen gegenüber demjenigen vor dem Bundesamt erheblich verändert und dann deutlich gesteigert. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu verändern, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Klagebegründung (kurze) Ausführungen zu der Desertation ihres Ehemannes und der anschließenden Flucht der Familie durch und aus Syrien gemacht hat. Denn auch insoweit handelt es sich bereits um gesteigertes Vorbingen gegenüber der erstmaligen Anhörung. Hinzu kommt, dass die Klägerin ihr schriftsätzlich vorgetragenes und ihr mündliches Vorbringen im Berufungsvorbringen weiter gesteigert hat. Sie hat zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens einen in sich stimmigen widerspruchsfreien Vortrag zu Protokoll erklärt. Vielmehr sind die von der Klägerin vorgebrachten mündlichen Schilderungen zu ihrem Verfolgungsschicksal nicht von persönlichem Erleben getragen. Dies schlussfolgert der Senat insbesondere aus den vage gebliebenen, insgesamt konstruiert wirkenden Angaben zu den Umständen der Flucht aus Latakia und der anschließenden Festnahme des Ehemannes nahe der Stadt Idlib. Welche Motivation hinter der Festnahme gestanden haben soll, bleibt völlig unklar. Auch das vorangegangene Fluchtgeschehen von Latakia nach Idlib mittels eines Lkw, auf dessen Ladefläche der Ehemann der Klägerin versteckt worden sein soll, bleibt in den Schilderungen der Klägerin detailarm und von Zufällen getragen, die ein reales Erleben als eher fernliegend erscheinen lassen. Ebenso bleibt es widersprüchlich, dass der Ehemann nach seiner Desertation und dem Weggang nach Latakia offenbar noch weitere acht Monate bei der Militärpolizei gearbeitet und im Wechsel eine Woche in Damaskus und eine Woche in Latakia gearbeitet haben will. Die Entfernung zwischen beiden Städten beträgt rund 330 km einfache Wegstrecke (Luftlinie gut 227 km).

35

Hätten sich die geschilderten Geschehnisse tatsächlich so zugetragen, bleibt umso mehr unverständlich, warum die Klägerin, die auch persönlich bedroht worden sein will, hierzu keinerlei Ausführungen bei ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten gemacht hat. Weder Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung noch solche im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration haben es vermocht, Widersprüche aufzulösen und das vorgetragene Verfolgungsschicksal in sich stimmiger zu machen. Im Gegenteil: Dass die Klägerin nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung vor dem Senat ihre informatorische Anhörung dahingehend ergänzt hat, sie sei - obwohl sie bekundet hat, in Syrien keiner Vernehmung ausgesetzt gewesen zu sein - bei der Anhörung vor dem Bundesamt an Vernehmungen in Syrien erinnert gewesen und habe Angst bekommen, ist nicht ansatzweise glaubhaft. Hinzu kommt, dass sie, die zudem keiner politischen Vereinigung angehört und sich auch nicht politisch engagiert hat, auch auf Nachfrage nicht zu erklären vermocht hat, warum sie die Frage nach ihrer Befürchtung bei einer Rückkehr in ihre Heimat dahingehend beantwortet hat, sie befürchte eine Bestrafung, weil die ausgereisten Syrer als Verräter gelten würden. Es hätte vielmehr nahe gelegen, bei einem von realem Erleben getragenen Geschehen von sich aus das Verfolgungsschicksal vom Beginn der Asylantragstellung an nachvollziehbar zu schildern.

36

Bei einer derartigen Sachlage war der Senat im Übrigen nicht gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären und etwa Beweis darüber zu erheben, ob die in Kopie und Übersetzung zu den Gerichtsakten gelangten Dokumente (Unteroffizierausweis und Militärführerschein für Unteroffiziere) echte Urkunden der syrischen Armee darstellen und ob es sich bei der dort abgebildeten Person tatsächlich um den Ehemann der Klägerin handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Ein solcher tatsächlicher Anlass besteht im Prozess wegen Anerkennung als Asylberechtigter dann nicht, wenn der Kläger unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form vorträgt (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989, a.a.O., Rn. 8; Beschl. v. 26.11.2007 - 5 B 172/07 - , juris Rn. 3).

37

Hat die Klägerin danach ihr Heimatland unverfolgt verlassen, besteht nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass der totalitäre syrische Staat jeden Rückkehrer pauschal unter eine Art Generalverdacht stellt, der Opposition anzugehören (in diesem Sinne etwa Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris Rn. 7; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 8). In diesem Sinne sind auch die vom Verwaltungsgericht angestellten Erwägungen, die sich im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe sowie auf die vom Verwaltungsgericht Regensburg herangezogenen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (November 2015, Asyldokumentation Nr. 598b) beziehen, nicht geeignet konkrete Anhaltspunkte für eine - pauschal alle Rückkehrer betreffende - Rückkehrgefährdung anzunehmen. Nach den Erwägungen des UNHCR kann aus Syrien ausgereisten syrischen Staatsangehörigen Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die diesen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus denen die Betroffenen stammen. Diese Einschätzung ist jedoch nicht ausreichend für die Annahme, allen aus Syrien ausgereisten Flüchtlingen würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Wiedereinreise asylrelevante Verfolgung drohen.

38

Bei Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe fehlt es vielmehr an einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls insoweit, als dass sich die Klägerin darauf beruft, sie hätte aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Stellung des Asylantrages und des längeren Aufenthaltes im Bundesgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanter Verfolgung seitens des syrischen Staates zu rechnen. Aufgrund der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin geht der Senat davon aus, dass diese unverfolgt ausgereist ist, so dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 23).

39

Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ob das der Fall ist, beurteilt sich nicht aufgrund einer quantitativen, sondern aufgrund einer qualifizierenden Betrachtungsweise. Eine theoretische Möglichkeit, dass sich eine Gefahr realisiert, reicht allerdings nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 (169) m.w.N.; Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 (393); Beschl. v. 31.03.1998 - 9 B 843.97 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris Rn. 25).

40

Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist zur Überzeugung des Senats nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates bei einer Rückkehr in ihr Heimatland zu rechnen hätte. Die Klägerin hat sich in Syrien nicht politisch betätigt, so dass es an dem Vorliegen eines Verfolgungsgrundes - in Betracht käme ersichtlich nur derjenige nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG - fehlt. Sie ist vielmehr wegen des herrschenden Bürgerkrieges und den sich daraus für sich und ihre Familie ergebenden Folgen ausgereist. Der Senat geht davon aus, dass angesichts der erheblichen Zahl der insbesondere im vergangenen Jahr aus Syrien ausgereisten Menschen (knapp 430.000 Flüchtlinge, vgl. ZEIT ONLINE vom 08.06.2016, Asyldokumentation Nr. 599c, und Mediendienst-Integration, Stand: 01.08.2016, Asyldokumentation Nr. 599e) auch dem syrischen Staat bekannt sein dürfte, dass - wie die Klägerin - die weit überwiegende Anzahl der Flüchtenden aus Angst vor dem Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Folgen ihr Heimatland verlassen haben. Allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt stellen daher keine Anzeichen für politische Gegnerschaft zum syrischen Regime dar (so auch Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, juris Rn. 18). Diese Einschätzung deckt sich mit der gegenwärtig vorliegenden Auskunftslage, wonach auf Ebene der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Ebenfalls liegen keine Erkenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien vor (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 07.11.2016, Asyldokumentation Nr. 602). In Übereinstimmung hiermit steht eine Auskunft des Deutschen Orient-Instituts (vom 08.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht, Asyldokumentation Nr. 603), wonach die syrische Regierung, nachdem in beinahe allen Landesteilen im Frühjahr 2011 Proteste und Unruhen ausgebrochen waren, die Kontrolle über größere Teile des Staatsgebiets verloren hat. Danach werden im Osten nach wie vor weiter besiedelte Gebietsteile durch den sogenannten Islamischen Staat kontrolliert. Die Grenzregionen zu Jordanien und der Türkei werden von verschiedenen oppositionellen Rebellengruppen beherrscht; der mehrheitlich kurdische Teil Syriens, besonders im Norden und Nordosten, hat sich selbst zu föderalen Provinzen erklärt. Die Gebiete zwischen den größten Städten im Westen des Landes (vor allem Damaskus und Umland, Hama, Homs, Aleppo und mit Abstrichen auch Latakia) werden durch verschiedene Gruppierungen oder die Regierung kontrolliert. Die Grenzziehung zwischen diesen Zonen unterliegt einer stetigen Veränderung der Frontverläufe und Kontrolle. Befragungen oder Verfolgung durch die syrische Regierung sind also derzeit zunächst nicht in allen Landesteilen realistisch.

41

Diese Auskunft, die sich weiterhin mit der Ausreisegenehmigung und der Einziehung zum Wehrdienst für männliche Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren einschließlich der drohenden Konsequenzen für Deserteure beschäftigt sowie mit der besonderen Gruppe der in Syrien wohnhaften Kurden, bestätigt im Kern die Einschätzung, dass jedenfalls keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien, die nicht im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten stehen wie etwa Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger, Übergriffe oder gar Sanktionen zu erleiden haben. Befragungen sind danach bei einer Wiedereinreise über Damaskus zwar nicht unrealistisch; es ist aber wegen der in der Auskunft hervorgehobenen Personengruppen der Deserteure und Kurden jedenfalls nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass mit einer eventuellen Befragung negative Konsequenzen für diejenigen potentiell Betroffenen zu befürchten sind, die lediglich aufgrund des Bürgerkrieges ihr Heimatland verlassen haben. Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeitet (so bereits die Auskunft der Botschaft Beirut, Referat 313 vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asyldokumentation Nr. 598e).

42

Somit hat die Beklagte der Klägerin zu Recht (nur) subsidiären Schutz gewährt.

43

Die Nebenentscheidungen ergeben sich im Kostenpunkt aus §§ 154 Abs. 1 i. v. m. § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

44

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).


Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. April 2014 - A 12 K 2210/13 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der am xx.xx.1983 geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Pakistan. Er kam nach seinen Angaben am 08.02.2012 mit dem Schiff in die Bundesrepublik Deutschland und stellte am 27.02.2012 einen Asylantrag. Zur Begründung machte er geltend: Er habe in Pakistan Probleme gehabt, weil er mit Christen in die Kirche gegangen sei und Christ habe werden wollen. Weiter legte er Informationsmaterial und eine Bescheinigung der Gemeinschaft Entschiedener Christen in H. vom 11.05.2013 und eine Bescheinigung von xxx in H. vom 07.05.2013 vor. Wegen weiterer Einzelheiten seines Vorbringens verweist der Senat auf die Niederschrift seiner Anhörung durch das Bundesamt vom 15.05.2013.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 20.06.2013 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte die Abschiebung nach Pakistan an.
Am 28.06.2013 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart und berief sich darauf, dass er zwischenzeitlich getauft worden sei. Er legte eine Taufkarte vom 02.06.2013, eine Mitgliedskarte des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden vom 28.05.2013, weiteres Informationsmaterial der Gemeinschaft Entschiedener Christen und Informationsmaterial des Immigration and Refugee Board of Canada vom 20.09.2013 vor.
Nach den im Tatbestand des angegriffenen Urteils enthaltenen Feststellungen antwortete der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Gerichts, welche Gründe es für ihn gegeben habe, zum Christentum überzutreten und sich taufen zu lassen: Jesus sei wegen ihrer Sünden vom Kreuz gestiegen. Die Muslime hätten kein Opfer gegeben. Er habe die christliche Religion kennengelernt und wisse jetzt alles. Gott habe sich für sie geopfert. Er selbst sei nicht Christ geworden, weil er sich davon Vorteile versprochen habe. Auf die Frage, welche konkreten Gründe er gehabt habe, nach Deutschland zu kommen, antwortete er: In Pakistan sei er drei- bis viermal in der Kirche gewesen. Die Familie habe das nicht gerne gesehen, auch seine Nachbarn nicht. Seine christlichen Freunde hätten gemeint, er solle lieber in ein christliches Land gehen. Ein christlicher Freund habe einen Schlepper gekannt. Später berichtigte der Kläger: Das Geld sei erst bezahlt worden, nachdem es ihm gelungen sei, nach Deutschland zu kommen. Er habe mit dem Freund Cricket gespielt. Sie seien gemeinsam in die Kirche gegangen. Es habe sich um seine - des Klägers - Ersparnisse gehandelt.
Auf Fragen und Vorhalte seines Prozessbevollmächtigten gab der Kläger weiter an: In Pakistan hätten sie ihm gesagt, er sei jetzt ein Nicht-Gläubiger. Er sei geschlagen und bedroht worden. Sie hätten gesagt, es sei besser, ihn zu töten. Geschlagen worden sei er im achten bzw. neunten Monat des Jahres 2012 (gemeint 2011). Er sei unterwegs zum Gottesdienst gewesen. Sie hätten ihn angehalten und gesagt, sie würden ihn schlagen, ihm Fußtritte geben und ihn umbringen. Einmal sei er geschlagen worden. Deswegen sei er dreimal genäht worden. Er sei zu einem Arzt gegangen, einem Dr. N. in seiner Ortschaft. Seine ganze Familie sei gegen ihn. Er habe keine Verbindung mehr mit der Familie. Zu seiner Taufe führte er aus: Dr. S. habe ihn unterrichtet. Er komme einmal in der Woche am Donnerstagnachmittag. X. sei eine Kirche; es gebe um 18:00 Uhr dort Gottesdienst. Dann tränken sie Tee. Samstags um 11:00 Uhr gebe es einen gemeinsamen Gottesdienst mit allen Personen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers führte aus, der Kläger sei als Moslem in Pakistan mit der christlichen Gemeinde in Berührung gekommen. Die Kontakte seien über einen Freund hergestellt worden. Er sei vom christlichen Glauben fasziniert gewesen, nachdem er drei- bis viermal in der Kirche gewesen sei. Er habe dann Probleme mit der Familie bekommen. Aus seiner Sicht sei die Situation für ihn in Pakistan gefährlich. Es habe bei ihm schon in Pakistan eine Festlegung auf das Christentum gegeben. Ein Verzicht auf die Religionsausübung sei nicht Gegenstand von Überlegungen gewesen. Er gehöre der Gemeinschaft Entschiedener Christen in H. an und wolle den Glauben mit allen teilen. Er wollte den Glauben auch in Pakistan weiterleben. Die Abwendung vom muslimischen Glauben sei aus der Sicht der Hitzköpfe verwerflich. Es stelle sich die Frage, ob der Staat hinreichende Schritte unternehme, den Kläger ggf. zu schützen. Aus staatlichen Verfolgungsmaßnahmen könne man schließen, dass der Staat nicht Garant für den Schutz sein könne.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Mit Urteil vom 10.04.2014 wies das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet ab und führte zur Begründung aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Der Kläger habe das Gericht nicht davon überzeugen können, dass er das von ihm geschilderte Schicksal tatsächlich erlitten habe. Denn der Vortrag enthalte wesentliche Ungereimtheiten und widerspreche zum Teil erheblich der allgemeinen Lebenserfahrung. So seien schon die Angaben des Klägers, warum er sich dem Christentum zugewandt habe und schließlich habe taufen lassen, ausgesprochen vage. Bei der Anhörung habe er hierzu nur angegeben, in der Cricketmannschaft seien auch Christen gewesen. Mit ihnen sei er zusammen in die Kirche gegangen. Man habe ihm gesagt, Jesus Christus habe den Leuten die Augen gegeben, er habe die Verstorbenen wieder lebendig gemacht. Daraufhin sei sein Glaube an die christliche Religion sehr stark gewesen. In der mündlichen Verhandlung habe er hierzu auch nicht viel mehr gesagt. Auf die Frage, welche Gründe es für ihn gegeben habe, zum Christentum überzutreten und sich taufen zu lassen, habe er gesagt: Jesus sei wegen ihrer Sünden vom Kreuz gestiegen. Die Muslime hätten kein Opfer gegeben. Er habe die christliche Religion kennengelernt und wisse jetzt alles. Gott habe sich für sie geopfert. Er selbst sei nicht Christ geworden, weil er sich davon Vorteile versprochen habe. Auffallend sei dabei gewesen, dass er bei der Anhörung und auch in der mündlichen Verhandlung zuerst angegeben habe, in Pakistan sei er drei- bis viermal in die Kirche gegangen, im weiteren Verlauf der Anhörung habe er dann gesagt, er sei fünfmal in der Kirche gewesen. Bei einer so geringen Anzahl von Kirchenbesuchen sei davon auszugehen, dass man sich an diese Anzahl besser erinnere, zumal wenn sie zu einem so wesentlichen Schritt führe, wie den Übertritt zu einer anderen Religion. Nicht verständlich seien die Angaben des Klägers zu dem Arzt, zu dem er nach seinen Angaben gegangen sei, nachdem er geschlagen worden sei. Hierzu habe er bei der Anhörung durch das Bundesamt angegeben, er habe Dr. S. geheißen, mehr wisse er nicht; er glaube, er sei in der Rxxx Rxxx in Lahore. In der mündlichen Verhandlung habe er dagegen gesagt, es habe sich um einen Dr. N. in seiner Ortschaft gehandelt. Es widerspreche auch jeder Lebenserfahrung, dass der Kläger trotz der Bedeutung seines Schritts weder gewusst habe, wann er angefangen habe, in Pakistan in die christliche Kirche zu gehen, noch wann sich der Vorfall abgespielt habe, bei dem er geschlagen worden sei. Die Angaben bei der Anhörung hierzu seien äußerst vage gewesen, nämlich "irgendwann im Jahr 2011" bzw. "das sei 2011" gewesen. Wenn sich ein so bedeutsames Ereignis tatsächlich abgespielt gehabt hätte, hätte der Kläger in der Lage sein müssen, dies zeitlich erheblich konkreter einzuordnen. Weiter widerspreche es jeglicher Lebenserfahrung, dass jemand nach wenigen Kirchenbesuchen, auch wenn er einmal geschlagen worden sei, von seinen christlichen Freunden den Rat erhalte, sofort in ein christliches Land zu gehen, und dies auch sofort tue. Immerhin seien 1,6 % der pakistanischen Bevölkerung Christen. Auch sei es dem Kläger wirtschaftlich gut gegangen. Bei der Anhörung habe er insoweit angegeben, er habe gut gearbeitet und habe das Geld gespart, das er für die Ausreise ausgegeben habe. Es könne weiter nicht festgestellt werden, dass für den Kläger allein wegen seiner Zugehörigkeit zu den Christen in Pakistan eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan deshalb darüber hinausgehend Gefahr drohe, weil er die Religion gewechselt habe und sich dort als Christ betätigen wolle, seien nicht ersichtlich. Auch sei nicht festzustellen, dass dem Kläger Gefahren im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylVfG oder § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG drohten.
Auf den vom Kläger fristgerecht gestellten Antrag ließ der Senat durch Beschluss vom 11.06.2014 die Berufung insoweit zu, als er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt und lehnte im Übrigen den Antrag ab.
10 
Am 23.06.2014 hat der Kläger die Berufung unter Stellung eines Antrags begründet. Er führt aus: Das Verwaltungsgericht habe sich auf den Standpunkt gestellt, trotz feststellbarer Verfolgungshandlungen gegen Christen und ungeachtet der Frage, ob der pakistanische Staat im Hinblick auf die Verfolgung von Christen durch nichtstaatliche Akteure tatsächlich gänzlich schutzwillig und schutzfähig sei, hätten die Verfolgungsmaßnahmen nicht ein solches Ausmaß erreicht, dass die strengen Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung angenommen werden könnten; es sei keine hinreichende Verfolgungsdichte feststellbar.
11 
Dieser Auffassung könne nicht gefolgt werden. Nach neueren Erkenntnismitteln habe die Bedrohungslage der Christen in Pakistan jüngst eine neue, noch nicht dagewesene Qualität erreicht. Bereits im Juni 2013 habe der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil bezüglich der Ahmadi in Pakistan von einer prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen in Pakistan gesprochen. Diese Lage habe sich weiter verschlechtert. Vor diesem Hintergrund drohe der Gruppe der Christen in Pakistan, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansähen, ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Der Schutz religiöser Minderheiten sei in der Verfassung festgeschrieben, auch gebe es Quoten für ihre Vertretung in staatlicher Beschäftigung und politischer Vertretung. Ungeachtet dieser Gesetzeslage seien die als solche erkennbaren Christen in Pakistan aber Diskriminierungen ausgesetzt. Diskriminierungen im wirtschaftlichen Bereich, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt seien verbreitet. Christliche Gemeinden und Institutionen seien Opfer von Landraub durch muslimische Geschäftsleute. Auch der Besitz von geflohenen christlichen Privatpersonen werde von den muslimischen Anwohnern in Besitz genommen. Diskriminierungen und Übergriffe gingen aber nicht nur von privaten Akteuren aus. Es werde von einem Trend zu entschädigungslosen Beschlagnahmen christlicher Friedhöfe und von dem Abriss einer katholischen Einrichtung in Lahore auf Anweisung der örtlichen Regierung im Januar 2012 berichtet. Insbesondere hätten Christen in Pakistan aber schwer unter dem Blasphemiegesetz zu leiden. Zwar gelte das Blasphemiegesetz dem Wortlaut nach unterschiedslos für alle Pakistani. Religiöse Minderheiten seien jedoch besonders betroffen. Zwar sei ein nach dem Blasphemiegesetz verhängtes Todesurteil noch nie vollstreckt worden, allein der Vorwurf der Blasphemie könne jedoch ausreichen, um die soziale Existenz des Beschuldigten und seiner Nachbarn zu zerstören. Ansätze, die darauf abzielten, einen Missbrauch des Blasphemiegesetzes zu verhindern, seien fehlgeschlagen. Ein beträchtlicher Anteil islamischer Kleriker in Pakistan rufe zu Gewalt und Diskriminierung gegen Christen auf. Sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten sei es üblich, über die Lautsprecher von Moscheen dazu zu mobilisieren, gegen religiöse Minderheiten vorzugehen. Ein Vorwurf gegen ein Mitglied der Minderheit genüge, damit sämtliche Angehörige der Minderheit in der betreffenden Gegend als Schuldige betrachtet würden, die bestraft werden müssten. Die National Commission for Justice and Peace habe 2012 elf gezielte Tötungen an Christen registriert. Die Asian Human Rights Commission schätze die Zahl der christlichen Mädchen, die jedes Jahr entführt, vergewaltigt und zwangskonvertiert würden, auf etwa 700.
12 
Die genannten Vorfälle seien Eingriffe in die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Betroffenen. Sie seien als unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu begreifen. Sofern sie die Betroffenen unter Druck setzten, auf die Praktizierung ihres Glaubens zu verzichten oder diese einzuschränken, lägen Eingriffe in die Religionsfreiheit vor. Angesichts der Häufigkeit der Vorfälle in jüngster Zeit und der Vielzahl von Personen, die bei einem einzigen Überfall auf eine Kirche oder ein Viertel betroffen seien, oder etwa bei dem Vorwurf der Blasphemie gegen einen Christen betroffen werden könnten, handele es sich nicht mehr nur um vereinzelte, individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr sei jeder als solcher erkennbare Christ in Pakistan wegen seiner Religion der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit, also einem realen Risiko ausgesetzt. In die Würdigung einzustellen seien hierbei nicht allein die Anzahl der wegen Blasphemie erfolgten Anklagen und Verurteilungen und die Summe der von den Gewaltübergriffen durch Privatpersonen betroffenen Opfer, sondern auch die nicht quantifizierbare Zahl an Christen, die Opfer von Diskriminierung im alltäglichen Bereich, etwa bei der Arbeit, würden.
13 
Akteure im Sinne von § 3d Abs. 1 AsylVfG seien in Pakistan nicht willens und in der Lage, Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylVfG zu bieten. Zahlreiche Quellen berichteten, dass der Staat beim Schutz religiöser Minderheiten vor Angriffen in den verschiedenen Landesteilen versage. Die Polizei sehe bei Übergriffen von Privatpersonen auf Christen lediglich untätig zu und biete keinen Schutz, es werde keine effektive Strafverfolgung der Angreifer betrieben. Es bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative.
14 
Das Verwaltungsgericht habe auch eine nähere Prüfung unterlassen, ob all diese Tatsachen eine systematische, einer Gruppenverfolgung gleichkommende Diskriminierung darstellten. Alle Quellen wiesen auf eine systematische Diskriminierung der Christen hin, die in ihren Folgen einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung gleichkomme.
15 
Was die individuelle Situation des Klägers betreffe, habe das Verwaltungsgericht nicht bezweifelt, dass er im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur bezeichneten Gruppe der Christen in Pakistan gehöre. Der Kläger habe vorgetragen, dass es nach seinem Glaubensverständnis für ihn identitätsbestimmend sei, seinen Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, und dass ein Verzicht auf die Religionsausübung für ihn auch in Pakistan nicht in Betracht komme, sondern er seinen Glauben mit allen teilen wolle. Das Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass der Kläger in Deutschland nach intensivem Taufunterricht die Taufe empfangen habe und am christlichen Leben teilnehme, namentlich durch den Besuch von Gottesdiensten und die Teilnahme an donnerstäglichen Unterweisungen. Zwar seien im pakistanischen Strafgesetzbuch Apostasie, Konversion und Missionierung für Christen nicht unter Strafe gestellt. Der Islam sei jedoch Staatsreligion. Nach islamischem Recht stehe Konversion vom Islam weg unter Todesstrafe. Nach einer im April 2010 in Pakistan durchgeführten Umfrage befürworteten 76 % der Befragten die Todesstrafe für die Abwendung vom Islam. Für Christen, die vom Islam zum Christentum konvertierten und deren Konversion bekannt werde, sei die Situation kritischer als für geborene Christen. In ihrer Familie stießen sie oft auf Unverständnis und würden von ihr bedroht und verstoßen, es werde sogar versucht sie umzubringen, weil der Abfall Schande und Verrat für die ganze Familie sei. Als Konvertierte bekannte Christen seien Opfer schwerer Diskriminierungen, etwa am Arbeitsplatz oder durch Behörden. Dies führe dazu, dass die Konversion zu einer Minderheitenreligion in Pakistan häufig verheimlicht werde. Amnesty International berichte von einem Mord an einem 18-jährigen Mädchen in Pakistan, das von seinem Bruder erschossen worden sei, weil es sich zum Christentum bekannt gehabt habe. Im Mai 2013 sei ein 16-jähriger Junge verschwunden, der vom Islam zum Christentum konvertiert gewesen sei. Zudem würden Konvertiten, die sich vom Islam abgewandt hätten, unmittelbar von staatlicher Seite diskriminiert. Kinder eines muslimischen Ehepaars, das vom Islam weg konvertiere, würden als unrechtmäßig betrachtet, sodass der Staat das Sorgerecht für sie übernehmen könne. Da es nahezu ausnahmslos zu schweren Diskriminierungen und Verletzungen von Menschenrechten komme, sei die Verfolgungsdichte so hoch, dass von einer Gruppenverfolgung auszugehen sei. Es mangele an einer Schutzbereitschaft von Akteuren im Sinn von § 3d AsylVfG. Die unmittelbare Diskriminierung von staatlicher Seite im Hinblick auf die Kinder von konvertierten Ehepaaren verstärke die Annahme, dass der pakistanische Staat nicht nur nicht in der Lage, sondern auch nicht willens sei, Konvertiten Schutz zu bieten. Somit bestehe für Konvertiten erst recht keine innerstaatliche Fluchtalternative. Selbst bei einem Wohnortwechsel, verbunden mit dem Versuch, sich in der neuen Umgebung als geborener Christ auszugeben, bestehe wenig Aussicht, dass die Konversion geheim gehalten werden könne. Auch der Kläger, dessen Zuwendung zum Christentum vor seiner Ausreise in seinem Heimatort bekannt geworden sei, habe keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, die sich geschlossen gegen ihn gestellt habe.
16 
Der Kläger beantragt,
17 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. April 2014 - A 12 K 2210/13 - zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 ihres Bescheids vom 20.06.2013 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
18 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen.
19 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen individuellen Verfolgungsgründen unter Hinzuziehung eines Dolmetschers angehört. Insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
20 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Dem Senat liegen die Behördenakten der Beklagten sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
21 
Die zulässige, unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung bleibt ohne Erfolg.
22 
Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
23 
I. Nach § 3 Abs. 4 AsylVfG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
24 
Nach § 3a Abs. 1 AsylVfG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU - QRL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylVfG (vgl. Art. 12 Abs. 2 QRL) fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss dabei zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
25 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylVfG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
26 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylVfG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 982, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
27 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 lit. d) QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 v.H. für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. zum kausalen und zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
28 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt gewesen war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
29 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen bestehen regelmäßig aus solchen, die in der Vergangenheit wie auch aus solchen, die in der Gegenwart liegen. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (BVerwG, Urteile vom 20.11.1990 - 9 C 74.90 - NVwZ 1991, 382, und - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3b AsylVfG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 05.07.1994 - a.a.O.).
31 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylVfG, Art. 8 QRL).
32 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie nunmehr durch § 3c Nr. 3 AsylVfG (vgl. Art. 6 lit. c) QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
33 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3c Nr. 1 und 2 AsylVfG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylVfG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237)
34 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a. - InfAuslR 2010, 188; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 - InfAuslR 2010,188). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden im Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
35 
II. Dem Kläger ist zunächst nicht aus individuellen Verfolgungsgründen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
36 
Der Senat konnte insbesondere aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung und des in ihr gewonnenen Eindrucks von der Person des Klägers nicht die erforderliche volle Überzeugung davon gewinnen, dass die vom Kläger behaupteten Vorfluchtgründe, namentlich dass er allein wegen mehrerer Kirchenbesuche in erheblichem Maße körperlich misshandelt wurde, der Wahrheit entsprechen.
37 
Der Kläger hatte ausweislich der ihm rückübersetzten und von ihm ausdrücklich bestätigten Niederschrift des Bundesamts vom 15.05.2013 im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass in seiner Gegend „moslemische Jungs“ gewesen seien, die ihm gesagt hätten, er solle nicht in die christliche Kirche gehen; sie hätten ihm Prügel angedroht. Einige Tage später habe man ihn auf dem Weg in die Kirche angehalten und ihm auf den Kopf gehauen. Es seien 10 bis 12 Leute aus seinem Stadtbezirk gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat er gegenüber dem Senat hingegen behauptet, es seien seine beiden älteren Brüder, seine Cousins und Nachbarn gewesen, die ihn angehalten und geschlagen hätten. Eine plausible Erklärung auf den ihm vorgehaltenen Widerspruch konnte der Kläger dem Senat nicht unterbreiten. Dieser Widerspruch ist aus der Sicht des Senats von so großem Gewicht, dass er den von ihm behaupteten und seiner Schilderung nach wesentlichen Fluchtgrund dem Kläger nicht zu glauben vermag. Sicherlich können auch Nachbarn als „Leute aus seinem Stadtbezirk“ verstanden werden, dann aber ist es völlig fernliegend, wenn er, falls sich der Vorfall überhaupt so abgespielt hätte, nicht die Beteiligung engster Familienangehöriger beim Bundesamt erwähnt hätte. Denn es stellt eine ganz andere Qualität der eigenen Betroffenheit dar, wenn die Übergriffe von der eigenen Familie ausgehen. Der Vollständigkeit halber weist der Senat auch darauf hin, dass die Schilderung des Vorfalls auffallend blass geblieben ist und insbesondere eine plausible Darstellung vermissen ließ, wie es ihm gelungen sein soll, bei einer Überzahl von 10 bis 12 Leuten zu fliehen, wie er in der mündlichen Verhandlung behauptet hatte. Nicht nachzuvollziehen ist für den Senat auch, dass der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht sagen konnte, wo sich genau die Praxis des von ihm aufgesuchten Arztes befindet, sondern nur Vermutungen angestellt hatte, obwohl es „sein“ Arzt im eigenen Stadtviertel gewesen sein soll. Sowohl bei der Anhörung durch das Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung ist aus der Sicht des Senats nicht deutlich geworden, weshalb der Kläger sofort nach einem ersten Vorfall das Land unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel verlassen hat und als alleinstehender junger Mann nicht vielmehr erst einmal sein engeres soziales und familiäres Umfeld aufgegeben und in eine andere Stadt gegangen ist. Der bloße Einwand, dass in Pakistan überall Moslems lebten und er sich sicher gewesen sei, dass sie ihn auch dort umgebracht hätten, ist nicht ohne weiteres plausibel, wenn die Gefährdung doch von einem engsten sozialen und familiären Umfeld ausgegangen sein soll, das ihn sehr gut gekannt hätte. Weshalb in einer anderen Stadt hätte veröffentlicht werden sollen, dass er Christ bzw. getauft worden sei, erschließt sich dem Senat nicht. Auch seine Erläuterung, dass er erst hier erfahren haben will, dass man, um Christ zu werden, getauft werden muss, ist nicht nachvollziehbar, wenn er in Pakistan bereits gewusst haben will, dass er Christ werden wolle, weshalb auch die behaupteten engeren Kontakte zu einer christlichen Kirche in Pakistan, über die er zudem auffallend wenig berichten konnte, generell infrage stehen.
38 
Nach der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hatte er seit etwa sechs Jahren Kontakt zu einem Mitspieler christlichen Glaubens mit Namen Zxxx im Cricketclub. Schon beim Bundesamt wie auch beim Verwaltungsgericht blieb der Kläger eine nachvollziehbare Erklärung dafür schuldig, weshalb er erst im Jahre 2011 von Zxxx angesprochen und aufgefordert worden sein will, mit in die Kirche zu gehen, und dieses nicht schon viel früher geschehen sein soll. Er hatte lediglich angegeben, dass sie erst im Jahre 2011 starke Freunde geworden seien, ohne dieses aber näher zu erläutern. Auch in der mündlichen Verhandlung fehlte eine schlüssige Antwort auf entsprechende Fragen des Senats. Bemerkenswert ist zudem, dass der Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt mehrfach davon gesprochen hatte, dass verschiedene „Jungs“ christlichen Glaubens aus dem Club, die enge Freunde von ihm gewesen seien, ihn angesprochen und aufgefordert hätten, in die Kirche zu gehen, während in der mündlichen Verhandlung davon auch nicht mehr im Ansatz die Rede war, sondern nur noch von Zxxx. Die Freunde sollen nach den beim Bundesamt gemachten Angaben auch die Ausreise gemeinsam organisiert haben, wovon der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht mehr gesprochen hatte. Schließlich kann angesichts grundlegender Widersprüche und Unzulänglichkeiten nicht übersehen werden und muss auch jedenfalls in der Gesamtschau zum Nachteil des Klägers gewertet werden, dass er beim Bundesamt den Namen des Freundes mit „Axxx“ angegeben hatte. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Übertragungsfehler gehandelt haben könnte, sieht der Senat nicht. Denn zum einen ist die Ähnlichkeit beider Namen nicht sehr groß, zum anderen wurde die Niederschrift rückübersetzt, ohne dass der Kläger insoweit eine Berichtigung angebracht hätte; auch in der Folgezeit nach Erhalt einer Protokollabschrift ist solches nicht geschehen. Bemerkenswert ist auch, dass der Kläger beim Bundesamt nicht näher eingrenzen konnte, wann er im Jahre 2011 mit den Besuchen in der Kirche begonnen hatte, während er beim Verwaltungsgericht den Vorfall immerhin nunmehr auf den achten oder neunten Monat 2012 (gemeint 2011) relativ präzise datieren konnte. In der mündlichen Verhandlung will er nunmehr mit den Besuchen im neunten Monat begonnen haben, während sich der Vorfall im zehnten Monat abgespielt haben soll. Das wiederum passt offensichtlich nicht zu seinem Vorbringen, er sei nach dem Vorfall nicht mehr zur Familie gegangen, sondern zu Zxxx, bei dem er noch 20 bis 25 Tage geblieben sei bis er mit dem Zug von Lahore nach Quetta gefahren sei, während er beim Bundesamt angegeben hatte, am 23.12.2011 (nicht wie im Protokoll offensichtlich irrtümlich ausgeführt 2012) von Lahore mit dem Zug nach Quetta gefahren zu sein.
39 
III. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht allein deshalb zuerkannt werden, weil er inzwischen Christ ist und im Falle der Rückkehr seinen Glauben aktiv auch in der Öffentlichkeit praktizieren wird. Der Senat geht in diesem Zusammenhang nach den Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass er als getaufter Christ seinem Glauben innerlich verbunden ist und es zu den von ihm als verbindlich verstanden Glaubensinhalten gehört, regelmäßig an den Gottesdiensten seiner Gemeinde teilzunehmen und sich an der Gemeindearbeit zu beteiligen.
40 
Christen in Pakistan droht nach den im Verfahren vom Senat zugrunde gelegten und ausgewerteten Erkenntnismitteln nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wegen ihres Glaubens und ihrer – auch öffentlichen – Glaubensbetätigung einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL ausgesetzt zu sein.
41 
Der Senat geht davon aus, dass in Pakistan mindestens 3 Millionen Christen leben (vgl. AA Lagebericht vom 08.04.2014, S. 6 und 16 – im Folgenden Lagebericht; vgl. aber auch Home Office, Pakistan, Country of Origin Information Report vom 09.10.2013, Ziffer 19.178 – im Folgenden COI – wonach laut einiger Quellen die Zahl in Wirklichkeit das Doppelte betragen soll). Nach der Rechtslage bestehen - anders als bei der religiösen Minderheit der Ahmadis – keine wesentlichen unmittelbaren Diskriminierungen der Christen in Pakistan (vgl. etwa Lagebericht, S. 13 f.; BAA, Bericht zur Fact Finding Mission, Pakistan, Juni 2013, S. 38 ff. und 51 ff. – im Folgenden BAA). Eine Ausnahme besteht insoweit, als der Premierminister sowie der Präsident Muslim sein muss, was teilweise als schlechtes Signal an die Bevölkerung beschrieben wird, dass die Minderheiten auch minderwertig seien (vgl. BAA, S. 51). Allerdings wirkt sich die sog. Blasphemiegesetzgebung auch bei der christlichen Minderheit faktisch zu ihrem Nachteil aus, zumal diese – nicht anders als bei anderen Minderheiten, aber auch bei der Mehrheitsbevölkerung – in erheblichem Maße aus eigensüchtigen Motiven und Gründen von den Anzeigeerstattern missbraucht wird (vgl. ausführlich auch BAA, S. 48 ff.; COI, Ziffer 19.33. ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Angehörigen religiöser Minderheiten in Pakistan, 10.10.2012, S. 6 f. – im Folgenden UNHCR; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2013, S. 27 ff und 101 ff. – im Folgenden HRCP).
42 
Der Senat hat sich zu den Blasphemiegesetzen in seinem den Beteiligten im Einzelnen bekannten Urteil vom 12.06.2013 (A 11 S 757/13 - juris) ausführlich geäußert, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird (vgl. dort Rn. 68 ff.). Wesentlich neue Aspekte haben sich insoweit zwischenzeitlich nicht ergeben. Betroffen sind davon allerdings in erster Linie nicht Angehörige der christlichen Minderheit. Dokumentiert sind zwei nicht rechtskräftige Todesurteile gegen eine christliche Frau und ein christliches Mädchen, ohne dass nähere Umstände hierzu bekannt geworden sind (vgl. etwa Human Rights Watch World Report 2014, S. 367 f. – im Folgenden HRWWR). Im Jahre 2012 kam es zu insgesamt 113 Anklagen (gegenüber 79 im Jahre 2011), davon 12 gegen Christen (Lagebericht, S. 14; vgl. auch HRCP, S. 33 f., die von geringfügig höheren Zahlen ausgeht). Im Jahre 2013 wurden insgesamt gegen 68 Personen Verfahren eingeleitet, darunter gegen 14 Christen; es wurden insgesamt mindestens 16 oder 17 Personen zum Tode und 19 oder 20 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, davon eine Verurteilung eines Christen zu lebenslanger Freiheitsstrafe und zwei Freisprüche von Christen (vgl. US Commission of International Religious Annual Report 2014, S. 76 – Im Folgenden USCIRF I; HRWWR, S. 367; HRCP, S. 33 ff.; vgl. zu weiteren Verurteilungen eines britischen Staatsangehörigen und einer pakistanischen Christin im Jahre 2014 Briefing Notes vom 27.01.2014 und 31.03.2014).
43 
Die Religionsausübung der christlichen Minderheit wird grundsätzlich staatlicherseits nicht eingeschränkt oder behindert. Für das Jahr 2012 wurde allerdings berichtet, dass auch staatliche Stellen sich an der Zerstörung christlicher Einrichtungen beteiligt hätten (vgl. US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2012, S. 126 – Im Folgenden USCIRF II). Vergleichbare Vorkommnisse werden für das Jahr 2013 in den zahlreichen Erkenntnismitteln an keiner Stelle mehr erwähnt (vgl. USCRIF I, S. 75 ff. und US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2013, S. 123 – im Folgenden USCRIF IV).
44 
Die wesentlichen Probleme, mit denen religiöse Minderheiten konfrontiert sind, sind die Auswirkungen der zunehmenden interkonfessionellen Gewaltakte von nicht-staatlicher Seite und Diskriminierungen im gesellschaftlichen Leben (vgl. hierzu schon ausführlich Senatsurteil vom 12.06.2013 – A 11 S 757/13). Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Gewalttaten bislang überwiegend gar nicht gegen Christen, sondern gegen Angehörige der schiitischen Minderheit richten (vgl. BAA, S. 19 f und 47 f.; Lagebericht, S. 16; HRWWR, S. 367; USCIRF I, S. 75). Für das Jahr 2013 wurden insgesamt 658 Tote und 1195 Verletzte gezählt (vgl. Lagebericht S. 16), die gegen religiöse Minderheiten gerichteten interkonfessionellen Gewaltakten zum Opfer gefallen sind, während es sich im Jahre 2012 „nur“ um 507 Tote und 577 Verletzte gehandelt hatte (vgl. COI, Ziffer 19.233). Was die christliche Minderheit betrifft, sind besonders hervorzuheben ein Anschlag auf die anglikanische Allerheiligen-Kirche in Peshawar am 22.09.2013, durch den wohl etwa 100 Personen getötet und über 150 zum Teil schwer verletzt wurden (vgl. Lagebericht, S. 16, und USCIRF I, S. 76). Im März und April attackierte eine aufgehetzte Menschenmenge christliche Siedlungen bzw. Dörfer; bei den Attacken wurden über 100 Häuser zerstört, ohne dass aber Menschenleben zu beklagen waren (vgl. USCIRF I, S. 76; vgl. auch BAA, S. 42 f.; vgl. auch HRCP, S. 94 - zu weiteren – allerdings vereinzelten – Übergriffen auf Kirchen S. 94), wobei auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorfall im März 2013 von langer Hand vorbereitet worden war. Im Wesentlichen alle verwerteten Erkenntnismittel sind sich in diesem Zusammenhang einig, dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane hierbei den erforderlichen Schutz nur lückenhaft gewähren oder jedenfalls viel zu spät eingreifen, wobei dieses oftmals nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass diese Organe überfordert wären, sondern auch auf einer offensichtlich mangelnden Bereitschaft beruht, effektiven Schutz zu gewähren (vgl. etwa BAA, S. 19 ff. und 42 ff.; HRWWR, S. 367; UNHCR, S. 1 f.; vgl. zu unzureichenden Schutzmaßnahmen schon Departement of State‘s International Religious Freedom Report for 2012, Stichwort „Government Inaction“ – Im Folgenden USCIRF III). Allerdings ist auch festzuhalten, dass es fundierte Berichte gibt, dass Polizeiorgane bei dem Versuch, den gebotenen Schutz zu gewähren, ernsthafte Verletzung erlitten haben (vgl. BAA, S. 43; vgl. auch S. 46 zu Schutzmaßnahmen bei Prozessionen). Immerhin haben die Sicherheitsorgane nach gewalttätigen Übergriffen auch Ausgangssperren zum Schutze der Minderheiten und gegenüber muslimischen Klerikern Verbote verhängt, die Stadt zu betreten, um zu verhindern, dass diese zur Gewalt aufstacheln und Hassreden halten (vgl. HRCP S. 76). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang abschließend, dass es nach dem Angriff am 22.09.2013 in Lahore und Islamabad bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Solidaritätsaktionen zugunsten der Christen gab, indem um mehrere Kirchen Menschenketten gebildet wurden (HRCP, S. 94).
45 
Selbst wenn man bei der gebotenen qualitativen Bewertung (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - NVwZ 2011, 56, vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487) berücksichtigt, dass derartige Gewaltakte teilweise nicht vorhergesehen werden und die Angehörigen der religiösen Minderheiten gewissermaßen aus heiterem Himmel treffen können, was es ihnen dann aber unmöglich macht, ihnen auszuweichen, so genügen selbst die für das Jahr 2013 festgestellten Opferzahlen, die nach den verwerteten Erkenntnismitteln überwiegend nicht die christliche Minderheit betreffen, bei weitem nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, jeder Angehörige dieser mindestens drei Millionen zählenden Minderheit müsse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer derartiger Leib oder Leben betreffenden Akte zu werden. Daran ändern nichts die etwa vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 08.04.2014 (S. 16) getroffene Feststellung, dass nach den Ereignissen des Jahres 2013 die Bedrohungslage der christlichen Minderheit in Pakistan eine neue Qualität habe, und die Tatsache, dass die Human Rights Commission of Pakistan davon spricht, dass das Jahr 2013 eines der schwärzesten für die christlichen Gemeinden in Pakistan gewesen sei (HRCP, S. 92). Auch UNHCR ist bislang der Auffassung gewesen, dass eine generelle, vom Einzelfall unabhängige Gefährdung nicht besteht (UNHCR, S. 8). Selbst die Organisation „Open Doors“ (Länderprofile Pakistan), die insgesamt ein durchaus düsteres Bild vermittelt, das aber in den anderen Erkenntnismitteln keine unmittelbare Entsprechung findet, geht davon aus, dass die christlichen Gemeinden sich nach wie vor ungehindert auch mit Öffentlichkeitsbezug versammeln und arbeiten können, auch wenn mitunter die Kirchen von bezahlten Wachleuten geschützt werden. Der Senat kann daher offen lassen, ob der pakistanische Staat den durch Art. 7 Abs. 2 QRL geforderten effektiven Schutz gewährleistet, was aber nach den verwerteten Erkenntnismitteln eher zu verneinen sein dürfte.
46 
Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch nicht ungefährliches religiöses Leben der christlichen Minderheit auch mit unmittelbarem Öffentlichkeitsbezug in Pakistan gibt, wird beispielhaft illustriert durch die – auch neueren – Berichte, die auf der Website http://www.kirche-in-not.de/tag/pakistan erschienen sind und weiter erscheinen. Dass tatsächlich der christliche Glaube in nennenswertem Umfang in Pakistan gelebt und aktiv praktiziert wird, lässt sich auch unschwer daraus ablesen, dass die Kirchen in erheblichem Umfang Schulen und andere Bildungseinrichtungen betreiben (vgl. missio, Länderberichte Religionsfreiheit: Pakistan, 2012, S. 18 – im Folgenden missio; Deutschlandradio Kultur vom 13.01. und 11.02.2014; vgl. auch den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Ausdruck des Internetauftritts der FGA-Church Pakistan). Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Erzdiözesen Karachi und Lahore seit langer Zeit größere Krankhäuser betreiben und auch seit 2009 eigene Fernsehsender unterhalten (Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Lahore Stand 28.03.2014; Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Karachi Stand 28.03.2014).
47 
Die gesellschaftliche und soziale Lage der christlichen Minderheit wird übereinstimmend als durchaus prekär und durch vielfältige Diskriminierungen geprägt beschrieben. Gleichwohl ist das Bild zwiespältig. Die festzustellende Marginalisierung und Diskriminierung beruht dabei keineswegs allein oder ganz überwiegend auf dem christlichen Glauben, sondern hat auch eine wesentliche Wurzel in dem noch nachwirkenden und überkommenen Kastenwesen, weil die Christen zum größten Teil Nachkommen von Hindus sind, die der Kaste der Unberührbaren angehörten (vgl. BAA, S. 52; COI, Ziffer 19.198 und 19.204). Dies hat zur Folge, dass die überwiegende Zahl der Christen der Unterschicht zuzurechnen ist und unter der Armutsgrenze lebt, was im Übrigen auch für andere Minderheiten gilt, und die Rate von Analphabetentum sehr groß ist (vgl. Lagebericht, S. 13 f.; BAA, S. 50 ff.; Immigration und Refugee Board of Canada, Pakistan: Religious conversions, including treatment of converts and forced conversions (2009 – 2012), Ziff. 1 – im Folgenden Canada). Diese Stellung wiederum macht eine wesentliche Ursache dafür aus, dass junge christliche Frauen und Mädchen in besonderem Maße das Opfer von unfreiwilligen Bekehrungen und Verheiratungen nach Entführungen werden (vgl. COI, Ziffer 19.188 und 19.198; UNHCR, S. 7; HRCP, S. 95 f.), wobei auch hier ein wirklich effektiver Schutz durch die pakistanischen Sicherheitsorgane nicht gewährt wird, auch wenn in der Nationalversammlung und auf der staatlichen Führungsebene das Problem gesehen und über Abhilfe diskutiert wird (vgl. Canada Ziff. 1). Allerdings berichtet die Pakistanische Menschenrechtsorganisation für das Jahr 2013 durchaus von erheblich weniger erfolgreichen oder versuchten zwangsweisen Konversionen bzw. Verheiratungen (vgl. HRCP, S. 91). Bei alledem darf letztlich aber zudem nicht die Tatsache ausgeblendet werden, dass Entführungen, Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen von (jungen) Frauen in Pakistan ein durchaus gesamtgesellschaftliches Phänomen und Problem darstellen, das weit über die christliche Minderheit hinausreicht (vgl. COI, Ziff. 23.156 ff.; Lagebericht, S. 19 und 21). Die Christen arbeiten überwiegend in der Landwirtschaft, der Steinbearbeitungs-, Glas-, Teppich- und Fischereiindustrie, für die auch Elemente von Zwangsarbeit festgestellt wurden, gegen die die staatlichen Stellen trotz entsprechender Verbotsgesetze nicht effektiv vorgehen (vgl. UNHCR, S. 8). Die Diskriminierung der christlichen Minderheit findet aber auch hier nicht in erster Linie im staatlichen Sektor statt, in dem allenfalls in Bezug auf höhere Positionen eine signifikante Unterrepräsentierung festzustellen ist (vgl. BAA, S. 51; vgl. zum Bildungswesen und diskriminierenden Bildungsinhalten bzw. zum obligatorischen islamischen Religionsunterricht USCIRF III, Stichwort „Governments Practice“). Die staatliche Seite versucht durchaus, gesellschaftlichen Diskriminierungen entgegen zu arbeiten (vgl. BAA, S. 41 und 52). An einer konsequenten, geschweige denn erfolgreichen auf den nicht-staatlichen Bereich bezogenen Antidiskriminierungspolitik mangelt es zwar. Ein solches Unterlassen stellt jedoch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 (hier v.a. lit. b, c und d) QRL dar, wenn man überhaupt in einem Unterlassen eine relevante Verfolgungshandlung sehen will (vgl. zum Problem grundsätzlich Marx, Handbuch zu Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 11 Rn. 2 ff.), weshalb schon deshalb auch aus einer Gesamtschau aller negativen Faktoren (einschließlich der festgestellten Übergriffe auf Leib und Leben sowie vereinzelter menschenrechtlich fragwürdiger Verfahren wegen eines behaupteten Verstoßes gegen einzelne Bestimmungen der Blasphemiegesetzgebung) keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL abgeleitet werden kann. Denn nur in einer finalen und systematischen Vorenthaltung des staatlichen Schutzes zur Vermeidung erheblicher Menschenrechtsverletzungen kann überhaupt ein zurechenbares und daher flüchtlingsrechtlich relevantes Verhalten erblickt werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 984), was jedoch aus den verwerteten Erkenntnismitteln nicht hinreichend deutlich zutage tritt. Geht man hingegen davon aus, dass in einem Unterlassen generell keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL liegen kann und verortet man die Problemstellung (nur) bei der Frage, welche Anforderungen an das nach Art. 7 Abs. 2 QRL geforderte nationale Schutzsystem zu stellen sind, so führt dies zu keiner anderen Sicht der Dinge. Zwar finden sich in einer Vielzahl von Menschrechtspakten ausdrückliche Diskriminierungsverbote (vgl. etwa Art. 2 AEM; Art. 14 EMRK; Art. 26 IPbpR), die mittlerweile zu einem allgemeinen völkergewohnheitsrechtlichen Diskriminierungsverbot erstarkt sein dürften (vgl. Marx, a.a.O., § 16 Rn 45), das auch Art. 9 Abs. 2 QRL zugrunde liegt, das aber grundsätzlich in erster Linie an staatliche Akteure gerichtet ist. Es existiert jedoch keine allgemeine, auch flüchtlingsrechtlich relevante Verpflichtung, Diskriminierungen durch nicht-staatliche Akteure umfassend zu unterbinden und mit allen Mitteln effektiv zu bekämpfen. Ein auch solche Handlungen, die unterhalb der Schwelle von Eingriffen in Leib, Leben oder persönlicher Freiheit liegen, unterbindendes Schutzsystem wird durch Art. 7 Abs. 2 QRL nicht gefordert. Soweit etwa Art. 7 IPwskR das Recht der Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige oder auf gleiche Möglichkeiten auf beruflichen Aufstieg anerkennt und damit auch nicht-staatliche Akteure im Blick hat, handelt es sich nicht um ein Instrumentarium, das bedingungslos grundlegende menschenrechtliche Standards umschreibt, die flüchtlingsrechtlich eine Verpflichtung zu einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik auslöst und daher Grundlage eines umfassenden flüchtlingsrechtlich relevanten menschenrechtlichen Schutzstandards sein könnte. Dies gilt namentlich dann, wenn - wie dargelegt - die allgemeine sozio-ökonomische Lage der christlichen Minderheit gar nicht monokausal auf ihre Religionszugehörigkeit zurückgeführt werden kann.
48 
Das vom Kläger angesprochene „land grabbing“ privater Akteure ist ein in Pakistan weit verbreitetes Phänomen und richtet sich nicht spezifisch gegen die christliche Minderheit, sondern betrifft auch andere Bewohner des Landes, die sich aufgrund ländlicher feudaler oder sonstiger ubiquitärer mafiöser Strukturen in einer unterlegenen Position befinden und bei denen nicht selten effektiver staatlicher Schutz ausfällt (vgl. COI, Ziff. 35.01; HRCP, S. 253).
49 
Ungeachtet dessen vermag der Senat den zahlreichen verwerteten Erkenntnismitteln auch keinen tragfähigen Ansatz für eine Feststellung zu entnehmen, dass die Lage der christlichen Minderheit generell betrachtet durch eine schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL gekennzeichnet wäre.
50 
Etwas anderes gilt auch nicht allgemein und generell betrachtet für den Personenkreis der vom Islam zum Christentum Konvertierten.
51 
Zunächst ist davon auszugehen, dass die pakistanische Rechtsordnung den Vorgang der Konversion nicht untersagt oder gar strafrechtlich bewertet (vgl. Lagebericht, S. 14). Versuche, die Rechtslage zu Lasten der Konvertiten zu verändern, sind sogar gescheitert und aufgegeben worden (vgl. COI, Ziff. 19.66). Allerdings kann hier die bereits erwähnte Blasphemie-Gesetzgebung zum Einfallstor für Verfolgungen und Diskriminierungen werden, wenn es um die Beurteilung von Äußerungen und Verhaltensweisen im Kontext einer Konversion geht (vgl. missio, S. 13 und 17; Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014, S. 3). Dass aber in signifikantem Umfang der hier zu beurteilende Personenkreis betroffen sein könnte, lässt sich den vielfältigen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, obwohl in ihnen eine unübersehbare Fülle von Einzelinformationen verarbeitet wurden. Auch missio benennt in diesem Kontext keine konkreten Einzelfälle, sondern weist nur auf die Möglichkeit hin. Für die staatliche Ebene wird allerdings berichtet, dass ein Neueintrag der christlichen Religion in den Personalausweisen bzw. Pässen nicht möglich ist, jedenfalls faktisch nicht vorgenommen wird (Canada, Ziffer 3). Zwar wird auch berichtet, dass im Falle einer Konversion beider Ehegatten die Kinder der Konvertierten als „illegitim“ eingestuft werden und der Staat die Kinder sogar in Obhut nehmen kann. Dazu wird aber in den zahlreichen Erkenntnismitteln, die sehr ausführlich über Konversion berichten, insbesondere auch in den spezifisch christlichen bzw. kirchlichen Erkenntnismitteln kein einziger Fall benannt, geschweige denn nachvollziehbar dokumentiert.
52 
Die Probleme liegen wiederum in erster Linie in der gesellschaftlichen Sphäre. Denn nicht unerhebliche Teile der pakistanischen Gesellschaft stehen den religiösen Minderheiten ablehnend, wenn nicht gar feindselig gegenüber. Umso mehr wird dann eine Konversion weg vom Islam missbilligt, was zu hohen Befürwortungsraten für die Verhängung der Todesstrafe führt (vgl. COI, Ziff. 19.67). Wie bereits dargelegt, hat sich diese gesellschaftliche Stimmung aber nicht in entsprechenden erfolgreichen Gesetzesvorhaben niedergeschlagen. Teilweise stößt eine Konversion in der eigenen Familie des Konvertiten auf strikte Ablehnung, was dazu führen kann, dass der Betreffende aus der Familie verstoßen wird. Vereinzelt ist es hier auch zu körperlichen Übergriffen bis zu Tötungen gekommen (vgl. Canada, Ziff. 1 und 3). Den verwerteten Erkenntnismitteln nach kann es sich aber nicht um eine weiter verbreitete oder gar allgegenwärtige Erscheinung handeln.
53 
Die Folgen der gesellschaftlichen und innerfamiliären Ablehnung und Missbilligung gehen dahin, dass Konvertiten es teilweise, jedoch nicht generell, bewusst vermeiden, die Konversion an die Öffentlichkeit zu tragen, und daher ggf. auch den Wohnort wechseln, um nicht in ihrem bisherigen Wohnumfeld aufzufallen, um dann andernorts gewissermaßen als „unbeschriebenes Blatt“ als Christ auftreten und diesen Glauben mit den oben beschriebenen Einschränkungen leben zu können (vgl. etwa Open Doors, Länderprofile Pakistan). Das bedingt aber andererseits, dass es verlässliche Zahlen über die Konversionen vom Islam weg nicht geben kann. Auch wenn angesichts der geschilderten Haltung der Mehrheitsgesellschaft davon auszugehen sein wird, dass die Zahl der erfolgten Lösungen vom Islam oder Konversionen weg vom Islam nicht sehr groß sein wird, so fehlt es doch gegenwärtig an ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass nach Maßgabe der für die Annahme einer Gruppenverfolgung zugrunde zu legenden Prognosemaßstäbe jeder pakistanische Staatsangehörige, der sich vom Islam löst, unterschiedslos ein reales Risiko läuft, von einer schweren Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. a) oder lit. b) QRL betroffen zu sein. Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch den Bericht von Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014 und die dort geschilderte Haltung und Einschätzung eines ehemaligen Muslim bestätigt, die deutlich machen, dass Konversion bzw. auch nur Abkehr vom Islam möglich ist, tatsächlich stattfindet und keineswegs mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Im konkreten Einzelfall mag aufgrund individueller Umstände eine andere Beurteilung erforderlich werden. Unabhängig hiervon sieht der Senat keine durchgreifenden Hindernisse für eine Person in der Lage des Klägers, im Falle von unmittelbaren Anfeindungen und Übergriffen im persönlichen Umfeld seinen Wohnort zu wechseln (vgl. Art. 8 QRL), wie dieses nach den verwerteten Erkenntnismitteln immer wieder geschieht, um ein Leben als Christ führen zu können (vgl. Lagebericht, S. 24; Open Doors, Länderprofile Pakistan; Home Office, Country Information and Guidance, Pakistan: Religious freedom, 2014, Ziff. 2.4.16 f.). Aufgrund besonderer Umstände mag auch hier im Einzelfall etwas anderes gelten. Diese sind jedoch in der Person des Klägers nicht erkennbar geworden. Zwar hat er behauptet, als Cricketspieler in Lahore bekannt zu sein. Dass dieses landesweit der Fall gewesen sein könnte, erschließt sich dem Senat nicht. Denn solches wurde vom Kläger schon nicht nachvollziehbar und substantiiert behauptet. Ungeachtet dessen ist seine Person an keiner Stelle im Internet im Kontext des Cricketsports in Pakistan zu finden, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde.
54 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylVfG. Gründe dafür, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO).

Gründe

 
21 
Die zulässige, unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung bleibt ohne Erfolg.
22 
Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
23 
I. Nach § 3 Abs. 4 AsylVfG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
24 
Nach § 3a Abs. 1 AsylVfG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU - QRL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 unter anderem die folgenden Handlungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylVfG (vgl. Art. 12 Abs. 2 QRL) fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylVfG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss dabei zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
25 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylVfG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
26 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylVfG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 982, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
27 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 lit. d) QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 v.H. für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. zum kausalen und zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
28 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt gewesen war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
29 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen bestehen regelmäßig aus solchen, die in der Vergangenheit wie auch aus solchen, die in der Gegenwart liegen. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (BVerwG, Urteile vom 20.11.1990 - 9 C 74.90 - NVwZ 1991, 382, und - 9 C 72.90 - NVwZ 1991, 384).
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3b AsylVfG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 05.07.1994 - a.a.O.).
31 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylVfG, Art. 8 QRL).
32 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie nunmehr durch § 3c Nr. 3 AsylVfG (vgl. Art. 6 lit. c) QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
33 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3c Nr. 1 und 2 AsylVfG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylVfG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237)
34 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a. - InfAuslR 2010, 188; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 - InfAuslR 2010,188). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - NVwZ 2011, 51). Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden im Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
35 
II. Dem Kläger ist zunächst nicht aus individuellen Verfolgungsgründen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
36 
Der Senat konnte insbesondere aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung und des in ihr gewonnenen Eindrucks von der Person des Klägers nicht die erforderliche volle Überzeugung davon gewinnen, dass die vom Kläger behaupteten Vorfluchtgründe, namentlich dass er allein wegen mehrerer Kirchenbesuche in erheblichem Maße körperlich misshandelt wurde, der Wahrheit entsprechen.
37 
Der Kläger hatte ausweislich der ihm rückübersetzten und von ihm ausdrücklich bestätigten Niederschrift des Bundesamts vom 15.05.2013 im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass in seiner Gegend „moslemische Jungs“ gewesen seien, die ihm gesagt hätten, er solle nicht in die christliche Kirche gehen; sie hätten ihm Prügel angedroht. Einige Tage später habe man ihn auf dem Weg in die Kirche angehalten und ihm auf den Kopf gehauen. Es seien 10 bis 12 Leute aus seinem Stadtbezirk gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat er gegenüber dem Senat hingegen behauptet, es seien seine beiden älteren Brüder, seine Cousins und Nachbarn gewesen, die ihn angehalten und geschlagen hätten. Eine plausible Erklärung auf den ihm vorgehaltenen Widerspruch konnte der Kläger dem Senat nicht unterbreiten. Dieser Widerspruch ist aus der Sicht des Senats von so großem Gewicht, dass er den von ihm behaupteten und seiner Schilderung nach wesentlichen Fluchtgrund dem Kläger nicht zu glauben vermag. Sicherlich können auch Nachbarn als „Leute aus seinem Stadtbezirk“ verstanden werden, dann aber ist es völlig fernliegend, wenn er, falls sich der Vorfall überhaupt so abgespielt hätte, nicht die Beteiligung engster Familienangehöriger beim Bundesamt erwähnt hätte. Denn es stellt eine ganz andere Qualität der eigenen Betroffenheit dar, wenn die Übergriffe von der eigenen Familie ausgehen. Der Vollständigkeit halber weist der Senat auch darauf hin, dass die Schilderung des Vorfalls auffallend blass geblieben ist und insbesondere eine plausible Darstellung vermissen ließ, wie es ihm gelungen sein soll, bei einer Überzahl von 10 bis 12 Leuten zu fliehen, wie er in der mündlichen Verhandlung behauptet hatte. Nicht nachzuvollziehen ist für den Senat auch, dass der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht sagen konnte, wo sich genau die Praxis des von ihm aufgesuchten Arztes befindet, sondern nur Vermutungen angestellt hatte, obwohl es „sein“ Arzt im eigenen Stadtviertel gewesen sein soll. Sowohl bei der Anhörung durch das Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung ist aus der Sicht des Senats nicht deutlich geworden, weshalb der Kläger sofort nach einem ersten Vorfall das Land unter Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel verlassen hat und als alleinstehender junger Mann nicht vielmehr erst einmal sein engeres soziales und familiäres Umfeld aufgegeben und in eine andere Stadt gegangen ist. Der bloße Einwand, dass in Pakistan überall Moslems lebten und er sich sicher gewesen sei, dass sie ihn auch dort umgebracht hätten, ist nicht ohne weiteres plausibel, wenn die Gefährdung doch von einem engsten sozialen und familiären Umfeld ausgegangen sein soll, das ihn sehr gut gekannt hätte. Weshalb in einer anderen Stadt hätte veröffentlicht werden sollen, dass er Christ bzw. getauft worden sei, erschließt sich dem Senat nicht. Auch seine Erläuterung, dass er erst hier erfahren haben will, dass man, um Christ zu werden, getauft werden muss, ist nicht nachvollziehbar, wenn er in Pakistan bereits gewusst haben will, dass er Christ werden wolle, weshalb auch die behaupteten engeren Kontakte zu einer christlichen Kirche in Pakistan, über die er zudem auffallend wenig berichten konnte, generell infrage stehen.
38 
Nach der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hatte er seit etwa sechs Jahren Kontakt zu einem Mitspieler christlichen Glaubens mit Namen Zxxx im Cricketclub. Schon beim Bundesamt wie auch beim Verwaltungsgericht blieb der Kläger eine nachvollziehbare Erklärung dafür schuldig, weshalb er erst im Jahre 2011 von Zxxx angesprochen und aufgefordert worden sein will, mit in die Kirche zu gehen, und dieses nicht schon viel früher geschehen sein soll. Er hatte lediglich angegeben, dass sie erst im Jahre 2011 starke Freunde geworden seien, ohne dieses aber näher zu erläutern. Auch in der mündlichen Verhandlung fehlte eine schlüssige Antwort auf entsprechende Fragen des Senats. Bemerkenswert ist zudem, dass der Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt mehrfach davon gesprochen hatte, dass verschiedene „Jungs“ christlichen Glaubens aus dem Club, die enge Freunde von ihm gewesen seien, ihn angesprochen und aufgefordert hätten, in die Kirche zu gehen, während in der mündlichen Verhandlung davon auch nicht mehr im Ansatz die Rede war, sondern nur noch von Zxxx. Die Freunde sollen nach den beim Bundesamt gemachten Angaben auch die Ausreise gemeinsam organisiert haben, wovon der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht mehr gesprochen hatte. Schließlich kann angesichts grundlegender Widersprüche und Unzulänglichkeiten nicht übersehen werden und muss auch jedenfalls in der Gesamtschau zum Nachteil des Klägers gewertet werden, dass er beim Bundesamt den Namen des Freundes mit „Axxx“ angegeben hatte. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Übertragungsfehler gehandelt haben könnte, sieht der Senat nicht. Denn zum einen ist die Ähnlichkeit beider Namen nicht sehr groß, zum anderen wurde die Niederschrift rückübersetzt, ohne dass der Kläger insoweit eine Berichtigung angebracht hätte; auch in der Folgezeit nach Erhalt einer Protokollabschrift ist solches nicht geschehen. Bemerkenswert ist auch, dass der Kläger beim Bundesamt nicht näher eingrenzen konnte, wann er im Jahre 2011 mit den Besuchen in der Kirche begonnen hatte, während er beim Verwaltungsgericht den Vorfall immerhin nunmehr auf den achten oder neunten Monat 2012 (gemeint 2011) relativ präzise datieren konnte. In der mündlichen Verhandlung will er nunmehr mit den Besuchen im neunten Monat begonnen haben, während sich der Vorfall im zehnten Monat abgespielt haben soll. Das wiederum passt offensichtlich nicht zu seinem Vorbringen, er sei nach dem Vorfall nicht mehr zur Familie gegangen, sondern zu Zxxx, bei dem er noch 20 bis 25 Tage geblieben sei bis er mit dem Zug von Lahore nach Quetta gefahren sei, während er beim Bundesamt angegeben hatte, am 23.12.2011 (nicht wie im Protokoll offensichtlich irrtümlich ausgeführt 2012) von Lahore mit dem Zug nach Quetta gefahren zu sein.
39 
III. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht allein deshalb zuerkannt werden, weil er inzwischen Christ ist und im Falle der Rückkehr seinen Glauben aktiv auch in der Öffentlichkeit praktizieren wird. Der Senat geht in diesem Zusammenhang nach den Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass er als getaufter Christ seinem Glauben innerlich verbunden ist und es zu den von ihm als verbindlich verstanden Glaubensinhalten gehört, regelmäßig an den Gottesdiensten seiner Gemeinde teilzunehmen und sich an der Gemeindearbeit zu beteiligen.
40 
Christen in Pakistan droht nach den im Verfahren vom Senat zugrunde gelegten und ausgewerteten Erkenntnismitteln nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wegen ihres Glaubens und ihrer – auch öffentlichen – Glaubensbetätigung einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL ausgesetzt zu sein.
41 
Der Senat geht davon aus, dass in Pakistan mindestens 3 Millionen Christen leben (vgl. AA Lagebericht vom 08.04.2014, S. 6 und 16 – im Folgenden Lagebericht; vgl. aber auch Home Office, Pakistan, Country of Origin Information Report vom 09.10.2013, Ziffer 19.178 – im Folgenden COI – wonach laut einiger Quellen die Zahl in Wirklichkeit das Doppelte betragen soll). Nach der Rechtslage bestehen - anders als bei der religiösen Minderheit der Ahmadis – keine wesentlichen unmittelbaren Diskriminierungen der Christen in Pakistan (vgl. etwa Lagebericht, S. 13 f.; BAA, Bericht zur Fact Finding Mission, Pakistan, Juni 2013, S. 38 ff. und 51 ff. – im Folgenden BAA). Eine Ausnahme besteht insoweit, als der Premierminister sowie der Präsident Muslim sein muss, was teilweise als schlechtes Signal an die Bevölkerung beschrieben wird, dass die Minderheiten auch minderwertig seien (vgl. BAA, S. 51). Allerdings wirkt sich die sog. Blasphemiegesetzgebung auch bei der christlichen Minderheit faktisch zu ihrem Nachteil aus, zumal diese – nicht anders als bei anderen Minderheiten, aber auch bei der Mehrheitsbevölkerung – in erheblichem Maße aus eigensüchtigen Motiven und Gründen von den Anzeigeerstattern missbraucht wird (vgl. ausführlich auch BAA, S. 48 ff.; COI, Ziffer 19.33. ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Angehörigen religiöser Minderheiten in Pakistan, 10.10.2012, S. 6 f. – im Folgenden UNHCR; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2013, S. 27 ff und 101 ff. – im Folgenden HRCP).
42 
Der Senat hat sich zu den Blasphemiegesetzen in seinem den Beteiligten im Einzelnen bekannten Urteil vom 12.06.2013 (A 11 S 757/13 - juris) ausführlich geäußert, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird (vgl. dort Rn. 68 ff.). Wesentlich neue Aspekte haben sich insoweit zwischenzeitlich nicht ergeben. Betroffen sind davon allerdings in erster Linie nicht Angehörige der christlichen Minderheit. Dokumentiert sind zwei nicht rechtskräftige Todesurteile gegen eine christliche Frau und ein christliches Mädchen, ohne dass nähere Umstände hierzu bekannt geworden sind (vgl. etwa Human Rights Watch World Report 2014, S. 367 f. – im Folgenden HRWWR). Im Jahre 2012 kam es zu insgesamt 113 Anklagen (gegenüber 79 im Jahre 2011), davon 12 gegen Christen (Lagebericht, S. 14; vgl. auch HRCP, S. 33 f., die von geringfügig höheren Zahlen ausgeht). Im Jahre 2013 wurden insgesamt gegen 68 Personen Verfahren eingeleitet, darunter gegen 14 Christen; es wurden insgesamt mindestens 16 oder 17 Personen zum Tode und 19 oder 20 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, davon eine Verurteilung eines Christen zu lebenslanger Freiheitsstrafe und zwei Freisprüche von Christen (vgl. US Commission of International Religious Annual Report 2014, S. 76 – Im Folgenden USCIRF I; HRWWR, S. 367; HRCP, S. 33 ff.; vgl. zu weiteren Verurteilungen eines britischen Staatsangehörigen und einer pakistanischen Christin im Jahre 2014 Briefing Notes vom 27.01.2014 und 31.03.2014).
43 
Die Religionsausübung der christlichen Minderheit wird grundsätzlich staatlicherseits nicht eingeschränkt oder behindert. Für das Jahr 2012 wurde allerdings berichtet, dass auch staatliche Stellen sich an der Zerstörung christlicher Einrichtungen beteiligt hätten (vgl. US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2012, S. 126 – Im Folgenden USCIRF II). Vergleichbare Vorkommnisse werden für das Jahr 2013 in den zahlreichen Erkenntnismitteln an keiner Stelle mehr erwähnt (vgl. USCRIF I, S. 75 ff. und US Commission of International Religious Freedom Annual Report 2013, S. 123 – im Folgenden USCRIF IV).
44 
Die wesentlichen Probleme, mit denen religiöse Minderheiten konfrontiert sind, sind die Auswirkungen der zunehmenden interkonfessionellen Gewaltakte von nicht-staatlicher Seite und Diskriminierungen im gesellschaftlichen Leben (vgl. hierzu schon ausführlich Senatsurteil vom 12.06.2013 – A 11 S 757/13). Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Gewalttaten bislang überwiegend gar nicht gegen Christen, sondern gegen Angehörige der schiitischen Minderheit richten (vgl. BAA, S. 19 f und 47 f.; Lagebericht, S. 16; HRWWR, S. 367; USCIRF I, S. 75). Für das Jahr 2013 wurden insgesamt 658 Tote und 1195 Verletzte gezählt (vgl. Lagebericht S. 16), die gegen religiöse Minderheiten gerichteten interkonfessionellen Gewaltakten zum Opfer gefallen sind, während es sich im Jahre 2012 „nur“ um 507 Tote und 577 Verletzte gehandelt hatte (vgl. COI, Ziffer 19.233). Was die christliche Minderheit betrifft, sind besonders hervorzuheben ein Anschlag auf die anglikanische Allerheiligen-Kirche in Peshawar am 22.09.2013, durch den wohl etwa 100 Personen getötet und über 150 zum Teil schwer verletzt wurden (vgl. Lagebericht, S. 16, und USCIRF I, S. 76). Im März und April attackierte eine aufgehetzte Menschenmenge christliche Siedlungen bzw. Dörfer; bei den Attacken wurden über 100 Häuser zerstört, ohne dass aber Menschenleben zu beklagen waren (vgl. USCIRF I, S. 76; vgl. auch BAA, S. 42 f.; vgl. auch HRCP, S. 94 - zu weiteren – allerdings vereinzelten – Übergriffen auf Kirchen S. 94), wobei auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorfall im März 2013 von langer Hand vorbereitet worden war. Im Wesentlichen alle verwerteten Erkenntnismittel sind sich in diesem Zusammenhang einig, dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane hierbei den erforderlichen Schutz nur lückenhaft gewähren oder jedenfalls viel zu spät eingreifen, wobei dieses oftmals nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass diese Organe überfordert wären, sondern auch auf einer offensichtlich mangelnden Bereitschaft beruht, effektiven Schutz zu gewähren (vgl. etwa BAA, S. 19 ff. und 42 ff.; HRWWR, S. 367; UNHCR, S. 1 f.; vgl. zu unzureichenden Schutzmaßnahmen schon Departement of State‘s International Religious Freedom Report for 2012, Stichwort „Government Inaction“ – Im Folgenden USCIRF III). Allerdings ist auch festzuhalten, dass es fundierte Berichte gibt, dass Polizeiorgane bei dem Versuch, den gebotenen Schutz zu gewähren, ernsthafte Verletzung erlitten haben (vgl. BAA, S. 43; vgl. auch S. 46 zu Schutzmaßnahmen bei Prozessionen). Immerhin haben die Sicherheitsorgane nach gewalttätigen Übergriffen auch Ausgangssperren zum Schutze der Minderheiten und gegenüber muslimischen Klerikern Verbote verhängt, die Stadt zu betreten, um zu verhindern, dass diese zur Gewalt aufstacheln und Hassreden halten (vgl. HRCP S. 76). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang abschließend, dass es nach dem Angriff am 22.09.2013 in Lahore und Islamabad bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Solidaritätsaktionen zugunsten der Christen gab, indem um mehrere Kirchen Menschenketten gebildet wurden (HRCP, S. 94).
45 
Selbst wenn man bei der gebotenen qualitativen Bewertung (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - NVwZ 2011, 56, vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487) berücksichtigt, dass derartige Gewaltakte teilweise nicht vorhergesehen werden und die Angehörigen der religiösen Minderheiten gewissermaßen aus heiterem Himmel treffen können, was es ihnen dann aber unmöglich macht, ihnen auszuweichen, so genügen selbst die für das Jahr 2013 festgestellten Opferzahlen, die nach den verwerteten Erkenntnismitteln überwiegend nicht die christliche Minderheit betreffen, bei weitem nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, jeder Angehörige dieser mindestens drei Millionen zählenden Minderheit müsse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer derartiger Leib oder Leben betreffenden Akte zu werden. Daran ändern nichts die etwa vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 08.04.2014 (S. 16) getroffene Feststellung, dass nach den Ereignissen des Jahres 2013 die Bedrohungslage der christlichen Minderheit in Pakistan eine neue Qualität habe, und die Tatsache, dass die Human Rights Commission of Pakistan davon spricht, dass das Jahr 2013 eines der schwärzesten für die christlichen Gemeinden in Pakistan gewesen sei (HRCP, S. 92). Auch UNHCR ist bislang der Auffassung gewesen, dass eine generelle, vom Einzelfall unabhängige Gefährdung nicht besteht (UNHCR, S. 8). Selbst die Organisation „Open Doors“ (Länderprofile Pakistan), die insgesamt ein durchaus düsteres Bild vermittelt, das aber in den anderen Erkenntnismitteln keine unmittelbare Entsprechung findet, geht davon aus, dass die christlichen Gemeinden sich nach wie vor ungehindert auch mit Öffentlichkeitsbezug versammeln und arbeiten können, auch wenn mitunter die Kirchen von bezahlten Wachleuten geschützt werden. Der Senat kann daher offen lassen, ob der pakistanische Staat den durch Art. 7 Abs. 2 QRL geforderten effektiven Schutz gewährleistet, was aber nach den verwerteten Erkenntnismitteln eher zu verneinen sein dürfte.
46 
Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch nicht ungefährliches religiöses Leben der christlichen Minderheit auch mit unmittelbarem Öffentlichkeitsbezug in Pakistan gibt, wird beispielhaft illustriert durch die – auch neueren – Berichte, die auf der Website http://www.kirche-in-not.de/tag/pakistan erschienen sind und weiter erscheinen. Dass tatsächlich der christliche Glaube in nennenswertem Umfang in Pakistan gelebt und aktiv praktiziert wird, lässt sich auch unschwer daraus ablesen, dass die Kirchen in erheblichem Umfang Schulen und andere Bildungseinrichtungen betreiben (vgl. missio, Länderberichte Religionsfreiheit: Pakistan, 2012, S. 18 – im Folgenden missio; Deutschlandradio Kultur vom 13.01. und 11.02.2014; vgl. auch den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Ausdruck des Internetauftritts der FGA-Church Pakistan). Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Erzdiözesen Karachi und Lahore seit langer Zeit größere Krankhäuser betreiben und auch seit 2009 eigene Fernsehsender unterhalten (Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Lahore Stand 28.03.2014; Wikipedia, Roman Catholic Archdiocese of Karachi Stand 28.03.2014).
47 
Die gesellschaftliche und soziale Lage der christlichen Minderheit wird übereinstimmend als durchaus prekär und durch vielfältige Diskriminierungen geprägt beschrieben. Gleichwohl ist das Bild zwiespältig. Die festzustellende Marginalisierung und Diskriminierung beruht dabei keineswegs allein oder ganz überwiegend auf dem christlichen Glauben, sondern hat auch eine wesentliche Wurzel in dem noch nachwirkenden und überkommenen Kastenwesen, weil die Christen zum größten Teil Nachkommen von Hindus sind, die der Kaste der Unberührbaren angehörten (vgl. BAA, S. 52; COI, Ziffer 19.198 und 19.204). Dies hat zur Folge, dass die überwiegende Zahl der Christen der Unterschicht zuzurechnen ist und unter der Armutsgrenze lebt, was im Übrigen auch für andere Minderheiten gilt, und die Rate von Analphabetentum sehr groß ist (vgl. Lagebericht, S. 13 f.; BAA, S. 50 ff.; Immigration und Refugee Board of Canada, Pakistan: Religious conversions, including treatment of converts and forced conversions (2009 – 2012), Ziff. 1 – im Folgenden Canada). Diese Stellung wiederum macht eine wesentliche Ursache dafür aus, dass junge christliche Frauen und Mädchen in besonderem Maße das Opfer von unfreiwilligen Bekehrungen und Verheiratungen nach Entführungen werden (vgl. COI, Ziffer 19.188 und 19.198; UNHCR, S. 7; HRCP, S. 95 f.), wobei auch hier ein wirklich effektiver Schutz durch die pakistanischen Sicherheitsorgane nicht gewährt wird, auch wenn in der Nationalversammlung und auf der staatlichen Führungsebene das Problem gesehen und über Abhilfe diskutiert wird (vgl. Canada Ziff. 1). Allerdings berichtet die Pakistanische Menschenrechtsorganisation für das Jahr 2013 durchaus von erheblich weniger erfolgreichen oder versuchten zwangsweisen Konversionen bzw. Verheiratungen (vgl. HRCP, S. 91). Bei alledem darf letztlich aber zudem nicht die Tatsache ausgeblendet werden, dass Entführungen, Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen von (jungen) Frauen in Pakistan ein durchaus gesamtgesellschaftliches Phänomen und Problem darstellen, das weit über die christliche Minderheit hinausreicht (vgl. COI, Ziff. 23.156 ff.; Lagebericht, S. 19 und 21). Die Christen arbeiten überwiegend in der Landwirtschaft, der Steinbearbeitungs-, Glas-, Teppich- und Fischereiindustrie, für die auch Elemente von Zwangsarbeit festgestellt wurden, gegen die die staatlichen Stellen trotz entsprechender Verbotsgesetze nicht effektiv vorgehen (vgl. UNHCR, S. 8). Die Diskriminierung der christlichen Minderheit findet aber auch hier nicht in erster Linie im staatlichen Sektor statt, in dem allenfalls in Bezug auf höhere Positionen eine signifikante Unterrepräsentierung festzustellen ist (vgl. BAA, S. 51; vgl. zum Bildungswesen und diskriminierenden Bildungsinhalten bzw. zum obligatorischen islamischen Religionsunterricht USCIRF III, Stichwort „Governments Practice“). Die staatliche Seite versucht durchaus, gesellschaftlichen Diskriminierungen entgegen zu arbeiten (vgl. BAA, S. 41 und 52). An einer konsequenten, geschweige denn erfolgreichen auf den nicht-staatlichen Bereich bezogenen Antidiskriminierungspolitik mangelt es zwar. Ein solches Unterlassen stellt jedoch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 (hier v.a. lit. b, c und d) QRL dar, wenn man überhaupt in einem Unterlassen eine relevante Verfolgungshandlung sehen will (vgl. zum Problem grundsätzlich Marx, Handbuch zu Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 11 Rn. 2 ff.), weshalb schon deshalb auch aus einer Gesamtschau aller negativen Faktoren (einschließlich der festgestellten Übergriffe auf Leib und Leben sowie vereinzelter menschenrechtlich fragwürdiger Verfahren wegen eines behaupteten Verstoßes gegen einzelne Bestimmungen der Blasphemiegesetzgebung) keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL abgeleitet werden kann. Denn nur in einer finalen und systematischen Vorenthaltung des staatlichen Schutzes zur Vermeidung erheblicher Menschenrechtsverletzungen kann überhaupt ein zurechenbares und daher flüchtlingsrechtlich relevantes Verhalten erblickt werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - NVwZ 2009, 984), was jedoch aus den verwerteten Erkenntnismitteln nicht hinreichend deutlich zutage tritt. Geht man hingegen davon aus, dass in einem Unterlassen generell keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL liegen kann und verortet man die Problemstellung (nur) bei der Frage, welche Anforderungen an das nach Art. 7 Abs. 2 QRL geforderte nationale Schutzsystem zu stellen sind, so führt dies zu keiner anderen Sicht der Dinge. Zwar finden sich in einer Vielzahl von Menschrechtspakten ausdrückliche Diskriminierungsverbote (vgl. etwa Art. 2 AEM; Art. 14 EMRK; Art. 26 IPbpR), die mittlerweile zu einem allgemeinen völkergewohnheitsrechtlichen Diskriminierungsverbot erstarkt sein dürften (vgl. Marx, a.a.O., § 16 Rn 45), das auch Art. 9 Abs. 2 QRL zugrunde liegt, das aber grundsätzlich in erster Linie an staatliche Akteure gerichtet ist. Es existiert jedoch keine allgemeine, auch flüchtlingsrechtlich relevante Verpflichtung, Diskriminierungen durch nicht-staatliche Akteure umfassend zu unterbinden und mit allen Mitteln effektiv zu bekämpfen. Ein auch solche Handlungen, die unterhalb der Schwelle von Eingriffen in Leib, Leben oder persönlicher Freiheit liegen, unterbindendes Schutzsystem wird durch Art. 7 Abs. 2 QRL nicht gefordert. Soweit etwa Art. 7 IPwskR das Recht der Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige oder auf gleiche Möglichkeiten auf beruflichen Aufstieg anerkennt und damit auch nicht-staatliche Akteure im Blick hat, handelt es sich nicht um ein Instrumentarium, das bedingungslos grundlegende menschenrechtliche Standards umschreibt, die flüchtlingsrechtlich eine Verpflichtung zu einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik auslöst und daher Grundlage eines umfassenden flüchtlingsrechtlich relevanten menschenrechtlichen Schutzstandards sein könnte. Dies gilt namentlich dann, wenn - wie dargelegt - die allgemeine sozio-ökonomische Lage der christlichen Minderheit gar nicht monokausal auf ihre Religionszugehörigkeit zurückgeführt werden kann.
48 
Das vom Kläger angesprochene „land grabbing“ privater Akteure ist ein in Pakistan weit verbreitetes Phänomen und richtet sich nicht spezifisch gegen die christliche Minderheit, sondern betrifft auch andere Bewohner des Landes, die sich aufgrund ländlicher feudaler oder sonstiger ubiquitärer mafiöser Strukturen in einer unterlegenen Position befinden und bei denen nicht selten effektiver staatlicher Schutz ausfällt (vgl. COI, Ziff. 35.01; HRCP, S. 253).
49 
Ungeachtet dessen vermag der Senat den zahlreichen verwerteten Erkenntnismitteln auch keinen tragfähigen Ansatz für eine Feststellung zu entnehmen, dass die Lage der christlichen Minderheit generell betrachtet durch eine schwere Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL gekennzeichnet wäre.
50 
Etwas anderes gilt auch nicht allgemein und generell betrachtet für den Personenkreis der vom Islam zum Christentum Konvertierten.
51 
Zunächst ist davon auszugehen, dass die pakistanische Rechtsordnung den Vorgang der Konversion nicht untersagt oder gar strafrechtlich bewertet (vgl. Lagebericht, S. 14). Versuche, die Rechtslage zu Lasten der Konvertiten zu verändern, sind sogar gescheitert und aufgegeben worden (vgl. COI, Ziff. 19.66). Allerdings kann hier die bereits erwähnte Blasphemie-Gesetzgebung zum Einfallstor für Verfolgungen und Diskriminierungen werden, wenn es um die Beurteilung von Äußerungen und Verhaltensweisen im Kontext einer Konversion geht (vgl. missio, S. 13 und 17; Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014, S. 3). Dass aber in signifikantem Umfang der hier zu beurteilende Personenkreis betroffen sein könnte, lässt sich den vielfältigen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, obwohl in ihnen eine unübersehbare Fülle von Einzelinformationen verarbeitet wurden. Auch missio benennt in diesem Kontext keine konkreten Einzelfälle, sondern weist nur auf die Möglichkeit hin. Für die staatliche Ebene wird allerdings berichtet, dass ein Neueintrag der christlichen Religion in den Personalausweisen bzw. Pässen nicht möglich ist, jedenfalls faktisch nicht vorgenommen wird (Canada, Ziffer 3). Zwar wird auch berichtet, dass im Falle einer Konversion beider Ehegatten die Kinder der Konvertierten als „illegitim“ eingestuft werden und der Staat die Kinder sogar in Obhut nehmen kann. Dazu wird aber in den zahlreichen Erkenntnismitteln, die sehr ausführlich über Konversion berichten, insbesondere auch in den spezifisch christlichen bzw. kirchlichen Erkenntnismitteln kein einziger Fall benannt, geschweige denn nachvollziehbar dokumentiert.
52 
Die Probleme liegen wiederum in erster Linie in der gesellschaftlichen Sphäre. Denn nicht unerhebliche Teile der pakistanischen Gesellschaft stehen den religiösen Minderheiten ablehnend, wenn nicht gar feindselig gegenüber. Umso mehr wird dann eine Konversion weg vom Islam missbilligt, was zu hohen Befürwortungsraten für die Verhängung der Todesstrafe führt (vgl. COI, Ziff. 19.67). Wie bereits dargelegt, hat sich diese gesellschaftliche Stimmung aber nicht in entsprechenden erfolgreichen Gesetzesvorhaben niedergeschlagen. Teilweise stößt eine Konversion in der eigenen Familie des Konvertiten auf strikte Ablehnung, was dazu führen kann, dass der Betreffende aus der Familie verstoßen wird. Vereinzelt ist es hier auch zu körperlichen Übergriffen bis zu Tötungen gekommen (vgl. Canada, Ziff. 1 und 3). Den verwerteten Erkenntnismitteln nach kann es sich aber nicht um eine weiter verbreitete oder gar allgegenwärtige Erscheinung handeln.
53 
Die Folgen der gesellschaftlichen und innerfamiliären Ablehnung und Missbilligung gehen dahin, dass Konvertiten es teilweise, jedoch nicht generell, bewusst vermeiden, die Konversion an die Öffentlichkeit zu tragen, und daher ggf. auch den Wohnort wechseln, um nicht in ihrem bisherigen Wohnumfeld aufzufallen, um dann andernorts gewissermaßen als „unbeschriebenes Blatt“ als Christ auftreten und diesen Glauben mit den oben beschriebenen Einschränkungen leben zu können (vgl. etwa Open Doors, Länderprofile Pakistan). Das bedingt aber andererseits, dass es verlässliche Zahlen über die Konversionen vom Islam weg nicht geben kann. Auch wenn angesichts der geschilderten Haltung der Mehrheitsgesellschaft davon auszugehen sein wird, dass die Zahl der erfolgten Lösungen vom Islam oder Konversionen weg vom Islam nicht sehr groß sein wird, so fehlt es doch gegenwärtig an ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass nach Maßgabe der für die Annahme einer Gruppenverfolgung zugrunde zu legenden Prognosemaßstäbe jeder pakistanische Staatsangehörige, der sich vom Islam löst, unterschiedslos ein reales Risiko läuft, von einer schweren Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. a) oder lit. b) QRL betroffen zu sein. Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch den Bericht von Deutschlandradio Kultur vom 11.02.2014 und die dort geschilderte Haltung und Einschätzung eines ehemaligen Muslim bestätigt, die deutlich machen, dass Konversion bzw. auch nur Abkehr vom Islam möglich ist, tatsächlich stattfindet und keineswegs mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Im konkreten Einzelfall mag aufgrund individueller Umstände eine andere Beurteilung erforderlich werden. Unabhängig hiervon sieht der Senat keine durchgreifenden Hindernisse für eine Person in der Lage des Klägers, im Falle von unmittelbaren Anfeindungen und Übergriffen im persönlichen Umfeld seinen Wohnort zu wechseln (vgl. Art. 8 QRL), wie dieses nach den verwerteten Erkenntnismitteln immer wieder geschieht, um ein Leben als Christ führen zu können (vgl. Lagebericht, S. 24; Open Doors, Länderprofile Pakistan; Home Office, Country Information and Guidance, Pakistan: Religious freedom, 2014, Ziff. 2.4.16 f.). Aufgrund besonderer Umstände mag auch hier im Einzelfall etwas anderes gelten. Diese sind jedoch in der Person des Klägers nicht erkennbar geworden. Zwar hat er behauptet, als Cricketspieler in Lahore bekannt zu sein. Dass dieses landesweit der Fall gewesen sein könnte, erschließt sich dem Senat nicht. Denn solches wurde vom Kläger schon nicht nachvollziehbar und substantiiert behauptet. Ungeachtet dessen ist seine Person an keiner Stelle im Internet im Kontext des Cricketsports in Pakistan zu finden, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde.
54 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 VwGO und 83b AsylVfG. Gründe dafür, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO).

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 21.03.2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.


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Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Der Bescheid vom 01.09.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 2/7 den Klägern und zu 5/7 der Beklagten auferlegt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um die 2010 und 2014 geborenen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Nach eigenen Angaben reisten sie am 06.09.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Am 03.05.2016 stellten sie Asylanträge.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 17.08.2016.

4

Das Bundesamt erkannte den Klägern mit Bescheid vom 01.09.2016 den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1) und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab (Nr. 2).

5

Die Kläger haben am 13.09.2016 Klage erhoben.

6

Die Kläger beantragen,

7

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 01.09.2016 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

8

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

9

Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28.09.2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

10

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Asylakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten (Erklärung der Kläger vom 13.09.2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24.03.2016) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs.2 VwGO), ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist - soweit er die Kläger zu 1) und 2) betrifft - in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger zu 1) und 2) haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

12

Nach Überzeugung des Gerichts befinden sich die Kläger zu 1) und 2) aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten kritischen Überzeugung außerhalb Syriens, § 3 Abs. 1, 4 AsylG.

13

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

14

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

15

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, eine Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - zitiert nach juris Rn. 23). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - zitiert nach juris Rn. 23). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu.

16

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3 b Abs. 2 AsylG. Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, „wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren“ (BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - zitiert nach juris Rn. 37).

17

Es kann dahinstehen, ob die Kläger zu 1) und 2) vorverfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn sie können sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Die Kammer geht mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon aus, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung droht. Es ist anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (grundlegend: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG Greifswald, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -;VG Köln, Urteil vom 18.06.2015 - 20 K 4052/14.A -; VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014, a.a.O.; VG Frankfurt Oder, Urteil vom 26.09.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Gießen, Urteil vom 17.07.2014 - 2 K 3472/12.GI.A -; VG München, Urteil vom 09.07.2014 - M 22 K 14.30752 -; VG Aachen, Urteil vom 21.11.2013 - 9 K 1844/13.A -; VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13.KS.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013 - 7 K 2987/12 -; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 14.03.2013 - RN 6 K 12.30059 -; VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - alle zitiert nach juris; VG Regensburg, Urteil vom 06.07.2016 - RN 11 K 16.30889 - soweit ersichtlich n.v.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

18

Das VG Regensburg (Urteil vom 06.07.2016, a.a.O.) führt hierzu zutreffend aus:

19

„Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a.a.O. m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a.a.O). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a.a.O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014).

20

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konflikts in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.“

21

Es ist nicht ersichtlich, dass sich an der Lage in Syrien und damit auch an dieser Einschätzung etwas geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren auf eine mögliche Gefährdung der Kläger zu 1) und 2) im Falle der Rückkehr nach Syrien eingegangen. Das Gericht kann auch nicht nachvollziehen, weshalb die Beklagte in teilweiser Abkehr ihrer bisherigen behördlichen Entscheidungspraxis Syrern mittlerweile nur noch subsidiären Schutz gewährt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien lässt das Vorbringen der Beklagten gänzlich vermissen.

22

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen wird. Es ist vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg für eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansieht (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013, a.a.O.). Unter den derzeitigen Umständen wird jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012, a.a.O.). Auch die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft an die vom Staat unterstellte politische Überzeugung an (vgl. VG Köln, Urteil vom 22.05.2014 - 20 K 3152.13.A -).

23

Diese Einschätzung wird auch durch die vorhandenen, aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. So zitiert etwa die kanadische Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde (Immigration and Refugee Board of Canada - IRB) in einer Veröffentlichung vom 19.01.2016 unter dem Titel „Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014-December 2015)...” (http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html) eine Aussage des geschäftsführenden Direktors des “Syria Justice and Accountability Center”, das insbesondere Menschenrechtsverletzungen in Syrien nachgeht, vom 14. Dezember 2014, wonach abgewiesene Asylbewerber im Falle einer Rückkehr nach Syrien auf jeden Fall inhaftiert und als Regimegegner oder Oppositionelle behandelt werden. Der betreffende Flüchtling würde gewaltsam gezwungen werden, Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition preiszugeben. Er riskiere im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zu Tode gefoltert oder nach einer Folter für sehr lange Zeit ins Gefängnis gesteckt zu werden. In der genannten Veröffentlichung wird weiter auf die Einschätzung eines Forschungsbeauftragten des Londoner Kings College, der im Vereinigten Königreich als auf Syrien spezialisierter Sachverständiger in Asylverfahren tätig ist, vom 15. Dezember 2015 verwiesen, wonach es zwar syrische Beamte gebe, die anerkennen würden, dass einige Asylbewerber ihr Land möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten, traditionell eingestellte Beamte hingegen Asylbewerber für Regimegegner hielten. Nichts sei vorhersehbar; jedenfalls habe der Konflikt wahrscheinlich das Verdachtsniveau erhöht.

24

Hinsichtlich der Bewertung wird auf die oben in Bezug genommene Rechtsprechung und die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse verwiesen. Im Übrigen wird auf die Einzeldarstellung im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) hingewiesen. Die aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Es sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Weiter heißt es in dem UNHCR-Bericht:

25

„Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten besteht der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition ist es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abzielt. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen sind, kann beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus dem die Betroffenen stammen.“

26

Auch wenn das Gericht nicht an die Einschätzung des UNHCR gebunden ist, teilt es dessen Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert hat.

27

Soweit die Beklagte mitunter vorträgt, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach Angaben von Pro Asyl verfolgt das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016).

28

Das VG Regensburg (Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - zitiert nach juris Rn. 38) hat in diesem Zusammenhang angemerkt:

29

„Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.“

30

Den Klägern zu 1) und 2) steht schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es besteht nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

31

Die Flüchtlingsanerkennung scheidet auch nicht aus anderen Gründen aus. Es besteht mithin die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern zu 1) und 2) bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werden widerlegen können.

32

Den Klägern zu 3) und 4) steht indes kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Sie sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Auch droht ihnen bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts knapp sechs und zwei Jahre alte Kinder. Da diese aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage sind, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihnen - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass ihr Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und sie wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben.

33

Die Kläger zu 3) und 4) haben derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihren Eltern unanfechtbar ist (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die im vorliegenden Gerichtsbescheid ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, der Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, können die Kläger zu 3) und 4) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihnen die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird (VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - juris).

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylG.

35

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Tenor

I.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.04.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II.

Der Kläger zu 3) trägt die Kosten seines Verfahrens, im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Kläger, syrische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der am ...1981 geborene Kläger zu 1), die am ...1991 geborene Klägerin zu 2) und der am ...2014 geborene Kläger zu 3) reisten nach eigenen Angaben am 31.10.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 30.3.2016 Asylanträge. Die persönliche Anhörung der Kläger zu 1) und 2) erfolgte am 30.3.2016. Dort trugen sie im Wesentlichen vor, sie hätten sich bis zu ihrer Ausreise aus Syrien zunächst in der Ortschaft H. und später in N. aufgehalten. Der Kläger zu 1) habe von 2000 bis September 2002 Wehrdienst geleistet. Ihr Heimatland hätten sie vor mehr als zwei Jahren verlassen, danach hätten sie bis zu ihrer Einreise nach Deutschland in der Türkei gelebt. Syrien hätten sie wegen des Krieges verlassen. Sowohl H. als auch N. seien bombardiert worden. Es habe Häuserkämpfe gegeben. Auch ihr Familienhaus sei verbrannt. Es sei gefährlich, auf den Straßen zu laufen. Man wisse nicht, ob einen eine Bombe treffe. Wenn sie in Syrien geblieben wären, wäre der Kläger zu 1) zum Militär eingezogen worden. Er wolle aber nicht kämpfen. Er habe weder mit der Regierung noch mit der Opposition etwas zu tun. Im Falle ihrer Rückkehr hätten sie Angst, dort zu sterben.

Im Übrigen wird auf die aufgenommenen Niederschriften Bezug genommen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 5.4.2016 wurde den Klägern der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Im Übrigen wurden die Asylanträge abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen dargelegt, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, das den Klägern in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Aus dem Vorbringen der Kläger sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung, noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 21.4.2016 erhoben die Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Kläger seien von Mitbewohnern in H., die Anhänger des Regimes von Staatschef Assad gewesen seien, bedroht und zur Flucht aufgefordert worden. Des Weiteren habe eine konkrete Gefahr durch die syrische Armee bestanden, die H. belagert und beschossen habe. Aus diesen Gründen seien die Kläger aus Syrien geflohen. Unabhängig von einer etwaigen Vorverfolgung und sonstigen Vorfluchtgründen sei aufgrund der innenpolitischen Situation in Syrien den Klägern die Flüchtlingseigenschaft wegen beachtlicher Nachfluchtgründe zuzuerkennen. Syrischen Staatsangehörigen drohten wegen illegaler Ausreise aus ihrem Heimatland, der Asylantragstellung und ihrem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine tatsächliche oder vermutete politische Überzeugung Verfolgungsmaßnahmen (Einzelverfolgung nach Gruppenmerkmalen), da die genannten Handlungen vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlichen Gesinnung aufgefasst würden.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 5.4.2016, Az.: 6280681-475, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angegriffenen Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsätzen vom 14.6.2016 und 22.6.2016 bzw. allgemeinen Prozesserklärungen vom 25.2.2016 und 24.3.2016 verzichteten die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO. Die Kläger verzichteten mit Schriftsätzen ihrer Bevollmächtigten vom 14.6.2016 und 22.6.2016 auf eine mündliche Verhandlung. Die Beklagte hat mit den allgemeinen Prozesserklärungen vom 25.2.2016 und 24.3.2016 (Az. 414 - 7604/1.16 und 234 - 7604/2.16) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Die zulässige Klage der Kläger zu 1) und 2) ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger zu 1) und 2) in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Diese haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

Die zulässige Klage des Klägers zu 3) ist dagegen unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist hinsichtlich des Klägers zu 3) rechtmäßig und verletzt diesen nicht in seinen Rechten. Dem Kläger zu 3) steht im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

I.

Die Klage der Kläger zu 1) und 2) ist begründet.

Die Kläger zu 1) und 2) haben Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie sich nach der Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens befinden, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Sie haben Syrien zwar nicht wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen, es droht ihnen jedoch bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von

1. dem Staat,

2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder

3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG vom 1.6.2011 Az. 10 C 25.10). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vor solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 Az. Au 2 K 14.30422). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei.

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 Az. 3 L 147/12). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG vom 18.12.2008 Az. 10 C 27/07). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.

Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unter folgenden Voraussetzungen vor (BVerwG vom 7.2.2008 Az. 10 C 33.07):

„Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> m. w. N.).“

1. Die Kläger zu 1) und 2) sind zwar nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.

Eine Verfolgung durch den syrischen Staat und/oder durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG wegen eines der oben genannten Gründe haben sie weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine politische Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form von sich aus vorzutragen, vgl. § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden kommt dabei besondere Bedeutung zu. Ihm selbst obliegt es, seine Gründe für das Vorliegen politischer Verfolgung folgerichtig, substantiiert, widerspruchsfrei und mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG vom 21.7.1989 Az. 9 B 239/89).

Die Kläger trugen lediglich vor, sie hätten Syrien wegen des Krieges verlassen. Sie seien von Mitbewohnern in H. bedroht und zur Flucht aufgefordert worden. Ihr Wohnort sei bombardiert worden, es habe Häuserkämpfe gegeben, auch ihr Familienhaus sei verbrannt. Es sei gefährlich, auf den Straßen zu laufen, man wisse nicht, ob einen eine Bombe treffe. Wenn sie in Syrien geblieben wären, wäre der Kläger zu 1) zum Militär eingezogen worden; er wolle aber nicht kämpfen.

Eine politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG wurde damit nicht schlüssig dargelegt. Die Kläger haben wegen des Krieges in Syrien ihr Heimatland verlassen. Sie gaben selbst an, weder mit der Regierung noch mit der Opposition etwas zu tun gehabt zu haben. Gegen die Kläger gerichtete Verfolgungshandlungen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen.

2. Den Klägern zu 1) und 2) droht jedoch bei einer Rückkehr in ihre Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung.

a. Das Gericht geht auf der Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen davon aus, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrages im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politischen missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (so auch z. B. VG Köln vom 18.6.2015 Az. 20 K 4052/14.A; VG Augsburg vom 25.11.2014 a. a. O.; VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014 Az. 3 K 1489/13.A; VG Regensburg vom 9.9.2014 Az. RN 1 K 14.30205; VG Gießen vom 17.7.2014 Az. 2 K 3472/12.GI.A; VG München vom 9.7.2014 Az. M 22 K 14.30752; OVG Berlin-Brandenburg vom 9.1.2014 Az. OVG 3 N 91.13; VG Aachen vom 21.11.2013 Az. 9 K 1844/13.A; VGH Baden-Württemberg vom 29.10.2013 Az. A 11 S 2046/13; VG Kassel vom 2.7.2013 Az. 5 K 200/13.KS.A; VG Stuttgart vom 15.3.2013 Az. A 7 K 2987/12; VG Regensburg vom 14.3.2013 Az. RN 6 K 12.30059; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a. a. O.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a. a. O. m. w. N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a. a. O.). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a. a. O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014 a. a. O.).

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.

b. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass sich an dieser Einschätzung etwas entscheidend zum Besseren geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im gerichtlichen Verfahren auf eine - mögliche - Gefährdung der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien eingegangen. Eine (vertiefte) Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien fehlt. Stichhaltige Argumente, die zur Überzeugung des Gerichts eine - teilweise - Abkehr von der bisherigen Entscheidungspraxis der grundsätzlichen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und den in den vergangenen Monaten zunehmenden Übergang auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus rechtfertigen könnten, wurden nicht vorgebracht.

Die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg entwickelten Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen Mitteln zu begegnen ist. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Stuttgart vom 15.3.2013 a. a. O.). Während schon vor Beginn der Aufstände im Rahmen des arabischen Frühlings teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. VG Aachen vom 11.1.2012 Az. 9 K 1698/10.A). Die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft damit auch dann an die vom syrischen Staat unterstellte politische Überzeugung an, wenn die Befragung unter anderem der allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene dient (vgl. VG Köln vom 22.5.2014 Az. 20 K 3152.13.A).

Hinzu kommt, dass die Situation der Flüchtlinge, die in die Nachbarländer Syriens geflohen sind, nicht mit der von aus dem westlichen Ausland und Deutschland zurückgeführten Syrern vergleichbar ist, die bereits zahlenmäßig deutlich in der Minderzahl sind. Bei einer Rückführung letzterer über den von den syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen in Damaskus bedarf es für eine Befragung mit der Gefahr anschließender Folterung durch Mitarbeiter der verschiedenen Geheimdienste keiner großen Ressourcen (vgl. VG Hannover vom 10.12.2013 Az. 2 A 6900/12).

Diese Einschätzung wird durch die aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht möglich, seine Lageberichte, wie üblich, in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren. Der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien datiert vom 27. September 2010, also vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen. Seitdem hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft AA an BAMF vom 8.3.2012).

Zwar lägen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten. Allerdings seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien (vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 3.2.2016). Dies stehe überwiegend im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten oder mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Nach einer nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes verlässlichen Studie des „Danish Immigration Service“ vom September 2015 würden desertierten Syrern Militärtribunale, Folter, lebenslange Haft oder Hinrichtung drohen. Werde der Deserteur mit Oppositionsgruppierungen in Verbindung gebracht, bestehe laut dieser Studie für die Familie das Risiko von Sippenhaft. Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute kämen.

Wie sich den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (3. aktualisierte Fassung) vom Oktober 2014 entnehmen lässt, hat sich die Lage in Syrien seit der zweiten aktualisierten Fassung vom Oktober 2013 im Hinblick auf Sicherheit, Menschenrechte, Vertreibung und Bedarf an humanitärer Hilfe weiter verschlechtert. Fast alle Teile des Landes seien zum jetzigen Zeitpunkt in Gewalt verstrickt, wobei die Gewalthandlungen zwischen verschiedenen Akteuren mit teilweise überlappenden Konflikten ausgetragen und durch die Beteiligung ausländischer Kämpfer auf allen Seiten verschärft würden. Kampfhandlungen zwischen den syrischen Regierungstruppen und einer Vielzahl bewaffneter oppositioneller Gruppen würden unvermindert fortgesetzt.

Die aktuellen UNHCR-Erwägungen vom November 2015 (4. aktualisierte Fassung) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Er sei mit verheerenden Konsequenzen für die syrische Bevölkerung, einschließlich einer steigenden Zahl ziviler Opfer, interner und externer Vertreibung in großem Maßstab und einer humanitären Krise von bislang unbekanntem Ausmaß verbunden. Die meisten Hauptstädte der Gouvernements (ausgenommen Raqqa und Idlib) einschließlich der Hauptstadt Damaskus sowie die Küstengebiete der Gouvernements Latakia und Tartus stünden weiterhin unter der teilweisen oder vollständigen Kontrolle der syrischen Streitkräfte. Diese hätten jedoch Berichten zufolge im Laufe des vergangenen Jahres strategisch wichtige Standorte und militärische Stellungen in einigen Gouvernements verloren. In jüngerer Zeit hätten Berichten zufolge Regierungskräfte mit zunehmender Unterstützung von Verbündeten aus dem Ausland eine größere Militäroffensive an mehreren Fronten gestartet, um verlorene Gebiete zurückzuerobern.

Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichen Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammen. Im Lichte der immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien und einer fehlenden politischen Lösung zum jetzigen Zeitpunkt begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichen Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Derartige Maßnahmen sollten bis auf weiteres aufrechterhalten werden.

Das Gericht teilt die Einschätzung des UNHCR, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 verschlechtert hat. Die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden sind, besonders relevant (vgl. EuGH vom 30.5.2013 Az. C-528/11), auch wenn das Gericht an die rechtliche Beurteilung des UNHCR nicht gebunden ist.

Nach den Erkenntnissen von Amnesty International halten die staatlichen Sicherheitskräfte nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft (vgl. Amnesty Report 2016). Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, seien „verschwunden“ geblieben. Unter ihnen hätten sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden seien, befunden. Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste seien auch im Jahr 2015 weit verbreitet gewesen und würden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen im Gewahrsam geführt habe. Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, seien von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen worden. Viele von ihnen hätten lange Zeiträume in Untersuchungshaft verbracht, wo sie gefoltert oder anderweitig misshandelt worden seien. Nach der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 14. April 2015 wurden die von Baschar al Assad erlassenen Amnestien nur mangelhaft und willkürlich umgesetzt.

c. Das Gericht teilt nicht die Auffassung, dass unverfolgt ausgereiste Rückkehrer nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr politisch verfolgt werden (so aber z. B. VG Düsseldorf vom 14.2.2014 Az. 17 K 7717/13.A; OVG NRW vom 13.2.2014 Az. 14 A 215/14.A, vom 9.12.2013 Az. 14 A 2663/13.A). Insoweit fehlt eine substantiierte prognostische Auseinandersetzung mit der Situation aus westlichen Ländern zurückgeführter Asylbewerber. Es muss trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass bei einer Abschiebung eine obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgt, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist. Dass das syrische Regime zu solchen Maßnahmen aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage ist oder kein Interesse mehr an solchen hat, ist allenfalls eine Mutmaßung, die nicht mit Tatsachen untermauert ist und die sich mit den vorliegenden Erkenntnisquellen auch nicht nachvollziehbar begründen lässt. Angesichts der Zuspitzung der Situation in Syrien und dem Überlebenskampf des Assad-Regimes ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung den Verfolgungsdruck auf aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Staatsangehörige mildert oder gar aufgibt. Soweit die Beklagte Maßnahmen, die zur Anerkennung subsidiären Schutzes führen, als hinreichend wahrscheinlich ansieht, ist dies auch für die politische Verfolgung zu erwarten. Syrer, die weit von ihrer Heimat, insbesondere in Europa, ein Asylverfahren betreiben, haben nach der Abschiebung mit so hoher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu erwarten, dass ihnen in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen ist.

d. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht den Klägern zu 1) und 2) nicht zur Verfügung, da sie bei einer Einreise über den Flughafen in Damaskus keinen sicheren Landesteil sicher und legal erreichen können, vgl. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

e. Schließlich scheidet die Flüchtlingsanerkennung auch nicht aus anderen Gründen, wie z. B. dem Alter der Kläger zu 1) und 2), aus. Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie bei einer Rückkehr nach Syrien staatliche Verfolgung erleiden werden, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit bei einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht widerlegen werden können.

II.

Dem Kläger zu 3) steht dagegen kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

a. Der Kläger zu 3) wurde erst nach der Ausreise seiner Eltern aus Syrien geboren. Er ist demnach nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.

b. Auch droht dem Kläger zu 3) bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei dem Kläger zu 3) handelt es sich um ein - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts - 21 Monate altes Kleinkind. Da der Kläger aufgrund seines geringen Alters noch nicht in der Lage ist, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihm - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass sein Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und er wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

c. Der Kläger zu 3) hat derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei seinen Eltern unanfechtbar ist. Die im vorliegenden Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, kann der Kläger zu 3) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihm die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 ff ZPO.

Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 RVG.


Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

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die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

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und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

I.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2015 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den Klägern zu 3) bis 9) zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2).

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger - die Kläger zu 1) und zu 2) sind die Eltern der Kläger zu 3) bis 9) - sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten über die sog. Balkanroute in das Bundesgebiet ein und stellten am 20. März 2014 Asylanträge. Anträge auf internationalen Schutz hatten die Kläger zuvor bereits in Bulgarien gestellt, woraufhin ihnen mit Bescheiden vom 4. Dezember 2013 dort der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger zu 1) u. a. an, er und einer seiner Söhne seien von Regierungssoldaten verhaftet worden. Sein Sohn sei erheblich verletzt worden. Am nächsten Tag seien sie zwar wieder freigekommen. Der Kläger zu 1) habe im Folgenden aber die Information erhalten, dass sein Leben in Gefahr sei, weil er Rebellen Geld gegeben habe. Ihm sei empfohlen worden, das Land so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Bescheid vom 12. März 2015 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab, forderte die Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik auf und drohte diesen für den Fall, dass sie der Aufforderung nicht fristgerecht nachkommen, die Abschiebung nach Bulgarien an. Weiter wurde festgestellt, dass die Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen.

In den Bescheidsgründen wurde unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - ausgeführt, die Asylanträge seien unzulässig, was aus dem Schutzstatus im sicheren Drittstaat Bulgarien folge (§ 26a AsylVfG - jetzt: AsylG).

Am .... März 2015 ließen die Kläger durch ihren seinerzeitigen Bevollmächtigten gegen den (am 16.03.2015 zugestellten) Bescheid Klage erheben. Sie haben zuletzt beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 12. März 2015 die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise hinsichtlich der Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG festzustellen.

Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen vorgetragen, beim klägerischen Antrag handle es sich um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG, mit dem die Kläger auch die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft begehren würden. Mangels Übernahmezusage durch Bulgarien vor Ergehen der Entscheidung stehe nach den Regelungen der Dublin III-Verordnung die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Verfahrens fest. Weiter sei davon auszugehen, dass sich seit Zuerkennung des subsidiären Schutzes die Lage in Syrien erheblich geändert habe. Der Klägerseite drohe nunmehr auch Verfolgung durch die ISIS. Hinreichender staatlicher Schutz stehe nicht zur Verfügung.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie auf die Bescheidsgründe Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird ergänzend auf die Gerichts- und die Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag begründet, da die Kläger wie tenoriert Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Blick auf den von der Klagepartei formulierten Antrag kein teilweises Unterliegen gegeben ist, es sich vielmehr in Bezug auf den Ausspruch im Urteil zur Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 3) bis 9) in Abhängigkeit von der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) der Sache nach nur um ein Klarstellung handelt.

1. Vorab ist weiter darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts bei der hier gegebenen Konstellation der Ablehnung ohne Sachprüfung als unzulässig grundsätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung einer sog. isolierten Anfechtungsklage besteht, mit Blick auf die Besonderheiten des Falles, weil die Beklagte den Antrag als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG hätte sachlich prüfen müssen, daneben aber auch von der Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage auszugehen ist, wobei der Klagepartei, weil ihr bei einem „Durchentscheiden“ eine Klageinstanz verloren ginge, ein Wahlrecht hinsichtlich des Vorgehens einzuräumen ist (allgemein zu dieser Problematik Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 42 Rn. 18 ff.; siehe hierzu auch BVerwG, U.v. 7.3.1995 - 9 C 264/94 - und, zum Durchentscheiden bei Asylfolgeanträgen, BVerwG, U.v. 10.2.1998 - 9 C 28/97 - beide in juris). Gegen die Umstellung des Klageantrags bestehen daher keine Bedenken (zur Beurteilung des Übergangs von einer isolierten Anfechtungsklage auf die Verpflichtungsklage als bloße Klageerweiterung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 173 Satz 1 VwGO vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2008 - 11 C 08.889 - juris).

2. Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger zu Unrecht unter Berufung auf § 26a AsylG abgelehnt. Des Weiteren scheidet eine Umdeutung in eine Ablehnung nach § 27a AsylG aus (3.). Der Antrag wäre vielmehr, wie schon erwähnt, als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG zu behandeln gewesen, allerdings mit Modifikationen als Folge der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Unter Berücksichtigung der daraus folgenden Anforderungen ist festzustellen, dass den Klägern ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (4).

3. Die Ablehnung eines Asylantrags unter Berufung auf die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG), wie hier geschehen, kommt u. a. dann nicht in Betracht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (§ 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG). Das ist vorliegend der Fall.

3.1 § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG bezieht sich auf die Zuständigkeitsbestimmungen in den sog. Dublin-Verordnungen. Derzeit gilt die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - Dublin III-VO -, mit der die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 - Dublin II-VO - abgelöst wurde.

Wenn und soweit die Dublin-Regelungen anwendbar sind, bestimmt sich die Zuständigkeit allein nach deren Vorgaben. Ist danach davon auszugehen, dass ein anderer Dublinstaat für die Durchführung des Asylverfahrens bzw. nach Abschluss des dortigen Verfahrens für die Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen zuständig ist, erfolgt eine Verbescheidung eines in Deutschland gestellten Asylantrags ohne materielle Prüfung nach § 27a AsylG. Ist nach diesen Bestimmungen dagegen von einer Zuständigkeit Deutschlands auszugehen, hat das Bundesamt den Asylantrag sachlich zu prüfen. Ein Rückgriff auf die Regelung des § 26a AsylG scheidet in einem solchen Fall unabhängig von der Einreise des Asylbewerbers aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG aus.

Die primäre Zielsetzung der Dublin-Regelungen ist darin zu sehen, dass es innerhalb der Mitgliedsstaaten nur einen zuständigen Staat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz geben soll (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) und dieser für den Fall des negativen Verfahrensausgangs auch dafür zu sorgen hat, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Mitgliedsstaaten wieder verlässt, wenn ihm nicht aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht eingeräumt wird. Die Verordnung regelt daher neben der Zuständigkeit für die Durchführung des Verfahrens auf internationalen Schutz weiter auch die Modalitäten der Überstellung des Drittstaatsangehörigen in den zuständigen Mitgliedsstaat (Art. 20 ff. Dublin III-VO), und zwar auch für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige nach Ablehnung seines Antrags in dem zuständigen Mitgliedsstaat in einen anderen Mitgliedsstaat weiterreist und dort ggf. einen weiteren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellt (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO, bisher Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO).

Die Dublin-Regelungen sind folglich anwendbar, wenn über einen (Erst-)Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes im zuständigen Mitgliedsstaat noch nicht abschließend entschieden wurde oder aber - mit Blick auf eine Wiederaufnahmeverpflichtung - der Antrag bestandskräftig abgelehnt wurde. Im letzteren Falle kann allerdings bei erneuter Antragstellung je nach den Umständen auch eine Verpflichtung zur sachlichen Prüfung des weiteren Antrags durch den Mitgliedsstaat, in den der Antragsteller weitergereist ist, entstehen, wenn die für ein Wiederaufnahmeverfahren zu beachtenden Fristen nicht eingehalten wurden (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1.2.2014, Art. 23 K 6).

Zum Begriff des Antrags auf internationalen Schutz verweist die Dublin III-VO in Art. 2 Buchst. b auf Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie/Neufassung), wonach ein solcher Antrag vorliegt, wenn der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt. Die Dublin II-VO bezog sich dagegen nur auf Anträge, die als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedsstaates im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden konnten (vgl. Art. 2 Buchst. c Dublin II-VO), erfasste also nicht auch einen Antrag auf subsidiären Schutz.

Nach Maßgabe der Dublin II-VO galten daher Antragsteller, deren Antrag auf Flüchtlingsanerkennung abgelehnt und denen lediglich der subsidiäre Schutz in einem anderen Mitgliedsstaat zuerkannt wurde, als abgelehnte Asylbewerber mit der Folge, dass diese weiterhin dem Dublinregime unterfielen und sich auch deren Rückführung in den betreffenden Mitgliedsstaat nach den Regelungen der Verordnung richtete (vgl. Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO). Da die Dublin III-VO dagegen auch den subsidiären Schutz einbezieht, dürfte nunmehr in Fällen, bei denen dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedsstaat dieser Status zuerkannt wurde, der dort also zwar nicht als Flüchtling, aber als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist, auch soweit es um die Frage einer Rückführung in den betroffenen Mitgliedsstaat geht, die Verordnung nicht (mehr) anzuwenden sein (a.A. - die Zuerkennung subsidiären Schutzes hindert die Anwendung der Dublin III-VO nicht - wohl Funke-Kaiser, Asylmagazin 2015, 148/150; siehe hierzu auch VGH BW, U.v. 29.4.2015 - A 11 S 57/15 - juris Rn. 37 a.E. - und noch weitergehend Bergmann, ZAR 2015, 81/83).

Nach der hier vertretenen Auffassung sind aber jedenfalls für die Konstellation, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzes noch aufgrund eines Antrags erfolgte, auf den die Dublin II-VO anwendbar war (Übergangsfälle), die Dublin-Regelungen in Bezug auf eine Rückführung in den Schutz gewährenden Staat weiter anzuwenden.

Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 Dublin III-VO bestimmt, dass die Verordnung auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten (das ist der 01.01.2014) gestellt werden - gemeint sind damit nur Erstanträge (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, a. a. O., Art. 49 K 3) - und ab diesem Zeitpunkt, ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung, für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt. Die Dublin III-VO ist danach bei Antragstellern, die ihren maßgeblichen Erstantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt haben, zwar in Bezug auf die Verfahrensregelungen zu Gesuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme, im Übrigen aber nicht anwendbar. Die Festlegung der Zuständigkeit und damit der Pflicht des betroffenen Staates zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen bestimmt sich in diesen Übergangsfällen allein nach den Vorschriften der Dublin II-VO.

Hinsichtlich subsidiär Schutzberechtigter, deren Antrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, verhält es sich nach Auffassung des Gerichts folglich so, dass auf diese - weil die Betroffenen nach der Dublin II-VO als abgelehnte Asylbewerber gelten - weiterhin die Dublin-Regelungen bezüglich der Bestimmung des zuständigen Staates entsprechend den Vorgaben der Dublin II-VO anwendbar sind (so auch Marx, InfAuslR 2014, 227 und Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 31). Die Wiederaufnahmeverpflichtung folgt insoweit aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO. Das Verfahren zur Wiederaufnahme bestimmt sich dagegen nach den Regelungen der Dublin III-VO.

3.2 Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor, da die Kläger ihren Erstantrag noch unter Geltung der Dublin II-VO gestellt haben und ihnen in Bulgarien lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Für eine Überstellung der Kläger nach Bulgarien wären also die Dublin-Regelungen einschlägig gewesen, weshalb eine Ablehnung des Asylantrags unter Berufung auf § 26a AsylG nicht zulässig war.

3.3 Eine Umdeutung der Ablehnung nach § 26a AsylG in eine solche nach § 27a AsylG kommt gleichfalls nicht in Betracht, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des (weiteren) Verfahrens auf die Bundesrepublik übergegangen ist (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO). Die Fristen zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs waren zum Zeitpunkt der Verbescheidung der Anträge längst abgelaufen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass Bulgarien weiterhin bereit wäre, die Kläger im Vollzug der Dublin-Regelungen wieder aufzunehmen.

4. Nach Gemeinschaftsrecht ist mithin von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung des weiteren Asylverfahrens auszugehen. Der Antrag ist aber nicht als Erstantrag zu behandeln, denn es liegt auf der Hand, dass die von den Klägern in Bulgarien gestellten Anträge teilweise - hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - abgelehnt wurden. Das Bundesamt hätte den in der Bundesrepublik gestellten weiteren Asylantrag folglich als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG einstufen und entsprechend verbescheiden müssen.

4.1 Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Umstand, dass den Klägern in Bulgarien subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, der Geltendmachung eines Anspruchs jedenfalls auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen eines Zweitantragsverfahrens nicht entgegensteht.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - (BVerwGE 150, 29), auf das sich die Beklagte insoweit ausweislich der Bescheidsbegründung beruft, betraf eine mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Fallgestaltung, da der Kläger in dem dortigen Verfahren in einem anderen Mitgliedsstaat als Flüchtling anerkannt worden war. Eine solche ausländische Flüchtlingsanerkennung hat zur Folge, dass der Betroffene nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG kraft nationalen Rechts nicht in den Herkunftsstaat abgeschoben werden darf. Einen Anspruch auf eine erneute Statusanerkennung durch das Bundesamt hat er nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aber nicht. Dies gilt über § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch in Bezug auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Im hier zu entscheidenden Fall geht es dagegen um die Konsequenzen, die sich aus der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei vorheriger Gewährung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedsstaat für einen erneuten Asylantrag im Bundesgebiet ergeben.

Was diese hier vorliegende Konstellation angeht, dass eine Aufstockung des Schutzes begehrt wird, ist festzustellen, dass ungeachtet einer fehlenden nationalen Regelung, die eine Ablehnung als unzulässig rechtfertigen könnte, auch das maßgebliche Gemeinschaftsrecht einer solchen Vorgehensweise entgegensteht (vgl. BVerwG, B.v. 23.10.2015 - 1 B 41/15 - juris). Der Übergangsregelung in Art. 52 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie/Neufassung) ist zu entnehmen, dass für vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 gelten. Für vor dem Stichtag gestellte Anträge - wie im Fall der Kläger - bestimmt sich gemeinschaftsrechtlich die Frage der Ablehnung als unzulässig daher nach Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG. Nach Abs. 2 Buchst. a dieser Bestimmung können die Mitgliedsstaaten einen Asylantrag wegen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedsstaat aber nur als unzulässig betrachten, wenn der andere Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Das war hier aber gerade nicht der Fall.

4.2 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts aufgrund des Anwendungsvorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen die sachliche Prüfung vorliegend entgegen § 71a Abs. 1 AsylG nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig gemacht werden darf, vielmehr der Antrag wie ein Erstantrag zu prüfen gewesen wäre. Die wie bereits erwähnt aufgrund der Antragstellung vor dem 20. Juli 2015 weiter anwendbare Richtlinie 2005/85/EG sah in Art. 32 Abs. 2 bis 6 eine Zulässigkeitsprüfung hinsichtlich neuer Elemente und Erkenntnisse sowie das Unterbleiben einer weiteren Prüfung, wenn diese aufgrund Verschuldens des Antragstellers im früheren Verfahren nicht vorgebracht wurden, nur vor, wenn ein Folgeantrag im selben Mitgliedsstaat gestellt wurde (Art. 32 Abs. 1 Satz 1). Auf die Stellung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedsstaat (im Gemeinschaftsrecht werden auch solche Anträge als Folgeantrag bezeichnet) sind diese Einschränkungen nicht übertragbar. Die inhaltliche Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedsstaat entfaltet auch keine sog. Tatbestandswirkung in Bezug auf ein weiteres in einem anderen Mitgliedsstaat durchzuführendes Verfahren. Insoweit verbleibt es also bei einer Prüfung nach den allgemeinen Kriterien (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 2 ff. m. w. N. zur Gegenmeinung; zur im Wesentlichen unveränderten Rechtslage unter Geltung der Richtlinie 2013/32/EU siehe dort Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40).

4.3 Die Kläger können danach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen.

4.3.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich

1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,

2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,

a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder

b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Absätze 2 und 3 der Bestimmung beinhalten Exklusionsklauseln u. a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).

Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutz regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.

Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (weitere Ausschlussklausel bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit).

4.3.2 Die einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen jedenfalls bei den Klägern zu 1) und zu 2) vor.

Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob die Kläger zu 1) und 2) vor verfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylVfG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.

Das erkennende Gericht geht wie auch eine Vielzahl anderer Gerichte (vgl. hierzu etwa VGH BW, B.v. 19.6.2013 - A 11 S 927/13 - und B.v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG LSA, U.v. 18.7.2012 - 3 L 147/12 -; VG Köln, U.v. 26.6.2014 - 20 K 4130/13.A -; VG Frankfurt, U.v. 26.9.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Augsburg, U.v. 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - alle in juris) auf der Grundlage einer Gesamtschau der Verhältnisse in Syrien davon aus, dass Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten hätten und bereits diese Befragung eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslösen würde (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG; zur Situation in Syrien siehe Auswärtiges Amt - AA -, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage - Foltergefahr, Haftbedingungen - siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. AA, Lagebericht vom 27.09.2010, S. 19 f., AA, Ad hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010 und Amnesty International - AI -, Bericht vom 14.03.2012, „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“; siehe zur aktuellen Situation weiter auch die AI-Jahresberichte 2012 bis 2014 und Bundesamt, Syrien - Situation in den Provinzen, April 2014; dazu, dass das Fehlen von „Referenzfällen“ einer prognostischen Wertung in diesem Sinne nicht entgegensteht, vgl. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 - 14 A 2708/10.A - juris; zu § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.).

Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; juris Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.

Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Tatsächlich dürfte sogar von einer Verschärfung der Gefährdungslage für Rückkehrer auszugehen sein, weil sich die Gewinnung von Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten aus Sicht des syrischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund der Parteinahme einer Vielzahl westlicher Staaten für Teile der Opposition (der syrische Bürgerkrieg weist auch Elemente eines Stellvertreterkrieges auf) als bedeutsamer als zu Beginn der Unruhen darstellen dürfte.

Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzunehmende) Gefährdung der Kläger zu 1) und zu 2) (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 - 3 A 917/13.Z.A -; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 - 3 N 91.13 -; a.A. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 - 14 A 2708/10.A - alle in juris).

Eine (zumutbare) inländische Fluchtalternative für Rückkehrer (vgl. § 3e AsylG) besteht derzeit in Syrien nicht (siehe dazu die oben genannten die aktuelle Situation darstellenden Erkenntnismittel).

Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen könnte.

Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass die Kläger zu 1) und zu 2) Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sind und sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG beanspruchen können.

4.3.3 Den Klägern zu 3) bis 9) als minderjährigen Kindern der Kläger zu 1) und 2) ist die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 2 AsylG zu dem Zeitpunkt zuzuerkennen, in dem die Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) unanfechtbar wird.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Der Bescheid vom 01.09.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 2/7 den Klägern und zu 5/7 der Beklagten auferlegt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um die 2010 und 2014 geborenen Kinder der Kläger zu 1) und 2). Nach eigenen Angaben reisten sie am 06.09.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Am 03.05.2016 stellten sie Asylanträge.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 17.08.2016.

4

Das Bundesamt erkannte den Klägern mit Bescheid vom 01.09.2016 den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1) und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab (Nr. 2).

5

Die Kläger haben am 13.09.2016 Klage erhoben.

6

Die Kläger beantragen,

7

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 01.09.2016 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

8

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

9

Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28.09.2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

10

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Asylakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten (Erklärung der Kläger vom 13.09.2016, allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 24.03.2016) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs.2 VwGO), ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist - soweit er die Kläger zu 1) und 2) betrifft - in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger zu 1) und 2) haben im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

12

Nach Überzeugung des Gerichts befinden sich die Kläger zu 1) und 2) aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten kritischen Überzeugung außerhalb Syriens, § 3 Abs. 1, 4 AsylG.

13

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

14

Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.

15

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, eine Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - zitiert nach juris Rn. 23). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014 - Au 2 K 14.30422 - zitiert nach juris Rn. 23). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu.

16

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3 b Abs. 2 AsylG. Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, „wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren“ (BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - zitiert nach juris Rn. 37).

17

Es kann dahinstehen, ob die Kläger zu 1) und 2) vorverfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn sie können sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Die Kammer geht mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon aus, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung droht. Es ist anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (grundlegend: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -; OVG Greifswald, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -;VG Köln, Urteil vom 18.06.2015 - 20 K 4052/14.A -; VG Augsburg, Urteil vom 25.11.2014, a.a.O.; VG Frankfurt Oder, Urteil vom 26.09.2014 - 3 K 1489/13.A -; VG Gießen, Urteil vom 17.07.2014 - 2 K 3472/12.GI.A -; VG München, Urteil vom 09.07.2014 - M 22 K 14.30752 -; VG Aachen, Urteil vom 21.11.2013 - 9 K 1844/13.A -; VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13.KS.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013 - 7 K 2987/12 -; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 14.03.2013 - RN 6 K 12.30059 -; VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1698/10.A - alle zitiert nach juris; VG Regensburg, Urteil vom 06.07.2016 - RN 11 K 16.30889 - soweit ersichtlich n.v.). Ein solches Verhalten wird - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.

18

Das VG Regensburg (Urteil vom 06.07.2016, a.a.O.) führt hierzu zutreffend aus:

19

„Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a.a.O. m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a.a.O). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a.a.O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014).

20

Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konflikts in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.“

21

Es ist nicht ersichtlich, dass sich an der Lage in Syrien und damit auch an dieser Einschätzung etwas geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren auf eine mögliche Gefährdung der Kläger zu 1) und 2) im Falle der Rückkehr nach Syrien eingegangen. Das Gericht kann auch nicht nachvollziehen, weshalb die Beklagte in teilweiser Abkehr ihrer bisherigen behördlichen Entscheidungspraxis Syrern mittlerweile nur noch subsidiären Schutz gewährt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien lässt das Vorbringen der Beklagten gänzlich vermissen.

22

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen wird. Es ist vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg für eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansieht (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2013, a.a.O.). Unter den derzeitigen Umständen wird jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012, a.a.O.). Auch die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft an die vom Staat unterstellte politische Überzeugung an (vgl. VG Köln, Urteil vom 22.05.2014 - 20 K 3152.13.A -).

23

Diese Einschätzung wird auch durch die vorhandenen, aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. So zitiert etwa die kanadische Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde (Immigration and Refugee Board of Canada - IRB) in einer Veröffentlichung vom 19.01.2016 unter dem Titel „Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014-December 2015)...” (http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html) eine Aussage des geschäftsführenden Direktors des “Syria Justice and Accountability Center”, das insbesondere Menschenrechtsverletzungen in Syrien nachgeht, vom 14. Dezember 2014, wonach abgewiesene Asylbewerber im Falle einer Rückkehr nach Syrien auf jeden Fall inhaftiert und als Regimegegner oder Oppositionelle behandelt werden. Der betreffende Flüchtling würde gewaltsam gezwungen werden, Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition preiszugeben. Er riskiere im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zu Tode gefoltert oder nach einer Folter für sehr lange Zeit ins Gefängnis gesteckt zu werden. In der genannten Veröffentlichung wird weiter auf die Einschätzung eines Forschungsbeauftragten des Londoner Kings College, der im Vereinigten Königreich als auf Syrien spezialisierter Sachverständiger in Asylverfahren tätig ist, vom 15. Dezember 2015 verwiesen, wonach es zwar syrische Beamte gebe, die anerkennen würden, dass einige Asylbewerber ihr Land möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten, traditionell eingestellte Beamte hingegen Asylbewerber für Regimegegner hielten. Nichts sei vorhersehbar; jedenfalls habe der Konflikt wahrscheinlich das Verdachtsniveau erhöht.

24

Hinsichtlich der Bewertung wird auf die oben in Bezug genommene Rechtsprechung und die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse verwiesen. Im Übrigen wird auf die Einzeldarstellung im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) hingewiesen. Die aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Es sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Weiter heißt es in dem UNHCR-Bericht:

25

„Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten besteht der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition ist es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abzielt. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen sind, kann beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus dem die Betroffenen stammen.“

26

Auch wenn das Gericht nicht an die Einschätzung des UNHCR gebunden ist, teilt es dessen Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert hat.

27

Soweit die Beklagte mitunter vorträgt, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach Angaben von Pro Asyl verfolgt das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016).

28

Das VG Regensburg (Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - zitiert nach juris Rn. 38) hat in diesem Zusammenhang angemerkt:

29

„Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.“

30

Den Klägern zu 1) und 2) steht schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es besteht nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

31

Die Flüchtlingsanerkennung scheidet auch nicht aus anderen Gründen aus. Es besteht mithin die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern zu 1) und 2) bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werden widerlegen können.

32

Den Klägern zu 3) und 4) steht indes kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Sie sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Auch droht ihnen bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Bei den Klägern zu 3) und 4) handelt es sich um - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts knapp sechs und zwei Jahre alte Kinder. Da diese aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage sind, eine politische Überzeugung zu bilden, kann bei ihnen - anders als bei den Klägern zu 1) und 2) - nicht angenommen werden, dass ihr Aufenthalt im westlichen Ausland und die Asylantragstellung vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst wird und sie wegen einer vermuteten politischen Überzeugung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben.

33

Die Kläger zu 3) und 4) haben derzeit auch keinen Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, da dieser voraussetzt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihren Eltern unanfechtbar ist (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die im vorliegenden Gerichtsbescheid ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, der Klägern zu 1) und 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist jedoch noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten der Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar geworden ist, können die Kläger zu 3) und 4) einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihnen die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird (VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 - juris).

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylG.

35

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am ...1995 in Damaskus geborene, ledige Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ eigenen Angaben zufolge im November 2014 sein Heimatland und reiste am 26.07.2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 26.08.2015 einen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge händigte ihm im Verwaltungsverfahren einen Fragebogen aus, um ihm die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [sein] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen dieses Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger beantwortete in der Folge die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.03.2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus Dahiyat Qudsaya, Damaskus, und habe in Syrien als Koch gearbeitet. Fragen nach der Ableistung von Wehrdienst, einer Tätigkeit für die Sicherheitsbehörden oder die Polizei, der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung oder in einer politischen Organisation verneinte er ebenso wie die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von Kriegsverbrechen, Übergriffen auf die Zivilbevölkerung o.ä. geworden sei. Ihm sei nichts passiert; er habe befürchtet, zum Militär zu müssen, habe aber auch eine bessere Zukunft gewollt und sei deshalb nach Deutschland gereist. Ferner legte der Kläger dem Bundesamt sein syrisches Abiturzeugnis nebst Übersetzung vor sowie einen am 11.11.2015 ausgestellten Auszug aus dem Zivilregister für Personenstandsangelegenheiten. Einem entsprechenden Aktenvermerk vom 01.03.2016 zufolge hält das Bundesamt den Kläger „zweifelsohne“ für einen Syrer.
Mit Bescheid vom 09.03.2016, zugestellt am 31.03.2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung habe er nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich allein auf die allgemeine Gefährdung durch den Krieg in seinem Heimatland berufen. Aus seinem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.
Der Kläger hat am 08.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, es liege ein objektiver Nachfluchtgrund vor, weil davon auszugehen sei, dass das syrische Regime jeden syrischen Staatsangehörigen, der das Land verlasse bzw. fliehe, als potenziellen Regimegegner betrachte. Hinzu komme, dass der Kläger auch als „fahnenflüchtig“ oder als Deserteur betrachtet werde. Im Übrigen sei den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Es sei schwer vorstellbar, dass die Familie des Klägers das Land aus „flüchtlingsrelevanten Gründen“ verlassen habe, ausgerechnet er selbst aber nicht.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, auch diejenigen der Eltern des Klägers (Gesch.-Z. ...), sowie seiner Brüder A. (Gesch.-Z. ...) und Mohamad A. (Gesch.-Z. ...). Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
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Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
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Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
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Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
90 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
93 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
94 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
95 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
96 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
97 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
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„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
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Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
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Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
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Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
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Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
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Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.