Verwaltungsgericht Sigmaringen Urteil, 24. Jan. 2017 - A 4 K 5434/16

bei uns veröffentlicht am24.01.2017

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...10.2016 wird hinsichtlich dessen Ziffer 2 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die 1981 und 1986 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind nach eigenen Angaben syrische Staatsangehörige und miteinander verheiratet. Aus dieser Ehe sind die 2011 und 2014 geborenen Kläger zu 3) und 4) hervorgegangen. Die Kläger zu 1) und 2) sind nach eigenen Angaben von der Volkszugehörigkeit Araber und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Die Meldung als Asylsuchende erfolgte am ...09.2015 in Heidelberg, die Asylantragstellung am ...05.2016. Die Kläger sind nunmehr in ... wohnhaft.
Ausweislich der Aktenvermerke in der Behördenakte vom ...02.2016 konnten bei den syrischen Reisepässen der Kläger keine Manipulationen festgestellt werden; die Reisepässe entsprächen dem bei der Beklagten bekannten Vergleichsmaterial.
In seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Sigmaringen am ...09.2016 gab der Kläger zu 1) an, dass er sich mit seiner Familie in Deir ez-Zor und dort im Stadtviertel Hay Al Kosour aufgehalten und als Sportlehrer gearbeitet habe. Auf entsprechende Nachfragen gab er an, dass Deir ez-Zor am Fluss Euphrat liege. Es gebe dort die Tageszeitung Al Furat. Im Euphrat gebe es die Insel Hawijat Kati. Er sei von Syrien mit dem Bus in den Libanon, von dort mit der Fähre in die Türkei und mit einem Boot nach Griechenland gefahren. Von dort sei er weiter über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Österreich nach Deutschland gereist. Er habe von ... 2002 bis ... 2004 Wehrdienst geleistet. Politisch habe er sich nicht betätigt. Kriegsverbrechen, gewaltsame Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, den Einsatz von chemischen Waffen oder ähnliches habe er nicht beobachtet. Seine Heimatstadt sei zweigeteilt gewesen. Der Nord-Osten und das Umland seien von ISIS besetzt gewesen. Der süd-westliche Teil, in welchem er gewohnt habe, sei von Regierungstruppen besetzt gewesen. Diese hätten von ihm erwartet, dass er kämpfe. Aufgrund seiner Ablehnung habe man ihn unter Druck gesetzt. Man habe ihm nichts zu essen oder zu trinken gegeben. Das Wohnhaus der Familie sei durch das Artilleriefeuer des ISIS zerstört worden. Er sei daraufhin mit seiner Familie ein paar Straßen weiter zu seinen Eltern gezogen. Die Familie habe sodann Deir ez-Zor mit dem Ziel Damaskus verlassen wollen. Sein Antrag sei jedoch abgelehnt worden. Schließlich habe die Familie nach Damaskus fliehen können. Er persönlich sei auf dem Weg kontrolliert, bedroht und geschlagen worden. Er habe mit seinen Kindern fünf Stunden in der Sonne stehen müssen. Dies sei so erniedrigend gewesen, dass er sich nach sechs Wochen in Damaskus entschlossen habe, auszureisen, zumal das Leben in Damaskus genauso unsicher und teurer sei. Des Weiteren sei in Damaskus für ihn und seine Familie als Sunniten kein Platz. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien fürchte er den Tod. Er wolle für keine der Kriegsparteien kämpfen und befürchte, deshalb getötet zu werden. Dies befürchte er aufgrund der Zwangsrekrutierung in Syrien und der fehlenden Lebensgrundlage für sich und seine Familie. In der Anhörung beschränkte der Kläger zu 1) seinen Asylantrag auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft.
In ihrer Anhörung am selben Tag gab die Klägerin zu 2) an, sie habe ihr Heimatland am ...09.2015 verlassen und sei am ...09.2015 nach Deutschland eingereist. Sie habe bis zur Ausreise mit ihrer Familie in Deir ez-Zor, dort im Stadtviertel Hay Al Kosour und danach im Viertel Hay Al Roshdia bei den Eltern ihres Mannes gelebt. In Syrien habe sie ein Anglistik-Studium mit Diplom abgeschlossen. Sie habe als Englischlehrerin an einer staatlichen Schule gearbeitet, nach Kriegsbeginn sei sie jedoch nur zu Hause gewesen. Auf Nachfrage gab sie an, dass es in Deir ez-Zor die Tageszeitung Al Furat sowie eine gleichnamige Universität gebe. Sie wolle hier leben, in Syrien habe sie nur im Hause gelebt. Ihr könne in Syrien alles passieren. Sie wolle nicht mehr zurück. In Deir ez-Zor sei die Lage völlig unsicher. Es gebe wenig zu essen und zu trinken. Die täglichen Bombardierungen seien lebensbedrohlich. Ihr Mann sei von Regierungstruppen bedroht und erniedrigt worden. Als Sunniten würden sie im ganzen Land missachtet. In der Anhörung beschränkte sie ihren Asylantrag auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft.
In einem Aktenvermerk in der Behördenakte vom ...09.2016 wird festgehalten, dass nach Auffassung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge eine positive Entscheidung nach § 3 Abs. 1 AsylG wahrscheinlich erscheine. Die Kläger stammten „zweifelsohne aus Deir ez-Zor in Syrien“. Das Asylvorbringen sei „glaubhaft dargestellt“ worden.
In einem weiteren Aktenvermerk vom ...10.2016 wird in der Behördenakte ausgeführt, dass in allen Landesteilen Syriens ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrsche. Für alle Zivilpersonen liege eine Gefahrverdichtung vor, d.h. sie seien bereits allein durch ihre Anwesenheit in Syrien einer schutzauslösenden individuellen Gefahr aufgrund willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Eine Verfolgung „in Anknüpfung an eines der Merkmale der GFK“ sei nicht glaubhaft geltend gemacht worden, sodass kein Flüchtlingsschutz gewährt werden könne.
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...10.2016 – den Klägern zu 1) und 2) am ...11.2016 zugestellt – wurde den Klägern der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt und die Asylanträge im Übrigen abgelehnt. Hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft wurde ausgeführt, dass die vom Kläger zu 1) befürchtete Heranziehung zum Wehrdienst nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen könne. Aus dem Vortrag der Kläger seien weder eine konkrete Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal ersichtlich. Es sei nicht ersichtlich, dass wegen der Ausreise flüchtlingsrechtlich relevante Maßnahmen drohten. Wegen der weiteren Begründung wird auf den verfahrensgegenständlichen Bescheid Bezug genommen.
Die Kläger haben am 15.11.2016 beim erkennenden Gericht Klage erhoben. Zur Begründung wird auf die Anhörung der Kläger zu 1) und 2) im Verwaltungsverfahren Bezug genommen. Die Verweigerung des Militärdienstes werde als Zuwendung zum regierungsfeindlichen Lager angesehen. Bereits der Aufenthalt und die Asylantragstellung im Ausland würden als feindliche Akte angesehen. Dies gehe aus der Stellungnahme der Deutschen Botschaft in Beirut hervor.
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Die Kläger beantragen,
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ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...10.2016 hinsichtlich dessen Ziffer 2 aufzuheben.
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Die Beklagte ist der Klage schriftsätzlich entgegengetreten.
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Auf Antrag der Kläger wurde ihnen mit Beschluss der Kammer vom ...01.2017 Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren bewilligt. In der mündlichen Verhandlung am 24.01.2017 wurden die Klägerin zu 2) und der Kläger zu 1) getrennt voneinander informatorisch befragt.
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Informatorisch befragt gab die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung an, sie habe mit ihrer Familie in einem Viertel der Regierung gelebt. Es habe Bombardierungen gegeben und keine Sicherheit. Die Kinder hätten nicht zur Schule gehen können.
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Auf Befragen des Gerichts führte sie weiter aus, sie hätten bei der Familie ihres Mannes im Stadtteil Kosour gelebt. Im Stadtteil Roshdija habe sie ihren Mann geheiratet und dort hätten sie früher auch gelebt. Das Gebiet sei zerstört worden, es habe Bombardierungen gegeben und auch ihr Haus sei getroffen worden. Wer genau diesen Teil besetzt habe, wisse sie nicht; es gebe in Syrien viele Gruppen, die Gegner des Regimes seien. Sie habe sich mehrheitlich im Haus aufgehalten und letztlich nicht viel gesehen. Primär habe sie die Bombardierungen mitbekommen. In Deir ez-Zor habe es keine Infrastruktur, kein Essen und kein Wasser mehr gegeben. Die Situation sei immer unerträglicher und das Leben unmöglich geworden. Ihr Mann habe Essen besorgt, viele seien schon vor der Dämmerung oder kurz nach dem Frühgebet losgezogen, da es lange Wartezeiten gegeben habe. Es sei immer schlimmer geworden.
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Auf weiteres Befragen des Gerichts nach der Flucht nach Damaskus gab die Klägerin zu 2) an, es habe Wartelisten für die Ausreise gegeben; man habe sich registrieren fassen müssen. Schließlich sei ihnen dies gelungen und sie seien nach Damaskus ausgeflogen. In Damaskus habe sich die Familie etwa einen Monat, vielleicht auch mehr, aufgehalten. Aus Damaskus seien sie dann mit einem Bus in den Libanon geflohen.
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Gefragt nach besonders einprägsamen Ereignissen gab die Klägerin zu 2) an, dass sie in Damaskus aufgehalten worden seien. Sie hätten zwei Stunden warten müssen. Ihr Mann sei mit Maschinengewehren geschlagen worden; man habe ihm gesagt, dass er kämpfen solle. Genau wisse sie nicht, wie lange es gedauert habe; es sei sehr lang gewesen. Es seien Regierungstruppen gewesen.
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In seiner Anhörung gab der Kläger zu 1) – informatorisch nach dem Leben in Deir ez-Zor befragt – an, dass die Familie in einem Haus in Al Roshdija gelebt habe. Dieses sei bei Bombardierungen zerstört worden und die Familie sei dann zu seinen Eltern gezogen. Der Stadtteil, in dem seine Eltern lebten, heiße Al Kosour und sei von den Regierungstruppen besetzt. Al Roshdija sei in der Hand des IS und dieser habe ein Embargo gegen die Regierung verhängt.
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Nach dem Einsturz des Hauses und dem Embargo des IS Anfang 2015 habe die Regierung die Zivilbevölkerung aufgefordert, an die Front zu gehen. Er selbst sei Sportlehrer und habe weder Lust an der Front zu kämpfen noch könne er dies. Die Regierung wolle einen dazu zwingen. Wenn man die Aufforderung zu kämpfen nicht befolge, gebe es zunächst kein Essen. Dann sei die Familie nach Damaskus geflohen.
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Die Versorgung mit Essen sei sehr gering gewesen. Für ihn als Mann sei aber nicht nur die Essensversorgung relevant, sondern auch der Kriegsdienst. Er sei gezwungen gewesen zu fliehen. Die Familie sei dann auch gezwungen gewesen, ausgeflogen zu werden, um nicht auf der Reise nach Damaskus vom IS aufgegriffen zu werden. Die Reise sei später genehmigt worden, sodass sie nach Damaskus hätten fliegen können. Es sei schwer gewesen, aber schließlich sei es genehmigt worden.
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Unterwegs in Damaskus sei er mit seiner Familie angehalten und von Regierungstruppen kontrolliert worden. Man habe anhand des Ausweises gesehen, dass er aus Deir ez-Zor stamme. Anfangs habe er zwei Stunden warten müssen, danach dann noch zwei oder zweieinhalb Stunden. Erst habe er warten müssen, dann habe man ihn mit Absicht warten lassen, nachdem man ihn aufgefordert habe, für die Regierung zu kämpfen. Als er dies verweigert habe, sei er u.a. mit einem Gewehrkolben geschlagen und beleidigt worden. Insofern – so gab der Kläger zu 1) auf Vorhalt an – könne es gut sein, dass er in der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Gesamtzeit mit vier bis viereinhalb oder fünf Stunden beschrieben habe.
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Auf Nachfrage gab der Kläger zu 1) an, der Flug nach Damaskus sei im 7. oder 8. Monat des Jahres 2015 gewesen. In Damaskus habe sich die Familie etwa ein bis eineinhalb Monate aufgehalten. Mit dem Bus seien sie in den Libanon und mit dem Schiff in die Türkei gereist.
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Auf Nachfrage, was er im Falle einer Rückkehr für sich selbst und isoliert für seine Frau befürchte, gab er an, dass er als Verräter gelte, weil er nicht gekämpft habe. Weil sie Sunniten seien, gebe es nicht so gute Möglichkeiten; vielleicht würden er und seine Familie getötet, sie hätten aber jedenfalls keine gute Zukunft. Auf Nachfrage, wie die Rekrutierung ablaufe, gab er an, dass es keine Briefe oder ähnliches gebe, man werde auf der Straße oder am Checkpoint „geschnappt“. Auf Nachfrage gab er an, dass auch Leute verschwänden; er wisse von vielen Leuten, die aufgegriffen worden und dann nicht mehr aufgetaucht seien. Bei der Ausreise sei er an der Grenze und vom Zoll sowohl von libanesischen als auch syrischen Behörden kontrolliert worden.
24 
Dem Gericht liegt ein Ausdruck der elektronischen Akte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
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1. Die Kammer ist zur Entscheidung des Rechtsstreits berufen, nachdem dieser nicht dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen worden ist (vgl. § 76 Abs. 1 AsylG).
26 
2. Das Gericht kann gem. § 102 Abs. 2 VwGO entscheiden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, nachdem sie ordnungsgemäß geladen und darauf hingewiesen wurde, dass auch ohne ihr Erscheinen verhandelt werden kann.
27 
3. Die Klage ist auch zulässig, da sie insbesondere fristgemäß erhoben worden ist und auch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Denn die aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erteilte Aufenthaltserlaubnis wird gem. § 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG – mit Verlängerungsmöglichkeit – längstens für drei Jahre erteilt, während subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AufenthG – wie den Klägern –lediglich eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr mit einer Verlängerungsmöglichkeit auf zwei Jahre erteilt werden darf. Der Status eines anerkannten Flüchtlings im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt daher einen für die Kläger günstigeren Status, als der ihnen gewährte subsidiäre Schutzstatus. Es kann deshalb vorliegend offenbleiben, ob ein Rechtsschutzbedürfnis mit Blick auf den durch § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG eingeschränkten Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten, deren Kernfamilie sich bereits im Bundesgebiet befindet, bestehen kann.
II.
28 
Die Klage ist auch begründet. Der verfahrensgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen.
29 
Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
30 
Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen unveränderlichen gemeinsamen Hintergrund gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris; Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 –, juris).
31 
Dabei ist die Furcht vor Verfolgung begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 – A 11 S 689/13 –, juris). Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 20.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie (QRL) – ist die Tatsache, dass ein Asylantragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des jeweiligen Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprächen dagegen, dass dieser Asylantragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
32 
Entscheidend ist insofern, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.11.2015 – A 12 S 1999/14 –, juris). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 – 9 C 118.90 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 147).
33 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (statt vieler BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 – 9 C 32.87 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 80). Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12 –, Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 14). Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.2016 – A 10 S 332/12 –, juris). Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann die Intensität der drohenden Verfolgung aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen für die Entscheidung maßgeblich sein, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren will oder nicht (vgl. BayVGH, Urteil vom 08.02.2007 – 23 B 06.30883 –, juris).
34 
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat; insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die – wie hier – bereits während eines Erstverfahrens oder erst mit der Ausreise verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese – anders als bei der Asylanerkennung – nicht auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 –, juris). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 – 10 C 27.07 –, Buchholz 402.25 § 28 AsylVfG Nr. 24 ). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren – wie hier – ist demnach die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 – 10 C 51.07 –, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 28).
35 
Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt stimmig zu schildern (vgl. §§ 15, 25 Abs. 1 AsylG; BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 – 9 C 321/85 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 64).
36 
Ist – wie im vorliegenden Fall – der Sachverhalt soweit ermittelt, dass alle ernsthaft in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO). Ziel dieser Würdigung des Gesamtergebnisses und insbesondere der verfügbaren Beweis- und Erkenntnismittel ist die Begründung der richterlichen Überzeugung über das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen bestimmter erheblicher Umstände. Es ist demgemäß zu erkennen, wie stark oder schwach die einzelnen Umstände und Elemente des Prozessstoffs auf das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein der behaupteten Tatsache hinweisen, wobei das aus seiner Lebens- und Welterfahrung gewonnene Erfahrungswissen und die Erfahrungssätze des erkennenden Richters den Maßstab bilden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.03.1971 – VIII C 24.70 –, BVerwGE 38, 10 <12>). Das dem Gericht bekannte Wissen über allgemein offenkundige Tatsachen bzw. die aus der amtlichen Tätigkeit gewonnenen Kenntnisse ergänzen diesen Maßstab der Beweiswürdigung (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 16 (Stand: April 2013), m.w.N.).
37 
Dabei gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris). Zudem ist die besondere Beweisnot des hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht mit der Beweislast beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden als „Zeuge in eigener Sache“ und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, Beschluss vom 10.05.2002 – 1 B 392.01 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259; Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109.84 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32).
38 
Je größer unter Anwendung dieses Maßstabs die Zahl der übereinstimmenden und je geringer die Zahl der differierenden Merkmale unter den den Prozessstoff bildenden Elementen ist, desto größer ist die Allgemeingültigkeit einer Hypothese, und umso geringer ist die Zufälligkeit der Ähnlichkeit, Gleichartigkeit oder Identität in Bezug auf ein einzelnes Merkmal (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.). Dabei unterliegt die Überzeugungsbildung des Gerichts seiner „Freiheit“, d.h. einer richterlichen Einschätzungsprärogative (Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth (Hrsg.), VwGO, 6. Aufl., 2014, § 108 Rn. 10). Diese findet ihre Grenze in den Denkgesetzen, dem Willkürverbot und in dem Gebot der vollständigen Würdigung des gesamten Prozessstoffs (BVerwG, Beschluss vom 17.10.2012 – 8 B 47/12 –, NVwZ-RR 2013, 97 <100>). In diesem Rahmen ist das Gericht berechtigt, auf jedes Einzelelement des Prozessstoffs zurückzugreifen, andererseits aber auch verpflichtet, das Gesamtergebnis des Verfahrens auszuschöpfen (statt vieler BVerwG, Urteil vom 14.06.1985 –6 C 33/82 –, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 169; Beschluss vom 21.01.2014 – 10 B 3/14 –, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 81).
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Das erkennende Gericht muss demnach alle geeigneten Erkenntnismittel nutzen, wobei eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht regelmäßig dann nicht vorliegt, wenn das Gericht den nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Sachverhalt aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme für aufgeklärt hält und die – wie hier zumindest im vorbereitenden Verfahren – sachkundig vertretenen Verfahrensbeteiligten keine Beweisanträge gestellt oder im vorbereitenden Verfahren angekündigt haben (BVerwG, Urteil vom 27.07.1983 – 9 C 541.82 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 146; Beschluss vom 10.10.2013 – 10 B 19.13 –, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 67).
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1. Die Kammer ist unter Zugrundelegung dieses Maßstabs zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei den Klägern um syrische Staatsangehörige handelt, die aus Syrien ausgereist sind, ohne dass sie vor ihrer Ausreise aufgrund eines der in § 3 Abs. 1 AsylG niederlegten Merkmale verfolgt worden wären.
41 
Bilden – wie im vorliegenden Fall hinsichtlich des individuellen Schicksals der Kläger – Aussagen natürlicher Personen über Wahrnehmungen und Erlebnisse die einzigen Mittel zur Sachverhaltsermittlung, sind diese im Wege der Aussageanalyse dahingehend zu würdigen, ob sie glaubhaft sind, d.h. ob sie Tatsachen schildern, hinsichtlich derer das Gericht überzeugt ist, dass sie sich – wie sie im Verwaltungsverfahren und im Prozess vorgebracht wurden – zugetragen haben (vgl. Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.).
42 
Kein anderer Maßstab kann für die Angaben der Kläger zu 1) und 2) als „Zeuge in eigener Sache“ gelten, welche im Asylverfahren hinsichtlich des Flucht- oder Verfolgungsschicksals des Asylsuchenden regelmäßig als einziges Erkenntnismittel in Betracht kommen und so gesteigerte Bedeutung erfahren (BVerwG, Beschluss vom 10.05.2002 – 1 B 392.01 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259; Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109.84 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32).
43 
Gegenstand der Prüfung der Glaubhaftigkeit, welche damit in Ermangelung anderer Ermittlungsansätze aufgerufen ist, ist die Frage, ob die Angaben hinsichtlich eines bestimmten tatsächlichen Geschehens zutreffen oder nicht. Dabei ist zunächst zu unterstellen, dass die Aussage weder wahr noch falsch ist; es sind auf Grundlage eines Glaubhaftigkeitswerts von Null weitere Hypothesen zu bilden (sog. „Nullhypothese“, vgl. hierzu m.w.N. BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; zu deren Anwendbarkeit außerhalb des Strafprozesses LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 –, BeckRS 2012, 70690; zu deren Bedeutung für die richterliche Beweiswürdigung BGH, Urteil vom 27.03.2003 – 1 StR 524/02 –, NStZ-RR 2003, 206 <208>).
44 
Ergibt sich, dass diese Hypothese, die Aussage sei weder wahr noch falsch, nicht zutreffen kann, bspw. weil sich die Aussage durch genügend Qualitätsmerkmale auszeichnet, die den Schluss rechtfertigen, dass sie der Wahrheit entspricht, d.h. die „Nullhypothese“ mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt (BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506; VG Meiningen, Beschluss vom 08.12.2011 – 6 D 60012/11 Me –, juris).
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Demnach ist in einem ersten Schritt davon auszugehen, dass Aussagen über Erlebtes und Nicht-Erlebtes sich in ihrer Qualität unterscheiden (sog. „Undeutsch-Hypothese“, vgl. zum Ganzen Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 283 ff.), sodass die Aussage zunächst inhaltsorientiert und sodann merkmalsorientiert dahingehend überprüft werden kann, ob sie Merkmale bzw. Anzeichen enthält, die für ihre Glaubhaftigkeit sprechen (OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506).
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Als solche sog. „Realitäts-“oder „Glaubhaftigkeitsanzeichen“ kommen insbesondere ein Detailreichtum, Angaben zu im Hintergrund stehenden Umständen, eine nicht chronologische und unpräzise – gleichwohl inhaltlich ausführliche – Erzählweise im Gegensatz zur Wiedergabe angelernter oder ausgedachter Informationen in Betracht (vgl. bspw. BVerwG, Urteil vom 19.07.2006 – 2 WD 13/05 –, NVwZ-RR 2007, 182; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 –, BeckRS 2012, 70690; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 370 ff. und 409 ff.).
47 
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sieht das Gericht die Angaben der Kläger zu 1) und 2) als glaubhaft an. Ihre Angaben stehen hinsichtlich des wesentlichen Kerngeschehens, aber auch im Hinblick auf den, das Kerngeschehen umgebenden, inhaltlichen Gesamtzusammenhang und mit ihrem Vorbringen im Behördenverfahren in dessen wesentlichen, das Geschehen prägenden Elementen, in inhaltlicher Übereinstimmung. Inhaltlich waren die Angaben weitgehend widerspruchsfrei, wobei die Widersprüchlichkeit in den Angaben der Klägerin zu 2) hinsichtlich der Dauer der Kontrolle am Checkpoint in Damaskus, zunächst erheblich von der anfänglich angegebenen Dauer von vier Stunden abwich. Ihr gesamtes Aussageverhalten war indes von Unsicherheiten – teilweise auch gegenüber dem Gericht – geprägt. Ihr war eine klare Sorge in der Erzählung anzusehen und es war offensichtlich, dass der Fokus ihrer Wahrnehmung auf dem Geschehenen selbst und dem Schicksal ihres Ehegatten und ihrer Kinder, nicht aber auf der, in diesem Detail zum Randgeschehen zählenden, zeitlichen Dauer lag. Das generell einzelfallbezogen und so im Falle der Klägerin zu 2) unter diesem Gesichtspunkt zu bestimmende Kerngeschehen hat sie widerspruchsfrei geschildert (vg. zur Bestimmung des „Kerngeschehens“ OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506 <3507>). Die Klägerin zu 2) gab nämlich an, dass es sich insgesamt um eine in ihrer subjektiven Wahrnehmung lange Zeit gehandelt habe, was inhaltlich zu den Angaben des Klägers zu 1) jedenfalls nicht in Widerspruch steht, sondern vielmehr der vom Kläger zu 1) angegebenen Dauer von vier bis fünf Stunden entspricht.
48 
Das Aussageverhalten – insbesondere des Klägers zu 1) – war flüssig und nicht detailarm. Der Kläger zu 1) machte von sich aus Angaben, welche einzelne Details zum Geschehen enthielten, wie den Umstand, dass er mit einem Gewehrkolben geschlagen worden sei. Andererseits war er auch in der Lage, andere von ihm als selbstverständlich angenommene Umstände – wie die Tatsache, dass keine förmlichen Einberufungsbescheide zum Wehrdienst ergingen – auf Nachfrage zu ergänzen. Dies erfolgte schnell und ohne nachzudenken oder zu zögern unter Einbettung in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang mit einer Selbstverständlichkeit und Präzision, welche die Überzeugung rechtfertigt, dass ein wahrheitswidriges Erfinden dieser Angaben anhand von Gerüchten oder Medienberichten auch einer kompetenteren Aussageperson nicht ohne weiteres in dieser Gestalt möglich gewesen wäre.
49 
Das Aussageverhalten zeichnete sich bei beiden Klägern dadurch aus, dass sie in ihrer Erzählweise selbst inhaltlich und zeitlich „sprangen“ und auch auf Nachfrage des Gerichts in der Lage waren, in einen anderen Teil ihrer Erzählung gedanklich einzusteigen, was für die Wiedergabe selbst erlebter Ereignisse – im Gegensatz zu einer stereotypen streng chronologischen Erzählweise – spricht.
50 
Auf Grundlage dieser Glaubhaftigkeitsanzeichen gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Angaben der Kläger zu 1) und 2) glaubhaft sind, die Kläger aus Syrien stammen und der Kläger zu 1) Rekrutierungsbemühungen und -versuchen der syrischen Regierung ausgesetzt war. Zugleich gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Kläger jedenfalls nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder politischen Einstellung als solches vor ihrer Ausreise aus Syrien verfolgt wurden. Dies kann jedoch offenbleiben.
51 
2. Soweit anhand der verfügbaren Erkenntnismittel ersichtlich, ist die Kammer jedoch im Ergebnis mit der überwiegenden Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung davon überzeugt, dass zumindest bis in das Jahr 2013 hinein eine sog. „Rückkehrerverfolgung“, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung schutzsuchender syrischer Staatsangehöriger aufgrund ihrer illegalen Ausreise aus Syrien und der Asylantragstellung oder einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt, bei einer Wiedereinreise nach Syrien bestand (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 – 14 A 2708/10.A –, juris). Dies findet tatsächliche Bestätigung im Bericht des Auswärtigen Amtes vom 28.12.2009 (AA, Ad-hoc Ergänzungsbericht zum Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Dezember 2009)).Amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes stellen dabei Beweismittel eigener Art dar, denen – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – eine „Bemühung um Objektivität“ innewohnt, sodass sie den tatsächlichen Verhältnissen am Nächsten kommen (BVerfG, Beschluss vom 23.02.1983 – 1 BvR 990/82 –, BVerfGE 63, 197 <214 f.>). Ihnen kommt daher ein hoher Beweiswert zu (Berlit, in: Gemeinschaftskommentar AsylG (GK-AsylG), § 78 Rn. 400 (Stand: April 1998)).
52 
a. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2012 wurde hierzu ausgeführt, dass seit den anfänglich friedlichen Protesten im Jahre 2011 (sog. „Arabischer Frühling“) das Regime mit massiven Repressionsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung – vor allem durch den Einsatz der Armee, von Sicherheitskräften und staatlich organisierten Milizen reagiert hat. Reformen würden als sog. „Papierreformen“ nicht den Kern des Konflikts, d.h. den Fortbestand des Regimes und die Fortdauer der Repressionen – antasten (AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012, Stand: Februar 2012, S. 5).
53 
Aufgrund dieser Erkenntnislage ist der VGH Baden-Württemberg zuletzt im Jahr 2013 davon ausgegangen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die bislang in der Rechtsprechung angenommene Gefahr einer sog. „Rückkehrerverfolgung“ nicht mehr bestehen würde (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris). Allein die aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen bestehenden hohen Zahlen an Wiedereinreisen nach Syrien höben nicht per se die Möglichkeit des Regimes auf, die Herkunft der Rückkehrer zu kontrollieren (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris).
54 
Dem schließt sich die Kammer an, da sie die Auffassung des VGH Baden-Württemberg teilt, dass es nicht nachvollziehbar erscheint, dass im Falle eines totalitären Regimes, welches um sein Überleben kämpft, dieses im Rahmen eines bewaffneten bürgerkriegsähnlichen Konflikts seine bisherige Praxis der Annahme einer potentiellen Regimegegnerschaft bei Rückkehrern ändert und nunmehr im Rahmen der Einreise eine abstrakte repressionsneutrale Vorfeldkontrolle vornimmt und erst dem nachgelagert – ggf. zwischen freiwilliger Ausreise und zwangsweiser Abschiebung differenzierend – Repressionen ausübt (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris). Ein derartiges differenziertes und bürokratisches Vorgehen nach – in quasi-rechtsstaatlicher Weise – abstrakt-generell vorgezeichneten Kriterien erscheint abgesehen von dessen Praktikabilität im Falle eines in der Krise agierenden totalitären Regimes bei lebensnaher Betrachtung auch nach Auffassung der Kammer eher fernliegend und kann unter den aktuellen Umständen ohne nähere Anhaltspunkte wohl kaum in ernst zu nehmender Weise erwartet, unterstellt oder angenommen werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris).
55 
b. Die Kammer gelangt anhand der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung, dass hinsichtlich der sog. „Rückkehrerverfolgung“, d.h. der Vermutung einer Regimegegnerschaft bei wiederkehrenden Syrern aus dem Ausland durch das syrische Regime, keine flüchtlingsrechtlich erhebliche Änderung eingetreten ist. Damit gelangt sie zu der Überzeugung, dass jedenfalls derzeit eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegt.
56 
Die Kammer ist als erkennendes Gericht dabei nicht gehalten, „ins Blaue hinein“ ohne tatsächliche Anhaltspunkte nach theoretisch denkbaren Ermittlungsansätzen – wie etwa einer veränderten sicherheitsbehördlichen Praxis in Syrien – zu suchen und solchen ohne auch nur eine ansatzweise Tatsachengrundlage nachzugehen (vgl. zur sog. „Ausforschung“ durch das Gericht bspw. BVerwG, Beschluss vom 15. Februar 2008 – 5 B 196/07 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 362; Beschluss vom 05.10.1990 – 4 B 249/89 –, Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 6; Beschluss vom 29.03.1995 – 11 B 21/95 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 266; vgl. zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2016 – 5 S 1443/14 –, juris).
57 
Dass Ermittlungsbemühungen bspw. über Auskünfte des Auswärtigen Amtes – nicht zuletzt mangels diplomatischer Vertretung in Syrien – ergebnislos ausfallen, zeigen bereits die jüngsten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 02.01.2017, welche dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erteilt wurden, sodass aus Sicht der Kammer keine weiteren Ermittlungsansätze bestehen.
58 
aa. Die Kammer stützt daher ihre Erkenntnis dabei zunächst auf den Bericht der kanadischen Immigrations- und Flüchtlingsbehörde vom 19.01.2016. In diesem wird unter Berufung auf sachverständige Auskünfte das Verfahren bei der Wiedereinreise nach Syrien näher beschrieben.
59 
Nach diesem Bericht erfolgen an den Einreisestellen, d.h. am internationalen Flughafen in Damaskus sowie an den Grenzkontrollpunkten Kontrollen der Ausweispapiere sowie Rücksprachen mit nationalen Stellen. Es erfolgen Abfragen und Abgleiche mit Such- und Fahndungsmeldungen. Dabei ist nach sachverständigen Angaben das Verfahren dahingehend ausgestaltet, dass die Grenzbeamten und Sicherheitsbehörden über eine sog. „carte blanche“ – also eine Blankoermächtigung – für die Behandlung ihnen verdächtig erscheinender Personen erhalten haben (Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion - (im Folgenden: „Syria: Treatment of returnees“) -, 2015, S. 3). Dies beinhaltet nach sachverständigen Angaben die sofortige Ingewahrsamnahme der jeweiligen Person, welche zu einem sog. „Verschwinden“ oder Folter führen kann (so auch Amnesty International, Amnesty Report 2016: Syrien, im Internet abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien). Es können ferner Meldeauflagen verhängt werden. Insgesamt wird das Verfahren im Hinblick auf Rückkehrer als „unpredictable“ – unvorhersehbar – beschrieben. Bereits dies für sich genommen spricht für das Fortbestehen von Einreiserepressionen – bzw. der begründeten Furcht vor solchen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG – sowie deren Bestärkung durch die Erteilung von Blankoermächtigungen an Sicherheitsbehörden und damit die staatliche Freigabe für willkürliche Festnahmen und sonstige Maßnahmen.
60 
Dies findet Bestätigung im Menschenrechtsbericht des U.S.-Außenministeriums, wonach die syrische Regierung Dissidenten und frühere Einwohner ohne bekannte politische Betätigung, welche nach Jahren freiwilligen Asyls nach Syrien zurückkehren wollten, verhaftet hat (United States Department of State, Syria 2015 Human Rights Report, S. 34, im Internet allgemein abrufbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947). Dass sich diese Ausführungen ausschließlich auf Sonderfälle (früherer) politischer Betätigung beziehen würden, vermag die Kammer nicht zu erkennen, da sich die vom OVG Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 16.12.2016 (Az.: 1 A 10922/16, juris) angeführte Erläuterung im Bericht des Außenministeriums nicht etwa auf die Feststellung genereller Verhaftungen von Dissidenten und Rückkehrern bezieht, sondern auf die dem vorangestellt angeführte Verhaftung politisch auffälliger Rückkehrer.
61 
Hierauf kommt es indes nicht an, da bereits die objektiv bestehende Möglichkeit, dass ein längerer Auslandsaufenthalt für die syrischen Behörden einen hinreichenden Anlass für die Unterstellung einer potentiell staatsfeindlichen Betätigung darstellt, für die Bejahung einer begründeten Furcht im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG genügt. Denn allein die Möglichkeit, bei einem erst noch kürzlich bestehenden und in Vollzug gesetzten System genereller Rückkehrerverfolgung, allein aufgrund eines Asylantrags im Ausland in den Fokus der syrischen Sicherheitsbehörden zu geraten, rechtfertigt aus der objektiven Sicht eines verständigen Menschen in der Situation der Kläger die Befürchtung, bei der Einreise aufgegriffen und allein wegen der unterstellten politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die allgemeinen Haftbedingungen in Syrien derzeit unabhängig von einer politischen Gesinnung – insbesondere für weibliche Gefangene mit Blick auf Vergewaltigungen sowie gewaltsame Penetrationen mit Gegenständen, aber auch für die übrigen Gefangenen – in keiner Weise mit der Menschenwürde vereinbar oder den Betroffenen zumutbar sind, zumal ausweislich des Berichts des U.S.-Außenministeriums verschiedene Foltermethoden willkürlich bis hin zum Tode eingesetzt werden und die Leichen der jeweiligen Gefangenen durch Verbringung in die Hafträume noch lebender Häftlinge zu Folterinstrumenten verobjektiviert werden (United States Department of State, Syria 2015 Human Rights Report, S. 5 f. unter ausführlicher Beschreibung der einzelnen Foltermethoden).
62 
Da diese Methoden jedoch bereits an Checkpoints sowie im Rahmen formellen als auch informellen Gewahrsams im Rahmen der Einreisekontrollen angewendet wurden (Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees, 2015, S. 3; vgl. hierzu auch VG Sigmaringen, Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris, m.w.N.), besteht nach Auffassung der Kammer für die Kläger objektiv die Besorgnis, aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Asylantragstellung bzw. ihres Auslandsaufenthalts bei ihrer Rückkehr als potentielle Regimegegner verhaftet und sodann in diesem Status und aufgrund dessen den im Bericht des U.S.-Außenministeriums dargestellten Methoden unterworfen zu werden. Diese Erkenntnisse erhöhen aus Sicht eines verständigen Menschen nochmals dahingehend die Hemmschwelle, in das Heimatland zurückzukehren, dass bereits eine unter 50 % liegende Wahrscheinlichkeit zum Objekt der Folgen einer – auch anlasslos unterstellten Regimegegnerschaft als sog. „Polit-Malus“ – zu werden, es gebieten wird, sich nicht diesem Risiko auszusetzen.
63 
bb. Das Vorbringen der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom 16.09.2016 im Verfahren 3 K 368/16 des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vermag es nicht, diese Annahme zu entkräften oder ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Dass das syrische Regime an der Ausgabe von Reisepässen „gut verdiene“ und aufgrund der Visafreiheit gegenüber der Türkei in dem Bewusstsein der legalen Ausreise Pässe ausgeben mag, steht den zumindest im Jahr 2012 noch bestehenden Repressionen im Sinne einer „Rückkehrerverfolgung“ nicht entgegen, da das syrische Regime mit derartigen Maßnahmen nicht das Ziel der Ausreiseverhinderung verfolgt, sondern letztlich die möglichst umfassende Eliminierung potentiell oppositioneller oder regimefeindlicher Tendenzen im Inland. Die Ausreise ist nämlich nicht zwingend darauf gerichtet, wieder in das Heimatland zurückzukehren. Erfolgt jedoch eine Rückkehr, widerspricht eine Verfolgung von Rückkehrern als potentielle Staatsfeinde nicht sinnlogisch einer vorherigen Förderung der Ausreise.
64 
Im Übrigen dürfte es auch dem syrischen Regime bekannt sein, dass es allein mit dem Instrument der Passversagung kaum möglich sein dürfte, illegale Ausreisen zu verhindern. Allein die in der Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016 in jenem Verfahren zitierte Auskunft des Auswärtigen Amtes, wonach „keine Erkenntnisse“ zu einer aktuellen Rückkehrerverfolgung vorliegen, vermag es nicht, ein Nicht-Mehr-Bestehen derartiger Repressionen darzulegen oder derart in Zweifel zu ziehen, als dass es der Kammer hinsichtlich eines zwischenzeitlichen dauerhaften Entfallens von generellen Repressionen gegenüber Rückkehrern auch nur eine im Ansatz hinreichende Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 VwGO) vermitteln könnte. Nichts anderes gilt hinsichtlich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf, welches sich im Wesentlichen ebenfalls nur auf die Mitteilung beschränkt, dass keine Erkenntnisse vorlägen. Liegen dem Auswärtigen Amt nach dessen eigenen Angaben keine Erkenntnisse vor, kann darauf aufbauenden Auskünften auch kein Beweiswert zukommen. Vielmehr spricht die in der Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zitierte Meldung des Fernsehsenders n-tv vom 01.12.2015, wonach der syrische Präsident Assad eine „Unterwanderung“ der syrischen Flüchtlinge „durch Terroristen“ annehme, mehr für eine verstärkte Überwachung von Rückkehrern als für eine Aufgabe der bisherigen Repressionen bei einer Wiedereinreise.
65 
Dies steht aus Sicht der Kammer in Einklang mit verschiedenen – öffentlich zugänglichen – Berichten (Stiftung Wissenschaft und Politik, Hintergrund Syrien vom 05.08.2015, S. 8 f.; Tharir Institute for Middle East Policy, Russia’s Exit from Syria Highlights Assad’s Limitations, vom 15.03.2016), denen zufolge sich der syrische Präsident Assad im Jahr 2015 dahingehend geäußert hat, dass das Vaterland denen gehöre, die es verteidigten und beschützten. Bereits diese Aussage deutet auf eine Zuordnung rückkehrender Flüchtlinge zu nicht-vaterlands- bzw. nicht-regimetreuen und zugleich – zumindest potentiell – oppositionsfreundlichen Kategorien bzw. deren Ansehung als eine Art „Verräter“ – im Gegensatz zu kämpfenden oder im Heimatland verbleibenden Syrern – hin. Dies genügt aus Sicht der Kammer im Falle einer kürzlich noch bestehenden Rückkehrerverfolgung für die objektiv gerechtfertigte Besorgnis, allein aufgrund der jedenfalls nicht ausdrücklich genehmigten Ausreise und der Asylantragstellung oder des längeren Auslandsaufenthalts im Falle der Wiedereinreise Repressionen des syrischen Staats weiterhin ausgesetzt zu sein.
66 
cc. Auf das Fortbestehen eines Systems gezielter Überprüfung von Rückkehrern, wie sie sich aus den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln ergibt, deutet als Indiztatsache auch der Umstand hin, dass syrische Nachrichtendienste im Jahr 2015 nach den Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz auch im Bundesgebiet entsprechende vorbereitende Aufklärung betrieben haben (Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263; vgl. hierzu VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, abrufbar im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen). Nach diesen Erkenntnissen verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und der Auflösungserscheinungen im Machtapparat des syrischen Regimes unverändert über leistungsfähige Strukturen. Der Aufgabenschwerpunkt besteht offenbar in der Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes (Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Zwar mag eine nachrichtendienstliche Überwachung sämtlicher syrischer Staatsangehöriger durch das syrische Regime in Deutschland nicht bestehen (so OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris). Dass aber überhaupt eine Überwachung von Gegnern durch ein angeschlagenes Regime im Ausland möglich ist und aufrecht erhalten wird, deutet darauf hin, dass die Überwachung von Syrern im Ausland durch die syrischen Sicherheitsbehörden möglichst aufrechterhalten und weiterverfolgt werden soll. Insofern bestehen für die Kammer kaum Anhaltspunkte, welche daran zweifeln ließen, dass die in der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg festgestellten Repressionen gegen Rückkehrer ebenfalls weiterhin aufrechterhalten werden und auch tatsächlich aufrechterhalten werden können.
67 
dd. Die Auffassung der Kammer steht dabei jedenfalls im Ergebnis in Einklang mit den Entscheidungen des VG Sigmaringen (Urteile vom 23.11.2016 – A 5 K 1495/16 und A 5 K 1372/16 –), des VG Karlsruhe (Urteil vom 29.11.2016 – A 8 K 4182/16 –), VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, veröffentlicht im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen), VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –) sowie des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts, welches in seiner Entscheidung vom 29.07.2015 (Geschäftszahl W224 2102645-1, ECLI:AT:BVWG:2015:W224.2102645.1.01) ausgeführt hat, dass Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl ersucht haben, und solche, die in der Vergangenheit Verbindung mit der Muslimbruderschaft hatten, bei ihrer Rückkehr gerichtlich belangt worden seien. Die Regierung habe routinemäßig Dissidenten und frühere Staatsbürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet, die versuchten, nach Jahren oder Jahrzehnten im Exil in das Land zurückzukehren. Dies wiederum wird bestätigt durch den Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, wonach einzelnen Gruppen offenbar willkürlich durch syrische Behörden Meinungen und Ansichten unterstellt werden (UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Fassung - (November 2015) -, S. 11 f.).
68 
ee. Wie die 5. Kammer des VG Sigmaringen ausgeführt hat (Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris), können bei alledem zunächst die, wenn auch rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber – wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG – indiziell bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Dieser stützt sich – soweit ersichtlich – nicht auf neue Erkenntnismittel, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung der Sachlage hätten geben können. Augenfällig erscheint vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für „nur“ subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG für zwei Jahre ausgesetzt hat (VG Sigmaringen, Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris). Wie aus öffentlich zugänglichen Unterlagen zum Vortrag des Sonderbeauftragten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für unbegleitete Flüchtlinge am 17.06.2016 in Neumünster (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https:// www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) hervorgeht, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein „flüchtlingsrelevantes“ Merkmal droht. Insofern erscheint es wenig nachvollziehbar, weshalb gerade ab dem 17.03.2016 die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nicht mehr gegeben sein sollen. Dies spiegelt sich im vorliegenden Fall auch in den Aktenvermerken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wider, in welchen einerseits eine Flüchtlingseigenschaft bejaht, andererseits aber wiederum verneint wird, ohne dass neue Erkenntnisse über den vorliegenden Sachverhalt oder die allgemeine Lage in Syrien, welche gegen ein Fortbestehen der Rückkehrerverfolgung sprächen, vorlägen.
69 
c. Die Kammer ist aufgrund der verfügbaren Erkenntnismittel ferner davon überzeugt, dass sich die Gefahr von Repressionen allein aufgrund des Auslandsaufenthalts auf sämtliche Rückkehrer gleich welchen Alters im Sinne einer Art „Sippenhaft“ bezieht und schließt sich insofern den Ausführungen im Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 23.11.2016 (Az.: A 5 K 1495/16, juris) an. Es kann in diesem Zusammenhang nicht davon ausgegangen werden, dass Behörden eines in seiner Macht angeschlagenen Regimes zwischen erwachsenen und minderjährigen Personen differenzieren; vielmehr dürfte aufgrund der willkürlichen Handhabe und der sog. „carte blanche“-Ermächtigung für Sicherheitsbehörden an Einreisepunkten davon auszugehen sein, dass sich Repressionen nicht nur auf solche Rückkehrer erstrecken, von denen theoretisch eine Gefahr ausgeht. Vielmehr ist nicht zuletzt mit Blick auf die im Bericht des U.S.-Außenministeriums dargelegten Gewalthandlungen gegenüber Minderjährigen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten, dass sich Repressionen unmittelbar gegen diese richten oder diese zum Druckmittel gegenüber ihren Eltern verobjektiviert werden. Deshalb müssen sich die minderjährigen Kläger zu 3) und 4) nicht auf das sog. „Familienasyl“ nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ihrer Eltern verweisen lassen (VG Sigmaringen, Urteil vom 23.11.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris).
70 
3. Über diese allgemeine Rückkehrerverfolgung hinaus sind jedenfalls beim Kläger zu 1) und den Angehörigen seiner Kernfamilie – den Klägern zu 2)-4) – die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, da er im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG Bestrafung oder Strafverfolgung im Falle der Verweigerung einer Einberufung in die syrischen Streitkräfte befürchten muss.
71 
Die strafbewehrte Wehrpflicht eines Staates begründet indes nicht in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, sondern nur dann, wenn der Militärdienst in einem Konflikt abgeleistet werden müsste und Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG). Vorliegend liegt jedoch eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgrund der syrischen Wehrpflicht vor, da nach den verfügbaren Erkenntnismitteln objektiv zu besorgen ist, dass syrische Staatsangehörige männlichen Geschlechts zum Wehrdienst herangezogen und in diesem Rahmen zu Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG unter Androhung von Strafe oder Bestrafung gezwungen werden.
72 
a. Die Kammer ist davon überzeugt, dass in Syrien zwar ein gesetzlich oder quasi-gesetzlich geregeltes Wehrpflichtwesen besteht, diese Regelungen jedoch nicht eingehalten werden und dass die syrische Regierung vielmehr darum bemüht ist, den Personalbestand der staatlichen Armee mittels willkürlicher Einberufungen und Zwangsrekrutierungen zum Wehrdienst aufzustocken. Dies ergibt sich auch aus den glaubhaften Angaben des Klägers zu 1) in der mündlichen Verhandlung, indem er anschaulich solche willkürlichen Zwangsrekrutierungssituationen und -handlungen schilderte. Nach dem Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Maahanmuuttovirasto) vom 23.08.2016 sind die Gesetze – auch die Wehrpflicht in Syrien betreffend – weiterhin in Kraft. Demnach sind männliche Syrer im Alter von 18-42 Jahren wehrpflichtig, während die Altersgrenze für den Dienst als Reservist bei 52 Jahren bzw. 54 Jahren im Falle eines akademischen Abschlusses liegt (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, national defense forces, armed groups supporting syrian regime and armed opposition (im Folgenden: „Syria: Military Service“, 2016, S. 5).
73 
Ausweislich dieses Berichts legt die syrische Regierung nach den Angaben einer Kontaktperson einer westlichen Botschaft in Beirut, um anarchistische Zustände zu verhindern, Wert auf den Schein, dass sich im Land und an der Macht des Regimes nichts geändert habe (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 5). Viele Männer in Syrien erhalten nach diesem Bericht seit dem Beginn des Konflikts, bspw. aufgrund einer Flucht innerhalb des Landes, keine Rekrutierungsunterlagen mehr. Die Rekrutierungsvorgaben wurden demnach sodann vom Regime angepasst, sodass eine Rekrutierung nunmehr in jedem Rekrutierungsbüro oder auch auf der Straße, in Checkpoints oder anderen Orten des Landes stattfinden kann (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 5). Gesetzliche Ausnahmen von der Wehrpflicht mögen dabei zwar formal weiterhin in Kraft sein. Allerdings bietet nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen auch die Vorlage einer Bescheinigung über die Wehrfreiheit keinen hinreichenden Schutz, da flächendeckend eine Nicht-Beachtung von Ausnahmetatbeständen selbst bei vorgelegten Bescheinigungen zu beobachten ist (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, 2015, S. 11 f.) und es auch zur Vernichtung derartiger Unterlagen durch die Sicherheitskräfte bei deren Vorlage kommt (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10).
74 
Dies spiegelt sich nach den Erkenntnissen der dänischen Migrationsbehörde auch in der alltäglichen Praxis wider. Männer werden nunmehr auch auf der Straße, in Universitäten, an Kontrollpunkten und sonstigen Orten, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, rekrutiert; dabei kommt es teilweise zu willkürlichen Maßnahmen und Ausübung von Gewalt (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG (im Folgenden: „Syria – Update on Military Service“, 2015, S. 10; Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 6). So werden Wehrdienstvermeider bspw. in Massenverhaftungen, Tür-zu-Tür-Aktionen und in Universitäten rekrutiert. Unternehmen wurden unter der Androhung eines Geschäftsverbots verpflichtet, Arbeitnehmer zum Wehrdienst zu entsenden (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 6). Dies spiegelt sich im glaubhaften Vortrag des Klägers zu 1) – aber auch in Ansätzen in den Angaben der Klägerin zu 2) – wider, wonach der Kläger zu 1) mehrfach darauf angesprochen wurde, warum er nicht kämpfe und im Rahmen einer Kontrolle auch geschlagen und mit seiner Familie willkürlich festgehalten wurde.
75 
Fahnenflucht wird mit der Todesstrafe (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10) oder mit Gefangenschaft, sog. „incomunicado“-(Isolations-)Haft, Folter und lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, 2015, S. 18 f.). Im Übrigen kann ein Fahnenflüchtiger eingezogen und umgehend – auch an der Front – eingesetzt oder in Haft genommen werden. Dabei gilt es als wahrscheinlich, dass dieser in der Haft gefoltert wird (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10). Der Umgang mit Deserteuren hängt von den Umständen im Land ab und variiert; Gleiches gilt für zivile Armeebeschäftigte (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10). Es ist daher mit Blick auf die weitgehenden Ermächtigungen der syrischen Sicherheitsbehörden nicht auszuschließen und vielmehr überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1) entsprechend seiner im Termin zur mündlichen Verhandlung geäußerten Besorgnis, aufgrund seiner Flucht als „Verräter“ angesehen und damit den gleichen Folgen ausgesetzt sein wird, wie ein Deserteur oder sonstiger Fahnenflüchtiger.
76 
Dies für sich genommen genügt zwar nicht, um die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Hierauf kommt es jedoch nicht an, da die Kammer anhand der derzeit verfügbaren Erkenntnismittel und der voranstehend beschriebenen Geschehnisse in Syrien davon überzeugt ist, dass der Kläger zu 1) – wie von ihm befürchtet – objektiv im Falle seiner Einberufung in die syrische arabische Armee zur Erfüllung seiner Wehrpflicht im Falle der Verweigerung von Befehlen, deren Befolgung Verbrechen im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG darstellen würde, Strafen oder Bestrafungen durch den syrischen Staat besorgen müsste.
77 
b. Anhand der den Gegenstand der mündlichen Verhandlung bildenden Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass der Wehrdienst in der syrischen Armee die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG an eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt.
78 
aa. Verschiedenen Medienberichten kann entnommen werden, dass es zumindest in Aleppo – aber auch in oppositionell kontrollierten Gebieten – in jüngerer Zeit zum Einsatz von chemischen Waffen – zumindest unter billigender Inkaufnahme ziviler Kollateralschäden – gekommen ist, deren Zurechnung nach diesen Berichten zu Einsätzen der syrischen Regierungstruppen nahe liegt (vgl. den Bericht von amnesty international vom 11.08.2016, Syria: Fresh chemical attack on Aleppo a war crime, allgemein im Internet abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/ 2016/08/syria-fresh-chemical-attack-on-aleppo-a-war-crime/; siehe auch CNN, White House condemns Syria’s chemical weapons use, vom 26.08.2016, im Internet allgemein abrufbar unter http://edition.cnn.com/2016/08/25/politics/un-report-chemical-weapons-syria/).
79 
bb. Hierfür spricht allem voran der dritte Bericht der gemeinsamen Untersuchung der Vereinten Nationen und der Organisation zum Verbot von chemischen Waffen (OPCW), welcher den Ermittlungsstand zum 19.08.2016 wiedergibt. Im Rahmen der Untersuchung wurden insgesamt fünf Vorfälle im Jahr 2014 sowie sechs Vorfälle im Jahr 2015 untersucht.
80 
Diese Ermittlungen ergaben, dass in Talmenes (Gouvernement Idlib) am 21.04.2014 ein Helikopter der syrischen arabischen Armee einen Gegenstand mit einer toxischen Substanz auf ein Gebäude abwarf. Dabei stützt sich der Bericht auf Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen, wonach toxische Substanzen nach dem Abwurf einer sog. „Fassbombe“ freigesetzt wurden, während am selben Tag Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition stattfanden. Dabei wurde von den Konfliktparteien nicht bestritten, dass es in jenem Ort zum Einsatz von Chlorgas – dessen Einsatz als Kampfstoff seit 1993 völkerrechtlich verboten ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. b) des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen – Chemiewaffenübereinkommen – vom 13.01.1993, BGBl. 1994 II, S. 807) – kam, während keine Hinweise darauf bestehen, dass zum Zeitpunkt des Vorfalls oppositionelle Gruppen in Talmenes Helikopter eingesetzt hätten (OPCW, Third report of the Organization for the Prohibition of Chemical Weapons - United Nations Joint Investigative Mechanism vom 24.08.2016 (im Folgenden: „Third report of the OPCW“), S. 13). Sachverständige Analysen ergaben dabei Spuren von Ammonium und Chlor. Die Angaben der syrischen Regierung zu jenem Vorfall wurden als forensisch mit der Spurenlage unvereinbar angesehen (OPCW, Third report of the OPCW, S. 50).
81 
Im Bericht der OPCW wird weiter berichtet, dass sich am 16.03.2015 in Sarmin (Gouvernement Idlib) ein ähnlicher Abwurf eines Gegenstands mit anschließender Freisetzung toxischer Substanzen durch die syrische arabische Armee ereignete. Forensische Analysen haben demnach ergeben, dass ein Gerät oder eine „Fassbombe“ aus einem Helikopter abgeworfen wurde, welches sodann durch einen Belüftungsschacht in ein Wohnhaus eingeschlagen ist. Verschiedene Videoaufnahmen zeigen nach diesem Bericht Chlorkohlenwasserstoff-Behälter innerhalb des Hauses sowie eine lila-violett-farbene Substanz auf dem Fußboden, welche auf den Einsatz von Kaliumpermanganat – etwa in Verbindung mit Glycerin als Zünd- oder Sprengmittel – hindeutet (OPCW, Third report of the OPCW, S. 81). Verschiedene Quellen hätten auch bestätigt, dass es zu jenem Zeitpunkt Flugaktivitäten der syrischen arabischen Armee gegeben habe, was von der syrischen Regierung bestritten worden sei (OPCW, Third report of the OPCW, S. 13 f.). Fluorchlorkohlenwasserstoff (englisch Hydrochlorofluorcarbon – HCFC –) wird nach diesem sachverständigen Bericht in der zivilen Verwendung als Kühlmittel eingesetzt und ist als solches allgemein zugänglich. Dennoch bedarf es zum Einsatz als chemischen Kampfstoff – dem syrischen Regime zur Verfügung stehender – technischer Fähigkeiten und Einrichtungen zur Abfüllung als Flüssigkeit oder kompressiertes Gas (OPCW, Third report of the OPCW, S. 10). Die Angaben der syrischen Regierung, wonach der Vorfall in jenem Wohnhaus auf die Explosion eines Flüssiggaskochers zurückzuführen sei, wurden mangels dem entsprechender Brandspuren als unwahrscheinlich eingeschätzt (OPCW, Third report of the OPCW, S. 83).
82 
In Zusammenhang mit weiteren drei Chlorgas-Vorfällen im Jahr 2015 wird davon ausgegangen, dass Sprengsätze mit Fluorchlorkohlenwasserstoff und Kaliumpermanganat eingesetzt wurden (OPCW, Third report of the OPCW, vom 24.08.2016, S. 13 f.).
83 
Am 16.03.2015 kam es nach diesem OPCW-Bericht überdies in Qmenas (Gouvernement Idlib) zu einem Vorfall, hinsichtlich dessen die Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, dass ein Helikopter ein Gerät oder eine „Fassbombe“ abgeworfen hat. Ferner kam es in Kafr Zita (Gouvernement Hama) am 11.04.2014 sowie in Binnish (Gouvernement Idlib) am 24.03.2015 und in Al-Tamanah (Gouvernement Idlib) am 29. und 30.04.2014 zum Einsatz chlorhaltiger Kampfstoffe (OPCW, Third report of the OPCW, S. 15 ff.), hinsichtlich derer die Indizienlage uneindeutig ist.
84 
cc. Die Kammer gelangt aufgrund dieser als objektiv einzuschätzenden Erkenntnisse aus vor Ort geführten Ermittlungen der OPCW zu der Überzeugung, dass die objektive Besorgnis besteht, dass die syrische Armee als staatlicher Akteur (§ 3c Nr. 1 AsylG) u.a. durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe unter billigender Inkaufnahme ziviler Opfer Handlungen begeht, die das Chemiewaffenübereinkommen verletzen und so die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG erfüllen (zu den Voraussetzungen Bergmann, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 11. Aufl., 2016, § 3 AsylG Rn. 7). Dies findet weitere Bestätigung in der Einschätzung des britischen Homeoffice (Home Office, Country Information and Guidance – Syria: the Syrian Civil War, August 2016, S. 19).
85 
Insofern schließt sich die Kammer den Ausführungen der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen in deren Urteil vom 23.11.2016 (A 5 K 1495/16, juris) sowie denen im Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen vom 01.07.2016 (1 K 20205/16 Me, juris) an, wonach die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte wahllos, willkürlich und zumeist völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen – teilweise unter Einsatz verbotener Kriegswaffen – töten und welche Ziele sie dabei auswählen, eine Haltung der syrischen Machthaber mit dem offenkundigen Ziel aufzeigt, jede – tatsächlich bestehende oder auch nur seitens des Regimes unterstellte – Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken und sich hierfür wehrpflichtigen Syrer vor den §§ 3a Abs. 2 Nr. 5, 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG nicht zumutbaren Arten der Kriegsführung in einem Konflikt zu bedienen (vgl. hierzu auch BayVGH, Pressemitteilung vom 13.12.2016).
86 
dd. Darüber hinaus ist die Kammer – wie auch hinsichtlich der sog. „Rückkehrerverfolgung“ – davon überzeugt, dass Repressionen aufgrund von Wehrdienstverweigerung auch die Kläger zu 2)-4) als nahe Angehörige des Klägers zu 1) dergestalt treffen können, dass auch ihnen – abgeleitet vom Kläger zu 1) – eine Stellung als „Verräter“ oder Sympathisanten im Sinne eines eigenen „Polit-Malus“ zugerechnet wird oder sie zum Druckmittel gegenüber dem Kläger zu 1) verobjektiviert werden. Demnach ist es auch in Zusammenhang mit dem syrischen Wehrdienst den Klägern zu 2)-4) nicht zumutbar, erst im Wege des sog. „Familienasyls“ ein humanitäres Aufenthaltsrecht vom Kläger zu 1) abzuleiten.
87 
4. Nach alledem sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei den Klägern erfüllt und die Klage begründet.
III.
88 
Die Beklagte trägt gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des gem. § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

 
I.
25 
1. Die Kammer ist zur Entscheidung des Rechtsstreits berufen, nachdem dieser nicht dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen worden ist (vgl. § 76 Abs. 1 AsylG).
26 
2. Das Gericht kann gem. § 102 Abs. 2 VwGO entscheiden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, nachdem sie ordnungsgemäß geladen und darauf hingewiesen wurde, dass auch ohne ihr Erscheinen verhandelt werden kann.
27 
3. Die Klage ist auch zulässig, da sie insbesondere fristgemäß erhoben worden ist und auch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Denn die aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erteilte Aufenthaltserlaubnis wird gem. § 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG – mit Verlängerungsmöglichkeit – längstens für drei Jahre erteilt, während subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AufenthG – wie den Klägern –lediglich eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr mit einer Verlängerungsmöglichkeit auf zwei Jahre erteilt werden darf. Der Status eines anerkannten Flüchtlings im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt daher einen für die Kläger günstigeren Status, als der ihnen gewährte subsidiäre Schutzstatus. Es kann deshalb vorliegend offenbleiben, ob ein Rechtsschutzbedürfnis mit Blick auf den durch § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG eingeschränkten Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten, deren Kernfamilie sich bereits im Bundesgebiet befindet, bestehen kann.
II.
28 
Die Klage ist auch begründet. Der verfahrensgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen.
29 
Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
30 
Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen unveränderlichen gemeinsamen Hintergrund gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris; Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 –, juris).
31 
Dabei ist die Furcht vor Verfolgung begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 – A 11 S 689/13 –, juris). Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 20.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie (QRL) – ist die Tatsache, dass ein Asylantragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des jeweiligen Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprächen dagegen, dass dieser Asylantragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
32 
Entscheidend ist insofern, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.11.2015 – A 12 S 1999/14 –, juris). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 – 9 C 118.90 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 147).
33 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (statt vieler BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 – 9 C 32.87 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 80). Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12 –, Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 14). Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.2016 – A 10 S 332/12 –, juris). Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann die Intensität der drohenden Verfolgung aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen für die Entscheidung maßgeblich sein, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren will oder nicht (vgl. BayVGH, Urteil vom 08.02.2007 – 23 B 06.30883 –, juris).
34 
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat; insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die – wie hier – bereits während eines Erstverfahrens oder erst mit der Ausreise verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese – anders als bei der Asylanerkennung – nicht auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 –, juris). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 – 10 C 27.07 –, Buchholz 402.25 § 28 AsylVfG Nr. 24 ). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren – wie hier – ist demnach die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 – 10 C 51.07 –, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 28).
35 
Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt stimmig zu schildern (vgl. §§ 15, 25 Abs. 1 AsylG; BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 – 9 C 321/85 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 64).
36 
Ist – wie im vorliegenden Fall – der Sachverhalt soweit ermittelt, dass alle ernsthaft in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO). Ziel dieser Würdigung des Gesamtergebnisses und insbesondere der verfügbaren Beweis- und Erkenntnismittel ist die Begründung der richterlichen Überzeugung über das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen bestimmter erheblicher Umstände. Es ist demgemäß zu erkennen, wie stark oder schwach die einzelnen Umstände und Elemente des Prozessstoffs auf das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein der behaupteten Tatsache hinweisen, wobei das aus seiner Lebens- und Welterfahrung gewonnene Erfahrungswissen und die Erfahrungssätze des erkennenden Richters den Maßstab bilden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.03.1971 – VIII C 24.70 –, BVerwGE 38, 10 <12>). Das dem Gericht bekannte Wissen über allgemein offenkundige Tatsachen bzw. die aus der amtlichen Tätigkeit gewonnenen Kenntnisse ergänzen diesen Maßstab der Beweiswürdigung (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 16 (Stand: April 2013), m.w.N.).
37 
Dabei gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris). Zudem ist die besondere Beweisnot des hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht mit der Beweislast beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden als „Zeuge in eigener Sache“ und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, Beschluss vom 10.05.2002 – 1 B 392.01 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259; Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109.84 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32).
38 
Je größer unter Anwendung dieses Maßstabs die Zahl der übereinstimmenden und je geringer die Zahl der differierenden Merkmale unter den den Prozessstoff bildenden Elementen ist, desto größer ist die Allgemeingültigkeit einer Hypothese, und umso geringer ist die Zufälligkeit der Ähnlichkeit, Gleichartigkeit oder Identität in Bezug auf ein einzelnes Merkmal (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.). Dabei unterliegt die Überzeugungsbildung des Gerichts seiner „Freiheit“, d.h. einer richterlichen Einschätzungsprärogative (Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth (Hrsg.), VwGO, 6. Aufl., 2014, § 108 Rn. 10). Diese findet ihre Grenze in den Denkgesetzen, dem Willkürverbot und in dem Gebot der vollständigen Würdigung des gesamten Prozessstoffs (BVerwG, Beschluss vom 17.10.2012 – 8 B 47/12 –, NVwZ-RR 2013, 97 <100>). In diesem Rahmen ist das Gericht berechtigt, auf jedes Einzelelement des Prozessstoffs zurückzugreifen, andererseits aber auch verpflichtet, das Gesamtergebnis des Verfahrens auszuschöpfen (statt vieler BVerwG, Urteil vom 14.06.1985 –6 C 33/82 –, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 169; Beschluss vom 21.01.2014 – 10 B 3/14 –, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 81).
39 
Das erkennende Gericht muss demnach alle geeigneten Erkenntnismittel nutzen, wobei eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht regelmäßig dann nicht vorliegt, wenn das Gericht den nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Sachverhalt aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme für aufgeklärt hält und die – wie hier zumindest im vorbereitenden Verfahren – sachkundig vertretenen Verfahrensbeteiligten keine Beweisanträge gestellt oder im vorbereitenden Verfahren angekündigt haben (BVerwG, Urteil vom 27.07.1983 – 9 C 541.82 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 146; Beschluss vom 10.10.2013 – 10 B 19.13 –, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 67).
40 
1. Die Kammer ist unter Zugrundelegung dieses Maßstabs zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei den Klägern um syrische Staatsangehörige handelt, die aus Syrien ausgereist sind, ohne dass sie vor ihrer Ausreise aufgrund eines der in § 3 Abs. 1 AsylG niederlegten Merkmale verfolgt worden wären.
41 
Bilden – wie im vorliegenden Fall hinsichtlich des individuellen Schicksals der Kläger – Aussagen natürlicher Personen über Wahrnehmungen und Erlebnisse die einzigen Mittel zur Sachverhaltsermittlung, sind diese im Wege der Aussageanalyse dahingehend zu würdigen, ob sie glaubhaft sind, d.h. ob sie Tatsachen schildern, hinsichtlich derer das Gericht überzeugt ist, dass sie sich – wie sie im Verwaltungsverfahren und im Prozess vorgebracht wurden – zugetragen haben (vgl. Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.).
42 
Kein anderer Maßstab kann für die Angaben der Kläger zu 1) und 2) als „Zeuge in eigener Sache“ gelten, welche im Asylverfahren hinsichtlich des Flucht- oder Verfolgungsschicksals des Asylsuchenden regelmäßig als einziges Erkenntnismittel in Betracht kommen und so gesteigerte Bedeutung erfahren (BVerwG, Beschluss vom 10.05.2002 – 1 B 392.01 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259; Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109.84 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32).
43 
Gegenstand der Prüfung der Glaubhaftigkeit, welche damit in Ermangelung anderer Ermittlungsansätze aufgerufen ist, ist die Frage, ob die Angaben hinsichtlich eines bestimmten tatsächlichen Geschehens zutreffen oder nicht. Dabei ist zunächst zu unterstellen, dass die Aussage weder wahr noch falsch ist; es sind auf Grundlage eines Glaubhaftigkeitswerts von Null weitere Hypothesen zu bilden (sog. „Nullhypothese“, vgl. hierzu m.w.N. BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; zu deren Anwendbarkeit außerhalb des Strafprozesses LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 –, BeckRS 2012, 70690; zu deren Bedeutung für die richterliche Beweiswürdigung BGH, Urteil vom 27.03.2003 – 1 StR 524/02 –, NStZ-RR 2003, 206 <208>).
44 
Ergibt sich, dass diese Hypothese, die Aussage sei weder wahr noch falsch, nicht zutreffen kann, bspw. weil sich die Aussage durch genügend Qualitätsmerkmale auszeichnet, die den Schluss rechtfertigen, dass sie der Wahrheit entspricht, d.h. die „Nullhypothese“ mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt (BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506; VG Meiningen, Beschluss vom 08.12.2011 – 6 D 60012/11 Me –, juris).
45 
Demnach ist in einem ersten Schritt davon auszugehen, dass Aussagen über Erlebtes und Nicht-Erlebtes sich in ihrer Qualität unterscheiden (sog. „Undeutsch-Hypothese“, vgl. zum Ganzen Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 283 ff.), sodass die Aussage zunächst inhaltsorientiert und sodann merkmalsorientiert dahingehend überprüft werden kann, ob sie Merkmale bzw. Anzeichen enthält, die für ihre Glaubhaftigkeit sprechen (OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506).
46 
Als solche sog. „Realitäts-“oder „Glaubhaftigkeitsanzeichen“ kommen insbesondere ein Detailreichtum, Angaben zu im Hintergrund stehenden Umständen, eine nicht chronologische und unpräzise – gleichwohl inhaltlich ausführliche – Erzählweise im Gegensatz zur Wiedergabe angelernter oder ausgedachter Informationen in Betracht (vgl. bspw. BVerwG, Urteil vom 19.07.2006 – 2 WD 13/05 –, NVwZ-RR 2007, 182; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 –, BeckRS 2012, 70690; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 370 ff. und 409 ff.).
47 
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sieht das Gericht die Angaben der Kläger zu 1) und 2) als glaubhaft an. Ihre Angaben stehen hinsichtlich des wesentlichen Kerngeschehens, aber auch im Hinblick auf den, das Kerngeschehen umgebenden, inhaltlichen Gesamtzusammenhang und mit ihrem Vorbringen im Behördenverfahren in dessen wesentlichen, das Geschehen prägenden Elementen, in inhaltlicher Übereinstimmung. Inhaltlich waren die Angaben weitgehend widerspruchsfrei, wobei die Widersprüchlichkeit in den Angaben der Klägerin zu 2) hinsichtlich der Dauer der Kontrolle am Checkpoint in Damaskus, zunächst erheblich von der anfänglich angegebenen Dauer von vier Stunden abwich. Ihr gesamtes Aussageverhalten war indes von Unsicherheiten – teilweise auch gegenüber dem Gericht – geprägt. Ihr war eine klare Sorge in der Erzählung anzusehen und es war offensichtlich, dass der Fokus ihrer Wahrnehmung auf dem Geschehenen selbst und dem Schicksal ihres Ehegatten und ihrer Kinder, nicht aber auf der, in diesem Detail zum Randgeschehen zählenden, zeitlichen Dauer lag. Das generell einzelfallbezogen und so im Falle der Klägerin zu 2) unter diesem Gesichtspunkt zu bestimmende Kerngeschehen hat sie widerspruchsfrei geschildert (vg. zur Bestimmung des „Kerngeschehens“ OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506 <3507>). Die Klägerin zu 2) gab nämlich an, dass es sich insgesamt um eine in ihrer subjektiven Wahrnehmung lange Zeit gehandelt habe, was inhaltlich zu den Angaben des Klägers zu 1) jedenfalls nicht in Widerspruch steht, sondern vielmehr der vom Kläger zu 1) angegebenen Dauer von vier bis fünf Stunden entspricht.
48 
Das Aussageverhalten – insbesondere des Klägers zu 1) – war flüssig und nicht detailarm. Der Kläger zu 1) machte von sich aus Angaben, welche einzelne Details zum Geschehen enthielten, wie den Umstand, dass er mit einem Gewehrkolben geschlagen worden sei. Andererseits war er auch in der Lage, andere von ihm als selbstverständlich angenommene Umstände – wie die Tatsache, dass keine förmlichen Einberufungsbescheide zum Wehrdienst ergingen – auf Nachfrage zu ergänzen. Dies erfolgte schnell und ohne nachzudenken oder zu zögern unter Einbettung in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang mit einer Selbstverständlichkeit und Präzision, welche die Überzeugung rechtfertigt, dass ein wahrheitswidriges Erfinden dieser Angaben anhand von Gerüchten oder Medienberichten auch einer kompetenteren Aussageperson nicht ohne weiteres in dieser Gestalt möglich gewesen wäre.
49 
Das Aussageverhalten zeichnete sich bei beiden Klägern dadurch aus, dass sie in ihrer Erzählweise selbst inhaltlich und zeitlich „sprangen“ und auch auf Nachfrage des Gerichts in der Lage waren, in einen anderen Teil ihrer Erzählung gedanklich einzusteigen, was für die Wiedergabe selbst erlebter Ereignisse – im Gegensatz zu einer stereotypen streng chronologischen Erzählweise – spricht.
50 
Auf Grundlage dieser Glaubhaftigkeitsanzeichen gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Angaben der Kläger zu 1) und 2) glaubhaft sind, die Kläger aus Syrien stammen und der Kläger zu 1) Rekrutierungsbemühungen und -versuchen der syrischen Regierung ausgesetzt war. Zugleich gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Kläger jedenfalls nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder politischen Einstellung als solches vor ihrer Ausreise aus Syrien verfolgt wurden. Dies kann jedoch offenbleiben.
51 
2. Soweit anhand der verfügbaren Erkenntnismittel ersichtlich, ist die Kammer jedoch im Ergebnis mit der überwiegenden Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung davon überzeugt, dass zumindest bis in das Jahr 2013 hinein eine sog. „Rückkehrerverfolgung“, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung schutzsuchender syrischer Staatsangehöriger aufgrund ihrer illegalen Ausreise aus Syrien und der Asylantragstellung oder einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt, bei einer Wiedereinreise nach Syrien bestand (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 – 14 A 2708/10.A –, juris). Dies findet tatsächliche Bestätigung im Bericht des Auswärtigen Amtes vom 28.12.2009 (AA, Ad-hoc Ergänzungsbericht zum Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Dezember 2009)).Amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes stellen dabei Beweismittel eigener Art dar, denen – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – eine „Bemühung um Objektivität“ innewohnt, sodass sie den tatsächlichen Verhältnissen am Nächsten kommen (BVerfG, Beschluss vom 23.02.1983 – 1 BvR 990/82 –, BVerfGE 63, 197 <214 f.>). Ihnen kommt daher ein hoher Beweiswert zu (Berlit, in: Gemeinschaftskommentar AsylG (GK-AsylG), § 78 Rn. 400 (Stand: April 1998)).
52 
a. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2012 wurde hierzu ausgeführt, dass seit den anfänglich friedlichen Protesten im Jahre 2011 (sog. „Arabischer Frühling“) das Regime mit massiven Repressionsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung – vor allem durch den Einsatz der Armee, von Sicherheitskräften und staatlich organisierten Milizen reagiert hat. Reformen würden als sog. „Papierreformen“ nicht den Kern des Konflikts, d.h. den Fortbestand des Regimes und die Fortdauer der Repressionen – antasten (AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012, Stand: Februar 2012, S. 5).
53 
Aufgrund dieser Erkenntnislage ist der VGH Baden-Württemberg zuletzt im Jahr 2013 davon ausgegangen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die bislang in der Rechtsprechung angenommene Gefahr einer sog. „Rückkehrerverfolgung“ nicht mehr bestehen würde (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris). Allein die aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen bestehenden hohen Zahlen an Wiedereinreisen nach Syrien höben nicht per se die Möglichkeit des Regimes auf, die Herkunft der Rückkehrer zu kontrollieren (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris).
54 
Dem schließt sich die Kammer an, da sie die Auffassung des VGH Baden-Württemberg teilt, dass es nicht nachvollziehbar erscheint, dass im Falle eines totalitären Regimes, welches um sein Überleben kämpft, dieses im Rahmen eines bewaffneten bürgerkriegsähnlichen Konflikts seine bisherige Praxis der Annahme einer potentiellen Regimegegnerschaft bei Rückkehrern ändert und nunmehr im Rahmen der Einreise eine abstrakte repressionsneutrale Vorfeldkontrolle vornimmt und erst dem nachgelagert – ggf. zwischen freiwilliger Ausreise und zwangsweiser Abschiebung differenzierend – Repressionen ausübt (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris). Ein derartiges differenziertes und bürokratisches Vorgehen nach – in quasi-rechtsstaatlicher Weise – abstrakt-generell vorgezeichneten Kriterien erscheint abgesehen von dessen Praktikabilität im Falle eines in der Krise agierenden totalitären Regimes bei lebensnaher Betrachtung auch nach Auffassung der Kammer eher fernliegend und kann unter den aktuellen Umständen ohne nähere Anhaltspunkte wohl kaum in ernst zu nehmender Weise erwartet, unterstellt oder angenommen werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris).
55 
b. Die Kammer gelangt anhand der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung, dass hinsichtlich der sog. „Rückkehrerverfolgung“, d.h. der Vermutung einer Regimegegnerschaft bei wiederkehrenden Syrern aus dem Ausland durch das syrische Regime, keine flüchtlingsrechtlich erhebliche Änderung eingetreten ist. Damit gelangt sie zu der Überzeugung, dass jedenfalls derzeit eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegt.
56 
Die Kammer ist als erkennendes Gericht dabei nicht gehalten, „ins Blaue hinein“ ohne tatsächliche Anhaltspunkte nach theoretisch denkbaren Ermittlungsansätzen – wie etwa einer veränderten sicherheitsbehördlichen Praxis in Syrien – zu suchen und solchen ohne auch nur eine ansatzweise Tatsachengrundlage nachzugehen (vgl. zur sog. „Ausforschung“ durch das Gericht bspw. BVerwG, Beschluss vom 15. Februar 2008 – 5 B 196/07 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 362; Beschluss vom 05.10.1990 – 4 B 249/89 –, Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 6; Beschluss vom 29.03.1995 – 11 B 21/95 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 266; vgl. zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2016 – 5 S 1443/14 –, juris).
57 
Dass Ermittlungsbemühungen bspw. über Auskünfte des Auswärtigen Amtes – nicht zuletzt mangels diplomatischer Vertretung in Syrien – ergebnislos ausfallen, zeigen bereits die jüngsten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 02.01.2017, welche dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erteilt wurden, sodass aus Sicht der Kammer keine weiteren Ermittlungsansätze bestehen.
58 
aa. Die Kammer stützt daher ihre Erkenntnis dabei zunächst auf den Bericht der kanadischen Immigrations- und Flüchtlingsbehörde vom 19.01.2016. In diesem wird unter Berufung auf sachverständige Auskünfte das Verfahren bei der Wiedereinreise nach Syrien näher beschrieben.
59 
Nach diesem Bericht erfolgen an den Einreisestellen, d.h. am internationalen Flughafen in Damaskus sowie an den Grenzkontrollpunkten Kontrollen der Ausweispapiere sowie Rücksprachen mit nationalen Stellen. Es erfolgen Abfragen und Abgleiche mit Such- und Fahndungsmeldungen. Dabei ist nach sachverständigen Angaben das Verfahren dahingehend ausgestaltet, dass die Grenzbeamten und Sicherheitsbehörden über eine sog. „carte blanche“ – also eine Blankoermächtigung – für die Behandlung ihnen verdächtig erscheinender Personen erhalten haben (Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion - (im Folgenden: „Syria: Treatment of returnees“) -, 2015, S. 3). Dies beinhaltet nach sachverständigen Angaben die sofortige Ingewahrsamnahme der jeweiligen Person, welche zu einem sog. „Verschwinden“ oder Folter führen kann (so auch Amnesty International, Amnesty Report 2016: Syrien, im Internet abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien). Es können ferner Meldeauflagen verhängt werden. Insgesamt wird das Verfahren im Hinblick auf Rückkehrer als „unpredictable“ – unvorhersehbar – beschrieben. Bereits dies für sich genommen spricht für das Fortbestehen von Einreiserepressionen – bzw. der begründeten Furcht vor solchen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG – sowie deren Bestärkung durch die Erteilung von Blankoermächtigungen an Sicherheitsbehörden und damit die staatliche Freigabe für willkürliche Festnahmen und sonstige Maßnahmen.
60 
Dies findet Bestätigung im Menschenrechtsbericht des U.S.-Außenministeriums, wonach die syrische Regierung Dissidenten und frühere Einwohner ohne bekannte politische Betätigung, welche nach Jahren freiwilligen Asyls nach Syrien zurückkehren wollten, verhaftet hat (United States Department of State, Syria 2015 Human Rights Report, S. 34, im Internet allgemein abrufbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947). Dass sich diese Ausführungen ausschließlich auf Sonderfälle (früherer) politischer Betätigung beziehen würden, vermag die Kammer nicht zu erkennen, da sich die vom OVG Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 16.12.2016 (Az.: 1 A 10922/16, juris) angeführte Erläuterung im Bericht des Außenministeriums nicht etwa auf die Feststellung genereller Verhaftungen von Dissidenten und Rückkehrern bezieht, sondern auf die dem vorangestellt angeführte Verhaftung politisch auffälliger Rückkehrer.
61 
Hierauf kommt es indes nicht an, da bereits die objektiv bestehende Möglichkeit, dass ein längerer Auslandsaufenthalt für die syrischen Behörden einen hinreichenden Anlass für die Unterstellung einer potentiell staatsfeindlichen Betätigung darstellt, für die Bejahung einer begründeten Furcht im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG genügt. Denn allein die Möglichkeit, bei einem erst noch kürzlich bestehenden und in Vollzug gesetzten System genereller Rückkehrerverfolgung, allein aufgrund eines Asylantrags im Ausland in den Fokus der syrischen Sicherheitsbehörden zu geraten, rechtfertigt aus der objektiven Sicht eines verständigen Menschen in der Situation der Kläger die Befürchtung, bei der Einreise aufgegriffen und allein wegen der unterstellten politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die allgemeinen Haftbedingungen in Syrien derzeit unabhängig von einer politischen Gesinnung – insbesondere für weibliche Gefangene mit Blick auf Vergewaltigungen sowie gewaltsame Penetrationen mit Gegenständen, aber auch für die übrigen Gefangenen – in keiner Weise mit der Menschenwürde vereinbar oder den Betroffenen zumutbar sind, zumal ausweislich des Berichts des U.S.-Außenministeriums verschiedene Foltermethoden willkürlich bis hin zum Tode eingesetzt werden und die Leichen der jeweiligen Gefangenen durch Verbringung in die Hafträume noch lebender Häftlinge zu Folterinstrumenten verobjektiviert werden (United States Department of State, Syria 2015 Human Rights Report, S. 5 f. unter ausführlicher Beschreibung der einzelnen Foltermethoden).
62 
Da diese Methoden jedoch bereits an Checkpoints sowie im Rahmen formellen als auch informellen Gewahrsams im Rahmen der Einreisekontrollen angewendet wurden (Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees, 2015, S. 3; vgl. hierzu auch VG Sigmaringen, Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris, m.w.N.), besteht nach Auffassung der Kammer für die Kläger objektiv die Besorgnis, aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Asylantragstellung bzw. ihres Auslandsaufenthalts bei ihrer Rückkehr als potentielle Regimegegner verhaftet und sodann in diesem Status und aufgrund dessen den im Bericht des U.S.-Außenministeriums dargestellten Methoden unterworfen zu werden. Diese Erkenntnisse erhöhen aus Sicht eines verständigen Menschen nochmals dahingehend die Hemmschwelle, in das Heimatland zurückzukehren, dass bereits eine unter 50 % liegende Wahrscheinlichkeit zum Objekt der Folgen einer – auch anlasslos unterstellten Regimegegnerschaft als sog. „Polit-Malus“ – zu werden, es gebieten wird, sich nicht diesem Risiko auszusetzen.
63 
bb. Das Vorbringen der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom 16.09.2016 im Verfahren 3 K 368/16 des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vermag es nicht, diese Annahme zu entkräften oder ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Dass das syrische Regime an der Ausgabe von Reisepässen „gut verdiene“ und aufgrund der Visafreiheit gegenüber der Türkei in dem Bewusstsein der legalen Ausreise Pässe ausgeben mag, steht den zumindest im Jahr 2012 noch bestehenden Repressionen im Sinne einer „Rückkehrerverfolgung“ nicht entgegen, da das syrische Regime mit derartigen Maßnahmen nicht das Ziel der Ausreiseverhinderung verfolgt, sondern letztlich die möglichst umfassende Eliminierung potentiell oppositioneller oder regimefeindlicher Tendenzen im Inland. Die Ausreise ist nämlich nicht zwingend darauf gerichtet, wieder in das Heimatland zurückzukehren. Erfolgt jedoch eine Rückkehr, widerspricht eine Verfolgung von Rückkehrern als potentielle Staatsfeinde nicht sinnlogisch einer vorherigen Förderung der Ausreise.
64 
Im Übrigen dürfte es auch dem syrischen Regime bekannt sein, dass es allein mit dem Instrument der Passversagung kaum möglich sein dürfte, illegale Ausreisen zu verhindern. Allein die in der Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016 in jenem Verfahren zitierte Auskunft des Auswärtigen Amtes, wonach „keine Erkenntnisse“ zu einer aktuellen Rückkehrerverfolgung vorliegen, vermag es nicht, ein Nicht-Mehr-Bestehen derartiger Repressionen darzulegen oder derart in Zweifel zu ziehen, als dass es der Kammer hinsichtlich eines zwischenzeitlichen dauerhaften Entfallens von generellen Repressionen gegenüber Rückkehrern auch nur eine im Ansatz hinreichende Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 VwGO) vermitteln könnte. Nichts anderes gilt hinsichtlich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf, welches sich im Wesentlichen ebenfalls nur auf die Mitteilung beschränkt, dass keine Erkenntnisse vorlägen. Liegen dem Auswärtigen Amt nach dessen eigenen Angaben keine Erkenntnisse vor, kann darauf aufbauenden Auskünften auch kein Beweiswert zukommen. Vielmehr spricht die in der Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zitierte Meldung des Fernsehsenders n-tv vom 01.12.2015, wonach der syrische Präsident Assad eine „Unterwanderung“ der syrischen Flüchtlinge „durch Terroristen“ annehme, mehr für eine verstärkte Überwachung von Rückkehrern als für eine Aufgabe der bisherigen Repressionen bei einer Wiedereinreise.
65 
Dies steht aus Sicht der Kammer in Einklang mit verschiedenen – öffentlich zugänglichen – Berichten (Stiftung Wissenschaft und Politik, Hintergrund Syrien vom 05.08.2015, S. 8 f.; Tharir Institute for Middle East Policy, Russia’s Exit from Syria Highlights Assad’s Limitations, vom 15.03.2016), denen zufolge sich der syrische Präsident Assad im Jahr 2015 dahingehend geäußert hat, dass das Vaterland denen gehöre, die es verteidigten und beschützten. Bereits diese Aussage deutet auf eine Zuordnung rückkehrender Flüchtlinge zu nicht-vaterlands- bzw. nicht-regimetreuen und zugleich – zumindest potentiell – oppositionsfreundlichen Kategorien bzw. deren Ansehung als eine Art „Verräter“ – im Gegensatz zu kämpfenden oder im Heimatland verbleibenden Syrern – hin. Dies genügt aus Sicht der Kammer im Falle einer kürzlich noch bestehenden Rückkehrerverfolgung für die objektiv gerechtfertigte Besorgnis, allein aufgrund der jedenfalls nicht ausdrücklich genehmigten Ausreise und der Asylantragstellung oder des längeren Auslandsaufenthalts im Falle der Wiedereinreise Repressionen des syrischen Staats weiterhin ausgesetzt zu sein.
66 
cc. Auf das Fortbestehen eines Systems gezielter Überprüfung von Rückkehrern, wie sie sich aus den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln ergibt, deutet als Indiztatsache auch der Umstand hin, dass syrische Nachrichtendienste im Jahr 2015 nach den Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz auch im Bundesgebiet entsprechende vorbereitende Aufklärung betrieben haben (Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263; vgl. hierzu VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, abrufbar im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen). Nach diesen Erkenntnissen verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und der Auflösungserscheinungen im Machtapparat des syrischen Regimes unverändert über leistungsfähige Strukturen. Der Aufgabenschwerpunkt besteht offenbar in der Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes (Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Zwar mag eine nachrichtendienstliche Überwachung sämtlicher syrischer Staatsangehöriger durch das syrische Regime in Deutschland nicht bestehen (so OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 – 1 A 10922/16 –, juris). Dass aber überhaupt eine Überwachung von Gegnern durch ein angeschlagenes Regime im Ausland möglich ist und aufrecht erhalten wird, deutet darauf hin, dass die Überwachung von Syrern im Ausland durch die syrischen Sicherheitsbehörden möglichst aufrechterhalten und weiterverfolgt werden soll. Insofern bestehen für die Kammer kaum Anhaltspunkte, welche daran zweifeln ließen, dass die in der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg festgestellten Repressionen gegen Rückkehrer ebenfalls weiterhin aufrechterhalten werden und auch tatsächlich aufrechterhalten werden können.
67 
dd. Die Auffassung der Kammer steht dabei jedenfalls im Ergebnis in Einklang mit den Entscheidungen des VG Sigmaringen (Urteile vom 23.11.2016 – A 5 K 1495/16 und A 5 K 1372/16 –), des VG Karlsruhe (Urteil vom 29.11.2016 – A 8 K 4182/16 –), VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, veröffentlicht im Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen), VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –) sowie des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts, welches in seiner Entscheidung vom 29.07.2015 (Geschäftszahl W224 2102645-1, ECLI:AT:BVWG:2015:W224.2102645.1.01) ausgeführt hat, dass Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl ersucht haben, und solche, die in der Vergangenheit Verbindung mit der Muslimbruderschaft hatten, bei ihrer Rückkehr gerichtlich belangt worden seien. Die Regierung habe routinemäßig Dissidenten und frühere Staatsbürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet, die versuchten, nach Jahren oder Jahrzehnten im Exil in das Land zurückzukehren. Dies wiederum wird bestätigt durch den Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, wonach einzelnen Gruppen offenbar willkürlich durch syrische Behörden Meinungen und Ansichten unterstellt werden (UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Fassung - (November 2015) -, S. 11 f.).
68 
ee. Wie die 5. Kammer des VG Sigmaringen ausgeführt hat (Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris), können bei alledem zunächst die, wenn auch rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber – wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG – indiziell bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Dieser stützt sich – soweit ersichtlich – nicht auf neue Erkenntnismittel, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung der Sachlage hätten geben können. Augenfällig erscheint vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für „nur“ subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG für zwei Jahre ausgesetzt hat (VG Sigmaringen, Urteil vom 16.12.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris). Wie aus öffentlich zugänglichen Unterlagen zum Vortrag des Sonderbeauftragten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für unbegleitete Flüchtlinge am 17.06.2016 in Neumünster (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https:// www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) hervorgeht, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein „flüchtlingsrelevantes“ Merkmal droht. Insofern erscheint es wenig nachvollziehbar, weshalb gerade ab dem 17.03.2016 die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nicht mehr gegeben sein sollen. Dies spiegelt sich im vorliegenden Fall auch in den Aktenvermerken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wider, in welchen einerseits eine Flüchtlingseigenschaft bejaht, andererseits aber wiederum verneint wird, ohne dass neue Erkenntnisse über den vorliegenden Sachverhalt oder die allgemeine Lage in Syrien, welche gegen ein Fortbestehen der Rückkehrerverfolgung sprächen, vorlägen.
69 
c. Die Kammer ist aufgrund der verfügbaren Erkenntnismittel ferner davon überzeugt, dass sich die Gefahr von Repressionen allein aufgrund des Auslandsaufenthalts auf sämtliche Rückkehrer gleich welchen Alters im Sinne einer Art „Sippenhaft“ bezieht und schließt sich insofern den Ausführungen im Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 23.11.2016 (Az.: A 5 K 1495/16, juris) an. Es kann in diesem Zusammenhang nicht davon ausgegangen werden, dass Behörden eines in seiner Macht angeschlagenen Regimes zwischen erwachsenen und minderjährigen Personen differenzieren; vielmehr dürfte aufgrund der willkürlichen Handhabe und der sog. „carte blanche“-Ermächtigung für Sicherheitsbehörden an Einreisepunkten davon auszugehen sein, dass sich Repressionen nicht nur auf solche Rückkehrer erstrecken, von denen theoretisch eine Gefahr ausgeht. Vielmehr ist nicht zuletzt mit Blick auf die im Bericht des U.S.-Außenministeriums dargelegten Gewalthandlungen gegenüber Minderjährigen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten, dass sich Repressionen unmittelbar gegen diese richten oder diese zum Druckmittel gegenüber ihren Eltern verobjektiviert werden. Deshalb müssen sich die minderjährigen Kläger zu 3) und 4) nicht auf das sog. „Familienasyl“ nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ihrer Eltern verweisen lassen (VG Sigmaringen, Urteil vom 23.11.2016 – A 5 K 1495/16 –, juris).
70 
3. Über diese allgemeine Rückkehrerverfolgung hinaus sind jedenfalls beim Kläger zu 1) und den Angehörigen seiner Kernfamilie – den Klägern zu 2)-4) – die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, da er im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG Bestrafung oder Strafverfolgung im Falle der Verweigerung einer Einberufung in die syrischen Streitkräfte befürchten muss.
71 
Die strafbewehrte Wehrpflicht eines Staates begründet indes nicht in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, sondern nur dann, wenn der Militärdienst in einem Konflikt abgeleistet werden müsste und Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG). Vorliegend liegt jedoch eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgrund der syrischen Wehrpflicht vor, da nach den verfügbaren Erkenntnismitteln objektiv zu besorgen ist, dass syrische Staatsangehörige männlichen Geschlechts zum Wehrdienst herangezogen und in diesem Rahmen zu Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG unter Androhung von Strafe oder Bestrafung gezwungen werden.
72 
a. Die Kammer ist davon überzeugt, dass in Syrien zwar ein gesetzlich oder quasi-gesetzlich geregeltes Wehrpflichtwesen besteht, diese Regelungen jedoch nicht eingehalten werden und dass die syrische Regierung vielmehr darum bemüht ist, den Personalbestand der staatlichen Armee mittels willkürlicher Einberufungen und Zwangsrekrutierungen zum Wehrdienst aufzustocken. Dies ergibt sich auch aus den glaubhaften Angaben des Klägers zu 1) in der mündlichen Verhandlung, indem er anschaulich solche willkürlichen Zwangsrekrutierungssituationen und -handlungen schilderte. Nach dem Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Maahanmuuttovirasto) vom 23.08.2016 sind die Gesetze – auch die Wehrpflicht in Syrien betreffend – weiterhin in Kraft. Demnach sind männliche Syrer im Alter von 18-42 Jahren wehrpflichtig, während die Altersgrenze für den Dienst als Reservist bei 52 Jahren bzw. 54 Jahren im Falle eines akademischen Abschlusses liegt (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, national defense forces, armed groups supporting syrian regime and armed opposition (im Folgenden: „Syria: Military Service“, 2016, S. 5).
73 
Ausweislich dieses Berichts legt die syrische Regierung nach den Angaben einer Kontaktperson einer westlichen Botschaft in Beirut, um anarchistische Zustände zu verhindern, Wert auf den Schein, dass sich im Land und an der Macht des Regimes nichts geändert habe (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 5). Viele Männer in Syrien erhalten nach diesem Bericht seit dem Beginn des Konflikts, bspw. aufgrund einer Flucht innerhalb des Landes, keine Rekrutierungsunterlagen mehr. Die Rekrutierungsvorgaben wurden demnach sodann vom Regime angepasst, sodass eine Rekrutierung nunmehr in jedem Rekrutierungsbüro oder auch auf der Straße, in Checkpoints oder anderen Orten des Landes stattfinden kann (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 5). Gesetzliche Ausnahmen von der Wehrpflicht mögen dabei zwar formal weiterhin in Kraft sein. Allerdings bietet nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen auch die Vorlage einer Bescheinigung über die Wehrfreiheit keinen hinreichenden Schutz, da flächendeckend eine Nicht-Beachtung von Ausnahmetatbeständen selbst bei vorgelegten Bescheinigungen zu beobachten ist (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, 2015, S. 11 f.) und es auch zur Vernichtung derartiger Unterlagen durch die Sicherheitskräfte bei deren Vorlage kommt (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10).
74 
Dies spiegelt sich nach den Erkenntnissen der dänischen Migrationsbehörde auch in der alltäglichen Praxis wider. Männer werden nunmehr auch auf der Straße, in Universitäten, an Kontrollpunkten und sonstigen Orten, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, rekrutiert; dabei kommt es teilweise zu willkürlichen Maßnahmen und Ausübung von Gewalt (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG (im Folgenden: „Syria – Update on Military Service“, 2015, S. 10; Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 6). So werden Wehrdienstvermeider bspw. in Massenverhaftungen, Tür-zu-Tür-Aktionen und in Universitäten rekrutiert. Unternehmen wurden unter der Androhung eines Geschäftsverbots verpflichtet, Arbeitnehmer zum Wehrdienst zu entsenden (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 6). Dies spiegelt sich im glaubhaften Vortrag des Klägers zu 1) – aber auch in Ansätzen in den Angaben der Klägerin zu 2) – wider, wonach der Kläger zu 1) mehrfach darauf angesprochen wurde, warum er nicht kämpfe und im Rahmen einer Kontrolle auch geschlagen und mit seiner Familie willkürlich festgehalten wurde.
75 
Fahnenflucht wird mit der Todesstrafe (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10) oder mit Gefangenschaft, sog. „incomunicado“-(Isolations-)Haft, Folter und lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet (Danish Immigration Service, Syria – Update on Military Service, 2015, S. 18 f.). Im Übrigen kann ein Fahnenflüchtiger eingezogen und umgehend – auch an der Front – eingesetzt oder in Haft genommen werden. Dabei gilt es als wahrscheinlich, dass dieser in der Haft gefoltert wird (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10). Der Umgang mit Deserteuren hängt von den Umständen im Land ab und variiert; Gleiches gilt für zivile Armeebeschäftigte (Maahanmuuttovirasto, Syria: Military Service, 2016, S. 10). Es ist daher mit Blick auf die weitgehenden Ermächtigungen der syrischen Sicherheitsbehörden nicht auszuschließen und vielmehr überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1) entsprechend seiner im Termin zur mündlichen Verhandlung geäußerten Besorgnis, aufgrund seiner Flucht als „Verräter“ angesehen und damit den gleichen Folgen ausgesetzt sein wird, wie ein Deserteur oder sonstiger Fahnenflüchtiger.
76 
Dies für sich genommen genügt zwar nicht, um die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Hierauf kommt es jedoch nicht an, da die Kammer anhand der derzeit verfügbaren Erkenntnismittel und der voranstehend beschriebenen Geschehnisse in Syrien davon überzeugt ist, dass der Kläger zu 1) – wie von ihm befürchtet – objektiv im Falle seiner Einberufung in die syrische arabische Armee zur Erfüllung seiner Wehrpflicht im Falle der Verweigerung von Befehlen, deren Befolgung Verbrechen im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG darstellen würde, Strafen oder Bestrafungen durch den syrischen Staat besorgen müsste.
77 
b. Anhand der den Gegenstand der mündlichen Verhandlung bildenden Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass der Wehrdienst in der syrischen Armee die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG an eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt.
78 
aa. Verschiedenen Medienberichten kann entnommen werden, dass es zumindest in Aleppo – aber auch in oppositionell kontrollierten Gebieten – in jüngerer Zeit zum Einsatz von chemischen Waffen – zumindest unter billigender Inkaufnahme ziviler Kollateralschäden – gekommen ist, deren Zurechnung nach diesen Berichten zu Einsätzen der syrischen Regierungstruppen nahe liegt (vgl. den Bericht von amnesty international vom 11.08.2016, Syria: Fresh chemical attack on Aleppo a war crime, allgemein im Internet abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/ 2016/08/syria-fresh-chemical-attack-on-aleppo-a-war-crime/; siehe auch CNN, White House condemns Syria’s chemical weapons use, vom 26.08.2016, im Internet allgemein abrufbar unter http://edition.cnn.com/2016/08/25/politics/un-report-chemical-weapons-syria/).
79 
bb. Hierfür spricht allem voran der dritte Bericht der gemeinsamen Untersuchung der Vereinten Nationen und der Organisation zum Verbot von chemischen Waffen (OPCW), welcher den Ermittlungsstand zum 19.08.2016 wiedergibt. Im Rahmen der Untersuchung wurden insgesamt fünf Vorfälle im Jahr 2014 sowie sechs Vorfälle im Jahr 2015 untersucht.
80 
Diese Ermittlungen ergaben, dass in Talmenes (Gouvernement Idlib) am 21.04.2014 ein Helikopter der syrischen arabischen Armee einen Gegenstand mit einer toxischen Substanz auf ein Gebäude abwarf. Dabei stützt sich der Bericht auf Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen, wonach toxische Substanzen nach dem Abwurf einer sog. „Fassbombe“ freigesetzt wurden, während am selben Tag Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition stattfanden. Dabei wurde von den Konfliktparteien nicht bestritten, dass es in jenem Ort zum Einsatz von Chlorgas – dessen Einsatz als Kampfstoff seit 1993 völkerrechtlich verboten ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. b) des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen – Chemiewaffenübereinkommen – vom 13.01.1993, BGBl. 1994 II, S. 807) – kam, während keine Hinweise darauf bestehen, dass zum Zeitpunkt des Vorfalls oppositionelle Gruppen in Talmenes Helikopter eingesetzt hätten (OPCW, Third report of the Organization for the Prohibition of Chemical Weapons - United Nations Joint Investigative Mechanism vom 24.08.2016 (im Folgenden: „Third report of the OPCW“), S. 13). Sachverständige Analysen ergaben dabei Spuren von Ammonium und Chlor. Die Angaben der syrischen Regierung zu jenem Vorfall wurden als forensisch mit der Spurenlage unvereinbar angesehen (OPCW, Third report of the OPCW, S. 50).
81 
Im Bericht der OPCW wird weiter berichtet, dass sich am 16.03.2015 in Sarmin (Gouvernement Idlib) ein ähnlicher Abwurf eines Gegenstands mit anschließender Freisetzung toxischer Substanzen durch die syrische arabische Armee ereignete. Forensische Analysen haben demnach ergeben, dass ein Gerät oder eine „Fassbombe“ aus einem Helikopter abgeworfen wurde, welches sodann durch einen Belüftungsschacht in ein Wohnhaus eingeschlagen ist. Verschiedene Videoaufnahmen zeigen nach diesem Bericht Chlorkohlenwasserstoff-Behälter innerhalb des Hauses sowie eine lila-violett-farbene Substanz auf dem Fußboden, welche auf den Einsatz von Kaliumpermanganat – etwa in Verbindung mit Glycerin als Zünd- oder Sprengmittel – hindeutet (OPCW, Third report of the OPCW, S. 81). Verschiedene Quellen hätten auch bestätigt, dass es zu jenem Zeitpunkt Flugaktivitäten der syrischen arabischen Armee gegeben habe, was von der syrischen Regierung bestritten worden sei (OPCW, Third report of the OPCW, S. 13 f.). Fluorchlorkohlenwasserstoff (englisch Hydrochlorofluorcarbon – HCFC –) wird nach diesem sachverständigen Bericht in der zivilen Verwendung als Kühlmittel eingesetzt und ist als solches allgemein zugänglich. Dennoch bedarf es zum Einsatz als chemischen Kampfstoff – dem syrischen Regime zur Verfügung stehender – technischer Fähigkeiten und Einrichtungen zur Abfüllung als Flüssigkeit oder kompressiertes Gas (OPCW, Third report of the OPCW, S. 10). Die Angaben der syrischen Regierung, wonach der Vorfall in jenem Wohnhaus auf die Explosion eines Flüssiggaskochers zurückzuführen sei, wurden mangels dem entsprechender Brandspuren als unwahrscheinlich eingeschätzt (OPCW, Third report of the OPCW, S. 83).
82 
In Zusammenhang mit weiteren drei Chlorgas-Vorfällen im Jahr 2015 wird davon ausgegangen, dass Sprengsätze mit Fluorchlorkohlenwasserstoff und Kaliumpermanganat eingesetzt wurden (OPCW, Third report of the OPCW, vom 24.08.2016, S. 13 f.).
83 
Am 16.03.2015 kam es nach diesem OPCW-Bericht überdies in Qmenas (Gouvernement Idlib) zu einem Vorfall, hinsichtlich dessen die Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, dass ein Helikopter ein Gerät oder eine „Fassbombe“ abgeworfen hat. Ferner kam es in Kafr Zita (Gouvernement Hama) am 11.04.2014 sowie in Binnish (Gouvernement Idlib) am 24.03.2015 und in Al-Tamanah (Gouvernement Idlib) am 29. und 30.04.2014 zum Einsatz chlorhaltiger Kampfstoffe (OPCW, Third report of the OPCW, S. 15 ff.), hinsichtlich derer die Indizienlage uneindeutig ist.
84 
cc. Die Kammer gelangt aufgrund dieser als objektiv einzuschätzenden Erkenntnisse aus vor Ort geführten Ermittlungen der OPCW zu der Überzeugung, dass die objektive Besorgnis besteht, dass die syrische Armee als staatlicher Akteur (§ 3c Nr. 1 AsylG) u.a. durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe unter billigender Inkaufnahme ziviler Opfer Handlungen begeht, die das Chemiewaffenübereinkommen verletzen und so die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG erfüllen (zu den Voraussetzungen Bergmann, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 11. Aufl., 2016, § 3 AsylG Rn. 7). Dies findet weitere Bestätigung in der Einschätzung des britischen Homeoffice (Home Office, Country Information and Guidance – Syria: the Syrian Civil War, August 2016, S. 19).
85 
Insofern schließt sich die Kammer den Ausführungen der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen in deren Urteil vom 23.11.2016 (A 5 K 1495/16, juris) sowie denen im Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen vom 01.07.2016 (1 K 20205/16 Me, juris) an, wonach die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte wahllos, willkürlich und zumeist völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen – teilweise unter Einsatz verbotener Kriegswaffen – töten und welche Ziele sie dabei auswählen, eine Haltung der syrischen Machthaber mit dem offenkundigen Ziel aufzeigt, jede – tatsächlich bestehende oder auch nur seitens des Regimes unterstellte – Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken und sich hierfür wehrpflichtigen Syrer vor den §§ 3a Abs. 2 Nr. 5, 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG nicht zumutbaren Arten der Kriegsführung in einem Konflikt zu bedienen (vgl. hierzu auch BayVGH, Pressemitteilung vom 13.12.2016).
86 
dd. Darüber hinaus ist die Kammer – wie auch hinsichtlich der sog. „Rückkehrerverfolgung“ – davon überzeugt, dass Repressionen aufgrund von Wehrdienstverweigerung auch die Kläger zu 2)-4) als nahe Angehörige des Klägers zu 1) dergestalt treffen können, dass auch ihnen – abgeleitet vom Kläger zu 1) – eine Stellung als „Verräter“ oder Sympathisanten im Sinne eines eigenen „Polit-Malus“ zugerechnet wird oder sie zum Druckmittel gegenüber dem Kläger zu 1) verobjektiviert werden. Demnach ist es auch in Zusammenhang mit dem syrischen Wehrdienst den Klägern zu 2)-4) nicht zumutbar, erst im Wege des sog. „Familienasyls“ ein humanitäres Aufenthaltsrecht vom Kläger zu 1) abzuleiten.
87 
4. Nach alledem sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei den Klägern erfüllt und die Klage begründet.
III.
88 
Die Beklagte trägt gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des gem. § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens.

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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3 Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 86


(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. (2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag ka

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 108


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 76 Einzelrichter


(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist od

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 25 Anhörung


(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über W

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 4 Erfordernis eines Aufenthaltstitels


(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 28 Nachfluchttatbestände


(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 26 Dauer des Aufenthalts


(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindesten

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 15 Allgemeine Mitwirkungspflichten


(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt. (2) Er ist insbesondere verpflichtet, 1. den mit der Ausführung dieses Gese

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 73 Widerrufs- und Rücknahmegründe


(1) Die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer1.sich freiwillig erneut dem Schutz d

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 104 Übergangsregelungen


(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend. (2) B

Luftverkehrsgesetz - LuftVG | § 9


(1) § 75 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes gilt nicht für Entscheidungen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur nach § 27d Absatz 1, 1a und 4 und Entscheidungen der Baugenehmigungsbehörden auf Grund des Baurechts.

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Referenzen

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

(2) Der Rechtsstreit darf dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor der Kammer mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.

(3) Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(4) In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet ein Mitglied der Kammer als Einzelrichter. Der Einzelrichter überträgt den Rechtsstreit auf die Kammer, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn er von der Rechtsprechung der Kammer abweichen will.

(5) Ein Richter auf Probe darf in den ersten sechs Monaten nach seiner Ernennung nicht Einzelrichter sein.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Asylberechtigten und Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt worden ist, wird die Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre. Ausländern, die die Voraussetzungen des § 25 Absatz 3 erfüllen, wird die Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr erteilt. Die Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 1 und Absatz 4b werden jeweils für ein Jahr, Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 3 jeweils für zwei Jahre erteilt und verlängert; in begründeten Einzelfällen ist eine längere Geltungsdauer zulässig.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.

(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1.
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
2.
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
2a.
Blaue Karte EU (§ 18b Absatz 2),
2b.
ICT-Karte (§ 19),
2c.
Mobiler-ICT-Karte (§ 19b),
3.
Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder
4.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).
Die für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Rechtsvorschriften werden auch auf die Blaue Karte EU, die ICT-Karte und die Mobiler-ICT-Karte angewandt, sofern durch Gesetz oder Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist.

(2) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. Juli 2006 - A 1 K 10388/05 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger, ein am xxx geborener angolanischer Staatsangehöriger bakongolesischer Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - (nunmehr § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) vorliegen.
Der Kläger reiste am 24.12.1990 gemeinsam mit seiner Ehefrau in das Bundesgebiet ein und beantragte mit ihr zunächst erfolglos die Anerkennung als Asylberechtigter (VG Stuttgart, Urteil v. 09.02.1993 - A 6 K 13516/92 - und VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.02.1995 - A 13 S 3176/94 -). Am 03.07.1995 beantragten beide erneut erfolglos ihre Anerkennung als Asylberechtigte in einem (ersten) Asylfolgeverfahren (VG Stuttgart, Urteil v. 24.09.1996 - A 14 K 15135/95 - und VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 18.02.1997 - A 13 S 3461/96). Auch ein weiterer Asylfolgeantrag vom 22.01.1998 wurde mit Bescheid vom 30.12.1998 durch das seinerzeitige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgelehnt. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und die Abschiebung nach Angola angedroht. Auf die von dem Kläger und seiner Ehefrau erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 23.03.2001 - A 9 K 10000/01 - unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 30.12.1998 die Beklagte zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und bei seiner Ehefrau ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG jeweils in Bezug auf Angola vorliegen. Zur Begründung der Klage hatte der Kläger dem Verwaltungsgericht mehrere Belege für eine exilpolitische Betätigung vorgelegt. Hinsichtlich seiner Klage hat das Verwaltungsgericht ausgeführt:
„Die Funktion des Klägers zu 1 als Informationssekretär der in den angolanischen Bürgerkrieg verwickelten UNITA in Verbindung mit seinen vielfältigen exilpolitischen Aktivitäten an verantwortlicher Stelle, auch etwa beim AK Asyl, führt dazu, dass dem Kläger zu 1 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola politische Verfolgung droht. Es handelt sich dabei zwar um selbstgeschaffene Nachfluchtgründe, die gemäß § 28 Satz 1 AsylVfG nicht zur Asylberechtigung nach Art. 16 a Abs. 1 GG führen können, da sie - nach Auffassung des Gerichts - nicht den Ausdruck einer festen, bereits in Angola erkennbar betätigten Überzeugung darstellen. Denn der Kläger zu 1 ist nach den rechtskräftigen Feststellungen des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 22.02.1995 (A 13 S 3176/94) aus Angola weder vorverfolgt noch aufgrund einer latenten Gefährdungslage ausgereist. Sein Vorbringen bezüglich konkreter politischer Aktivitäten in Angola wurde als widersprüchlich und nicht glaubhaft eingestuft. Selbst wenn der Kläger zu 1 in Angola als Anhänger der tocoistischen Kirche eine UNITA-freundliche Überzeugung gehabt haben sollte, so wurde diese jedenfalls nicht i.S.d. § 28 S. 1 AsylVfG „erkennbar betätigt" (vgl. BVerwG - 9 C 42.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 75).
Beim Kläger zu 1 liegen jedoch wegen der genannten Umstände die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor („kleines Asyl"). Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine solche Abschiebungseinschränkung kommt in Betracht, wenn dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Dieser Prognosemaßstab gilt für unverfolgt aus ihrem Heimatstaat ausgereiste Schutzsuchende im Abschiebungsschutz des § 51 Abs. 1 AuslG ebenso wie im Asylanerkennungsverfahren. Er setzt voraus, dass bei „qualifizierender" Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist nicht eine mathematisch-statistische Wahrscheinlichkeitssicht, sondern eine wertende Betrachtungsweise, die auch die Schwere des befürchteten Verfolgungseingriffs berücksichtigt. Je gravierender die möglichen Rechtsgutverletzungen sind, desto weniger kann es dem Betroffenen zugemutet werden, sich der Verfolgungsgefahr auszusetzen.
Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger zu 1 bei qualifizierender Betrachtungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola politische Verfolgung. Die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers zu 1 waren und sind gezielt gegen die angolanische Regierung gerichteten. Sie sind öffentlichkeitswirksam und von Gewicht. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese nunmehr seit einigen Jahren andauernden Aktivitäten pro UNITA den angolanischen Sicherheitsbehörden bekannt geworden sind und von ihnen als ernst zu nehmender Versuch gewertet werden, das Regime in der Öffentlichkeit zu diskreditieren oder zu schwächen. Denn nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes im - zum Gegenstand des Verfahrens gemachten - Lagebericht vom 15.11.2000 achtet die angolanische Regierung bei den im Ausland agierenden UNITA-Vertretern insbesondere auf Führungspersönlichkeiten. Bei UNITA-Zugehörigkeit sei mit staatlichen Repressalien zu rechnen, insbesondere, wenn sich diese Zugehörigkeit - wie bei dem Kläger zu 1 - in nachgewiesenen, langjährigen und gewichtigen Aktivitäten manifestiert hat. Selbst wenn der Kläger zu 1 in Angola wegen dieser Aktivitäten im Ergebnis, entgegen seiner weiterreichenden Befürchtungen, „nur" mit Freiheitsentziehung zu rechnen hätte, würde dies für § 51 Abs. 1 AuslG ausreichen. Nach den Schilderungen des Lageberichts ist der angolanische Strafvollzug im Übrigen selbst für afrikanische Verhältnisse extrem hart. Die dort herrschenden Zustände bedeuten eine außergewöhnliche Verschärfung jeder Freiheitsstrafe, die vielfach als unmenschlich und lebensbedrohend qualifiziert werden muss. Weder die Ernährung noch die medizinische Versorgung noch die Unterbringung in den Gefängnissen erfüllten im entferntesten Minimalbedingungen.
Nach Einschätzung des Gerichts drohen dem Kläger zu 1 in Angola mithin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest unmenschliche oder erniedrigende Maßnahmen durch die angolanischen Sicherheitsbehörden. Bei einer Abschiebung nach Angola könnte sich der Kläger zu 1 zudem den Sicherheitsbehörden praktisch kaum entziehen. Denn nach den Informationen des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 15.11.2000 führt der einzig mögliche Abschiebeweg nach Angola über den internationalen Flughafen von Luanda; wegen der schlechten Sicherheitslage sei eine Weiterreise in die von der UNITA kontrollierten Gebiete kaum möglich.“
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge kam den Verpflichtungen des Verwaltungsgerichts mit Bescheiden vom 15.05.2001 nach.
Hinsichtlich der in den Jahren 1992, 1994 und 1998 geborenen Kinder des Klägers und seiner Ehefrau stellte das Bundesamt mit Bescheiden vom 03.08.1998 und 30.04.2001 auf eine entsprechende Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht Stuttgart hin fest, dass bei ihnen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG in Bezug auf Angola vorliegen.
Mit Verfügung vom 08.11.2004 leitete das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Widerrufsverfahren gemäß § 73 AsylVfG gegen den Kläger und seine Familie ein. Mit Anhörungsschreiben vom 11.11.2004 vertrat das Bundesamt die Auffassung, mit Abschluss des Waffenstillstandsabkommens zwischen der Regierung und den UNITA-Rebellen vom 04.04.2002, das de facto als Friedensvertrag wirke, könnten Verfolgungsmaßnahmen des angolanischen Staates nunmehr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
10 
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers wandte sich hiergegen mit Schreiben vom 13.12.2004.
11 
Mit Bescheid vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223) widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 15.05.2001 erfolgte Feststellung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Ferner stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der seinerzeitigen Fassung noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung führte es u.a. aus, ein Widerruf erfordere bei erlittener Vorverfolgung hinreichende Sicherheit vor einer Wiederholung der Verfolgung. Sei der Ausländer von konkreten Verfolgungsmaßnahmen bedroht gewesen, sei der Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen nach dem herabgeminderten Prognosemaßstab zu beurteilen. Vor dem Hintergrund des seit der Beendigung des Bürgerkriegs in Angola neuen Verhältnisses zwischen der Regierung und der größten Oppositionspartei UNITA bestehe keine Gefährdung angolanischer Staatsangehöriger aufgrund von exilpolitischen Tätigkeiten für die UNITA in der Bundesrepublik Deutschland. Ein gegenteiliger Schluss könne auch nicht aus der konkret angeführten Teilnahme des Klägers an der gegen die Ausländerpolitik der Bundesrepublik und nicht gegen den angolanischen Staat gerichteten Aktion „Solidarität statt Abschiebung“ des Arbeitskreises Asyl in xxx am 04.12.2004 gezogen werden. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe gemäß § 73 Abs.1 S. 3 AsylVfG, aus denen der Ausländer die Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ablehnen könne, seien nicht ersichtlich. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1 und § 60 Abs. 2-7 AufenthG lägen nicht vor.
12 
Mit weiterem Bescheid vom 10.02.2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheiden vom 03.08.1998, 30.04.2001 und 15.05.2001 erfolgten Feststellungen, dass bei der Ehefrau des Klägers und seinen Kindern jeweils ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG gegeben ist. Außerdem wurde festgestellt, dass bei diesen weder die Voraussetzung des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen.
13 
Am 23.02.2005 haben der Kläger, seine Ehefrau und die Kinder beim Verwaltungsgericht Stuttgart Anfechtungsklagen gegen die Bescheide des Bundesamtes vom 10.02.2005 erhoben und hilfsweise beantragt, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung hat der Kläger für sich im Wesentlichen vorgetragen, er sei Informationssekretär und herausgehobenes Mitglied des UNITA-Komitees xxx und setze sich, den Zielen des Komitees entsprechend, für eine Autonomielösung für das angolanische Bekongo-Gebiet ein. Die UNITA werde in Angola durch die MPLA verfolgt, auch sei sein Name dem angolanischen Geheimdienst bekannt. Außerdem sei er Mitglied des Arbeitskreises Asyl xxx, in dem er sich für die Rechte angolanischer und sonstiger Asylbewerber einsetze. Er nehme dort an Veranstaltungen und Aktionen teil, halte wegen des UNITA-Verbots aber keine Reden mehr. Auch habe er in der Vergangenheit die angolanische Regierung kritisierende Artikel in den Zeitungen „Flash Flash“ und „Eveil“ veröffentlicht. Hinzu komme, dass seine Familie und er aufgrund des langen Aufenthalts in Deutschland und der damit verbundenen fehlenden Anpassung an die angolanischen Lebensverhältnisse sowohl sozial als auch gesundheitsmäßig nicht, jedenfalls nicht würdig, überleben könnten. Ob noch Verwandte in Angola leben würden, sei ihm unbekannt, jedenfalls gebe es mit den in Frage kommenden Personen ohnehin persönliche Probleme.
14 
Mit Urteil vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 - hat das Verwaltungsgericht Stuttgart - neben den Klagen seiner Ehefrau und seiner Kinder - auch die Klage des Klägers abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung sei zu Recht erfolgt, da sich die innenpolitischen und sonstigen Verhältnisse in Angola nach dem maßgeblichen Zeitpunkt erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Angola keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG mehr drohe. Eine politische Verfolgung des unverfolgt ausgereisten Klägers in Angola wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit könne, selbst wenn diese Tätigkeit in Angola bekannt wäre, mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Mit staatlichen Repressionen müssten lediglich Personen rechnen, die in besonders ausgeprägter Weise an Kampfhandlungen gegen das Regime teilgenommen hätten. Übergriffe auf UNITA-Angehörige seien nur vereinzelt bekannt geworden und bezögen sich auf Personen, die vor Ort in Kampfhandlungen verstrickt gewesen seien. Gegenüber exilpolitisch Tätigen seien keine Übergriffe bekannt, die Tätigkeit des Klägers sei im Übrigen keine exponierte politische Aktivität. Eine politische Verfolgung aus anderen Gründen drohe ebenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit, insbesondere auch nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo. Ferner lägen keine Gefahren aufgrund der allgemeinen angolanischen Sicherheits- und Versorgungslage vor, die gemäß § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG ein Absehen von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr rechtfertigten. Es bestehe auch kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG. Was § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG angehe, verleihe diese Vorschrift dem Ausländer dann keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots, wenn er sich auf Gefahren berufe, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er angehöre, allgemein ausgesetzt sei. So liege es hier etwa im Hinblick auf die Gefahr der Erkrankung an Malaria und Cholera in Angola.
15 
Gegen das dem Kläger am 21.09.2006 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz vom 05.10.2006 die Zulassung der Berufung beantragt.
16 
Mit Beschluss vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 -, dem Kläger zugestellt am 23.01.2008, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen und ihm Prozesskostenhilfe bewilligt. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, die Rechtssache habe grundlegende Bedeutung in Bezug auf die Frage, ob sich die Situation in Angola nach Ende des Bürgerkriegs im April 2002 so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert habe, dass Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Personen, die für die UNITA tätig gewesen seien, auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen seien.
17 
Unter dem 28.01.2008 hat der Kläger die Berufung begründet.
18 
Er trägt vor, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung der Rechtskraft des Urteils im Vorverfahren. Denn ein Widerruf der Asylanerkennung sei nur dann zulässig, wenn sich die im Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Das Verwaltungsgericht habe aber unter Bezugnahme auf den Bundesamtsbescheid vom 10.02.2005 lediglich darauf abgehoben, ob dem Kläger politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Die Elemente „nicht nur vorübergehend“ und „hinreichende Sicherheit auf absehbare Zeit“ habe es ignoriert. Es verfehle auch die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien, wonach im Heimatstaat eine funktionierende Regierung, grundlegende Verwaltungsstrukturen und eine angemessene Infrastruktur gegeben sein müssten. Diese Voraussetzungen lägen in Angola nicht vor. Die die Vorverfolgung begründenden Machtstrukturen seien auch nach Beendigung der militärischen Kämpfe bestehen geblieben. Die MPLA als derzeit allein herrschende politische Kraft sei erheblich konsolidiert. Zwar könne gegenwärtig nicht mehr davon ausgegangen werden, dass UNITA-Aktivisten generell verfolgt würden. Dass dies nicht nur vorübergehend, sondern auf absehbare Zeit ausgeschlossen sei, könne aufgrund der faktischen Alleinherrschaft der MPLA jedoch derzeit mangels gewaltenteilender, rechtsstaatlicher, demokratischer und menschenrechtsbeachtender Strukturen nicht festgestellt werden. Als gegenwärtige Oppositionspartei sei die UNITA angesichts der Vorherrschaft der MPLA in einer Position der Schwäche. In den Provinzen habe es auf Distrikt- und Kommunalebene eine Reihe gewalttätiger Angriffe gegen UNITA-Delegationen und andere Parteien gegeben. Entgegen den Versicherungen von MPLA-Regierungsvertretern, diese „Exzesse von Individuen“ seien Sache der Polizei und Justiz, seien bislang keine Strafverfolgungsmaßnahmen bekannt geworden. Ungenügende Infrastruktur und Kommunikation, chronischer Mangel an qualifiziertem Personal und mangelnde Gewaltenteilung zeichneten das angolanische Justizsystem nach wie vor aus, weshalb Straflosigkeit und Selbstjustiz noch immer verbreitet seien. Dementsprechend seien auch Attentate auf oppositionelle Parlamentarier wie gegen den UNITA-Parlamentarier Vicente Tembo, der am 11.11.2004 von Unbekannten angeschossen worden sei, unaufgeklärt geblieben. Ungeachtet der Tatsache, dass es eine generelle politische Verfolgung von Mitgliedern der Opposition in Angola derzeit nicht gebe, könne doch ein politisch motiviertes asylrelevantes Vorgehen von Teilen der Sicherheitskräfte oder Angehörigen des MPLA-Machtapparats und/oder von den herrschenden Kräften angestacheltes und/oder jedenfalls nicht verhindertes Vorgehen Dritter gegen UNITA-Mitglieder derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Gegen solche Übergriffe sei auch kein Schutz durch staatliche Autorität zu erwarten. Zudem werde die angolanische Menschenrechtsorganisation AJPD von der Regierung bedroht. Es herrsche ein Klima der politischen Intoleranz und Angst. Auch die Wahlen am 05.09.2008 seien weder frei noch fair gewesen. Aus diesen Gründen könne die erneute Verfolgung des Klägers aufgrund seiner UNITA-Mitgliedschaft nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 -, soweit es ihn selbst betrifft, zu ändern, sowie die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223) aufzuheben.
21 
Die Beklagte tritt dem entgegen und macht geltend, der Bürgerkrieg in Angola sei beendet, sodass Angehörigen der UNITA keine Verfolgung mehr drohe. Dies gelte selbst für militante Kämpfer und hochrangige Mitglieder der Organisation. Es lägen für die vergangenen Jahre keine Hinweise auf asylrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen von Mitgliedern der UNITA im Gegensatz zu Aktivisten der Organisation FLEC, die für eine Unabhängigkeit der Provinz Cabinda eintrete, vor.
22 
Mit Beschluss vom 21.01.2010 - A 5 S 135/08 - hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Das Verfahren ist nach dem Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 02.03.2010 in den Rechtssachen C 175/08, C 176/08, C 178/08 und C 179/08 zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/83/EU des Rates vom 29.04.2004 (Qualifikationsrichtlinie) mit Schriftsatz des Beklagten vom 12.01.2011 wieder angerufen worden. Hiernach sei, so der Beklagte, bei der Prüfung eines Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft generell zu beachten, dass der der Prognose zu Grunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab selbst dann unverändert bleibe, wenn der Schutzsuchende bereits Vorverfolgung erlitten habe, weshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie im Einzelfall selbst dann widerlegt sein könne, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs gegeben sei. Die Rechtskraft des zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden verwaltungsrechtlichen Urteils könne dem nicht entgegenstehen. Es werde zudem auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - Bezug genommen. Sei mit dem Verwaltungsgericht mit dem Grad der hinreichenden Sicherheit eine Gefährdung des Klägers nach einer Rückkehr nach Angola auszuschließen, könne dies nur als stichhaltiger Grund im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie eingestuft werden. Denn bei festzustellender hinreichender Verfolgungssicherheit sei im Ergebnis dem Erfordernis stichhaltiger Gründe Genüge getan.
23 
Mit Schriftsatz vom 25.07.2012 ließ der Kläger mitteilen, er sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und bemühe sich um seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
24 
Mit Beschluss vom 17.12.2012 - A 5 S 148/11 - ist auf Antrag der Beteiligten erneut das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
25 
Unter dem 06.10.2014 hat der Beklagte das Verfahren wieder angerufen, nachdem sich kein positiver Abschluss des Einbürgerungsverfahrens des Klägers abgezeichnet hat. Das Verfahren wird seither unter dem Aktenzeichen A 12 S 1999/14 fortgeführt.
26 
Dem Senat liegen die Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu den Az. 2313865-223 und 5132989-223 sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart zu den Verfahren A 9 K 10000/01 und A 1 K 10388/05 vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 - zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist nicht begründet.
28 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989.223) - nur hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers - zu Recht abgewiesen. Denn der Kläger kann nicht die Aufhebung des Widerrufs der mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 15.05.2001 getroffenen Feststellung verlangen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen (vgl. nachfolgend unter 1.). Ihm kommt auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. §§ 3 bis 3e AsylG (jeweils i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722) zu (vgl. unter 2.).
29 
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 ist in seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht gegeben.
30 
a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben sind, hatte bei Entscheidungen über Asylanträge, die vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden sind, spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG a.F.), was vorliegend mit der Entscheidung des Bundesamtes vom 10.02.2005 beachtet worden ist.
31 
b) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist in materieller Hinsicht § 73 AsylG in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722. Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
32 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 S. 12; berichtigt ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24; nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mir Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren.
33 
Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
34 
Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-​175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt danach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O., m.w.N.).
35 
Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 84 ff., 98 f.; BVerwG, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 7.11- Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 43).
36 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn auch nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
37 
Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d. h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Eine Veränderung kann in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (BVerwG, Urteil v. 24.02.2011 - 10 C 3.11 - BVerwGE 139, 109). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991, a.a.O.), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.).
38 
Die Rechtskraft des zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils aus dem Jahr 2001 steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft,; vgl. BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.). Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
39 
Die Rechtskraftwirkung besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.). Allerdings entfalten fehlerhafte Urteile keine weitergehende Rechtskraftwirkung als fehlerfreie Urteile. Eine Lösung von der Rechtskraftwirkung eines Urteils, das das Bundesamt zur Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling verpflichtet hat, ist vielmehr immer dann möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat, unabhängig davon, ob das zur Anerkennung verpflichtende Urteil richtig oder fehlerhaft war.
40 
Die Voraussetzungen für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung entsprechen damit weitgehend denen, die für den Widerruf einer Anerkennungsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG gelten. Denn auch § 73 Abs. 1 AsylG setzt eine wesentliche Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse voraus. Für den Widerruf einer Behördenentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass es unerheblich ist, ob die Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht danach auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Nachhinein scheinbar nicht entfallen sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der Widerrufsbestimmung. Dies gilt erst recht für den Widerruf der auf einem Verpflichtungsurteil beruhenden Anerkennung, von deren Rechtmäßigkeit wegen der Rechtskraft des Urteils auch im Rahmen der Widerrufsprüfung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2011 - 10 C 29.10 - NVwZ 2012, 1042, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 8.11 - AuAS 2012, 153).
41 
Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - „wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt“ (Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des Flüchtlings ergeben (GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl. auch OVG Saarland, Urteil v. 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A - juris).
42 
Für den Widerruf der Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung ist schließlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015 - 1 C 2.15 - InfAuslR 2015, 401) entschieden, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil v. 31.01.2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE 146, 31). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asylverfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319; Beschluss v. 10.10.2011 - 10 B 24.11 - juris).
43 
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für den Kläger aus heutiger Sicht aufgrund der in Angola seit Mitte des Jahres 2002 eingetretenen veränderten Verhältnisse sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit von über 13 Jahren und des individuellen Vorbringens der Klägers nicht (mehr) mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass dieser bei einer unterstellten nunmehrigen Rückkehr nach Angola von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 23.03.2001 nach den o.g. Maßstäben rechtfertigt.
44 
Der insoweit anzustellenden Prognose ist zunächst die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2001 zu Grunde zu legen, wonach der in seiner Heimat nicht tatsächlich verfolgte und von politischer Verfolgung auch nicht unmittelbar bedroht gewesene Kläger seinerzeit in Deutschland als im Exil befindlicher Informationssekretär der UNITA aufgrund selbstgeschaffener Nachfluchtgründe in Angola zumindest mit seiner Inhaftierung zu rechnen hatte, was aufgrund der dortigen spezifischen Haftbedingungen zudem eine unmenschliche bzw. erniedrigende Maßnahme dargestellt hätte.
45 
Relevant ist vor diesem Hintergrund in erster Linie, ob sich die Verhältnisse in Angola seither derart nachhaltig und stabil geändert haben, dass seitens des angolanischen Staates entsprechende Maßnahmen „asylrelevanter Weise“ bei einer unterstellten jetzigen Rückkehr des Klägers nach Angola nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.03.2012, a.a.O.). Insbesondere ist daher von Bedeutung, ob es in Angola zu einer hinreichend erheblichen und dauerhaften Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/83/EG gekommen ist, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass für den Kläger keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht, er insbesondere nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat, der dargestellten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
46 
Die Veränderung der Verhältnisse muss danach kausal für den Wegfall der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung sein (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 04.08.2011 - A 2 S 1381/11- juris), wobei das Erfordernis der Veränderung der Verhältnisse in Widerrufsfällen gerade auch deshalb einer gesonderten Prüfung bedarf, um eine unzulässige Neubewertung der Gefährdungslage auf ein und derselben Tatsachengrundlage zu vermeiden.
47 
Nach der jüngeren Rechtsprechung (des 5. Senats) des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stellt sich Situation in Angola nach dem schon im Jahr 2002 beendeten, insbesondere zwischen der MPLA und der UNITA geführten Bürgerkrieg so dar, dass angolanischen Staatsangehörigen im Falle einer Rückkehr nach Angola weder wegen Stellung eines Asylantrags und eines Auslandsaufenthalts noch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo bzw. einer Nähe zur UNITA mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende menschenrechtswidrige Behandlung droht. Auch wenn es immer noch zu von den staatlichen Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen komme, habe sich die Menschenrechtlage zwischenzeitlich deutlich verbessert (Urt. v. 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - juris). In einem Verfahren, in welchem der dortige Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Angola Mitglied der UNITA gewesen ist und als tatsächlich verfolgt anzusehen war, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs - noch ohne Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 02.03.2010 (a.a.O.) - das Folgende ausgeführt (Urteil v. 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - juris):
48 
„Dem Kläger zu 1 droht zwar aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office, Operational Guidance Note v. 11. bzw. 29.07.2008, 3.8.8 „clearly unfounded“), doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend sicher. (…)
49 
Bei seiner Einschätzung geht der Senat (vgl. bereits Senatsurt. v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215f) aufgrund der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen von folgender Situation in Angola aus:
50 
Nachdem der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen der Rebellen-UNITA und der MPLA-Regierung im März 2002 sein Ende gefunden und die Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien am 04.04.2002 zu einem Waffenstillstandsabkommen mit einer Wiederaufnahme der Umsetzung des Lusaka-Protokolls vom November 1994 geführt hatten, gibt es seitdem in fast allen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen. Die UNITA wurde an der Regierung beteiligt und erhielt daneben auch führende Positionen in den Provinzen. Die Regierung hatte auch zugesagt, die Reorganisation der UNITA zur politischen Partei nicht zu behindern. Die beschlossene Demobilisierung der UNITA-Kämpfer konnte trotz Anlaufschwierigkeiten ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und am 30.07.2002 abgeschlossen werden; die demobilisierten Kämpfer erhielten Hilfen zur Integration in das zivile Leben bzw. wurden zu einem kleinen Teil (ca. 5.000) bis Oktober 2004 in die angolanischen Streitkräfte FAA integriert. Auch das bereits am 02.04.2002 vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz, das Straffreiheit für alle UNITA-Kombattanten vorsieht, die sich innerhalb von 45 Tagen ergeben und ihre soziale Integration in die Gesellschaft akzeptiert haben, wurde umgesetzt. Diese Bestimmungen werden auch auf Personen angewandt, die erst jetzt aus dem Ausland zurückkehren. Ob davon auch lediglich politisch tätige Anhänger der UNITA profitieren konnten, ist allerdings nicht bekannt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002). Am 05.09.2008 haben nunmehr auch die seit 1992 ersten Parlamentswahlen stattgefunden, die zuletzt mehrfach vertagt worden waren. An diesen konnte sich auch die UNITA beteiligen, die sich inzwischen zu einer ihre verschiedenen Fraktionen wieder vereinigenden politischen Partei entwickelt hatte. Auch wenn sich politische Parteien seit 2002 grundsätz-lich betätigen können, kann von für alle Parteien gleichen Voraussetzungen nicht die Rede sein. Abgesehen davon, dass die staatlichen Medienanstalten zugunsten der MPLA eingesetzt wurden (vgl. FAS v. 08.09.2008 „Die bösen Jahre sind noch nicht vorbei“) und für die Oppositionsparteien außerhalb Luandas kein freier Zugang zu den elektronischen Medien bestand, wurde von staatlich finanzierten Wahlgeschenken (vgl. hierzu auch Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007) durch die MPLA und Einschüchterungen durch deren Sympathisanten gesprochen (vgl. British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006, S. 7; Refugee Documentation Centre (Ireland) vom 09.11.2009; FR v. 05.09.2008 „Das reichste arme Land der Welt wählt“). Die Wahl wurde von der Regierungspartei MPLA mit knapp 82 % der abgegebenen Stimmen gewonnen, während die UNITA nur etwas mehr als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der Gewährleistung rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit der Verteidigung sind zwar verfassungsrechtlich verankert, auch sind die bestehenden Gesetze an rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet, jedoch laufen entsprechende Rechte aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und korruptionsanfälligen Justizsystems weitgehend leer. Der Justizweg ist insofern allenfalls eingeschränkt gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab-schieberelevante Lage in der Republik Angola v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; Africa Yearbook 2006, Angola, S. 410, 2007). Ermittlungsbehörden und Gerichte sind überlastet, unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig. Straffreiheit für kriminelle Vergehen und Menschenrechtsverletzungen sind insofern keine Seltenheit (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 2; amnesty international, Jahresbericht Angola 2007).
51 
Staatliche Repressionsmaßnahmen, die systematisch gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer politischen Überzeugung eingesetzt werden, gibt es - insoweit ist dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu folgen - nicht mehr. Allerdings sind solche im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen, zumal der Schutz der Menschenrechte noch immer unzureichend ist und sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure weiterhin Menschenrechtsverletzungen begehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006; amnesty international, Report Angola 2008 und 2009, Jahresberichte Angola 2007; US Department of State, Human Rights Report vom 25.02.2009; Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009).
52 
Zwar müssen selbst ehemalige UNITA-Kämpfer in Angola grundsätzlich nicht mehr mit staatlichen Repressionen rechnen. So spielen hochrangige ehemalige UNITA-Militärführer inzwischen durchaus eine wichtige Rolle als Politiker bzw. sind in den angolanischen Streitkräften FAA weiterhin als solche tätig. Allerdings kam es Mitte Juli 2004 in vier Orten im Landesinnern zu Übergriffen der lokalen Bevölkerung auf ehemalige UNITA-Angehörige, die sich dort niederlassen wollten. Besonders schwer waren die Übergriffe in Cazombo in der Provinz Moxico, bei denen 80 Häuser zerstört worden sein sollen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Angola v. 05.11.2004 bzw. v. 18.04.2006), nachdem ein ehemaliger UNITA-General die Leitung des dortigen UNITA-Büros hatte übernehmen wollen. Zwar wurden entsprechende Übergriffe von Regierungsseite öffentlich kritisiert, doch gibt es verschiedene glaubhafte Berichte, wonach lokale MPLA-Vertreter in derartige Vorkommnisse involviert waren und die Polizei nicht zum Schutz der Opposition einschritt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007).
53 
Für UNITA-Angehörige, die sich in Angola für Dritte erkennbar politisch für die UNITA betätigen, besteht schließlich auch mehr als sieben Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch ein gewisses Risiko, erheblichen Repressionen seitens der Anhänger der Regierungspartei MPLA bzw. ihr zuzurechnenden Gruppierungen ausgesetzt zu sein. So beklagen die verschiedenen Oppositionsparteien – namentlich die UNITA – regelmäßig Akte „politischer Intoleranz“ hauptsächlich in den ländlichen Gebieten verschiedener Provinzen, wobei die Verantwortlichen regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen würden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free an Fair Elections, 12.08.2008; UK Border Agency, Operational Guidance Note Angola vom 01.06.2009). An dem tief verwurzelten Klima der Intoleranz wird sich aufgrund der weiteren Marginalisierung der Zivilgesellschaft und zivilen Oppositionsparteien voraussichtlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, da insofern das bestehende autoritäre politische System und die politische Bipolarität zwischen den Bürgerkriegsparteien MPLA und UNITA unangetastet bleiben dürfte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002).
54 
Bereits 2004 wurden von der UNITA zunehmend Fälle von Einschüchterung ihrer Funktionäre beklagt, die u. a. von Angehörigen einer MPLA-nahen Miliz ausgegangen sein sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 31.03.2005, S. 7; British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch wurde beklagt, dass zunehmend Erpressung und Druck ausgeübt werde, in die MPLA einzutreten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, S. 1; Africa Yearbook 2004, Angola, S. 388, 2005: Africa Yearbook 2005, S. 399, 2006). Wiederholt wurde 2003/2004 von Verfolgungen, Ein-schüchterungen und Gewalt gegen Funktionäre in verschiedenen Provinzen und Städten im Landesinneren berichtet (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch 2005 kam es zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Parteien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; British Home Office, Operational Guidance Note Angola,11. bzw. 29.07.2008). Im März 2005 sollen in der Stadt Mavinga eine Person gar getötet und 28 weitere Personen verletzt worden sein, als UNITA-Mitglieder ihre Parteiflagge zu hissen versuchten (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008; amnesty international, Jahresbericht Angola 2006). Die UNITA sprach von gezielter Aufhetzung der Bevölkerung durch die MPLA und die lokalen Behörden mit dem Ziel, die landesweite Errichtung oppositioneller Strukturen zu verhindern. Selbst Angolas Präsident dos Santos soll nach den Vorfällen Ende Februar und Mitte März die Besorgnis der UNITA als „legitim“ anerkannt haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 21.03.2005). 2006 berichteten UNITA und MPLA von wechselseitigen körperlichen Angriffen politischer bzw. militanter Aktivisten auf ihre Mitglieder (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Reports on Human Rights Practices - 2006 v. 06.03.2007, Section 3). Die UNITA sprach gar von 13 getöteten Parteimitgliedern (vgl. Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007). Auch 2007 berichteten die Oppositionsparteien von Belästigungen, Einschüchterungen und Körperverletzungen durch Anhänger der Regierungspartei (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Re-ports on Human Rights Practices - 2007 v. 11.03.2008, Section 3). Im März 2007 sollen Unbekannte (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola v. 11. bzw. 29.07.2008; U.S. Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices - 2007, a.a.O.), möglicherweise gar Polizisten (vgl. amnesty international, Report Angola 2008), in der Provinz Kwanza Norte während einer Sitzung im örtlichen Parteibüro auf den zu Besuch anwesenden Parteivorsitzenden der UNITA – Isaias Samakuva – geschossen haben, der dabei leicht verletzt wurde; über das Ergebnis der deswegen in Gang gesetzten Untersuchung ist - soweit ersichtlich - noch nichts bekannt. Mitglieder der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft berichteten auch 2007 von zunehmender „politischer Intoleranz“. Auch im unmittelbaren Vorfeld der für Herbst 2008 angesetzten Parlamentswahlen wurde von Fällen politischer Gewalt hauptsächlich in den ländlichen Gebieten berichtet. So seien am 02.03.2008 Mitglieder einer kommunalen UNITA-Delegation im Dorf Kafindua in der Provinz Benguela von einer Gruppe örtlicher MPLA-Aktivisten geschlagen worden, als sie ihre Parteiflagge hätten hissen wollen. Die Polizei habe die Angreifer zwar verhört, jedoch wieder laufen lassen; diese hätten anschließend erklärt, „die Polizei gehöre ihnen“. Traditionelle Autoritäten seien zunehmend dem Druck der MPLA ausgesetzt, Aktivitäten der UNITA in den verschiedenen Dörfern zu verhindern. Am 30.05.2008 habe eine Gruppe von MPLA-Anhängern den traditionellen Führer im Dorf Bongue Kandala in der Provinz Benguela sowie fünf UNITA-Mitglieder zusammengeschlagen, weil jener zuvor erlaubt hätte, die Parteifahne hochzuhalten (vgl. Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free and Fair Elections, 12.08.2008). Am 13.08.2008 sollen UNITA-Mitglieder während einer öffentlichen Versammlung in Kipeio in der Provinz Huambo von einer Gruppe mit Stöcken und Steinen angegriffen worden sein; eine Frau musste im Krankenhaus behandelt werden, die anderen erlitten weniger ernste Verletzungen. Die Polizei sei zwar eingeschritten, die Angreifer seien jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden. In der Provinz Benguela sollen UNITA-Mitglieder am 23.08.2008 gesteinigt worden sein. In Chico da Waiti sei eine 40-köpfige Delegation von UNITA-Mitglieder mit Steinen beworfen worden, wobei 8 Personen verletzt worden seien. Die Polizei habe die Delegation eskortiert, jedoch niemanden verhaftet. Der zuständige Gemeindeverwaltungsbeamte habe später erklärt, dass er lediglich die Sicherheit der Wahlbeobachter der UNITA, nicht aber für deren Wahlkampagne garantiere (vgl. Human Rights Watch, Angola: Irregula-rities Marred Historic Elections, 14.09.2008).
55 
Für 2009 sind den bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Erkenntnismitteln zwar keine entsprechenden Vorkommnisse im Zusammenhang mit der UNITA zu entnehmen, lediglich in Zusammenhang mit dem Vorgehen des Militärs gegen bewaffnete Rebellen der Liberation Front of the Enclave Cabinda (FLEC) in der Provinz Cabinda soll es in 2009 zu willkürlichen Verhaftungen gekommen sein (Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009). Es ist aber noch völlig offen, ob sich diese positive Entwicklung in der Zukunft verstetigt. Derzeit und auf absehbare Zeit kann deshalb nach wie vor nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Angola vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre.“
56 
Dem Kläger des zu entscheidenden Berufungsverfahrens, der im Gegensatz zu dem Kläger zu 1 jenes Verfahrens vor seiner Ausreise keine Verfolgung erlitten hat und der von einer solchen auch nicht unmittelbar bedroht gewesen ist, droht danach im Falle einer Rückkehr nach Angola politische Verfolgung jedenfalls nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v. 03.12.2009 - A 5 S 122/08 - juris, Urteil v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - InfAuslR 2009, 215, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1729/97 - juris, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1730/97 - juris).
57 
Diese Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der in das Berufungsverfahren eingeführten neueren Erkenntnisquellen für den gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht zu erhalten.
58 
So hat sich die Situation in Angola in den vergangenen Jahren weiter verstetigt, ohne dass es dabei zu besonderen Veränderungen mit einer Tendenz zum Besseren oder zum Schlechteren gekommen wäre. Von besonderer Bedeutung auch für den politischen Prozess der Aussöhnung zwischen den früheren Bürgerkriegsparteien waren die am 31.08.2012 abgehaltenen Parlamentswahlen, bei welchen die regierende MPLA zu Gunsten der Oppositionsparteien Stimmenverluste hinnehmen musste. Die UNITA als größte Oppositionspartei vermochte ihren Stimmenanteil auf 18,66 % auszubauen, obwohl sich von ihr zuvor die neue Oppositionspartei CASA-CE abgespalten hatte, die ihrerseits 6 % der Stimmen errang. Alle am Bürgerkrieg beteiligten Parteien unterstützen die Wiederaufbauphase, in der sich das Land nach wie vor befindet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.09.2009 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden).
59 
Hingegen ist die MPLA die führende und die Geschicke des Landes vorherrschend bestimmende Organisation geblieben, die letztlich alle anderen Parteien im Fokus hat und alle führenden Persönlichkeiten überwacht (Deutsche Botschaft Luanda, Auskunft vom 15.09.2011 an das Verwaltungsgericht Minden). In dieser Situation kommt es in Angola immer noch zu Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei, etwa durch den exzessiven Einsatz von Gewalt und staatlichem Mord. Nur wenige Beamte mussten sich hierfür bislang strafrechtlich verantworten. Es wurde über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen durch die Polizei berichtet, die ihre Funktionen zudem parteiisch ausübt, vor allem während einiger gegen die Regierung gerichteter Demonstrationen. Bei der Auflösung von Demonstrationen wurde zum Teil mit exzessiver Gewalt vorgegangen (Amnesty international, Report Angola 2010 und 2012).
60 
Insbesondere im Vorfeld der Wahlen von 2012 gab es Berichte über sporadische politisch motivierte Gewalttaten von Mitgliedern der MPLA, die sich gegen die UNITA und das Bündnis CASA-CE richteten. Den Berichten zufolge war aber auch die UNITA für vereinzelte gewaltsame Handlungen gegen die MPLA verantwortlich, die politisch motiviert waren (Amnesty international, Report Angola 2013).
61 
Am 23.11.2013 wurden in Luanda bei einer vom Innenministerium verbotenen Demonstration, zu der die UNITA aufgerufen hatte, 292 Personen festgenommen. Die Demonstration sollte an das ungeklärte Schicksal zweier Aktivisten erinnern, nachdem Informationen bekannt geworden waren, wonach die beiden im Mai 2012 durch staatliche Kräfte entführt, gefoltert und getötet worden sein sollen (BaMF-Briefing Notes vom 25.11.2013).
62 
Auch für das Jahr 2014 berichtet Amnesty International nach wie vor über - allerdings ausdrücklich nur sporadische - politisch motivierte Gewalttaten zwischen Mitgliedern der regierenden MPLA und solchen der UNITA. Friedliche Demonstrationen wurden mitunter von Polizei und Sicherheitskräften unter Anwendung von Gewalt unterbunden (Amnesty international, Report Angola 2015).
63 
Am 09.03.2014 störten Mitglieder der MPLA in der Provinz Kwanza Sul eine Gedenkveranstaltung der UNITA zu deren 48-jährigem Bestehen, wobei drei Provinzführer der UNITA während einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einzelnen Unterstützern der beiden Parteien getötet worden sein sollen. Öffentlich zugängliche Informationen über irgendwelche Verhaftungen oder Untersuchungen durch die Polizei wegen dieser Angelegenheit seien nicht erhältlich gewesen. Die Regierung unternahm gleichwohl generell einige Schritte zur Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs durch Beamte, welche indes nur schwer nachvollzogen werden können (US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2014).
64 
Auch auf der Basis der dem Senat im Übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen muss festgestellt werden, dass in Angola das geltende Verfassungsrecht und die gegebene Verfassungswirklichkeit nicht immer übereinstimmen, was sich vor allem in der Machtausübung der Sicherheitskräfte, der weitreichenden Korruption und einer Behinderung der Arbeit von Journalisten zeigt. Gelegentlich wird dieses Bild auch durch einzelne mitunter gewaltsame Machtdemonstrationen Angehöriger der MPLA gegenüber Anhängern der Oppositionsparteien bestätigt, ohne dass jedoch angenommen werden müsste, dass die Betätigung der Oppositionsparteien in Angola generell gefährlich ist bzw. eine solche gar staatlicherseits unterbunden wird (vgl. US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2011 und 2012; Refugee Documentation Centre Ireland v. 22.10.2009; UK Border Agency v. 01.09.2010; Freedom House Länderberichte 2010, 2011 und 2012).
65 
Zutreffend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in diesem Zusammenhang auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10.09.2015 zu Angola (2015/2839(RSP)) hingewiesen, welche vor dem Hintergrund insbesondere der Festnahme des angolanischen Menschenrechtsaktivisten José Marcos Mavungo am 14.03.2015 die angolanische Regierung u.a. dazu auffordert, Fällen von willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inhaftierung und Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte unverzüglich ein Ende zu setzen.
66 
Zusammenfassend lässt sich für den Senat festhalten, dass seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers und weitere 6 Jahre nach dem zitierten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - sich die Verhältnisse in Angola derart verstetigt haben, dass der Kläger nunmehr dort jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat.
67 
Diese Einschätzung beruht überdies auf der individuellen Situation des Klägers, der bereits seit Längerem nicht mehr als exilpolitischer Aktivist für die Sache der UNITA angesehen werden kann. So hat er im Rahmen des Widerrufsverfahrens nicht mehr von einer ins Gewicht fallenden Fortsetzung seiner Betätigung für die UNITA für die Zeit nach seiner Flüchtlingsanerkennung berichtet. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er gar eingeräumt, seit einem ihm gegenüber ausgesprochenen Verbot der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 nur noch „auf kleiner Flamme“ politisch tätig zu sein. Insoweit gebe es nichts weiter zu berichten. Der Kläger vermittelte dem Senat auch keineswegs den Eindruck, er werde nach einer Rückkehr nach Angola seine Aktivitäten für die UNITA wieder aufnehmen, weil er sich etwa hierzu aufgrund einer tiefen inneren Überzeugung verpflichtet fühle. Die damit anzunehmende zwischenzeitliche Veränderung auch in der Person des Klägers (vgl. dazu allgemein bereits oben) verdeutlichen dem Senat, dass dieser im Fall seiner nunmehrigen Rückkehr nach Angola auch nicht von einer im Jahr 2015 möglicherweise wieder etwas verschärfteren Situation für Regimegegner betroffen wäre.
68 
Anhaltspunkte für das Vorliegen von dem Kläger nicht geltend gemachter Anfechtungsgründe (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015, a.a.O.) lassen sich für den Senat im Übrigen nicht erkennen.
69 
Dass der Kläger schließlich - wie dies sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - aufgrund des verhängten Verbots der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 einem Flüchtling, dem die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu Gute kommt, gleichzustellen sei, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
70 
d) Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat schließlich auch nicht aufgrund der Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auszuscheiden. Denn der Kläger kann sich ersichtlich nicht auf zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen, um eine Rückkehr nach Angola abzulehnen.
71 
2. Aus dem Vorgenannten ergibt sich zugleich, dass der von dem Kläger angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 auch hinsichtlich seiner Nr. 2, wonach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vorliegen, rechtmäßig ist.
72 
Es kommt daher für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht darauf an, ob der von ihm gewählte isolierte Antrag auf Aufhebung der diesbezüglichen Entscheidung des Bundesamtes überhaupt sachdienlich ist.
73 
Gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722, darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (vgl. im Übrigen §§ 3 bis 3e AsylG).
74 
Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend von dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die Befürchtung von Repressionen im Zusammenhang mit seinem geltend gemachten exilpolitischen Verhalten in Betracht. Wie bereits ausgeführt, kann insoweit jedoch für den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, was in erster Linie darin begründet ist, dass der Kläger bereits seit Längerem so gut wie gar nicht mehr exilpolitisch tätig ist und er auch für den Fall seiner Rückkehr nach Angola in keiner Weise bekundet hat, sich dort zukünftig aktiv für die UNITA politisch betätigen zu wollen.
75 
Die Berufung des Klägers ist nach allem mit der sich aus § 154 Abs. 2 VwGO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
76 
Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
77 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Gründe

 
27 
Die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 - zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist nicht begründet.
28 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989.223) - nur hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers - zu Recht abgewiesen. Denn der Kläger kann nicht die Aufhebung des Widerrufs der mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 15.05.2001 getroffenen Feststellung verlangen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen (vgl. nachfolgend unter 1.). Ihm kommt auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. §§ 3 bis 3e AsylG (jeweils i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722) zu (vgl. unter 2.).
29 
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 ist in seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht gegeben.
30 
a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben sind, hatte bei Entscheidungen über Asylanträge, die vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden sind, spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG a.F.), was vorliegend mit der Entscheidung des Bundesamtes vom 10.02.2005 beachtet worden ist.
31 
b) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist in materieller Hinsicht § 73 AsylG in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722. Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
32 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 S. 12; berichtigt ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24; nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mir Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren.
33 
Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
34 
Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-​175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt danach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O., m.w.N.).
35 
Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 84 ff., 98 f.; BVerwG, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 7.11- Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 43).
36 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn auch nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
37 
Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d. h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Eine Veränderung kann in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (BVerwG, Urteil v. 24.02.2011 - 10 C 3.11 - BVerwGE 139, 109). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991, a.a.O.), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.).
38 
Die Rechtskraft des zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils aus dem Jahr 2001 steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft,; vgl. BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.). Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
39 
Die Rechtskraftwirkung besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.). Allerdings entfalten fehlerhafte Urteile keine weitergehende Rechtskraftwirkung als fehlerfreie Urteile. Eine Lösung von der Rechtskraftwirkung eines Urteils, das das Bundesamt zur Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling verpflichtet hat, ist vielmehr immer dann möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat, unabhängig davon, ob das zur Anerkennung verpflichtende Urteil richtig oder fehlerhaft war.
40 
Die Voraussetzungen für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung entsprechen damit weitgehend denen, die für den Widerruf einer Anerkennungsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG gelten. Denn auch § 73 Abs. 1 AsylG setzt eine wesentliche Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse voraus. Für den Widerruf einer Behördenentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass es unerheblich ist, ob die Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht danach auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Nachhinein scheinbar nicht entfallen sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der Widerrufsbestimmung. Dies gilt erst recht für den Widerruf der auf einem Verpflichtungsurteil beruhenden Anerkennung, von deren Rechtmäßigkeit wegen der Rechtskraft des Urteils auch im Rahmen der Widerrufsprüfung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2011 - 10 C 29.10 - NVwZ 2012, 1042, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 8.11 - AuAS 2012, 153).
41 
Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - „wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt“ (Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des Flüchtlings ergeben (GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl. auch OVG Saarland, Urteil v. 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A - juris).
42 
Für den Widerruf der Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung ist schließlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015 - 1 C 2.15 - InfAuslR 2015, 401) entschieden, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil v. 31.01.2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE 146, 31). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asylverfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319; Beschluss v. 10.10.2011 - 10 B 24.11 - juris).
43 
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für den Kläger aus heutiger Sicht aufgrund der in Angola seit Mitte des Jahres 2002 eingetretenen veränderten Verhältnisse sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit von über 13 Jahren und des individuellen Vorbringens der Klägers nicht (mehr) mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass dieser bei einer unterstellten nunmehrigen Rückkehr nach Angola von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 23.03.2001 nach den o.g. Maßstäben rechtfertigt.
44 
Der insoweit anzustellenden Prognose ist zunächst die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2001 zu Grunde zu legen, wonach der in seiner Heimat nicht tatsächlich verfolgte und von politischer Verfolgung auch nicht unmittelbar bedroht gewesene Kläger seinerzeit in Deutschland als im Exil befindlicher Informationssekretär der UNITA aufgrund selbstgeschaffener Nachfluchtgründe in Angola zumindest mit seiner Inhaftierung zu rechnen hatte, was aufgrund der dortigen spezifischen Haftbedingungen zudem eine unmenschliche bzw. erniedrigende Maßnahme dargestellt hätte.
45 
Relevant ist vor diesem Hintergrund in erster Linie, ob sich die Verhältnisse in Angola seither derart nachhaltig und stabil geändert haben, dass seitens des angolanischen Staates entsprechende Maßnahmen „asylrelevanter Weise“ bei einer unterstellten jetzigen Rückkehr des Klägers nach Angola nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.03.2012, a.a.O.). Insbesondere ist daher von Bedeutung, ob es in Angola zu einer hinreichend erheblichen und dauerhaften Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/83/EG gekommen ist, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass für den Kläger keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht, er insbesondere nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat, der dargestellten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
46 
Die Veränderung der Verhältnisse muss danach kausal für den Wegfall der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung sein (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 04.08.2011 - A 2 S 1381/11- juris), wobei das Erfordernis der Veränderung der Verhältnisse in Widerrufsfällen gerade auch deshalb einer gesonderten Prüfung bedarf, um eine unzulässige Neubewertung der Gefährdungslage auf ein und derselben Tatsachengrundlage zu vermeiden.
47 
Nach der jüngeren Rechtsprechung (des 5. Senats) des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stellt sich Situation in Angola nach dem schon im Jahr 2002 beendeten, insbesondere zwischen der MPLA und der UNITA geführten Bürgerkrieg so dar, dass angolanischen Staatsangehörigen im Falle einer Rückkehr nach Angola weder wegen Stellung eines Asylantrags und eines Auslandsaufenthalts noch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo bzw. einer Nähe zur UNITA mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende menschenrechtswidrige Behandlung droht. Auch wenn es immer noch zu von den staatlichen Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen komme, habe sich die Menschenrechtlage zwischenzeitlich deutlich verbessert (Urt. v. 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - juris). In einem Verfahren, in welchem der dortige Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Angola Mitglied der UNITA gewesen ist und als tatsächlich verfolgt anzusehen war, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs - noch ohne Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 02.03.2010 (a.a.O.) - das Folgende ausgeführt (Urteil v. 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - juris):
48 
„Dem Kläger zu 1 droht zwar aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office, Operational Guidance Note v. 11. bzw. 29.07.2008, 3.8.8 „clearly unfounded“), doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend sicher. (…)
49 
Bei seiner Einschätzung geht der Senat (vgl. bereits Senatsurt. v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215f) aufgrund der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen von folgender Situation in Angola aus:
50 
Nachdem der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen der Rebellen-UNITA und der MPLA-Regierung im März 2002 sein Ende gefunden und die Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien am 04.04.2002 zu einem Waffenstillstandsabkommen mit einer Wiederaufnahme der Umsetzung des Lusaka-Protokolls vom November 1994 geführt hatten, gibt es seitdem in fast allen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen. Die UNITA wurde an der Regierung beteiligt und erhielt daneben auch führende Positionen in den Provinzen. Die Regierung hatte auch zugesagt, die Reorganisation der UNITA zur politischen Partei nicht zu behindern. Die beschlossene Demobilisierung der UNITA-Kämpfer konnte trotz Anlaufschwierigkeiten ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und am 30.07.2002 abgeschlossen werden; die demobilisierten Kämpfer erhielten Hilfen zur Integration in das zivile Leben bzw. wurden zu einem kleinen Teil (ca. 5.000) bis Oktober 2004 in die angolanischen Streitkräfte FAA integriert. Auch das bereits am 02.04.2002 vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz, das Straffreiheit für alle UNITA-Kombattanten vorsieht, die sich innerhalb von 45 Tagen ergeben und ihre soziale Integration in die Gesellschaft akzeptiert haben, wurde umgesetzt. Diese Bestimmungen werden auch auf Personen angewandt, die erst jetzt aus dem Ausland zurückkehren. Ob davon auch lediglich politisch tätige Anhänger der UNITA profitieren konnten, ist allerdings nicht bekannt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002). Am 05.09.2008 haben nunmehr auch die seit 1992 ersten Parlamentswahlen stattgefunden, die zuletzt mehrfach vertagt worden waren. An diesen konnte sich auch die UNITA beteiligen, die sich inzwischen zu einer ihre verschiedenen Fraktionen wieder vereinigenden politischen Partei entwickelt hatte. Auch wenn sich politische Parteien seit 2002 grundsätz-lich betätigen können, kann von für alle Parteien gleichen Voraussetzungen nicht die Rede sein. Abgesehen davon, dass die staatlichen Medienanstalten zugunsten der MPLA eingesetzt wurden (vgl. FAS v. 08.09.2008 „Die bösen Jahre sind noch nicht vorbei“) und für die Oppositionsparteien außerhalb Luandas kein freier Zugang zu den elektronischen Medien bestand, wurde von staatlich finanzierten Wahlgeschenken (vgl. hierzu auch Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007) durch die MPLA und Einschüchterungen durch deren Sympathisanten gesprochen (vgl. British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006, S. 7; Refugee Documentation Centre (Ireland) vom 09.11.2009; FR v. 05.09.2008 „Das reichste arme Land der Welt wählt“). Die Wahl wurde von der Regierungspartei MPLA mit knapp 82 % der abgegebenen Stimmen gewonnen, während die UNITA nur etwas mehr als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der Gewährleistung rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit der Verteidigung sind zwar verfassungsrechtlich verankert, auch sind die bestehenden Gesetze an rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet, jedoch laufen entsprechende Rechte aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und korruptionsanfälligen Justizsystems weitgehend leer. Der Justizweg ist insofern allenfalls eingeschränkt gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab-schieberelevante Lage in der Republik Angola v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; Africa Yearbook 2006, Angola, S. 410, 2007). Ermittlungsbehörden und Gerichte sind überlastet, unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig. Straffreiheit für kriminelle Vergehen und Menschenrechtsverletzungen sind insofern keine Seltenheit (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 2; amnesty international, Jahresbericht Angola 2007).
51 
Staatliche Repressionsmaßnahmen, die systematisch gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer politischen Überzeugung eingesetzt werden, gibt es - insoweit ist dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu folgen - nicht mehr. Allerdings sind solche im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen, zumal der Schutz der Menschenrechte noch immer unzureichend ist und sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure weiterhin Menschenrechtsverletzungen begehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006; amnesty international, Report Angola 2008 und 2009, Jahresberichte Angola 2007; US Department of State, Human Rights Report vom 25.02.2009; Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009).
52 
Zwar müssen selbst ehemalige UNITA-Kämpfer in Angola grundsätzlich nicht mehr mit staatlichen Repressionen rechnen. So spielen hochrangige ehemalige UNITA-Militärführer inzwischen durchaus eine wichtige Rolle als Politiker bzw. sind in den angolanischen Streitkräften FAA weiterhin als solche tätig. Allerdings kam es Mitte Juli 2004 in vier Orten im Landesinnern zu Übergriffen der lokalen Bevölkerung auf ehemalige UNITA-Angehörige, die sich dort niederlassen wollten. Besonders schwer waren die Übergriffe in Cazombo in der Provinz Moxico, bei denen 80 Häuser zerstört worden sein sollen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Angola v. 05.11.2004 bzw. v. 18.04.2006), nachdem ein ehemaliger UNITA-General die Leitung des dortigen UNITA-Büros hatte übernehmen wollen. Zwar wurden entsprechende Übergriffe von Regierungsseite öffentlich kritisiert, doch gibt es verschiedene glaubhafte Berichte, wonach lokale MPLA-Vertreter in derartige Vorkommnisse involviert waren und die Polizei nicht zum Schutz der Opposition einschritt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007).
53 
Für UNITA-Angehörige, die sich in Angola für Dritte erkennbar politisch für die UNITA betätigen, besteht schließlich auch mehr als sieben Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch ein gewisses Risiko, erheblichen Repressionen seitens der Anhänger der Regierungspartei MPLA bzw. ihr zuzurechnenden Gruppierungen ausgesetzt zu sein. So beklagen die verschiedenen Oppositionsparteien – namentlich die UNITA – regelmäßig Akte „politischer Intoleranz“ hauptsächlich in den ländlichen Gebieten verschiedener Provinzen, wobei die Verantwortlichen regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen würden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free an Fair Elections, 12.08.2008; UK Border Agency, Operational Guidance Note Angola vom 01.06.2009). An dem tief verwurzelten Klima der Intoleranz wird sich aufgrund der weiteren Marginalisierung der Zivilgesellschaft und zivilen Oppositionsparteien voraussichtlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, da insofern das bestehende autoritäre politische System und die politische Bipolarität zwischen den Bürgerkriegsparteien MPLA und UNITA unangetastet bleiben dürfte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002).
54 
Bereits 2004 wurden von der UNITA zunehmend Fälle von Einschüchterung ihrer Funktionäre beklagt, die u. a. von Angehörigen einer MPLA-nahen Miliz ausgegangen sein sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 31.03.2005, S. 7; British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch wurde beklagt, dass zunehmend Erpressung und Druck ausgeübt werde, in die MPLA einzutreten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, S. 1; Africa Yearbook 2004, Angola, S. 388, 2005: Africa Yearbook 2005, S. 399, 2006). Wiederholt wurde 2003/2004 von Verfolgungen, Ein-schüchterungen und Gewalt gegen Funktionäre in verschiedenen Provinzen und Städten im Landesinneren berichtet (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch 2005 kam es zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Parteien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; British Home Office, Operational Guidance Note Angola,11. bzw. 29.07.2008). Im März 2005 sollen in der Stadt Mavinga eine Person gar getötet und 28 weitere Personen verletzt worden sein, als UNITA-Mitglieder ihre Parteiflagge zu hissen versuchten (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008; amnesty international, Jahresbericht Angola 2006). Die UNITA sprach von gezielter Aufhetzung der Bevölkerung durch die MPLA und die lokalen Behörden mit dem Ziel, die landesweite Errichtung oppositioneller Strukturen zu verhindern. Selbst Angolas Präsident dos Santos soll nach den Vorfällen Ende Februar und Mitte März die Besorgnis der UNITA als „legitim“ anerkannt haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 21.03.2005). 2006 berichteten UNITA und MPLA von wechselseitigen körperlichen Angriffen politischer bzw. militanter Aktivisten auf ihre Mitglieder (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Reports on Human Rights Practices - 2006 v. 06.03.2007, Section 3). Die UNITA sprach gar von 13 getöteten Parteimitgliedern (vgl. Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007). Auch 2007 berichteten die Oppositionsparteien von Belästigungen, Einschüchterungen und Körperverletzungen durch Anhänger der Regierungspartei (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Re-ports on Human Rights Practices - 2007 v. 11.03.2008, Section 3). Im März 2007 sollen Unbekannte (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola v. 11. bzw. 29.07.2008; U.S. Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices - 2007, a.a.O.), möglicherweise gar Polizisten (vgl. amnesty international, Report Angola 2008), in der Provinz Kwanza Norte während einer Sitzung im örtlichen Parteibüro auf den zu Besuch anwesenden Parteivorsitzenden der UNITA – Isaias Samakuva – geschossen haben, der dabei leicht verletzt wurde; über das Ergebnis der deswegen in Gang gesetzten Untersuchung ist - soweit ersichtlich - noch nichts bekannt. Mitglieder der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft berichteten auch 2007 von zunehmender „politischer Intoleranz“. Auch im unmittelbaren Vorfeld der für Herbst 2008 angesetzten Parlamentswahlen wurde von Fällen politischer Gewalt hauptsächlich in den ländlichen Gebieten berichtet. So seien am 02.03.2008 Mitglieder einer kommunalen UNITA-Delegation im Dorf Kafindua in der Provinz Benguela von einer Gruppe örtlicher MPLA-Aktivisten geschlagen worden, als sie ihre Parteiflagge hätten hissen wollen. Die Polizei habe die Angreifer zwar verhört, jedoch wieder laufen lassen; diese hätten anschließend erklärt, „die Polizei gehöre ihnen“. Traditionelle Autoritäten seien zunehmend dem Druck der MPLA ausgesetzt, Aktivitäten der UNITA in den verschiedenen Dörfern zu verhindern. Am 30.05.2008 habe eine Gruppe von MPLA-Anhängern den traditionellen Führer im Dorf Bongue Kandala in der Provinz Benguela sowie fünf UNITA-Mitglieder zusammengeschlagen, weil jener zuvor erlaubt hätte, die Parteifahne hochzuhalten (vgl. Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free and Fair Elections, 12.08.2008). Am 13.08.2008 sollen UNITA-Mitglieder während einer öffentlichen Versammlung in Kipeio in der Provinz Huambo von einer Gruppe mit Stöcken und Steinen angegriffen worden sein; eine Frau musste im Krankenhaus behandelt werden, die anderen erlitten weniger ernste Verletzungen. Die Polizei sei zwar eingeschritten, die Angreifer seien jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden. In der Provinz Benguela sollen UNITA-Mitglieder am 23.08.2008 gesteinigt worden sein. In Chico da Waiti sei eine 40-köpfige Delegation von UNITA-Mitglieder mit Steinen beworfen worden, wobei 8 Personen verletzt worden seien. Die Polizei habe die Delegation eskortiert, jedoch niemanden verhaftet. Der zuständige Gemeindeverwaltungsbeamte habe später erklärt, dass er lediglich die Sicherheit der Wahlbeobachter der UNITA, nicht aber für deren Wahlkampagne garantiere (vgl. Human Rights Watch, Angola: Irregula-rities Marred Historic Elections, 14.09.2008).
55 
Für 2009 sind den bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Erkenntnismitteln zwar keine entsprechenden Vorkommnisse im Zusammenhang mit der UNITA zu entnehmen, lediglich in Zusammenhang mit dem Vorgehen des Militärs gegen bewaffnete Rebellen der Liberation Front of the Enclave Cabinda (FLEC) in der Provinz Cabinda soll es in 2009 zu willkürlichen Verhaftungen gekommen sein (Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009). Es ist aber noch völlig offen, ob sich diese positive Entwicklung in der Zukunft verstetigt. Derzeit und auf absehbare Zeit kann deshalb nach wie vor nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Angola vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre.“
56 
Dem Kläger des zu entscheidenden Berufungsverfahrens, der im Gegensatz zu dem Kläger zu 1 jenes Verfahrens vor seiner Ausreise keine Verfolgung erlitten hat und der von einer solchen auch nicht unmittelbar bedroht gewesen ist, droht danach im Falle einer Rückkehr nach Angola politische Verfolgung jedenfalls nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v. 03.12.2009 - A 5 S 122/08 - juris, Urteil v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - InfAuslR 2009, 215, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1729/97 - juris, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1730/97 - juris).
57 
Diese Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der in das Berufungsverfahren eingeführten neueren Erkenntnisquellen für den gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht zu erhalten.
58 
So hat sich die Situation in Angola in den vergangenen Jahren weiter verstetigt, ohne dass es dabei zu besonderen Veränderungen mit einer Tendenz zum Besseren oder zum Schlechteren gekommen wäre. Von besonderer Bedeutung auch für den politischen Prozess der Aussöhnung zwischen den früheren Bürgerkriegsparteien waren die am 31.08.2012 abgehaltenen Parlamentswahlen, bei welchen die regierende MPLA zu Gunsten der Oppositionsparteien Stimmenverluste hinnehmen musste. Die UNITA als größte Oppositionspartei vermochte ihren Stimmenanteil auf 18,66 % auszubauen, obwohl sich von ihr zuvor die neue Oppositionspartei CASA-CE abgespalten hatte, die ihrerseits 6 % der Stimmen errang. Alle am Bürgerkrieg beteiligten Parteien unterstützen die Wiederaufbauphase, in der sich das Land nach wie vor befindet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.09.2009 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden).
59 
Hingegen ist die MPLA die führende und die Geschicke des Landes vorherrschend bestimmende Organisation geblieben, die letztlich alle anderen Parteien im Fokus hat und alle führenden Persönlichkeiten überwacht (Deutsche Botschaft Luanda, Auskunft vom 15.09.2011 an das Verwaltungsgericht Minden). In dieser Situation kommt es in Angola immer noch zu Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei, etwa durch den exzessiven Einsatz von Gewalt und staatlichem Mord. Nur wenige Beamte mussten sich hierfür bislang strafrechtlich verantworten. Es wurde über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen durch die Polizei berichtet, die ihre Funktionen zudem parteiisch ausübt, vor allem während einiger gegen die Regierung gerichteter Demonstrationen. Bei der Auflösung von Demonstrationen wurde zum Teil mit exzessiver Gewalt vorgegangen (Amnesty international, Report Angola 2010 und 2012).
60 
Insbesondere im Vorfeld der Wahlen von 2012 gab es Berichte über sporadische politisch motivierte Gewalttaten von Mitgliedern der MPLA, die sich gegen die UNITA und das Bündnis CASA-CE richteten. Den Berichten zufolge war aber auch die UNITA für vereinzelte gewaltsame Handlungen gegen die MPLA verantwortlich, die politisch motiviert waren (Amnesty international, Report Angola 2013).
61 
Am 23.11.2013 wurden in Luanda bei einer vom Innenministerium verbotenen Demonstration, zu der die UNITA aufgerufen hatte, 292 Personen festgenommen. Die Demonstration sollte an das ungeklärte Schicksal zweier Aktivisten erinnern, nachdem Informationen bekannt geworden waren, wonach die beiden im Mai 2012 durch staatliche Kräfte entführt, gefoltert und getötet worden sein sollen (BaMF-Briefing Notes vom 25.11.2013).
62 
Auch für das Jahr 2014 berichtet Amnesty International nach wie vor über - allerdings ausdrücklich nur sporadische - politisch motivierte Gewalttaten zwischen Mitgliedern der regierenden MPLA und solchen der UNITA. Friedliche Demonstrationen wurden mitunter von Polizei und Sicherheitskräften unter Anwendung von Gewalt unterbunden (Amnesty international, Report Angola 2015).
63 
Am 09.03.2014 störten Mitglieder der MPLA in der Provinz Kwanza Sul eine Gedenkveranstaltung der UNITA zu deren 48-jährigem Bestehen, wobei drei Provinzführer der UNITA während einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einzelnen Unterstützern der beiden Parteien getötet worden sein sollen. Öffentlich zugängliche Informationen über irgendwelche Verhaftungen oder Untersuchungen durch die Polizei wegen dieser Angelegenheit seien nicht erhältlich gewesen. Die Regierung unternahm gleichwohl generell einige Schritte zur Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs durch Beamte, welche indes nur schwer nachvollzogen werden können (US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2014).
64 
Auch auf der Basis der dem Senat im Übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen muss festgestellt werden, dass in Angola das geltende Verfassungsrecht und die gegebene Verfassungswirklichkeit nicht immer übereinstimmen, was sich vor allem in der Machtausübung der Sicherheitskräfte, der weitreichenden Korruption und einer Behinderung der Arbeit von Journalisten zeigt. Gelegentlich wird dieses Bild auch durch einzelne mitunter gewaltsame Machtdemonstrationen Angehöriger der MPLA gegenüber Anhängern der Oppositionsparteien bestätigt, ohne dass jedoch angenommen werden müsste, dass die Betätigung der Oppositionsparteien in Angola generell gefährlich ist bzw. eine solche gar staatlicherseits unterbunden wird (vgl. US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2011 und 2012; Refugee Documentation Centre Ireland v. 22.10.2009; UK Border Agency v. 01.09.2010; Freedom House Länderberichte 2010, 2011 und 2012).
65 
Zutreffend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in diesem Zusammenhang auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10.09.2015 zu Angola (2015/2839(RSP)) hingewiesen, welche vor dem Hintergrund insbesondere der Festnahme des angolanischen Menschenrechtsaktivisten José Marcos Mavungo am 14.03.2015 die angolanische Regierung u.a. dazu auffordert, Fällen von willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inhaftierung und Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte unverzüglich ein Ende zu setzen.
66 
Zusammenfassend lässt sich für den Senat festhalten, dass seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers und weitere 6 Jahre nach dem zitierten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - sich die Verhältnisse in Angola derart verstetigt haben, dass der Kläger nunmehr dort jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat.
67 
Diese Einschätzung beruht überdies auf der individuellen Situation des Klägers, der bereits seit Längerem nicht mehr als exilpolitischer Aktivist für die Sache der UNITA angesehen werden kann. So hat er im Rahmen des Widerrufsverfahrens nicht mehr von einer ins Gewicht fallenden Fortsetzung seiner Betätigung für die UNITA für die Zeit nach seiner Flüchtlingsanerkennung berichtet. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er gar eingeräumt, seit einem ihm gegenüber ausgesprochenen Verbot der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 nur noch „auf kleiner Flamme“ politisch tätig zu sein. Insoweit gebe es nichts weiter zu berichten. Der Kläger vermittelte dem Senat auch keineswegs den Eindruck, er werde nach einer Rückkehr nach Angola seine Aktivitäten für die UNITA wieder aufnehmen, weil er sich etwa hierzu aufgrund einer tiefen inneren Überzeugung verpflichtet fühle. Die damit anzunehmende zwischenzeitliche Veränderung auch in der Person des Klägers (vgl. dazu allgemein bereits oben) verdeutlichen dem Senat, dass dieser im Fall seiner nunmehrigen Rückkehr nach Angola auch nicht von einer im Jahr 2015 möglicherweise wieder etwas verschärfteren Situation für Regimegegner betroffen wäre.
68 
Anhaltspunkte für das Vorliegen von dem Kläger nicht geltend gemachter Anfechtungsgründe (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015, a.a.O.) lassen sich für den Senat im Übrigen nicht erkennen.
69 
Dass der Kläger schließlich - wie dies sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - aufgrund des verhängten Verbots der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 einem Flüchtling, dem die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu Gute kommt, gleichzustellen sei, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
70 
d) Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat schließlich auch nicht aufgrund der Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auszuscheiden. Denn der Kläger kann sich ersichtlich nicht auf zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen, um eine Rückkehr nach Angola abzulehnen.
71 
2. Aus dem Vorgenannten ergibt sich zugleich, dass der von dem Kläger angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 auch hinsichtlich seiner Nr. 2, wonach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vorliegen, rechtmäßig ist.
72 
Es kommt daher für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht darauf an, ob der von ihm gewählte isolierte Antrag auf Aufhebung der diesbezüglichen Entscheidung des Bundesamtes überhaupt sachdienlich ist.
73 
Gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722, darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (vgl. im Übrigen §§ 3 bis 3e AsylG).
74 
Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend von dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die Befürchtung von Repressionen im Zusammenhang mit seinem geltend gemachten exilpolitischen Verhalten in Betracht. Wie bereits ausgeführt, kann insoweit jedoch für den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, was in erster Linie darin begründet ist, dass der Kläger bereits seit Längerem so gut wie gar nicht mehr exilpolitisch tätig ist und er auch für den Fall seiner Rückkehr nach Angola in keiner Weise bekundet hat, sich dort zukünftig aktiv für die UNITA politisch betätigen zu wollen.
75 
Die Berufung des Klägers ist nach allem mit der sich aus § 154 Abs. 2 VwGO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
76 
Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
77 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Juni 2010 - A 4 K 4167/09 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt in erster Linie die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am … 1968 geborene Kläger ist ein Staatsangehöriger Sri Lankas tamilischer Volkszugehörigkeit. Ihm wurde am 20.08.2008 in Colombo ein Reiseausweis ausgestellt. Er reiste am 04.09.2008 über den Flughafen Düsseldorf in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sogleich nach der Einreise wurde er von der Bundespolizei vernommen; hinsichtlich des Ergebnisses wird auf die darüber angefertigten Protokolle verwiesen.
Am 17.09.2008 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. Er wurde am 09.10.2008 zu seinem Begehren angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Am 09.11.2009 hat der Kläger (Untätigkeits-)Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben. Dieses hat mit Urteil vom 28.06.2010, nachdem die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten, die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus: Ungeachtet, ob der Kläger bereits politische Verfolgung erlitten habe oder unmittelbar von ihr bedroht gewesen sei, habe er aufgrund der derzeitigen politischen Lage in Sri Lanka zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung zu rechnen. Auch nach (vorläufiger) Beendigung des Bürgerkriegs habe sich die Sicherheitslage noch nicht spürbar entspannt und der Ausnahmezustand bleibe bestehen. Es komme weiterhin zu einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte, aber auch durch Dritte. Aus der Gesamtsituation ergebe sich, dass der Kläger jedenfalls für den Fall einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten müsse. Denn der aus dem Norden stammende Kläger, der sich im Süden oder in Colombo niederlassen müsste, nachdem die Freizügigkeit immer noch in erheblichem Umfang eingeschränkt sei, müsse für den Fall einer Rückkehr damit rechnen, dass er dem Anfangsverdacht, der LTTE zuzugehören, ausgesetzt sei. Hieraus ergebe sich das konkrete Risiko, von den Sicherheitskräften verhaftet zu werden. Das Ende dieser Haft, die keiner gerichtlichen Kontrolle mehr unterliege, sei nicht abzusehen und mit dem Risiko erheblicher Misshandlungen verbunden. Diese erheblichen Gefahren, die an die unterstellte Unterstützung der LTTE anknüpften, begründeten unabhängig von einer Vorverfolgung die Gefahr politischer Verfolgung, sie stellten eine politisch motivierte Verfolgung dar, die an die tamilische Volkszugehörigkeit und die damit verbundene Vermutung der LTTE-Unterstützung anknüpfe.
Auf Antrag der Beklagten vom 27.07.2010 hat der damals zuständige 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Beschluss vom 16.02.2012 - A 12 S 1863/10 - die Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil zugelassen. Mit einem am 05.03.2012 eingegangenen Schriftsatz vom 29.02.2012 hat die Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags begründet. Sie macht im Wesentlichen geltend: Nach dem bisherigen klägerischen Vorbringen könne keine individuell erlittene Vorverfolgung oder eine Ausreise unter dem Druck bevorstehender Verfolgung festzustellen sein. Das Vorbringen des Klägers in den verschiedenen Verfahrensstadien sei erkennbar zu unterschiedlich geblieben, ohne dass sich dafür nachvollziehbare Gründe zeigten oder er dies anderweitig überzeugend hätte erklären können. Allein wegen der Zugehörigkeit zur tamilischen Volksgruppe drohe ihm keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Juni 2010 - A 4 K 4167/09 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt:
die Berufung zurückzuweisen,
10 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
11 
weiter hilfsweise festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote hinsichtlich Sri Lanka bestehen.
12 
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und führt ergänzend aus, er habe eine extralegale Entführung dargelegt, wobei allein diese Entführung und die Drohung mit einer Gefahr für Leib und Leben ein traumatisches Ereignis darstellten, das im Zusammenhang mit der Angst um die Familie dazu führe, dass bei einer Abschiebung oder Rückkehr ein so genanntes Wiederholungstrauma einsetze.
13 
Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung zu den Gründen seines Asylbegehrens angehört worden; hinsichtlich seiner Angaben wird auf Anlage 1 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
14 
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger folgenden Hilfsbeweisantrag gestellt (Anlage 2 der Niederschrift):
15 
Zum Beweis der Tatsachen,
16 
dass es aufgrund der 6-jährigen Dauer des Verfahrens beim VGH Baden-Württemberg bei einer Dauer von über 8 Jahren des Asylverfahrens insgesamt ein gravierender Vertrauensverstoß ist bzw. es gegen Treu und Glauben verstößt, jetzt nun nach dieser langen Zeit vom Urteil des Verwaltungsgericht Stuttgart abzuweichen, dass dies zum jetzigen Zeitpunkt eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 MRK wäre, ihm nach 8 Jahren Asylverfahren und 6 Jahren in der Rechtsstellung als Asylberechtigten diese nach dieser langen Dauer des Verfahrens wegzunehmen, und dass dies wegen der Dauer des Verfahrens und bei einer Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu einer gravierenden psychischen Reaktion führen würde, auch im Sinne einer psychischen Erkrankung,
17 
wird beantragt,
18 
1. ein Gutachten eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht einzuholen und
19 
2. ein Gutachten von Herrn Dr. ..., Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalytik, ... …, ...,
20 
einzuholen.
21 
Dem Senat liegen die Akten des Bundesamts und die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart vor. Hierauf sowie auf die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
22 
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Denn auf diese Möglichkeit war in der Ladung zum Termin hingewiesen worden (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
23 
Die nach Zulassung durch den 12. Senat des erkennenden Gerichtshofs statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Denn die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (I.) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (II.), keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (III.), keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (IV.) und keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots (V.). Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen (VI.).
I.
24 
Für die Beurteilung des Begehrens des Klägers ist auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG). Maßgeblich in rechtlicher Hinsicht ist deshalb das zuletzt durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31.07.2016 (BGBl I S. 1939) geänderte Asylgesetz.
25 
Die erstinstanzlich gestellten Klageanträge sind im Hinblick auf die aktuelle Rechtslage, insbesondere auf die seit 01.12.2013 geltenden §§ 3 ff. AsylG (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl I S. 3474), wie folgt zu verstehen und entsprechend in der mündlichen Verhandlung gestellt worden:
26 
Der auf die Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag ist weder durch die genannte noch durch sonstige Gesetzesnovellen berührt worden.
27 
Der auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG in der zum Zeitpunkt des Ergehens des verwaltungsgerichtlichen Urteils geltenden Fassung gerichtete erste Hilfsantrag ist nunmehr als Antrag auf die Verpflichtung zur Gewährung subsidiären Schutzes auszulegen. Denn in § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind die bisher in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbote zusammengefasst worden (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 25).
28 
Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG „höchsthilfsweise“ gestellte Hilfsantrag kann ohne Änderung weiterverfolgt werden; die Vorschriften sind nicht geändert worden.
II.
29 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG.
30 
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9; so genannte Qualifikationsrichtlinie - QRL -) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 24 a.E.).
32 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
33 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 26 m.w.N.).
34 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 27 ff.). Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchstabe d QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 = NVwZ 2013, 936 Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
35 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
36 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
37 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (zur so genannten Gruppenverfolgung vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 30 ff.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
38 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die auch vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylG, Art. 8 QRL).
39 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie durch § 3c Nr. 3 AsylG (vgl. Art. 6 Buchstabe c QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
40 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 und 2 AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit.
41 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 34 m.w.N.). Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden mit Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
42 
2. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nicht aus individuellen Verfolgungsgründen zuzuerkennen. Der Senat konnte aufgrund des bisherigen Ablaufs des Asylverfahrens und insbesondere aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des in ihr von seiner Person gewonnenen Eindrucks nicht die erforderliche Überzeugung davon gewinnen, dass die nach seinem Vorbringen fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe der Wahrheit entspricht. Vielmehr spricht nach Auffassung des Senats vieles dafür, dass der Kläger den wahren Grund für seine Ausreise nach wie vor für sich behält.
43 
An der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen zunächst aus dem Grund ganz erhebliche Zweifel, dass er im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Einreise im September 2008 nicht miteinander in Einklang zu bringende Angaben zu den Gründen seiner Flucht gemacht hat. So gab er bei der Bundespolizei im Wesentlichen an, er habe schon seit zwei Jahren versucht, Sri Lanka zu verlassen, sei seit über zehn Jahren Mitglied der LTTE, habe lange Zeit das sri-lankische Militär mit Bargeld bestochen und müsse damit rechnen, vom Militär grundlos verhaftet zu werden. Von einer Entführung und Erpressung durch Mitglieder tamilischer regierungsnaher Organisationen war nicht im Ansatz die Rede. Es besteht für den Senat keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass der Kläger die in den Wortprotokollen über die Vernehmungen niedergelegten Angaben gemacht hat. Nicht zuletzt wurden die Vernehmungen, bei denen ein Dolmetscher für die tamilische Sprache eingebunden war, ausweislich von beigefügten Vermerken dem Kläger vorgelesen und von ihm genehmigt. Plausible Gründe dafür, dass die Vernehmungen unrichtig wiedergegeben worden sein könnten, hat der Kläger im Übrigen auch in der mündlichen Verhandlung nicht gemacht; er hat sich - darauf angesprochen - mehrmals darauf beschränkt zu bestreiten, die in den Protokollen festgehaltenen Angaben gemacht zu haben. Eine ganz andere Verfolgungsgeschichte hat der Kläger dann in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt: Grund für seine Ausreise sei gewesen, dass Leute ihn mitgenommen und von ihm Geld verlangt hätten; dann hätten sie ihn wieder gehen lassen. Auf Nachfragen des Anhörenden berichtete er unter anderem, die Entführung habe am 14.04.2008 stattgefunden, er sei sechs Tage in einem Haus festgehalten und ihm sei dann eine dreimonatige Zahlungsfrist gewährt worden.
44 
Die angebliche Entführung und Erpressung hat der Kläger dann auch in der mündlichen Verhandlung als Ereignis genannt, das bei ihm erst den Entschluss zur Flucht ins Ausland hat reifen lassen. Allerdings konnte er dem Senat nicht den Eindruck vermitteln, von etwas tatsächlich Erlebtem zu berichten; es spricht vielmehr viel dafür, dass der Kläger ein Schicksal, das andere Personen erlitten haben, auf sich projiziert hat. Auf die eingangs seiner Anhörung gestellte Frage nach dem Grund seiner Ausreise nannte der Kläger in einigen wenigen Sätzen lediglich Eckpunkte der angeblichen Entführung und Erpressung. Wesentlich ausführlicher, detailreicher und nach Einschätzung des Senats durchaus glaubhaft wurden dann erst die Schilderungen seines Reisewegs, auf die sich die Fragestellung indes überhaupt nicht erstreckte. Die gezielten Nachfragen brachten dann auch keine Ausführungen, die den Schluss zulassen könnten, dass sich das Geschehen tatsächlich so wie vom Kläger behauptet ereignet hat. In diesem Zusammenhang merkt der Senat an, dass ihm selbstverständlich bewusst ist, dass die Erinnerung an Ereignisse mit zunehmendem Zeitablauf nachlässt; allerdings wäre die vom Kläger behauptete Entführung und Erpressung ein so einschneidendes Ereignis gewesen, dass auch nach über acht Jahren zu erwarten gewesen wäre, dass der Kläger zumindest einige für die Richtigkeit seiner Angaben sprechende Details hätte schildern können. Das hat er indes nicht getan. Auf die gezielten Fragen antwortete er meist wortkarg. Einzelheiten zu dem Raum etwa, in dem er immerhin sechs Tage festgehalten worden sein will, konnte er mit Ausnahme solcher, die letztlich nur ein geringes Maß an Einfallsreichtum erfordern (angebliche Größe, weiße Wandfarbe, Licht an der Decke) nicht liefern. Angaben dazu, ob der Raum Fenster hatte, wie er möbliert war und dabei insbesondere, ob er eine als solche zu bezeichnende Schlafgelegenheit hatte, wie sie eigentlich zu erwarten gewesen wären, machte der Kläger nicht. Auf die Forderungen der Entführer angesprochen verwies der Kläger stets nur auf deren Verlangen von Geld. Mit welchen Nachteilen die Entführer für den Fall der Nichtzahlung gedroht haben, war dem Kläger keiner nähren Erwähnung wert. Blass blieben auch die Ausführungen zu der angeblichen Folter. Nachdem er zunächst lediglich die Behauptung von Folter in den Raum gestellt hatte, verwies er auf Nachfrage nur darauf, dass er geschlagen worden sei. Auf weitere Nachfrage gab er sodann an, er sei mit Stiefeln getreten und mit einem Holzknüppel geschlagen worden. Wie viele Personen ihn angeblich geschlagen und getreten haben, welche Körperstellen betroffen waren und ob und welche Verletzungen er infolge der Misshandlungen erlitten hat, blieb unerwähnt. Hinzu kommt, dass es sich insoweit um gesteigertes Vorbringen handelt, da der Kläger die Thematik „Folter“ erstmals vor dem Senat erwähnt hat. Auf entsprechenden Vorhalt hat er lediglich erklärt, er sei wohl bei seiner Anhörung nicht ausdrücklich danach gefragt worden. Sollte er allerdings tatsächlich gefoltert worden sein, erscheint es fernliegend, dass er auf diesen Umstand nicht von sich aus hingewiesen hätte.
45 
Gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal sprechen auch seine Angaben zu dem weiteren Geschehen nach seiner angeblichen Freilassung. Davon, dass die Erpresser bereits im Juni 2008 bei ihm zu Hause vorbeigekommen seien, wie er es in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt hat, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht berichtet. Vielmehr verwies er darauf, dass die Erpresser seine bisherige Unterkunft am 20.07.2008, dem Tag des angeblichen Fristablaufs, aufgesucht hätten. Diese Angabe passt allerdings in keiner Weise zu den Ausführungen seiner Ehefrau in dem dem Bundesamt vorgelegten Brief vom 15.10.2008, wonach die Entführungsbande jetzt häufiger zu ihr nach Hause komme. Erst nach zahlreichen, eindringlichen Nachfragen, nicht zuletzt seines Prozessbevollmächtigten, gab der Kläger an, dass es auch nachfolgend - zuletzt im Jahr 2009 oder im Jahr 2010 - Probleme gegeben habe. In diesem Zusammenhang hat der Kläger auch einerseits angegeben, seine Ehefrau lasse sich durch ihren Bruder bei Besuchen der Erpresser verleugnen. Andererseits gab der Kläger an, es gebe Probleme, wenn die Erpresser seine Ehefrau sehen.
46 
Offenbleiben kann nach Vorstehendem, ob die Entführung und Erpressung überhaupt von flüchtlingsschutzrelevanter Bedeutung gewesen wären. In Betracht käme hier lediglich eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Der Kläger hat auf die Frage, weshalb er als Opfer der Entführung und Erpressung ausgewählt worden sei, geantwortet, dies sei geschehen, weil er wohlhabend gewesen sei. Diese Aussage ist zunächst erstaunlich, will der Kläger die - nach seiner Angabe in der mündlichen Verhandlung, die nicht mit der Angabe in der Anhörung beim Bundesamt übereinstimmt (damals: drei Millionen Rupien) - für die Organisation der Ausreise gezahlten zwei Millionen Rupien insbesondere durch den Verkauf von Goldschmuck seiner Frau und die Aufnahme eines Darlehens aufgebracht haben. Der Aussage lässt sich aber vor allem entnehmen, dass sich der Kläger zumindest im Wesentlichen als Opfer krimineller Machenschaften sah; eine Verbindung mit seiner tamilischen Volkszugehörigkeit oder gar seiner behaupteten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE war für den Senat nicht erkennbar.
47 
Eine staatliche Verfolgung hat der Kläger schon nicht als Grund für seine Ausreise behauptet. Nicht zuletzt da dem Kläger offensichtlich ohne Probleme ein Reiseausweis ausgestellt wurde und er legal und ungehindert das Land verlassen konnte, bestehen hierfür auch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die vom Kläger erst auf Nachfragen angeführten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE (Helfen beim Aufbauen und Dekorieren einer Bühne) waren, die Richtigkeit der Angaben unterstellt, allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Dass er konkret durch sie ins Visier der Sicherheitskräfte geraten sein könnte, hat er bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung gerade nicht vorgetragen. Es blieb insoweit bei der allgemein gehaltenen Behauptung, Armeeangehörige hätten die Veranstaltungen an den Großheldentagen überwacht.
48 
3. Auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung kommt nicht in Betracht.
49 
Tamilen waren zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im August 2008 keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt (dazu a). Sie sind es auch heute nicht (dazu b).
50 
a) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers und bezogen auf den Zeitpunkt seiner Ausreise im Wesentlichen wie im Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 09.11.2010 (A 4 S 703/10, juris) bezogen auf das Jahr 2007 dar. Dort heißt es (a.a.O. Rn. 46 ff.):
51 
Die Lage in Sri Lanka stellte sich 2007 nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
52 
In Sri Lanka lebten 2007 geschätzt 20,01 Millionen Menschen. Der Anteil der tamilischen Bevölkerung lag ungefähr bei 10 % (Fischer-Weltalmanach 2010, S. 474). Nach den Angaben des Ministeriums für Volkszählung und Statistik lebten 2006 im Großraum Colombo 2.251.274 Einwohner, davon waren 247.739 tamilische Volkszugehörige sri-lankischer Staatsangehörigkeit und 24.821 indische Tamilen (vgl. UK Home Office, Country of Origin Report Sri Lanka vom 15.11.2007, S. 122, Nr. 20.13).
53 
Die innenpolitische Lage Sri Lankas war von dem jahrzehntelangen ethnischen Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen bestimmt. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung [und] der tamilischen Rebellenorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) aus dem Februar 2002 war von Präsident Rajapakse im Januar 2008 offiziell aufgekündigt worden, nachdem es von beiden Seiten seit langem nicht mehr eingehalten worden war. Bereits ab November 2005 war es zu einer drastischen Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch die LTTE und die im Jahr zuvor von ihr abgespaltene, mit der Regierung kollaborierende Karuna-Gruppe unter „Oberst Karuna“ (Muralitharan Vinayagamurthi), einem ehemaligen Vertrauten des LTTE-Führers Prabahakaran, gekommen. Seit April 2006 hatte die Regierung versucht, die LTTE, die zu diesem Zeitpunkt noch den Norden und Osten des Landes kontrollierte, mit offensiven Maßnahmen zurückzudrängen. Ab Mitte 2006 war es dann zu großflächigen, längeren Kampfhandlungen gekommen. Unterstützt von den paramilitärischen Einheiten der Karuna-Gruppe, die sich als Vertretung der Ost-Tamilen verstand, konnten die Streitkräfte im Juli 2007 nach den vorhergehenden Rückzug der LTTE-Soldaten die letzten von der LTTE gehaltenen Stellungen im Osten Sri Lankas einnehmen (Lagebericht des AA vom 07.04.2009, Stand März 2009, S. 5).
54 
Eine systematische und direkte Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen Rasse, Nationalität oder politischer Überzeugung von Seiten der Regierung fand seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 nicht statt (Lageberichte des AA vom 26.06.2007, Stand Juni 2007, S. 6 und vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 7). Allerdings standen Tamilen im Generalverdacht, die LTTE zu unterstützen, und mussten mit staatlichen Repressionen rechnen. Sie wurden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt. Sie sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, Pkw-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richteten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des „Terrorism Prevention Act“ Ende 2006 - ein Notstandsgesetz, das Verhaftungen ohne Haftbefehl und eine Inhaftierung bis zu 18 Monaten erlaubt, wenn die Behörden insbesondere den Verdacht terroristischer Aktivitäten haben (vgl. SFH, Sri Lanka, Aktuelle Situation, Update vom 11.12.2008, S. 3) - war die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wurde, musste mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung hat kommen müssen (Lagebericht des AA vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 8). So wurden am 30. und 31.12.2005 im Rahmen der von Militär und Polizei in Colombo durchgeführten Operation „Strangers Night III.“ 920 Personen, die weit überwiegende Mehrheit Tamilen, verhaftet (Human Rights Watch, Return to War - Human Rights under Siege - August 2007, S. 74).
55 
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in seiner Stellungnahme zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka vom 01.02.2007, die eine Zusammenfassung und Teilübersetzung der „UNHCR Position on the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Sri Lanka (December 2006)“ enthält, unter anderem ausgeführt, dass von der sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage im besonderem Maße Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes betroffen seien. Aus der Stellungnahme ergibt sich, dass bei dem Verdacht, dass sie Verbindungen zur LTTE unterhalten, Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen Behörden oder mutmaßlich von der Regierung gestützte Paramilitärs drohten (S. 2). Für Tamilen aus Colombo bestand aufgrund der im April bzw. Dezember 2006 drastisch verschärften Sicherheitsbestimmungen ein erhöhtes Risiko, willkürlichen, missbräuchlichen Polizeimaßnahmen - insbesondere Sicherheitskontrollen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Hausdurchsuchungen oder Leibesvisitationen - unterworfen zu werden. Tamilen aus Colombo waren darüber hinaus besonders gefährdet, Opfer von Entführungen, Verschleppungen oder Tötungen zu werden. Zwischen dem 20.08.2006 und dem 02.09.2006 waren Presseberichten zufolge mehr als 25 Tamilen entführt worden, nur zwei Personen waren bis zum Dezember 2006 wieder freigekommen (S. 2 f.). Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der dauernden Bedrohung durch terroristische Attacken im Großraum Colombo waren teilweise für die gesamte tamilische Minderheit bedrohlich und stellten ihre Sicherheit in Frage. Extralegale Tötungen, die seit jeher Teil des Konflikts gewesen waren, wurden seit Dezember 2005 auch in signifikanter Zahl von Regierungsseite verübt. Viele Taten sind an gewöhnlichen Personen begangen worden, die kaum erkennbar in Verbindung zu dem Konflikt standen. Teilweise handelte es sich um Teile eines Musters, die LTTE anzugreifen, teilweise geschahen sie aus politischen Motiven. Sie konnten aber auch einen kriminellen Hintergrund haben (Asylsuchende aus Sri Lanka, Position der SFH vom 01.02.2007 S. 5).
56 
Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht vom 14.06.2007 (Sri Lanka’s Human Rights Crisis, Asia Report N. 135) unter anderem festgehalten, dass die Anzahl der Verschwundenen in den letzten achtzehn Monaten nur schwerlich mit Sicherheit festzustellen sei. Verschiedene verlässliche Quellen berichteten von mehr als 1.500 Betroffenen, wobei das Schicksal von mindestens 1.000 Personen unklar gewesen sei. Die höchste Anzahl von Betroffenen sei in den von der Regierung kontrollierten Bereichen Jaffnas festzustellen gewesen. Dort seien 731 Fälle registriert worden, in 512 Fällen gebe es noch keine Aufklärung. Im Großraum Colombo sei es zu mehr als 70 berichteten Fällen von Entführungen und des Verschwindenlassens gekommen. Die meisten der Betroffenen seien junge tamilische Volkszugehörige gewesen, die der Zusammenarbeit mit der LTTE verdächtigt worden seien. Auch eine Vielzahl von Personen ohne Verbindung zur LTTE seien Opfer dieses Verschwindenlassens geworden.
57 
Human Rights Watch (HRW) geht in seinem Bericht aus dem August 2007 (Return to War - Human Rights under Siege -) davon aus, dass Entführungen und Fälle des Verschwindenlassens seit August 2006 auch in Colombo zu einer weitverbreiteten Erscheinung geworden seien. Die Organisation gelangt auf der Grundlage von Gesprächen mit 26 Familien von verschwundenen Personen zu dieser Aussage (S. 53 f.). Landesweit geht HRW für den Zeitraum vom 14.09.2006 bis zum 25.02.2007 von 2.020 Fällen Entführter oder sonst verschwundener Personen aus. „Ungefähr 1.134 Personen“ seien lebend wieder aufgefunden worden, die anderen seien weiterhin vermisst (S. 7).
58 
Nach dem Country Report on Human Rights Practices zu Sri Lanka des U.S. Department of State 2007 vom 11.03.2008 waren extralegale Tötungen in Jaffna an der Tagesordnung. Zwischen dem 30.11.2007 und dem 02.12.2007 sind nach zwei Bombenangriffen der LTTE in und um Colombo beinahe 2.500 tamilische Volkszugehörige in der Hauptstadt und geschätzte 3.500 Tamilen im ganzen Land verhaftet worden. Die Inhaftierten, überwiegend männliche tamilische Zivilisten sollen allein aufgrund ihrer tamilischen Nachnamen verhaftet worden sein. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wurde bald wieder freigelassen. Zum Jahreswechsel waren nur noch zwölf von 372 im Boosa detention camp Inhaftierten in Gewahrsam.
59 
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich selbst dann, wenn alle Angaben zutreffen sollten, zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Ende November 2007 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde keine Volksgruppe gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht ohne weiteres auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen. Selbst wenn alle Übergriffe im Großraum Colombo zwischen November 2005 und Dezember 2007 dem sri-lankischen Staat zuzurechnen wären - tatsächlich sind dabei auch Übergriffe der LTTE und „rein kriminelle Übergriffe“ mit dem Ziel der Lösegelderpressung unter den registrierten Fällen - und alle Inhaftierungen - auch die von bloß kurzer Dauer von nicht mehr als drei Tagen - gezählt werden, ist das Verhältnis von 3.400 Verhaftungen zu mehr als 240.000 tamilischen Einwohnern angesichts des Zeitraums von zwei Jahren nicht geeignet, eine Regelvermutung der Gefährdung eines jeden Gruppenmitglieds zu rechtfertigen. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass 2.500 der Inhaftierten nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden sind und damit keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 RL 2004/83/EG erdulden mussten, ergibt sich eine Betroffenheit von 0,3 % der gesamten tamilischen Bevölkerung. Dieser - für die Bewertung des Standards der Achtung der Menschenrechte insoweit gleichwohl hohe - Prozentsatz der Betroffenen innerhalb eines Zweijahreszeitraums führt nicht zum Schluss auf die erforderliche aktuelle Gefahr der Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds.
60 
Zu einer anderen Beurteilung bezogen auf den Zeitpunkt August 2008 besteht kein Anlass. Auch der Kläger hat nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
61 
b) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers derzeit wie folgt dar:
62 
aa) Bezogen auf den Zeitpunkt November 2010 führte der erkennende Gerichtshof in seinem Urteil vom 09.11.2010 aus (a.a.O. Rn. 57 ff.):
63 
Am 19.05.2009 hat der sri-lankische Staatspräsident Mahinda Rajapakse in einer Parlamentsansprache den Sieg der Regierungstruppen über die tamilische Separatistenorganisation LTTE verkündet. Tags zuvor war nach den Angaben des Militärs bei einem der letzten Gefechte der LTTE-Anführer Velupillai Prabhakaran ums Leben gekommen, nachdem zuvor fast die gesamte militärische und politische Führung der LTTE umgekommen war. Der seit 1983 mit Unterbrechungen währende Bürgerkrieg war damit beendet (Lagebericht des AA vom 02.09.2009, Stand: August 2009, S. 6). Hunderttausende Menschen mussten während des Bürgerkriegs ihre Heimatorte im tamilischen Norden und Osten des Landes verlassen. Als Binnenvertriebene suchten sie Zuflucht in weniger gefährdeten Gebieten des Landes. Viele entschieden sich auch dafür, ins Ausland zu gehen. In der Ostprovinz konnten die Binnenvertriebenen inzwischen bis auf einige Ausnahmen in ihre Heimatgemeinden zurückkehren (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 8). Rund 300.000 Zivilpersonen waren in den letzten Monaten des Bürgerkriegs im von der LTTE gehaltenen, kontinuierlich schrumpfenden Gebiet eingeschlossen. Notgedrungen zogen sie mit den LTTE-Verbänden mit und waren in der zuletzt nur wenige Quadratkilometer ausmachenden Kampfzone im Nordwesten des Landes allen Schrecken dieser Kämpfe ausgesetzt. Nach deren Beendigung brachte sie die Armee in geschlossenen Lagern hauptsächlich in Vavuniya im nördlichen Vanni unter, zu denen nationale und internationale Hilfsorganisationen lange nur eingeschränkt Zugang hatten. Die Regierung begründete diese Lagerunterbringung mit der Notwendigkeit, sich unter den Binnenvertriebenen verbergende ehemalige LTTE-Kämpfer herauszufiltern, und der Unmöglichkeit, die Betroffenen in noch verminte Heimatorte zurückkehren zu lassen. Einigen wenigen wurde die Rücksiedlung im Juni 2009 gestattet. Im August 2009 begann dann sehr zögerlich ein Rücksiedlungsprozess, der im Oktober größeren Umfang annahm und sich ab Dezember wieder verlangsamte, da die Herkunftsorte der Verbliebenen (im Juni 2010 waren noch knapp 60.000 Personen in Lagern untergebracht) noch erheblich zerstört und vermint sind. Einem gesonderten Regime unterliegen die geschlossenen, so genannten „Rehabilitationslager“, in denen rund 8.000 ehemalige LTTE-Kämpfer (bzw. Personen, die insoweit verdächtigt werden) untergebracht sind. Zu diesen Lagern haben weder das IKRK noch Hilfsorganisationen Zugang. Die Antiterrorgesetze von 1979 (Prevention of Terrorism Act) haben weiter Bestand. Die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen insbesondere in Colombo, einschließlich der zahlreichen Kontrollpunkte von Polizei und Militär, werden aufrecht erhalten (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 9 f.).
64 
Zu den Insassen der „Rehabilitationslager“ hat Human Rights Watch festgestellt, dass zwar die meisten der Verdächtigten in den letzten Wochen der Kampfhandlungen und in der Zeit unmittelbar danach inhaftiert worden seien, dass aber auch neue Inhaftierungen, nämlich im Oktober 2009, erfolgt seien (Human Rights Watch, Legal Limbo - The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, Februar 2010, S. 6).
65 
In unterschiedlichen Bereichen kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen, die Anzeichen für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung aufweisen. Davon sind nicht nur Tamilen betroffen, sondern auch regierungskritische Singhalesen. So werden oppositionelle Parlamentsabgeordnete, die der Regierung gefährlich werden können, unter fadenscheinigen Vorwürfen verhört, verhaftet oder bedroht. Der Generalverdacht, dass jeder Tamile ein Anhänger, Unterstützer oder gar Mitglied der LTTE war und ist, wird im singhalesischen Teil der Gesellschaft von vielen geteilt, insbesondere bei den staatlichen Sicherheitskräften (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 10 f.).
66 
Für eine systematische Verfolgung von Tamilen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es keine Anhaltspunkte, sie müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien und Hausdurchsuchungen, schikanösen Behandlungen (Beleidigungen, langes Warten, exzessive Kontrolle von Fahrzeugen, Erpressung von Geldbeträgen) bei den zahlreichen Polizeikontrollen im Straßenverkehr und Verhaftungen richten sich vor allem gegen Tamilen, wobei aus dem Norden und Osten stammende Tamilen darunter noch in höherem Maße zu leiden haben. Durch Anwendung des Prevention of Terrorism Act ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder einer Anklageerhebung kommen muss. Die Situation hat sich seit Beendigung der Kampfhandlungen nicht verbessert (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 11).
67 
Ein Asylantrag im Ausland, der von vielen in Sri Lanka als legitimer Versuch angesehen wird, sich einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, begründet in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Sri Lanka niederlassen wollen, müssen indes einen Anfangsverdacht und entsprechendes Misstrauen bis zu Schikanen durch die Sicherheitsorgane gegenwärtigen. Mindestens ebenso stark steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Das Ende der Kampfhandlungen hat diesbezüglich nicht zu einer Entspannung geführt. Am 26.05.2010 wurde am Flughafen Colombo bei der Einreise eine in Deutschland ansässige Sri-Lankerin unter dem Verdacht der LTTE-Unterstützung festgenommen, die nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in Deutschland für die LTTE Gelder eingesammelt und im Frühjahr letzten Jahres Demonstrationen organisiert haben soll. Belastbaren Berichten anderer Botschaften zufolge gibt es Einzelfälle, in denen zurückgeführte Tamilen nach Ankunft in Colombo unter LTTE-Verdacht festgenommen wurden (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 24).
68 
Aus dem „Report of Information Gathering Visit to Colombo, Sri Lanka, 23. bis 29. August 2009“ vom 22.10.2009 des „U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate“ (FCO), für den sowohl staatliche sri-lankische Stellen als auch Nichtregierungsorganisationen befragt wurden, ergibt sich, dass unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit nicht freiwillig nach Sri Lanka zurückkehrende Personen dem Criminal Investigation Department zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und Kontrolle des Vorstrafenregisters überstellt werden. Die Befragung kann mehr als 24 Stunden dauern. Die Betroffenen werden erkennungsdienstlich behandelt. Abhängig vom Einzelfall ist eine Überstellung an den Geheimdienst (State Intelligence Service) oder das Terrorist Investigation Department zum Zwecke der Befragung denkbar. Jeder, der wegen eines Vergehens gesucht wird, muss mit seiner Verhaftung rechnen. Vorbestrafte oder Personen mit Verbindungen zur LTTE werden weitergehend befragt und gegebenenfalls in Gewahrsam genommen. Laut Nichtregierungsorganisationen würden Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes einer genaueren Überprüfung als andere unterzogen. Verschiedene Faktoren, nämlich ein offener Haftbefehl, Vorstrafen, Verbindungen zur LTTE, eine illegale Ausreise, Verbindungen zu Medien oder Nichtregierungsorganisationen und das Fehlen eines Ausweises (ID Card) oder anderer Personaldokumente, erhöhten das Risiko, Schwierigkeiten bei der Einreise zu bekommen, einschließlich einer möglichen Ingewahrsamnahme (S. 5). Hingegen konnte keine der befragte Quellen angeben, dass sichtbare Narben einen Einfluss auf die Behandlung bei der Einreise haben könnten. Im Falle, dass der Verdacht einer Verbindung zur LTTE bestünde, könnten solche Narben Anlass zu einer Befragung sein, jedoch würden diesbezüglich keine körperlichen Untersuchungen durchgeführt (S. 16).
69 
Überwiegend hätten die Befragten angegeben, dass die Anzahl der Razzien (cordon and search operations) in den letzten Monaten nicht zurückgegangen sei. Es gebe keine Informationen zu der Anzahl möglicher Festnahmen. Grundsätzlich seien junge männliche Tamilen, die aus dem Norden oder Osten des Landes stammten, im Zuge von Razzien einem besonderen Festnahmerisiko ausgesetzt. Die bereits genannten Faktoren erhöhten das Risiko. Tamilen ohne Beschäftigung oder „legitimen Aufenthaltsgrund“ würden ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit als verdächtig angesehen (S. 5).
70 
Nach ganz überwiegender Meinung der Befragten hat es - wenn überhaupt - seit Juni 2009 nur noch sehr wenige Entführungen / Fälle des Verschwindenlassens gegeben. Die Entführungen erfolgten demzufolge sowohl zur Lösegelderpressung als auch aus politischen Gründen. Die Nichtregierungsquellen stimmten weitgehend darin überein, dass die Sicherheitskräfte in den meisten Fällen in gewisser Weise beteiligt seien und die Polizei keine ernsthaften Ermittlungen durchführe (S. 5 f.). Bei den Straßenkontrollen im Großraum Colombo, die nach Angabe der meisten Befragten nicht nennenswert reduziert worden seien, würde es nur sehr selten zu Festnahmen kommen. Seit Juni 2009 seien keine bekannt geworden.
71 
Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.06.2010 und der (ältere) Bericht des U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate ergänzen sich. Jedenfalls die hier zitierten allgemeinen Feststellungen (S. 5 f.), die auf mindestens weit überwiegend übereinstimmenden Angaben der Befragten beruhen, sind geeignet, die insoweit knapper gehaltenen Aussagen der Lageberichte zu den Gefährdungen von Tamilen zu illustrieren. Eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen (im wehrfähigen Alter) lässt sich auf der Basis der wiedergegebenen Erkenntnisse nicht feststellen. Insbesondere angesichts des Umstands, dass Verhaftungen bei Razzien ebenso selten geworden sind wie an Straßenkontrollpunkten und Fälle des Verschwindenlassens ebenfalls kaum mehr vorkommen, lässt sich eine generelle staatliche oder staatlich tolerierte Verfolgung der Gruppe der Tamilen nicht feststellen. Anderes lässt sich auch nicht aus dem Fortbestehen der „rehabilitation camps“ schließen. Denn jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass nach deren Begründung noch Personen in einer für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller - jedenfalls der im wehrfähigen Alter befindlichen - Tamilen relevanten Größenordnung in diese Lager verbracht worden sind. Aus dem vom Kläger zitierten Bericht von Human Rights Watch, Legal Limbo, The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, ergibt sich unter Bezugnahme auf den „Indian Express“ vom 28. Oktober 2009, dass mindestens 300 LTTE Kader, die sich unter den Binnenvertriebenen versteckt hätten, verhaftet worden seien. Damit ist weder ein Bezug zu der Gruppe aller Tamilen oder jedenfalls derjenigen im wehrfähigen Alter aufgezeigt noch ergibt sich aus den berichteten Vorkommnissen, dass diese bis zum Tag der mündlichen Verhandlung gleichsam an der Tagesordnung gewesen wären.
72 
Die Einlassung des Klägers, aus dem zitierten Bericht von Human Rights Watch ergebe sich eine Zunahme der Fälle des Verschwindenlassens, vermag stichhaltige Indizien für eine Gruppenverfolgung aller (wehrfähigen) Tamilen nicht darzutun. Den dortigen Ausführungen im Unterkapitel „Concerns about Possible Enforced Disappearances“ sind vielmehr zunächst zwei Einzelfälle des Verschwindens nach Ende des Bürgerkriegs zu entnehmen. Darüber hinaus wird über eine Internierung von Dutzenden von Personen aus dem Lager „Menik Farm“ berichtet. Es wird weiter geschildert, dass das Schicksal der internierten Personen häufig - bis zum Tag des Berichts - unklar geblieben sei. Daraus lässt sich ein erhöhtes Risiko für solche Personen ableiten, die aus Sicht der Behörden im Verdacht stehen, mit der LTTE zusammengearbeitet haben, nicht jedoch eine Gruppenverfolgung aller (jungen männlichen) Tamilen. Der gegen alle Tamilen gerichtete so genannte „Generalverdacht“ führt offenkundig für sich genommen noch nicht regelmäßig zu Übergriffen der Sicherheitsbehörden. Vielmehr kommt es auf individuell gefahrerhöhende Umstände an, bei deren Vorliegen im Einzelfall eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen sein kann.
73 
Auch aus dem vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Gutachten des European Center for Constitutional and Human Rights „Study on Criminal Accoutability in Sri Lanka as of January 2009“ aus dem Juni 2010 lässt sich die von ihm behauptete Gruppenverfolgung nicht ableiten. Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der in den „welfare centers“ in Gewahrsam gehaltenen Personen von 280.000 (zwischen März 2008 und Juni 2009) bis in den Januar 2010 auf rund 80.000 abgenommen hat. Dem Bericht, der sich mit den Zuständen in den Lagern beschäftigt, ist nicht zu entnehmen, dass sri-lankische Staatsangehörige nach ihrer Wiedereinreise dazu gezwungen worden wären, in solchen Lagern zu leben. Weiter beschäftigt sich das Gutachten unter Zitierung des bereits erwähnten Berichts von Human Rights Watch aus dem Februar 2010 mit der Behandlung von der LTTE-Mitgliedschaft Verdächtigten. Auch diesen Ausführungen ist nichts zu einer anhaltenden Verhaftungswelle - wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung notwendig wäre - nach Beendigung des Bürgerkriegs und in den folgenden Monaten im Jahr 2009 zu entnehmen.
74 
Schließlich führt insoweit der Verweis des Klägers auf die Lageeinschätzung der International Crisis Group vom 17.02.2010, die sein Prozessbevollmächtigter im „Parallelverfahren“ (A 4 S 693/10) vorgelegt hat, nicht zum Erfolg seiner Klage. Dem Bericht ist zwar zu entnehmen, dass das Vorgehen der Regierung im Norden und Osten des Landes zur Verängstigung und Entfremdung der Minderheiten führe. Das aus dieser Behandlung aber ein systematisches Ausgrenzen der tamilischen Minderheit aus der staatlichen, übergreifenden Friedensordnung im Sinne einer Entrechtung abzuleiten wäre, ergibt sich weder aus diesem Bericht noch aus der Gesamtschau. Ebenso wenig lässt sich ein staatliches Verfolgungsprogramm hinsichtlich aller Tamilen oder auch nur der im wehrfähigen Alter befindlichen Gruppenmitglieder feststellen. Anderes kann möglicherweise für die im Zuge der Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen unmittelbar in den rehabilitation camps Inhaftierten oder die aus den Flüchtlingslagern „herausgefilterten“, in rehabilitation camps verbrachten Personen gelten. Jedoch ist ein solches systematisches Vorgehen gegenüber etwa in Colombo lebenden Tamilen nicht feststellbar.
75 
Die rechtliche Einschätzung zur fehlenden begründeten Furcht vor einer Gruppenverfolgung entspricht auch der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteile vom 08.07.2009 - 3 A 3295/07.A - und vom 24.08.2010 - 3 A 864/09.A -) und - der Sache nach - des UK Asylum and Immigration Tribunal (TK (Tamils - LP updated) Sri Lanka CG [2009]UKAIT 00049 RdNr. 73).
76 
bb) Erst recht ist die Annahme einer Gruppenverfolgung zum derzeitigen Zeitpunkt (Oktober 2016) nicht gerechtfertigt.
77 
(1) In Sri Lanka leben nach Auskunft des Auswärtigen Amts (Länderinformation, Stand: Februar 2015) 20,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Sri-Lanka-Tamilen beträgt 11,2 % (auch Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7); es ist mithin von etwa 2,3 Millionen Volkszugehörigen auszugehen. „Indian Tamils“ machen 4,2 % der Bevölkerung aus.
78 
Am 08.01.2015 wurde Maithripala Sirisena bei der Präsidentenwahl, bei der die Wahlbeteiligung bei 81,5 % lag, zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er setzte sich mit 51,28 % der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Rajapaksa durch, der 47,58 % erhielt. Am 17.08.2015 fanden Parlamentswahlen statt, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts frei und fair waren (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6). Die Tamilenpartei ITAK erhielt 4,62 % der Stimmen und damit 16 Mandate, sie stellt mit Rajavarothiam Sampanthan den Oppositionsführer (a.a.O.).
79 
Mit dem Amtsantritt Sirisenas am 09.01.2015 hat sich die politische Situation in Sri Lanka nach Einschätzung des Auswärtigen Amts (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5) erheblich zum Positiven verändert. Demokratie und Rechtsstaat seien gestärkt worden. Die Menschenrechte, insbesondere die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden wieder respektiert. Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition seien nicht mehr eingeschränkt (a.a.O. S. 7). Menschenrechtsorganisationen hätten größere Freiräume (a.a.O. S. 6). So genannte Verschwundenen-Fälle seien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht mehr bekannt geworden (a.a.O. S. 12).
80 
Das Auswärtige Amt merkt in seinem jüngsten Lagebericht aber auch an, dass insbesondere im Norden und Osten noch nicht alle Menschenrechtsverletzungen abgestellt seien (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Einzelne Menschenrechtsvertreter würden dort vom Sicherheitsapparat verfolgt und ihre Gesprächspartner würden gelegentlich noch von Sicherheitskräften ausgefragt (a.a.O. S. 6, auch S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte von Menschenrechtsverteidigern zu Überwachungen durch die Polizei und das Militär im Norden und Osten sowie Befragungen). Die Polizei wende mitunter noch immer unverhältnismäßigen Zwang an (a.a.O. S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Beschwerden über die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen). Als Beispiel nennt das Auswärtige Amt die Beendigung friedlicher Studentendemonstrationen mittels Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken (a.a.O. S. 7); es verweist zudem auf Angaben Internationaler Organisationen und Presseberichte, wonach Folter weiterhin gelegentlich zur Erpressung von Geständnissen angewandt wird (a.a.O. S. 11; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte über Folter und andere Misshandlungen). Auch sollen Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen sowie in Gefängnissen weiter vorkommen (a.a.O. S. 12).
81 
Amnesty International (Amnesty Report 2016, Sri Lanka) verweist darüber hinaus auf Berichte über ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam; Häftlinge würden häufig an Verletzungen sterben, die den Schluss zuließen, dass sie gefoltert und misshandelt worden seien.
82 
Nach Angaben des Auswärtigen Amts hat die neue Regierung zahlreiche Schritte unternommen, um die Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Land voranzubringen (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Sie suche aktiv den Dialog mit der tamilischen Diaspora (auch a.a.O. S. 10). Amnesty International berichtet zudem darüber (Amnesty Report 2015, Sri Lanka), dass im Jahr 2015 am Jahrestag der Beendigung des bewaffneten Konflikts öffentliche Gedenkfeiern von Tamilen im Wesentlichen erlaubt waren (vgl. auch Human Rights Watch, Sri Lanka After the Tigers, 19.02.2016, mit dem Hinweis, dass Gedenkfeiern für verstorbene Tamilen mittlerweile erlaubt seien), und fügt hinzu, dass über eine starke Polizeipräsenz bei derartigen Zusammenkünften berichtet worden sei (vgl. auch Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Insbesondere Human Rights Watch macht aber auch darauf aufmerksam, dass ein Erfolg versprechender Versöhnungsprozess, der unter anderem auch eine Aufarbeitung der beiderseitigen Kriegsverbrechen beinhaltet, noch nicht wirklich ins Werk gesetzt worden ist (vgl. etwa die Beiträge „Time to seize the Moment“ [25.05.2016] und „Unfinished Business in Sri Lanka“ [01.09.2016]).
83 
Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts gibt es gegenüber Tamilen im Norden und Osten seit dem Amtsantritt Sirisenas „keine direkten staatlichen Repressionen mehr“ (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7). In Sri Lanka gebe es keine diskriminierende Gesetzgebung, Verwaltungspraxis oder Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis (a.a.O. S. 8). Der von der Polizei angewendete unverhältnismäßige Zwang richte sich nicht gegen eine bestimmte Gruppe (a.a.O. S. 7). Während die Anwendung von Folter früher vor allem Tamilen betroffen habe, sollen mittlerweile Singhalesen in gleichem Maß betroffen sein (a.a.O. S. 11 unter Berufung auf Berichte von Human Rights Watch und lokale Menschenrechtsorganisationen; Human Rights Watch [Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016] spricht von „continued reports of the torture of detainees“ [fortgesetzten Berichten über die Folter von Inhaftierten]).
84 
Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass der infolge des langjährigen Bürgerkriegs umfassende Sicherheitsapparat nach Ende des Konflikts 2009 kaum reduziert wurde und insbesondere im Norden und Osten noch stark vertreten ist (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6, auch S. 7; vgl. auch Human Rights Watch, Unfinished Business in Sri Lanka, 01.09.2016). Es verweist zudem darauf, dass nach Angaben der sri-lankischen NGO Groundviews 2015 noch immer mindestens 181 von ehemals ca. 12.000 LTTE-Mitgliedern oder -Symphatisanten, die sich bei Kriegsende gestellt hätten, ohne Gerichtsurteil inhaftiert seien; bis November 2015 seien 38 davon gegen Kaution freigelassen worden (a.a.O. S. 12).
85 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 „Sri Lanka: Gefährdung bei Rückkehr und Zugang zu medizinischer Versorgung in Haft“ darauf hin (S. 3), dass Berichte der NGO Freedom from Torture und International Truth & Justice Project Sri Lanka vom Januar 2016 insgesamt 27 Fälle dokumentierten, in denen tamilische Personen durch sri-lankische Sicherheitskräfte gefoltert, willkürlich verhaftet oder entführt worden seien. Der jüngste in dem letztgenannten Bericht dokumentierte Fall (von insgesamt 20 Fällen) habe sich im Dezember 2015 zugetragen (vgl. a.a.O. S. 4). Während der Verhöre seien mehrere der Betroffenen beschuldigt worden, die LTTE wiederaufbauen zu wollen oder das Land in Unruhe zu bringen. 19 der Personen seien Opfer von Entführungen mittels weißer Lieferwagen geworden („White Van Abduction“). 16 der Personen hätten in der Vergangenheit eine Funktion der LTTE auf niedriger Stufe gehabt.
86 
Der Prevention of Terrorism Act (s. o. aa und a) ist weiterhin in Kraft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7 und 12; auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, und Human Rights Watch, UN Human Rights Council: High Commissioner’s Report on human rights of Rohingya Muslims and other minorities in Burma/Maanmar and on Sri Lanka, 30.06.2016). Das Auswärtige Amt führt aus, die Regierung gebe an, 181 Personen seien auf seiner Grundlage inhaftiert, wobei die Mehrheit tamilischer Herkunft sei, die Zivilgesellschaft gehe hingegen von rund 250 Personen aus (a.a.O. S. 7). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist darauf, dass verschiedene Schätzungen „sich auf bis über 200 Personen“ beliefen (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6). Amnesty International zitiert eine Erklärung des Oppositionsführers Sampanthan vor dem Parlament, dass noch 217 Personen auf der Grundlage der Bestimmungen des PTA inhaftiert seien (Amnesty Report 2016, Sri Lanka). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird er „weiterhin eingesetzt, um tamilische Personen zu verhaften, welche der angeblichen Verbindungen zur LTTE verdächtigt werden“ (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6; entsprechend Amnesty Report 2016, Sri Lanka; ferner Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Die Flüchtlingshilfe verweist auch auf eine sri-lankische Zeitung, die von Verhaftungen von Militärpersonal unter dem PTA berichtet hat.
87 
Rückkehrer müssen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich keine staatlichen Repressalien gegen sich fürchten, jedoch müssen sie sich nach Rückkehr Vernehmungen durch die Immigration, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department stellen; ob es zur Anwendung von Gewalt kommt, ist nicht bekannt (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 13). Mit solchen Vernehmungen ist insbesondere zu rechnen, wenn die rückkehrende Person keinen gültigen sri-lankischen Reisepass vorlegen kann; Fälle diskriminierender Behandlung solcher Personen (auch von Tamilen) sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (a.a.O. S. 14). Bei der Einreise mit gültigem sri-lankischem Reisepass würden die Einreiseformalitäten zumeist zügig erledigt; dies gelte auch für Zurückgeführte (a.a.O. S. 14).
88 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 aus (S. 1), dass es auch nach Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Verhaftungen von tamilischen Rückkehrenden kam. Die Verhaftungen schienen oft mit angeblichen Verbindungen zur LTTE zusammenzuhängen. Eine zuvor erfolgte illegale Ausreise könne bei der Rückkehr ebenfalls zu einer Verhaftung führen. Die Flüchtlingshilfe führt nach diesen einleitenden Bemerkungen unter Berufung auf verschiedene Quellen einzelne Fälle auf. So verweist sie zunächst auf einen Bericht der Zeitung Ceylon News vom 19.04.2016, wonach ein aus Mullaitivu stammender Tamile bei seiner Rückkehr aus Doha am 12.04.2016 durch das Terrorist Investigation Department am Flughafen aufgegriffen und anschließend sieben Stunden verhört worden sei (a.a.O. S. 1 f.). Anschließend sei er mit der Aufforderung freigelassen worden, am nächsten Morgen das TID-Büro in Colombo aufzusuchen. Am folgenden Tag sei er dort verhaftet worden. Die Flüchtlingshilfe spricht außerdem etwa den Fall eines tamilischen Journalisten an, der nach seiner Rückkehr nach Sri Lanka durch die sri-lankischen Behörden verhaftet worden sei (a.a.O. S. 2). Der Journalist und Aktivist sei im Jahr 2012 nach Australien geflohen und habe sich aufgrund der positiven Signale der aktuellen sri-lankischen Regierung für die Rückkehr entschieden. Er sei nach der Inhaftierung auf Kaution freigelassen worden. Ihm seien aber Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt worden und er müsse sich jeden Monat im berüchtigten vierten Stock des Hauptquartiers des CID in Colombo melden. Unter Berufung auf TamilNet führt die Flüchtlingshilfe auch aus, dass viele tamilische Rückkehrende aus dem Nahen Osten in der jüngsten Zeit durch den sri-lankischen Militärgeheimdienst verhaftet worden seien (a.a.O. S 2). Die Flüchtlingshilfe zitiert schließlich etwa auch aus einem Bericht der International Crisis Group, wonach weiterhin rückkehrende tamilische Personen unter Anwendung des Prevention auf Terror Act (PTA) wegen des Verdachts auf zurückliegende LTTE-Verbindungen verhaftet würden; viele würden in durch das Militär betriebene Rehabilitationsprogramme geschickt.
89 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe trägt in der Auskunft vom 22.04.2016 auch vor, dass das International Truth & Justice Project Sri Lanka im Januar 2016 zu dem Schluss gekommen sei, dass tamilische Personen, welche aus dem Ausland zurückkehrten, überwacht würden (a.a.O. S. 4). So gebe es weiterhin ein umfangreiches Netzwerk von tamilischen Informanten, welche Rückkehrende beobachteten. Das sichere Verlassen des Flughafens sei deswegen keine Garantie für die spätere Sicherheit. Die Flüchtlingshilfe gibt ferner die Einschätzung von International Truth & Justice Project wieder, dass es für tamilische Personen im Ausland noch nicht sicher sei, nach Sri Lanka zurückzukehren, wenn die betroffene Person in der Vergangenheit eine Verbindung zur LTTE aufweise (a.a.O. S. 5).
90 
(2) Diese Erkenntnisse lassen, selbst wenn sich alle Angaben zu flüchtlingsschutzrelevanten Menschenrechtsverletzungen als zutreffend erweisen sollten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Schluss auf eine Gruppenverfolgung von Tamilen, auch nicht vom männlichen Tamilen aus dem Norden, zu. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Auch die Zahl an Verhaftungen und Überwachungen von Tamilen sowie an ihnen gegenüber vorgenommene Handlungen, die als Folter einzustufen sind, lässt nicht annähernd auf die Gefahr schließen, dass (nahezu) jedes Gruppenmitglied mit solchen Maßnahmen zu rechnen hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht jede Verhaftung mit anschließendem Verhör schon eine Menschenrechtsverletzung darstellt.
91 
Der nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bestehenden, im Vergleich zu den Jahren 2008 und 2010 deutlich verbesserten Gesamtsituation der Tamilen in Sri Lanka hat der Kläger nichts entgegengehalten.
III.
92 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
93 
1. Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315; jüngst etwa Kammerbeschluss vom 09.03.2016 - 2 BvR 348/16 - juris Rn. 12). Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung (BVerfGE 80, 315). An gezielten Rechtsverletzungen fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfGE 80, 315, 335). Ob eine gezielte Verletzung von Rechten vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfGE 80, 315, 335).
94 
Das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG beruht auf dem Zufluchtgedanken, mithin auf dem Kausalzusammenhang Verfolgung - Flucht - Asyl (BVerfGE 80, 315, 344). Nach dem hierdurch geprägten normativen Leitbild des Grundrechts ist typischerweise asylberechtigt, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deswegen in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Atypisch, wenn auch häufig, ist der Fall des unverfolgt Eingereisten, der hier gleichwohl Asyl begehrte und dafür auf Umstände verweist, die erst während seines Hierseins entstanden sind oder deren erst künftiges Entstehen er besorgt (sog. Nachfluchttatbestände).
95 
Nach diesem normativen Leitbild des Asylgrundrechts gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfGE 80, 315, 344).
96 
Ergibt die rückschauende Betrachtung, dass der Asylsuchende vor landesweiter politischer Verfolgung geflohen ist, so kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter regelmäßig in Betracht. Ergibt sie eine lediglich regionale Verfolgungsgefahr, so bedarf es der weiteren Feststellung, dass der Asylsuchende landesweit in einer ausweglosen Lage war. Steht fest, dass Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates im beschriebenen Sinn unzumutbar war, so ist er gemäß Art. 16a Abs. 1 GG asylberechtigt, es sei denn, er kann in seinem eigenen Staat wieder Schutz finden. Daher muss sein Asylantrag Erfolg haben, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist; eine Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht geboten, wenn der Asylsuchende vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Gleiches gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische Fluchtalternative eröffnet.
97 
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (BVerfGE 80, 315, 345 f.). Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere unzumutbare Nachteile oder Gefahren.
98 
2. Der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten steht entgegen, dass nach Überzeugung des Senats die nach dem Vorbringen des Klägers fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe nicht der Wahrheit entspricht (s. o. II. 2.) und er zum Zeitpunkt der Ausreise nicht Mitglied einer verfolgten Gruppe war (s. o. II. 3. a) sowie er ein solches auch zum heutigen Zeitpunkt nicht ist (s. o. II. 3. b bb).
IV.
99 
Der Kläger hat weiterhin nicht den von ihm hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Plausible Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Sri Lanka ein ernsthafter Schaden i. S. v. § 4 Abs. 1 AsylG drohen könnte, bestehen nach dem Gesagten nicht.
V.
100 
Der Kläger hat schließlich auch nicht den weiter hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AsylG. Auch insoweit gilt, dass für den Senat kein Sachverhalt ersichtlich ist, der das Vorliegen der genannten Verbote zu begründen in der Lage wäre.
VI.
101 
Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen.
102 
1. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines Gutachtens eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht gerichtet ist, zielt der Antrag auf die Klärung einer Rechtsfrage, nicht aber auf eine dem (Sachverständigen-)Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Ermittlung der Rechtslage und die Anwendung der einschlägigen Vorschriften auf einen konkreten Fall ist ureigene Aufgabe der Rechtsprechung (vgl. § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 293 ZPO: s. a. Geimer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 293 Rn. 1, nicht zuletzt unter Hinweis auf den Grundsatz „iura novit curia“). Die Ermittlung der Rechtslage ist infolgedessen in aller Regel keine Tatsachenfeststellung. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der die Ermittlung ausländischen Rechts sowie der ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht der Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln ist (Urteil vom 19.07.2012 - 10 C 2.12 - NJW 2012, 3461 Rn. 16; kritisch dazu Geimer, a.a.O. Rn. 14). Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Auslegung und Anwendung auf seinen Fall der Kläger geklärt haben will, ist kein ausländisches Recht. Die EMRK gilt vielmehr in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307, 315); deutsche Gerichte haben sie wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfG, a.a.O. S. 317).
103 
b) Der Beweisantrag geht weiterhin von einer unzutreffenden Ausgangslage aus. Die Beklagte hat gegen das stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts das statthafte Rechtsmittel eingelegt; infolge des Suspensiveffekts (zunächst des Antrags auf Zulassung der Berufung, sodann der Berufung) war sie nicht verpflichtet, der ihr vom Verwaltungsgericht auferlegten Verpflichtung nachzukommen. Folglich hatte der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Rechtsstellung eines Asylberechtigten inne.
104 
c) Die Auffassung des Klägers, der Senat sei infolge der Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof daran gehindert, auf die Berufung der Beklagten das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern, teilt der Senat nicht. Er vermag weder dem vom Kläger ausdrücklich angesprochenen Art. 3 EMRK noch dem von ihm der Sache nach angesprochenen Art. 4 EMRK auch nur im Ansatz eine derartige Wirkung zu entnehmen. Dem Kläger ist zwar zuzugestehen, dass das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unangemessen lange gedauert haben dürfte (vgl. § 173 Satz 2 VwGO i. V. m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Rechtsfolge einer unangemessenen Verfahrensdauer - die der Kläger allerdings nicht mit einer Verzögerungsrüge (vgl. § 198 Abs. 3 GVG) beanstandet hat - ist indessen grundsätzlich eine angemessene Entschädigung in Geld. Dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer über das Fehlen materieller Anspruchsvoraussetzungen hinweghelfen könnte, ist gesetzlich nicht vorgesehen und es besteht aus Sicht des Senats auch kein Anlass für eine hierauf gerichtete - was ihre Zulässigkeit angeht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 - 1 BvR 918/00 - BVerfGE 128, 193), problematische - richterliche Rechtsfortbildung. Auch der Kläger nennt keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die auch nur einen Ansatz für seine Auffassung bieten könnte.
105 
2. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gerichtet ist, handelt es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag. Ein solcher liegt vor, wenn Behauptungen ins Blaue hinein aufgestellt werden (vgl. Senatsurteil vom 12.03.2015 - 10 S 1169/13 - juris Rn. 133). Hiervon ist auszugehen, wenn für den Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht (BVerwG, Beschluss vom 17.09.2014 - 8 B 15.14 - juris Rn. 10). So liegt es hier. Zum einen hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass er tatsächlich darauf vertraut hat, als Asylberechtigter anerkannt zu werden; das wäre schon deshalb veranlasst gewesen, weil der Kläger bereits mit der Stellung des Zulassungsantrags damit rechnen musste, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben würde. Zum anderen und vor allem gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger infolge der Zurückweisung der Berufung psychisch erkranken würde. Der Kläger hat nicht vorgetragen, geschweige denn - etwa mittels Vorlage eines ärztlichen Schreibens - untermauert, gegenwärtig an einer psychischen (Grund-)Erkrankung zu leiden, die sich im Fall einer Klageabweisung verschlechtern würde.
106 
b) Abgesehen davon ist der Beweisantrag auch aus dem Grund abzulehnen, dass die vom Kläger in den Raum gestellte „gravierende psychische Reaktion … auch im Sinne einer psychischen Erkrankung“ keine entscheidungserhebliche Tatsache ist. Eine eventuelle psychische Erkrankung könnte im Rahmen der vorliegenden Klage lediglich Bedeutung hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Bedeutung erlangen. Hierfür ist erforderlich, dass sich eine vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leben und Leib führt, d. h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach Rückkehr droht. Der Kläger stellt hier schon nicht eine Erkrankung unter Beweis, die bereits vorhanden ist, er behauptet vielmehr, im Fall der Abweisung seiner Klage zu erkranken. Hinzu kommt, dass von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht Schutz vor Abschiebung nicht bei Vorliegen jeglicher Erkrankung gewährt wird. Vielmehr schützt die Vorschrift nur vor einer erheblichen und alsbaldigen Verschlimmerung für den Fall einer Rückkehr. Darum geht es dem Kläger aber mit seinem Beweisantrag nicht.
VII.
107 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.
108 
Ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.

Gründe

 
22 
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Denn auf diese Möglichkeit war in der Ladung zum Termin hingewiesen worden (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
23 
Die nach Zulassung durch den 12. Senat des erkennenden Gerichtshofs statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Denn die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (I.) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (II.), keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (III.), keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (IV.) und keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots (V.). Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen (VI.).
I.
24 
Für die Beurteilung des Begehrens des Klägers ist auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG). Maßgeblich in rechtlicher Hinsicht ist deshalb das zuletzt durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31.07.2016 (BGBl I S. 1939) geänderte Asylgesetz.
25 
Die erstinstanzlich gestellten Klageanträge sind im Hinblick auf die aktuelle Rechtslage, insbesondere auf die seit 01.12.2013 geltenden §§ 3 ff. AsylG (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl I S. 3474), wie folgt zu verstehen und entsprechend in der mündlichen Verhandlung gestellt worden:
26 
Der auf die Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag ist weder durch die genannte noch durch sonstige Gesetzesnovellen berührt worden.
27 
Der auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG in der zum Zeitpunkt des Ergehens des verwaltungsgerichtlichen Urteils geltenden Fassung gerichtete erste Hilfsantrag ist nunmehr als Antrag auf die Verpflichtung zur Gewährung subsidiären Schutzes auszulegen. Denn in § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind die bisher in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbote zusammengefasst worden (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 25).
28 
Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG „höchsthilfsweise“ gestellte Hilfsantrag kann ohne Änderung weiterverfolgt werden; die Vorschriften sind nicht geändert worden.
II.
29 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG.
30 
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9; so genannte Qualifikationsrichtlinie - QRL -) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 24 a.E.).
32 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
33 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 26 m.w.N.).
34 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 27 ff.). Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchstabe d QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 = NVwZ 2013, 936 Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
35 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
36 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
37 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (zur so genannten Gruppenverfolgung vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 30 ff.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
38 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die auch vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylG, Art. 8 QRL).
39 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie durch § 3c Nr. 3 AsylG (vgl. Art. 6 Buchstabe c QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
40 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 und 2 AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit.
41 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 34 m.w.N.). Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden mit Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
42 
2. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nicht aus individuellen Verfolgungsgründen zuzuerkennen. Der Senat konnte aufgrund des bisherigen Ablaufs des Asylverfahrens und insbesondere aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des in ihr von seiner Person gewonnenen Eindrucks nicht die erforderliche Überzeugung davon gewinnen, dass die nach seinem Vorbringen fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe der Wahrheit entspricht. Vielmehr spricht nach Auffassung des Senats vieles dafür, dass der Kläger den wahren Grund für seine Ausreise nach wie vor für sich behält.
43 
An der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen zunächst aus dem Grund ganz erhebliche Zweifel, dass er im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Einreise im September 2008 nicht miteinander in Einklang zu bringende Angaben zu den Gründen seiner Flucht gemacht hat. So gab er bei der Bundespolizei im Wesentlichen an, er habe schon seit zwei Jahren versucht, Sri Lanka zu verlassen, sei seit über zehn Jahren Mitglied der LTTE, habe lange Zeit das sri-lankische Militär mit Bargeld bestochen und müsse damit rechnen, vom Militär grundlos verhaftet zu werden. Von einer Entführung und Erpressung durch Mitglieder tamilischer regierungsnaher Organisationen war nicht im Ansatz die Rede. Es besteht für den Senat keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass der Kläger die in den Wortprotokollen über die Vernehmungen niedergelegten Angaben gemacht hat. Nicht zuletzt wurden die Vernehmungen, bei denen ein Dolmetscher für die tamilische Sprache eingebunden war, ausweislich von beigefügten Vermerken dem Kläger vorgelesen und von ihm genehmigt. Plausible Gründe dafür, dass die Vernehmungen unrichtig wiedergegeben worden sein könnten, hat der Kläger im Übrigen auch in der mündlichen Verhandlung nicht gemacht; er hat sich - darauf angesprochen - mehrmals darauf beschränkt zu bestreiten, die in den Protokollen festgehaltenen Angaben gemacht zu haben. Eine ganz andere Verfolgungsgeschichte hat der Kläger dann in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt: Grund für seine Ausreise sei gewesen, dass Leute ihn mitgenommen und von ihm Geld verlangt hätten; dann hätten sie ihn wieder gehen lassen. Auf Nachfragen des Anhörenden berichtete er unter anderem, die Entführung habe am 14.04.2008 stattgefunden, er sei sechs Tage in einem Haus festgehalten und ihm sei dann eine dreimonatige Zahlungsfrist gewährt worden.
44 
Die angebliche Entführung und Erpressung hat der Kläger dann auch in der mündlichen Verhandlung als Ereignis genannt, das bei ihm erst den Entschluss zur Flucht ins Ausland hat reifen lassen. Allerdings konnte er dem Senat nicht den Eindruck vermitteln, von etwas tatsächlich Erlebtem zu berichten; es spricht vielmehr viel dafür, dass der Kläger ein Schicksal, das andere Personen erlitten haben, auf sich projiziert hat. Auf die eingangs seiner Anhörung gestellte Frage nach dem Grund seiner Ausreise nannte der Kläger in einigen wenigen Sätzen lediglich Eckpunkte der angeblichen Entführung und Erpressung. Wesentlich ausführlicher, detailreicher und nach Einschätzung des Senats durchaus glaubhaft wurden dann erst die Schilderungen seines Reisewegs, auf die sich die Fragestellung indes überhaupt nicht erstreckte. Die gezielten Nachfragen brachten dann auch keine Ausführungen, die den Schluss zulassen könnten, dass sich das Geschehen tatsächlich so wie vom Kläger behauptet ereignet hat. In diesem Zusammenhang merkt der Senat an, dass ihm selbstverständlich bewusst ist, dass die Erinnerung an Ereignisse mit zunehmendem Zeitablauf nachlässt; allerdings wäre die vom Kläger behauptete Entführung und Erpressung ein so einschneidendes Ereignis gewesen, dass auch nach über acht Jahren zu erwarten gewesen wäre, dass der Kläger zumindest einige für die Richtigkeit seiner Angaben sprechende Details hätte schildern können. Das hat er indes nicht getan. Auf die gezielten Fragen antwortete er meist wortkarg. Einzelheiten zu dem Raum etwa, in dem er immerhin sechs Tage festgehalten worden sein will, konnte er mit Ausnahme solcher, die letztlich nur ein geringes Maß an Einfallsreichtum erfordern (angebliche Größe, weiße Wandfarbe, Licht an der Decke) nicht liefern. Angaben dazu, ob der Raum Fenster hatte, wie er möbliert war und dabei insbesondere, ob er eine als solche zu bezeichnende Schlafgelegenheit hatte, wie sie eigentlich zu erwarten gewesen wären, machte der Kläger nicht. Auf die Forderungen der Entführer angesprochen verwies der Kläger stets nur auf deren Verlangen von Geld. Mit welchen Nachteilen die Entführer für den Fall der Nichtzahlung gedroht haben, war dem Kläger keiner nähren Erwähnung wert. Blass blieben auch die Ausführungen zu der angeblichen Folter. Nachdem er zunächst lediglich die Behauptung von Folter in den Raum gestellt hatte, verwies er auf Nachfrage nur darauf, dass er geschlagen worden sei. Auf weitere Nachfrage gab er sodann an, er sei mit Stiefeln getreten und mit einem Holzknüppel geschlagen worden. Wie viele Personen ihn angeblich geschlagen und getreten haben, welche Körperstellen betroffen waren und ob und welche Verletzungen er infolge der Misshandlungen erlitten hat, blieb unerwähnt. Hinzu kommt, dass es sich insoweit um gesteigertes Vorbringen handelt, da der Kläger die Thematik „Folter“ erstmals vor dem Senat erwähnt hat. Auf entsprechenden Vorhalt hat er lediglich erklärt, er sei wohl bei seiner Anhörung nicht ausdrücklich danach gefragt worden. Sollte er allerdings tatsächlich gefoltert worden sein, erscheint es fernliegend, dass er auf diesen Umstand nicht von sich aus hingewiesen hätte.
45 
Gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal sprechen auch seine Angaben zu dem weiteren Geschehen nach seiner angeblichen Freilassung. Davon, dass die Erpresser bereits im Juni 2008 bei ihm zu Hause vorbeigekommen seien, wie er es in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt hat, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht berichtet. Vielmehr verwies er darauf, dass die Erpresser seine bisherige Unterkunft am 20.07.2008, dem Tag des angeblichen Fristablaufs, aufgesucht hätten. Diese Angabe passt allerdings in keiner Weise zu den Ausführungen seiner Ehefrau in dem dem Bundesamt vorgelegten Brief vom 15.10.2008, wonach die Entführungsbande jetzt häufiger zu ihr nach Hause komme. Erst nach zahlreichen, eindringlichen Nachfragen, nicht zuletzt seines Prozessbevollmächtigten, gab der Kläger an, dass es auch nachfolgend - zuletzt im Jahr 2009 oder im Jahr 2010 - Probleme gegeben habe. In diesem Zusammenhang hat der Kläger auch einerseits angegeben, seine Ehefrau lasse sich durch ihren Bruder bei Besuchen der Erpresser verleugnen. Andererseits gab der Kläger an, es gebe Probleme, wenn die Erpresser seine Ehefrau sehen.
46 
Offenbleiben kann nach Vorstehendem, ob die Entführung und Erpressung überhaupt von flüchtlingsschutzrelevanter Bedeutung gewesen wären. In Betracht käme hier lediglich eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Der Kläger hat auf die Frage, weshalb er als Opfer der Entführung und Erpressung ausgewählt worden sei, geantwortet, dies sei geschehen, weil er wohlhabend gewesen sei. Diese Aussage ist zunächst erstaunlich, will der Kläger die - nach seiner Angabe in der mündlichen Verhandlung, die nicht mit der Angabe in der Anhörung beim Bundesamt übereinstimmt (damals: drei Millionen Rupien) - für die Organisation der Ausreise gezahlten zwei Millionen Rupien insbesondere durch den Verkauf von Goldschmuck seiner Frau und die Aufnahme eines Darlehens aufgebracht haben. Der Aussage lässt sich aber vor allem entnehmen, dass sich der Kläger zumindest im Wesentlichen als Opfer krimineller Machenschaften sah; eine Verbindung mit seiner tamilischen Volkszugehörigkeit oder gar seiner behaupteten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE war für den Senat nicht erkennbar.
47 
Eine staatliche Verfolgung hat der Kläger schon nicht als Grund für seine Ausreise behauptet. Nicht zuletzt da dem Kläger offensichtlich ohne Probleme ein Reiseausweis ausgestellt wurde und er legal und ungehindert das Land verlassen konnte, bestehen hierfür auch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die vom Kläger erst auf Nachfragen angeführten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE (Helfen beim Aufbauen und Dekorieren einer Bühne) waren, die Richtigkeit der Angaben unterstellt, allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Dass er konkret durch sie ins Visier der Sicherheitskräfte geraten sein könnte, hat er bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung gerade nicht vorgetragen. Es blieb insoweit bei der allgemein gehaltenen Behauptung, Armeeangehörige hätten die Veranstaltungen an den Großheldentagen überwacht.
48 
3. Auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung kommt nicht in Betracht.
49 
Tamilen waren zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im August 2008 keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt (dazu a). Sie sind es auch heute nicht (dazu b).
50 
a) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers und bezogen auf den Zeitpunkt seiner Ausreise im Wesentlichen wie im Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 09.11.2010 (A 4 S 703/10, juris) bezogen auf das Jahr 2007 dar. Dort heißt es (a.a.O. Rn. 46 ff.):
51 
Die Lage in Sri Lanka stellte sich 2007 nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
52 
In Sri Lanka lebten 2007 geschätzt 20,01 Millionen Menschen. Der Anteil der tamilischen Bevölkerung lag ungefähr bei 10 % (Fischer-Weltalmanach 2010, S. 474). Nach den Angaben des Ministeriums für Volkszählung und Statistik lebten 2006 im Großraum Colombo 2.251.274 Einwohner, davon waren 247.739 tamilische Volkszugehörige sri-lankischer Staatsangehörigkeit und 24.821 indische Tamilen (vgl. UK Home Office, Country of Origin Report Sri Lanka vom 15.11.2007, S. 122, Nr. 20.13).
53 
Die innenpolitische Lage Sri Lankas war von dem jahrzehntelangen ethnischen Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen bestimmt. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung [und] der tamilischen Rebellenorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) aus dem Februar 2002 war von Präsident Rajapakse im Januar 2008 offiziell aufgekündigt worden, nachdem es von beiden Seiten seit langem nicht mehr eingehalten worden war. Bereits ab November 2005 war es zu einer drastischen Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch die LTTE und die im Jahr zuvor von ihr abgespaltene, mit der Regierung kollaborierende Karuna-Gruppe unter „Oberst Karuna“ (Muralitharan Vinayagamurthi), einem ehemaligen Vertrauten des LTTE-Führers Prabahakaran, gekommen. Seit April 2006 hatte die Regierung versucht, die LTTE, die zu diesem Zeitpunkt noch den Norden und Osten des Landes kontrollierte, mit offensiven Maßnahmen zurückzudrängen. Ab Mitte 2006 war es dann zu großflächigen, längeren Kampfhandlungen gekommen. Unterstützt von den paramilitärischen Einheiten der Karuna-Gruppe, die sich als Vertretung der Ost-Tamilen verstand, konnten die Streitkräfte im Juli 2007 nach den vorhergehenden Rückzug der LTTE-Soldaten die letzten von der LTTE gehaltenen Stellungen im Osten Sri Lankas einnehmen (Lagebericht des AA vom 07.04.2009, Stand März 2009, S. 5).
54 
Eine systematische und direkte Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen Rasse, Nationalität oder politischer Überzeugung von Seiten der Regierung fand seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 nicht statt (Lageberichte des AA vom 26.06.2007, Stand Juni 2007, S. 6 und vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 7). Allerdings standen Tamilen im Generalverdacht, die LTTE zu unterstützen, und mussten mit staatlichen Repressionen rechnen. Sie wurden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt. Sie sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, Pkw-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richteten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des „Terrorism Prevention Act“ Ende 2006 - ein Notstandsgesetz, das Verhaftungen ohne Haftbefehl und eine Inhaftierung bis zu 18 Monaten erlaubt, wenn die Behörden insbesondere den Verdacht terroristischer Aktivitäten haben (vgl. SFH, Sri Lanka, Aktuelle Situation, Update vom 11.12.2008, S. 3) - war die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wurde, musste mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung hat kommen müssen (Lagebericht des AA vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 8). So wurden am 30. und 31.12.2005 im Rahmen der von Militär und Polizei in Colombo durchgeführten Operation „Strangers Night III.“ 920 Personen, die weit überwiegende Mehrheit Tamilen, verhaftet (Human Rights Watch, Return to War - Human Rights under Siege - August 2007, S. 74).
55 
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in seiner Stellungnahme zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka vom 01.02.2007, die eine Zusammenfassung und Teilübersetzung der „UNHCR Position on the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Sri Lanka (December 2006)“ enthält, unter anderem ausgeführt, dass von der sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage im besonderem Maße Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes betroffen seien. Aus der Stellungnahme ergibt sich, dass bei dem Verdacht, dass sie Verbindungen zur LTTE unterhalten, Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen Behörden oder mutmaßlich von der Regierung gestützte Paramilitärs drohten (S. 2). Für Tamilen aus Colombo bestand aufgrund der im April bzw. Dezember 2006 drastisch verschärften Sicherheitsbestimmungen ein erhöhtes Risiko, willkürlichen, missbräuchlichen Polizeimaßnahmen - insbesondere Sicherheitskontrollen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Hausdurchsuchungen oder Leibesvisitationen - unterworfen zu werden. Tamilen aus Colombo waren darüber hinaus besonders gefährdet, Opfer von Entführungen, Verschleppungen oder Tötungen zu werden. Zwischen dem 20.08.2006 und dem 02.09.2006 waren Presseberichten zufolge mehr als 25 Tamilen entführt worden, nur zwei Personen waren bis zum Dezember 2006 wieder freigekommen (S. 2 f.). Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der dauernden Bedrohung durch terroristische Attacken im Großraum Colombo waren teilweise für die gesamte tamilische Minderheit bedrohlich und stellten ihre Sicherheit in Frage. Extralegale Tötungen, die seit jeher Teil des Konflikts gewesen waren, wurden seit Dezember 2005 auch in signifikanter Zahl von Regierungsseite verübt. Viele Taten sind an gewöhnlichen Personen begangen worden, die kaum erkennbar in Verbindung zu dem Konflikt standen. Teilweise handelte es sich um Teile eines Musters, die LTTE anzugreifen, teilweise geschahen sie aus politischen Motiven. Sie konnten aber auch einen kriminellen Hintergrund haben (Asylsuchende aus Sri Lanka, Position der SFH vom 01.02.2007 S. 5).
56 
Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht vom 14.06.2007 (Sri Lanka’s Human Rights Crisis, Asia Report N. 135) unter anderem festgehalten, dass die Anzahl der Verschwundenen in den letzten achtzehn Monaten nur schwerlich mit Sicherheit festzustellen sei. Verschiedene verlässliche Quellen berichteten von mehr als 1.500 Betroffenen, wobei das Schicksal von mindestens 1.000 Personen unklar gewesen sei. Die höchste Anzahl von Betroffenen sei in den von der Regierung kontrollierten Bereichen Jaffnas festzustellen gewesen. Dort seien 731 Fälle registriert worden, in 512 Fällen gebe es noch keine Aufklärung. Im Großraum Colombo sei es zu mehr als 70 berichteten Fällen von Entführungen und des Verschwindenlassens gekommen. Die meisten der Betroffenen seien junge tamilische Volkszugehörige gewesen, die der Zusammenarbeit mit der LTTE verdächtigt worden seien. Auch eine Vielzahl von Personen ohne Verbindung zur LTTE seien Opfer dieses Verschwindenlassens geworden.
57 
Human Rights Watch (HRW) geht in seinem Bericht aus dem August 2007 (Return to War - Human Rights under Siege -) davon aus, dass Entführungen und Fälle des Verschwindenlassens seit August 2006 auch in Colombo zu einer weitverbreiteten Erscheinung geworden seien. Die Organisation gelangt auf der Grundlage von Gesprächen mit 26 Familien von verschwundenen Personen zu dieser Aussage (S. 53 f.). Landesweit geht HRW für den Zeitraum vom 14.09.2006 bis zum 25.02.2007 von 2.020 Fällen Entführter oder sonst verschwundener Personen aus. „Ungefähr 1.134 Personen“ seien lebend wieder aufgefunden worden, die anderen seien weiterhin vermisst (S. 7).
58 
Nach dem Country Report on Human Rights Practices zu Sri Lanka des U.S. Department of State 2007 vom 11.03.2008 waren extralegale Tötungen in Jaffna an der Tagesordnung. Zwischen dem 30.11.2007 und dem 02.12.2007 sind nach zwei Bombenangriffen der LTTE in und um Colombo beinahe 2.500 tamilische Volkszugehörige in der Hauptstadt und geschätzte 3.500 Tamilen im ganzen Land verhaftet worden. Die Inhaftierten, überwiegend männliche tamilische Zivilisten sollen allein aufgrund ihrer tamilischen Nachnamen verhaftet worden sein. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wurde bald wieder freigelassen. Zum Jahreswechsel waren nur noch zwölf von 372 im Boosa detention camp Inhaftierten in Gewahrsam.
59 
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich selbst dann, wenn alle Angaben zutreffen sollten, zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Ende November 2007 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde keine Volksgruppe gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht ohne weiteres auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen. Selbst wenn alle Übergriffe im Großraum Colombo zwischen November 2005 und Dezember 2007 dem sri-lankischen Staat zuzurechnen wären - tatsächlich sind dabei auch Übergriffe der LTTE und „rein kriminelle Übergriffe“ mit dem Ziel der Lösegelderpressung unter den registrierten Fällen - und alle Inhaftierungen - auch die von bloß kurzer Dauer von nicht mehr als drei Tagen - gezählt werden, ist das Verhältnis von 3.400 Verhaftungen zu mehr als 240.000 tamilischen Einwohnern angesichts des Zeitraums von zwei Jahren nicht geeignet, eine Regelvermutung der Gefährdung eines jeden Gruppenmitglieds zu rechtfertigen. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass 2.500 der Inhaftierten nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden sind und damit keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 RL 2004/83/EG erdulden mussten, ergibt sich eine Betroffenheit von 0,3 % der gesamten tamilischen Bevölkerung. Dieser - für die Bewertung des Standards der Achtung der Menschenrechte insoweit gleichwohl hohe - Prozentsatz der Betroffenen innerhalb eines Zweijahreszeitraums führt nicht zum Schluss auf die erforderliche aktuelle Gefahr der Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds.
60 
Zu einer anderen Beurteilung bezogen auf den Zeitpunkt August 2008 besteht kein Anlass. Auch der Kläger hat nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
61 
b) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers derzeit wie folgt dar:
62 
aa) Bezogen auf den Zeitpunkt November 2010 führte der erkennende Gerichtshof in seinem Urteil vom 09.11.2010 aus (a.a.O. Rn. 57 ff.):
63 
Am 19.05.2009 hat der sri-lankische Staatspräsident Mahinda Rajapakse in einer Parlamentsansprache den Sieg der Regierungstruppen über die tamilische Separatistenorganisation LTTE verkündet. Tags zuvor war nach den Angaben des Militärs bei einem der letzten Gefechte der LTTE-Anführer Velupillai Prabhakaran ums Leben gekommen, nachdem zuvor fast die gesamte militärische und politische Führung der LTTE umgekommen war. Der seit 1983 mit Unterbrechungen währende Bürgerkrieg war damit beendet (Lagebericht des AA vom 02.09.2009, Stand: August 2009, S. 6). Hunderttausende Menschen mussten während des Bürgerkriegs ihre Heimatorte im tamilischen Norden und Osten des Landes verlassen. Als Binnenvertriebene suchten sie Zuflucht in weniger gefährdeten Gebieten des Landes. Viele entschieden sich auch dafür, ins Ausland zu gehen. In der Ostprovinz konnten die Binnenvertriebenen inzwischen bis auf einige Ausnahmen in ihre Heimatgemeinden zurückkehren (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 8). Rund 300.000 Zivilpersonen waren in den letzten Monaten des Bürgerkriegs im von der LTTE gehaltenen, kontinuierlich schrumpfenden Gebiet eingeschlossen. Notgedrungen zogen sie mit den LTTE-Verbänden mit und waren in der zuletzt nur wenige Quadratkilometer ausmachenden Kampfzone im Nordwesten des Landes allen Schrecken dieser Kämpfe ausgesetzt. Nach deren Beendigung brachte sie die Armee in geschlossenen Lagern hauptsächlich in Vavuniya im nördlichen Vanni unter, zu denen nationale und internationale Hilfsorganisationen lange nur eingeschränkt Zugang hatten. Die Regierung begründete diese Lagerunterbringung mit der Notwendigkeit, sich unter den Binnenvertriebenen verbergende ehemalige LTTE-Kämpfer herauszufiltern, und der Unmöglichkeit, die Betroffenen in noch verminte Heimatorte zurückkehren zu lassen. Einigen wenigen wurde die Rücksiedlung im Juni 2009 gestattet. Im August 2009 begann dann sehr zögerlich ein Rücksiedlungsprozess, der im Oktober größeren Umfang annahm und sich ab Dezember wieder verlangsamte, da die Herkunftsorte der Verbliebenen (im Juni 2010 waren noch knapp 60.000 Personen in Lagern untergebracht) noch erheblich zerstört und vermint sind. Einem gesonderten Regime unterliegen die geschlossenen, so genannten „Rehabilitationslager“, in denen rund 8.000 ehemalige LTTE-Kämpfer (bzw. Personen, die insoweit verdächtigt werden) untergebracht sind. Zu diesen Lagern haben weder das IKRK noch Hilfsorganisationen Zugang. Die Antiterrorgesetze von 1979 (Prevention of Terrorism Act) haben weiter Bestand. Die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen insbesondere in Colombo, einschließlich der zahlreichen Kontrollpunkte von Polizei und Militär, werden aufrecht erhalten (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 9 f.).
64 
Zu den Insassen der „Rehabilitationslager“ hat Human Rights Watch festgestellt, dass zwar die meisten der Verdächtigten in den letzten Wochen der Kampfhandlungen und in der Zeit unmittelbar danach inhaftiert worden seien, dass aber auch neue Inhaftierungen, nämlich im Oktober 2009, erfolgt seien (Human Rights Watch, Legal Limbo - The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, Februar 2010, S. 6).
65 
In unterschiedlichen Bereichen kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen, die Anzeichen für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung aufweisen. Davon sind nicht nur Tamilen betroffen, sondern auch regierungskritische Singhalesen. So werden oppositionelle Parlamentsabgeordnete, die der Regierung gefährlich werden können, unter fadenscheinigen Vorwürfen verhört, verhaftet oder bedroht. Der Generalverdacht, dass jeder Tamile ein Anhänger, Unterstützer oder gar Mitglied der LTTE war und ist, wird im singhalesischen Teil der Gesellschaft von vielen geteilt, insbesondere bei den staatlichen Sicherheitskräften (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 10 f.).
66 
Für eine systematische Verfolgung von Tamilen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es keine Anhaltspunkte, sie müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien und Hausdurchsuchungen, schikanösen Behandlungen (Beleidigungen, langes Warten, exzessive Kontrolle von Fahrzeugen, Erpressung von Geldbeträgen) bei den zahlreichen Polizeikontrollen im Straßenverkehr und Verhaftungen richten sich vor allem gegen Tamilen, wobei aus dem Norden und Osten stammende Tamilen darunter noch in höherem Maße zu leiden haben. Durch Anwendung des Prevention of Terrorism Act ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder einer Anklageerhebung kommen muss. Die Situation hat sich seit Beendigung der Kampfhandlungen nicht verbessert (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 11).
67 
Ein Asylantrag im Ausland, der von vielen in Sri Lanka als legitimer Versuch angesehen wird, sich einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, begründet in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Sri Lanka niederlassen wollen, müssen indes einen Anfangsverdacht und entsprechendes Misstrauen bis zu Schikanen durch die Sicherheitsorgane gegenwärtigen. Mindestens ebenso stark steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Das Ende der Kampfhandlungen hat diesbezüglich nicht zu einer Entspannung geführt. Am 26.05.2010 wurde am Flughafen Colombo bei der Einreise eine in Deutschland ansässige Sri-Lankerin unter dem Verdacht der LTTE-Unterstützung festgenommen, die nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in Deutschland für die LTTE Gelder eingesammelt und im Frühjahr letzten Jahres Demonstrationen organisiert haben soll. Belastbaren Berichten anderer Botschaften zufolge gibt es Einzelfälle, in denen zurückgeführte Tamilen nach Ankunft in Colombo unter LTTE-Verdacht festgenommen wurden (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 24).
68 
Aus dem „Report of Information Gathering Visit to Colombo, Sri Lanka, 23. bis 29. August 2009“ vom 22.10.2009 des „U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate“ (FCO), für den sowohl staatliche sri-lankische Stellen als auch Nichtregierungsorganisationen befragt wurden, ergibt sich, dass unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit nicht freiwillig nach Sri Lanka zurückkehrende Personen dem Criminal Investigation Department zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und Kontrolle des Vorstrafenregisters überstellt werden. Die Befragung kann mehr als 24 Stunden dauern. Die Betroffenen werden erkennungsdienstlich behandelt. Abhängig vom Einzelfall ist eine Überstellung an den Geheimdienst (State Intelligence Service) oder das Terrorist Investigation Department zum Zwecke der Befragung denkbar. Jeder, der wegen eines Vergehens gesucht wird, muss mit seiner Verhaftung rechnen. Vorbestrafte oder Personen mit Verbindungen zur LTTE werden weitergehend befragt und gegebenenfalls in Gewahrsam genommen. Laut Nichtregierungsorganisationen würden Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes einer genaueren Überprüfung als andere unterzogen. Verschiedene Faktoren, nämlich ein offener Haftbefehl, Vorstrafen, Verbindungen zur LTTE, eine illegale Ausreise, Verbindungen zu Medien oder Nichtregierungsorganisationen und das Fehlen eines Ausweises (ID Card) oder anderer Personaldokumente, erhöhten das Risiko, Schwierigkeiten bei der Einreise zu bekommen, einschließlich einer möglichen Ingewahrsamnahme (S. 5). Hingegen konnte keine der befragte Quellen angeben, dass sichtbare Narben einen Einfluss auf die Behandlung bei der Einreise haben könnten. Im Falle, dass der Verdacht einer Verbindung zur LTTE bestünde, könnten solche Narben Anlass zu einer Befragung sein, jedoch würden diesbezüglich keine körperlichen Untersuchungen durchgeführt (S. 16).
69 
Überwiegend hätten die Befragten angegeben, dass die Anzahl der Razzien (cordon and search operations) in den letzten Monaten nicht zurückgegangen sei. Es gebe keine Informationen zu der Anzahl möglicher Festnahmen. Grundsätzlich seien junge männliche Tamilen, die aus dem Norden oder Osten des Landes stammten, im Zuge von Razzien einem besonderen Festnahmerisiko ausgesetzt. Die bereits genannten Faktoren erhöhten das Risiko. Tamilen ohne Beschäftigung oder „legitimen Aufenthaltsgrund“ würden ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit als verdächtig angesehen (S. 5).
70 
Nach ganz überwiegender Meinung der Befragten hat es - wenn überhaupt - seit Juni 2009 nur noch sehr wenige Entführungen / Fälle des Verschwindenlassens gegeben. Die Entführungen erfolgten demzufolge sowohl zur Lösegelderpressung als auch aus politischen Gründen. Die Nichtregierungsquellen stimmten weitgehend darin überein, dass die Sicherheitskräfte in den meisten Fällen in gewisser Weise beteiligt seien und die Polizei keine ernsthaften Ermittlungen durchführe (S. 5 f.). Bei den Straßenkontrollen im Großraum Colombo, die nach Angabe der meisten Befragten nicht nennenswert reduziert worden seien, würde es nur sehr selten zu Festnahmen kommen. Seit Juni 2009 seien keine bekannt geworden.
71 
Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.06.2010 und der (ältere) Bericht des U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate ergänzen sich. Jedenfalls die hier zitierten allgemeinen Feststellungen (S. 5 f.), die auf mindestens weit überwiegend übereinstimmenden Angaben der Befragten beruhen, sind geeignet, die insoweit knapper gehaltenen Aussagen der Lageberichte zu den Gefährdungen von Tamilen zu illustrieren. Eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen (im wehrfähigen Alter) lässt sich auf der Basis der wiedergegebenen Erkenntnisse nicht feststellen. Insbesondere angesichts des Umstands, dass Verhaftungen bei Razzien ebenso selten geworden sind wie an Straßenkontrollpunkten und Fälle des Verschwindenlassens ebenfalls kaum mehr vorkommen, lässt sich eine generelle staatliche oder staatlich tolerierte Verfolgung der Gruppe der Tamilen nicht feststellen. Anderes lässt sich auch nicht aus dem Fortbestehen der „rehabilitation camps“ schließen. Denn jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass nach deren Begründung noch Personen in einer für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller - jedenfalls der im wehrfähigen Alter befindlichen - Tamilen relevanten Größenordnung in diese Lager verbracht worden sind. Aus dem vom Kläger zitierten Bericht von Human Rights Watch, Legal Limbo, The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, ergibt sich unter Bezugnahme auf den „Indian Express“ vom 28. Oktober 2009, dass mindestens 300 LTTE Kader, die sich unter den Binnenvertriebenen versteckt hätten, verhaftet worden seien. Damit ist weder ein Bezug zu der Gruppe aller Tamilen oder jedenfalls derjenigen im wehrfähigen Alter aufgezeigt noch ergibt sich aus den berichteten Vorkommnissen, dass diese bis zum Tag der mündlichen Verhandlung gleichsam an der Tagesordnung gewesen wären.
72 
Die Einlassung des Klägers, aus dem zitierten Bericht von Human Rights Watch ergebe sich eine Zunahme der Fälle des Verschwindenlassens, vermag stichhaltige Indizien für eine Gruppenverfolgung aller (wehrfähigen) Tamilen nicht darzutun. Den dortigen Ausführungen im Unterkapitel „Concerns about Possible Enforced Disappearances“ sind vielmehr zunächst zwei Einzelfälle des Verschwindens nach Ende des Bürgerkriegs zu entnehmen. Darüber hinaus wird über eine Internierung von Dutzenden von Personen aus dem Lager „Menik Farm“ berichtet. Es wird weiter geschildert, dass das Schicksal der internierten Personen häufig - bis zum Tag des Berichts - unklar geblieben sei. Daraus lässt sich ein erhöhtes Risiko für solche Personen ableiten, die aus Sicht der Behörden im Verdacht stehen, mit der LTTE zusammengearbeitet haben, nicht jedoch eine Gruppenverfolgung aller (jungen männlichen) Tamilen. Der gegen alle Tamilen gerichtete so genannte „Generalverdacht“ führt offenkundig für sich genommen noch nicht regelmäßig zu Übergriffen der Sicherheitsbehörden. Vielmehr kommt es auf individuell gefahrerhöhende Umstände an, bei deren Vorliegen im Einzelfall eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen sein kann.
73 
Auch aus dem vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Gutachten des European Center for Constitutional and Human Rights „Study on Criminal Accoutability in Sri Lanka as of January 2009“ aus dem Juni 2010 lässt sich die von ihm behauptete Gruppenverfolgung nicht ableiten. Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der in den „welfare centers“ in Gewahrsam gehaltenen Personen von 280.000 (zwischen März 2008 und Juni 2009) bis in den Januar 2010 auf rund 80.000 abgenommen hat. Dem Bericht, der sich mit den Zuständen in den Lagern beschäftigt, ist nicht zu entnehmen, dass sri-lankische Staatsangehörige nach ihrer Wiedereinreise dazu gezwungen worden wären, in solchen Lagern zu leben. Weiter beschäftigt sich das Gutachten unter Zitierung des bereits erwähnten Berichts von Human Rights Watch aus dem Februar 2010 mit der Behandlung von der LTTE-Mitgliedschaft Verdächtigten. Auch diesen Ausführungen ist nichts zu einer anhaltenden Verhaftungswelle - wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung notwendig wäre - nach Beendigung des Bürgerkriegs und in den folgenden Monaten im Jahr 2009 zu entnehmen.
74 
Schließlich führt insoweit der Verweis des Klägers auf die Lageeinschätzung der International Crisis Group vom 17.02.2010, die sein Prozessbevollmächtigter im „Parallelverfahren“ (A 4 S 693/10) vorgelegt hat, nicht zum Erfolg seiner Klage. Dem Bericht ist zwar zu entnehmen, dass das Vorgehen der Regierung im Norden und Osten des Landes zur Verängstigung und Entfremdung der Minderheiten führe. Das aus dieser Behandlung aber ein systematisches Ausgrenzen der tamilischen Minderheit aus der staatlichen, übergreifenden Friedensordnung im Sinne einer Entrechtung abzuleiten wäre, ergibt sich weder aus diesem Bericht noch aus der Gesamtschau. Ebenso wenig lässt sich ein staatliches Verfolgungsprogramm hinsichtlich aller Tamilen oder auch nur der im wehrfähigen Alter befindlichen Gruppenmitglieder feststellen. Anderes kann möglicherweise für die im Zuge der Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen unmittelbar in den rehabilitation camps Inhaftierten oder die aus den Flüchtlingslagern „herausgefilterten“, in rehabilitation camps verbrachten Personen gelten. Jedoch ist ein solches systematisches Vorgehen gegenüber etwa in Colombo lebenden Tamilen nicht feststellbar.
75 
Die rechtliche Einschätzung zur fehlenden begründeten Furcht vor einer Gruppenverfolgung entspricht auch der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteile vom 08.07.2009 - 3 A 3295/07.A - und vom 24.08.2010 - 3 A 864/09.A -) und - der Sache nach - des UK Asylum and Immigration Tribunal (TK (Tamils - LP updated) Sri Lanka CG [2009]UKAIT 00049 RdNr. 73).
76 
bb) Erst recht ist die Annahme einer Gruppenverfolgung zum derzeitigen Zeitpunkt (Oktober 2016) nicht gerechtfertigt.
77 
(1) In Sri Lanka leben nach Auskunft des Auswärtigen Amts (Länderinformation, Stand: Februar 2015) 20,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Sri-Lanka-Tamilen beträgt 11,2 % (auch Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7); es ist mithin von etwa 2,3 Millionen Volkszugehörigen auszugehen. „Indian Tamils“ machen 4,2 % der Bevölkerung aus.
78 
Am 08.01.2015 wurde Maithripala Sirisena bei der Präsidentenwahl, bei der die Wahlbeteiligung bei 81,5 % lag, zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er setzte sich mit 51,28 % der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Rajapaksa durch, der 47,58 % erhielt. Am 17.08.2015 fanden Parlamentswahlen statt, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts frei und fair waren (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6). Die Tamilenpartei ITAK erhielt 4,62 % der Stimmen und damit 16 Mandate, sie stellt mit Rajavarothiam Sampanthan den Oppositionsführer (a.a.O.).
79 
Mit dem Amtsantritt Sirisenas am 09.01.2015 hat sich die politische Situation in Sri Lanka nach Einschätzung des Auswärtigen Amts (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5) erheblich zum Positiven verändert. Demokratie und Rechtsstaat seien gestärkt worden. Die Menschenrechte, insbesondere die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden wieder respektiert. Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition seien nicht mehr eingeschränkt (a.a.O. S. 7). Menschenrechtsorganisationen hätten größere Freiräume (a.a.O. S. 6). So genannte Verschwundenen-Fälle seien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht mehr bekannt geworden (a.a.O. S. 12).
80 
Das Auswärtige Amt merkt in seinem jüngsten Lagebericht aber auch an, dass insbesondere im Norden und Osten noch nicht alle Menschenrechtsverletzungen abgestellt seien (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Einzelne Menschenrechtsvertreter würden dort vom Sicherheitsapparat verfolgt und ihre Gesprächspartner würden gelegentlich noch von Sicherheitskräften ausgefragt (a.a.O. S. 6, auch S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte von Menschenrechtsverteidigern zu Überwachungen durch die Polizei und das Militär im Norden und Osten sowie Befragungen). Die Polizei wende mitunter noch immer unverhältnismäßigen Zwang an (a.a.O. S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Beschwerden über die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen). Als Beispiel nennt das Auswärtige Amt die Beendigung friedlicher Studentendemonstrationen mittels Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken (a.a.O. S. 7); es verweist zudem auf Angaben Internationaler Organisationen und Presseberichte, wonach Folter weiterhin gelegentlich zur Erpressung von Geständnissen angewandt wird (a.a.O. S. 11; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte über Folter und andere Misshandlungen). Auch sollen Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen sowie in Gefängnissen weiter vorkommen (a.a.O. S. 12).
81 
Amnesty International (Amnesty Report 2016, Sri Lanka) verweist darüber hinaus auf Berichte über ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam; Häftlinge würden häufig an Verletzungen sterben, die den Schluss zuließen, dass sie gefoltert und misshandelt worden seien.
82 
Nach Angaben des Auswärtigen Amts hat die neue Regierung zahlreiche Schritte unternommen, um die Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Land voranzubringen (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Sie suche aktiv den Dialog mit der tamilischen Diaspora (auch a.a.O. S. 10). Amnesty International berichtet zudem darüber (Amnesty Report 2015, Sri Lanka), dass im Jahr 2015 am Jahrestag der Beendigung des bewaffneten Konflikts öffentliche Gedenkfeiern von Tamilen im Wesentlichen erlaubt waren (vgl. auch Human Rights Watch, Sri Lanka After the Tigers, 19.02.2016, mit dem Hinweis, dass Gedenkfeiern für verstorbene Tamilen mittlerweile erlaubt seien), und fügt hinzu, dass über eine starke Polizeipräsenz bei derartigen Zusammenkünften berichtet worden sei (vgl. auch Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Insbesondere Human Rights Watch macht aber auch darauf aufmerksam, dass ein Erfolg versprechender Versöhnungsprozess, der unter anderem auch eine Aufarbeitung der beiderseitigen Kriegsverbrechen beinhaltet, noch nicht wirklich ins Werk gesetzt worden ist (vgl. etwa die Beiträge „Time to seize the Moment“ [25.05.2016] und „Unfinished Business in Sri Lanka“ [01.09.2016]).
83 
Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts gibt es gegenüber Tamilen im Norden und Osten seit dem Amtsantritt Sirisenas „keine direkten staatlichen Repressionen mehr“ (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7). In Sri Lanka gebe es keine diskriminierende Gesetzgebung, Verwaltungspraxis oder Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis (a.a.O. S. 8). Der von der Polizei angewendete unverhältnismäßige Zwang richte sich nicht gegen eine bestimmte Gruppe (a.a.O. S. 7). Während die Anwendung von Folter früher vor allem Tamilen betroffen habe, sollen mittlerweile Singhalesen in gleichem Maß betroffen sein (a.a.O. S. 11 unter Berufung auf Berichte von Human Rights Watch und lokale Menschenrechtsorganisationen; Human Rights Watch [Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016] spricht von „continued reports of the torture of detainees“ [fortgesetzten Berichten über die Folter von Inhaftierten]).
84 
Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass der infolge des langjährigen Bürgerkriegs umfassende Sicherheitsapparat nach Ende des Konflikts 2009 kaum reduziert wurde und insbesondere im Norden und Osten noch stark vertreten ist (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6, auch S. 7; vgl. auch Human Rights Watch, Unfinished Business in Sri Lanka, 01.09.2016). Es verweist zudem darauf, dass nach Angaben der sri-lankischen NGO Groundviews 2015 noch immer mindestens 181 von ehemals ca. 12.000 LTTE-Mitgliedern oder -Symphatisanten, die sich bei Kriegsende gestellt hätten, ohne Gerichtsurteil inhaftiert seien; bis November 2015 seien 38 davon gegen Kaution freigelassen worden (a.a.O. S. 12).
85 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 „Sri Lanka: Gefährdung bei Rückkehr und Zugang zu medizinischer Versorgung in Haft“ darauf hin (S. 3), dass Berichte der NGO Freedom from Torture und International Truth & Justice Project Sri Lanka vom Januar 2016 insgesamt 27 Fälle dokumentierten, in denen tamilische Personen durch sri-lankische Sicherheitskräfte gefoltert, willkürlich verhaftet oder entführt worden seien. Der jüngste in dem letztgenannten Bericht dokumentierte Fall (von insgesamt 20 Fällen) habe sich im Dezember 2015 zugetragen (vgl. a.a.O. S. 4). Während der Verhöre seien mehrere der Betroffenen beschuldigt worden, die LTTE wiederaufbauen zu wollen oder das Land in Unruhe zu bringen. 19 der Personen seien Opfer von Entführungen mittels weißer Lieferwagen geworden („White Van Abduction“). 16 der Personen hätten in der Vergangenheit eine Funktion der LTTE auf niedriger Stufe gehabt.
86 
Der Prevention of Terrorism Act (s. o. aa und a) ist weiterhin in Kraft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7 und 12; auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, und Human Rights Watch, UN Human Rights Council: High Commissioner’s Report on human rights of Rohingya Muslims and other minorities in Burma/Maanmar and on Sri Lanka, 30.06.2016). Das Auswärtige Amt führt aus, die Regierung gebe an, 181 Personen seien auf seiner Grundlage inhaftiert, wobei die Mehrheit tamilischer Herkunft sei, die Zivilgesellschaft gehe hingegen von rund 250 Personen aus (a.a.O. S. 7). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist darauf, dass verschiedene Schätzungen „sich auf bis über 200 Personen“ beliefen (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6). Amnesty International zitiert eine Erklärung des Oppositionsführers Sampanthan vor dem Parlament, dass noch 217 Personen auf der Grundlage der Bestimmungen des PTA inhaftiert seien (Amnesty Report 2016, Sri Lanka). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird er „weiterhin eingesetzt, um tamilische Personen zu verhaften, welche der angeblichen Verbindungen zur LTTE verdächtigt werden“ (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6; entsprechend Amnesty Report 2016, Sri Lanka; ferner Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Die Flüchtlingshilfe verweist auch auf eine sri-lankische Zeitung, die von Verhaftungen von Militärpersonal unter dem PTA berichtet hat.
87 
Rückkehrer müssen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich keine staatlichen Repressalien gegen sich fürchten, jedoch müssen sie sich nach Rückkehr Vernehmungen durch die Immigration, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department stellen; ob es zur Anwendung von Gewalt kommt, ist nicht bekannt (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 13). Mit solchen Vernehmungen ist insbesondere zu rechnen, wenn die rückkehrende Person keinen gültigen sri-lankischen Reisepass vorlegen kann; Fälle diskriminierender Behandlung solcher Personen (auch von Tamilen) sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (a.a.O. S. 14). Bei der Einreise mit gültigem sri-lankischem Reisepass würden die Einreiseformalitäten zumeist zügig erledigt; dies gelte auch für Zurückgeführte (a.a.O. S. 14).
88 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 aus (S. 1), dass es auch nach Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Verhaftungen von tamilischen Rückkehrenden kam. Die Verhaftungen schienen oft mit angeblichen Verbindungen zur LTTE zusammenzuhängen. Eine zuvor erfolgte illegale Ausreise könne bei der Rückkehr ebenfalls zu einer Verhaftung führen. Die Flüchtlingshilfe führt nach diesen einleitenden Bemerkungen unter Berufung auf verschiedene Quellen einzelne Fälle auf. So verweist sie zunächst auf einen Bericht der Zeitung Ceylon News vom 19.04.2016, wonach ein aus Mullaitivu stammender Tamile bei seiner Rückkehr aus Doha am 12.04.2016 durch das Terrorist Investigation Department am Flughafen aufgegriffen und anschließend sieben Stunden verhört worden sei (a.a.O. S. 1 f.). Anschließend sei er mit der Aufforderung freigelassen worden, am nächsten Morgen das TID-Büro in Colombo aufzusuchen. Am folgenden Tag sei er dort verhaftet worden. Die Flüchtlingshilfe spricht außerdem etwa den Fall eines tamilischen Journalisten an, der nach seiner Rückkehr nach Sri Lanka durch die sri-lankischen Behörden verhaftet worden sei (a.a.O. S. 2). Der Journalist und Aktivist sei im Jahr 2012 nach Australien geflohen und habe sich aufgrund der positiven Signale der aktuellen sri-lankischen Regierung für die Rückkehr entschieden. Er sei nach der Inhaftierung auf Kaution freigelassen worden. Ihm seien aber Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt worden und er müsse sich jeden Monat im berüchtigten vierten Stock des Hauptquartiers des CID in Colombo melden. Unter Berufung auf TamilNet führt die Flüchtlingshilfe auch aus, dass viele tamilische Rückkehrende aus dem Nahen Osten in der jüngsten Zeit durch den sri-lankischen Militärgeheimdienst verhaftet worden seien (a.a.O. S 2). Die Flüchtlingshilfe zitiert schließlich etwa auch aus einem Bericht der International Crisis Group, wonach weiterhin rückkehrende tamilische Personen unter Anwendung des Prevention auf Terror Act (PTA) wegen des Verdachts auf zurückliegende LTTE-Verbindungen verhaftet würden; viele würden in durch das Militär betriebene Rehabilitationsprogramme geschickt.
89 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe trägt in der Auskunft vom 22.04.2016 auch vor, dass das International Truth & Justice Project Sri Lanka im Januar 2016 zu dem Schluss gekommen sei, dass tamilische Personen, welche aus dem Ausland zurückkehrten, überwacht würden (a.a.O. S. 4). So gebe es weiterhin ein umfangreiches Netzwerk von tamilischen Informanten, welche Rückkehrende beobachteten. Das sichere Verlassen des Flughafens sei deswegen keine Garantie für die spätere Sicherheit. Die Flüchtlingshilfe gibt ferner die Einschätzung von International Truth & Justice Project wieder, dass es für tamilische Personen im Ausland noch nicht sicher sei, nach Sri Lanka zurückzukehren, wenn die betroffene Person in der Vergangenheit eine Verbindung zur LTTE aufweise (a.a.O. S. 5).
90 
(2) Diese Erkenntnisse lassen, selbst wenn sich alle Angaben zu flüchtlingsschutzrelevanten Menschenrechtsverletzungen als zutreffend erweisen sollten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Schluss auf eine Gruppenverfolgung von Tamilen, auch nicht vom männlichen Tamilen aus dem Norden, zu. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Auch die Zahl an Verhaftungen und Überwachungen von Tamilen sowie an ihnen gegenüber vorgenommene Handlungen, die als Folter einzustufen sind, lässt nicht annähernd auf die Gefahr schließen, dass (nahezu) jedes Gruppenmitglied mit solchen Maßnahmen zu rechnen hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht jede Verhaftung mit anschließendem Verhör schon eine Menschenrechtsverletzung darstellt.
91 
Der nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bestehenden, im Vergleich zu den Jahren 2008 und 2010 deutlich verbesserten Gesamtsituation der Tamilen in Sri Lanka hat der Kläger nichts entgegengehalten.
III.
92 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
93 
1. Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315; jüngst etwa Kammerbeschluss vom 09.03.2016 - 2 BvR 348/16 - juris Rn. 12). Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung (BVerfGE 80, 315). An gezielten Rechtsverletzungen fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfGE 80, 315, 335). Ob eine gezielte Verletzung von Rechten vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfGE 80, 315, 335).
94 
Das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG beruht auf dem Zufluchtgedanken, mithin auf dem Kausalzusammenhang Verfolgung - Flucht - Asyl (BVerfGE 80, 315, 344). Nach dem hierdurch geprägten normativen Leitbild des Grundrechts ist typischerweise asylberechtigt, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deswegen in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Atypisch, wenn auch häufig, ist der Fall des unverfolgt Eingereisten, der hier gleichwohl Asyl begehrte und dafür auf Umstände verweist, die erst während seines Hierseins entstanden sind oder deren erst künftiges Entstehen er besorgt (sog. Nachfluchttatbestände).
95 
Nach diesem normativen Leitbild des Asylgrundrechts gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfGE 80, 315, 344).
96 
Ergibt die rückschauende Betrachtung, dass der Asylsuchende vor landesweiter politischer Verfolgung geflohen ist, so kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter regelmäßig in Betracht. Ergibt sie eine lediglich regionale Verfolgungsgefahr, so bedarf es der weiteren Feststellung, dass der Asylsuchende landesweit in einer ausweglosen Lage war. Steht fest, dass Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates im beschriebenen Sinn unzumutbar war, so ist er gemäß Art. 16a Abs. 1 GG asylberechtigt, es sei denn, er kann in seinem eigenen Staat wieder Schutz finden. Daher muss sein Asylantrag Erfolg haben, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist; eine Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht geboten, wenn der Asylsuchende vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Gleiches gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische Fluchtalternative eröffnet.
97 
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (BVerfGE 80, 315, 345 f.). Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere unzumutbare Nachteile oder Gefahren.
98 
2. Der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten steht entgegen, dass nach Überzeugung des Senats die nach dem Vorbringen des Klägers fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe nicht der Wahrheit entspricht (s. o. II. 2.) und er zum Zeitpunkt der Ausreise nicht Mitglied einer verfolgten Gruppe war (s. o. II. 3. a) sowie er ein solches auch zum heutigen Zeitpunkt nicht ist (s. o. II. 3. b bb).
IV.
99 
Der Kläger hat weiterhin nicht den von ihm hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Plausible Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Sri Lanka ein ernsthafter Schaden i. S. v. § 4 Abs. 1 AsylG drohen könnte, bestehen nach dem Gesagten nicht.
V.
100 
Der Kläger hat schließlich auch nicht den weiter hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AsylG. Auch insoweit gilt, dass für den Senat kein Sachverhalt ersichtlich ist, der das Vorliegen der genannten Verbote zu begründen in der Lage wäre.
VI.
101 
Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen.
102 
1. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines Gutachtens eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht gerichtet ist, zielt der Antrag auf die Klärung einer Rechtsfrage, nicht aber auf eine dem (Sachverständigen-)Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Ermittlung der Rechtslage und die Anwendung der einschlägigen Vorschriften auf einen konkreten Fall ist ureigene Aufgabe der Rechtsprechung (vgl. § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 293 ZPO: s. a. Geimer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 293 Rn. 1, nicht zuletzt unter Hinweis auf den Grundsatz „iura novit curia“). Die Ermittlung der Rechtslage ist infolgedessen in aller Regel keine Tatsachenfeststellung. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der die Ermittlung ausländischen Rechts sowie der ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht der Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln ist (Urteil vom 19.07.2012 - 10 C 2.12 - NJW 2012, 3461 Rn. 16; kritisch dazu Geimer, a.a.O. Rn. 14). Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Auslegung und Anwendung auf seinen Fall der Kläger geklärt haben will, ist kein ausländisches Recht. Die EMRK gilt vielmehr in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307, 315); deutsche Gerichte haben sie wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfG, a.a.O. S. 317).
103 
b) Der Beweisantrag geht weiterhin von einer unzutreffenden Ausgangslage aus. Die Beklagte hat gegen das stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts das statthafte Rechtsmittel eingelegt; infolge des Suspensiveffekts (zunächst des Antrags auf Zulassung der Berufung, sodann der Berufung) war sie nicht verpflichtet, der ihr vom Verwaltungsgericht auferlegten Verpflichtung nachzukommen. Folglich hatte der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Rechtsstellung eines Asylberechtigten inne.
104 
c) Die Auffassung des Klägers, der Senat sei infolge der Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof daran gehindert, auf die Berufung der Beklagten das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern, teilt der Senat nicht. Er vermag weder dem vom Kläger ausdrücklich angesprochenen Art. 3 EMRK noch dem von ihm der Sache nach angesprochenen Art. 4 EMRK auch nur im Ansatz eine derartige Wirkung zu entnehmen. Dem Kläger ist zwar zuzugestehen, dass das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unangemessen lange gedauert haben dürfte (vgl. § 173 Satz 2 VwGO i. V. m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Rechtsfolge einer unangemessenen Verfahrensdauer - die der Kläger allerdings nicht mit einer Verzögerungsrüge (vgl. § 198 Abs. 3 GVG) beanstandet hat - ist indessen grundsätzlich eine angemessene Entschädigung in Geld. Dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer über das Fehlen materieller Anspruchsvoraussetzungen hinweghelfen könnte, ist gesetzlich nicht vorgesehen und es besteht aus Sicht des Senats auch kein Anlass für eine hierauf gerichtete - was ihre Zulässigkeit angeht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 - 1 BvR 918/00 - BVerfGE 128, 193), problematische - richterliche Rechtsfortbildung. Auch der Kläger nennt keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die auch nur einen Ansatz für seine Auffassung bieten könnte.
105 
2. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gerichtet ist, handelt es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag. Ein solcher liegt vor, wenn Behauptungen ins Blaue hinein aufgestellt werden (vgl. Senatsurteil vom 12.03.2015 - 10 S 1169/13 - juris Rn. 133). Hiervon ist auszugehen, wenn für den Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht (BVerwG, Beschluss vom 17.09.2014 - 8 B 15.14 - juris Rn. 10). So liegt es hier. Zum einen hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass er tatsächlich darauf vertraut hat, als Asylberechtigter anerkannt zu werden; das wäre schon deshalb veranlasst gewesen, weil der Kläger bereits mit der Stellung des Zulassungsantrags damit rechnen musste, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben würde. Zum anderen und vor allem gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger infolge der Zurückweisung der Berufung psychisch erkranken würde. Der Kläger hat nicht vorgetragen, geschweige denn - etwa mittels Vorlage eines ärztlichen Schreibens - untermauert, gegenwärtig an einer psychischen (Grund-)Erkrankung zu leiden, die sich im Fall einer Klageabweisung verschlechtern würde.
106 
b) Abgesehen davon ist der Beweisantrag auch aus dem Grund abzulehnen, dass die vom Kläger in den Raum gestellte „gravierende psychische Reaktion … auch im Sinne einer psychischen Erkrankung“ keine entscheidungserhebliche Tatsache ist. Eine eventuelle psychische Erkrankung könnte im Rahmen der vorliegenden Klage lediglich Bedeutung hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Bedeutung erlangen. Hierfür ist erforderlich, dass sich eine vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leben und Leib führt, d. h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach Rückkehr droht. Der Kläger stellt hier schon nicht eine Erkrankung unter Beweis, die bereits vorhanden ist, er behauptet vielmehr, im Fall der Abweisung seiner Klage zu erkranken. Hinzu kommt, dass von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht Schutz vor Abschiebung nicht bei Vorliegen jeglicher Erkrankung gewährt wird. Vielmehr schützt die Vorschrift nur vor einer erheblichen und alsbaldigen Verschlimmerung für den Fall einer Rückkehr. Darum geht es dem Kläger aber mit seinem Beweisantrag nicht.
VII.
107 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.
108 
Ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

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Der Kläger hat beantragt,

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unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

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Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

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Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

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Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

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Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

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Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

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Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

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In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

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Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

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Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

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Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

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Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

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Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

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Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

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Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

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Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

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Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

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Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

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Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

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Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

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Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

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Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

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Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

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Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

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Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

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Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

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Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

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Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

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So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt.

(2) Er ist insbesondere verpflichtet,

1.
den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen;
2.
das Bundesamt unverzüglich zu unterrichten, wenn ihm ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist;
3.
den gesetzlichen und behördlichen Anordnungen, sich bei bestimmten Behörden oder Einrichtungen zu melden oder dort persönlich zu erscheinen, Folge zu leisten;
4.
seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
5.
alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
6.
im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
7.
die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden.

(3) Erforderliche Urkunden und sonstige Unterlagen nach Absatz 2 Nr. 5 sind insbesondere

1.
alle Urkunden und Unterlagen, die neben dem Pass oder Passersatz für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können,
2.
von anderen Staaten erteilte Visa, Aufenthaltstitel und sonstige Grenzübertrittspapiere,
3.
Flugscheine und sonstige Fahrausweise,
4.
Unterlagen über den Reiseweg vom Herkunftsland in das Bundesgebiet, die benutzten Beförderungsmittel und über den Aufenthalt in anderen Staaten nach der Ausreise aus dem Herkunftsland und vor der Einreise in das Bundesgebiet sowie
5.
alle sonstigen Urkunden und Unterlagen, auf die der Ausländer sich beruft oder die für die zu treffenden asyl- und ausländerrechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen einschließlich der Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sind.

(4) Die mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden können den Ausländer und Sachen, die von ihm mitgeführt werden, durchsuchen, wenn der Ausländer seinen Verpflichtungen nach Absatz 2 Nr. 4 und 5 nicht nachkommt sowie nicht gemäß Absatz 2 Nummer 6 auf Verlangen die Datenträger vorlegt, aushändigt oder überlässt und Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen oder Datenträger ist. Der Ausländer darf nur von einer Person gleichen Geschlechts durchsucht werden.

(5) Durch die Rücknahme des Asylantrags werden die Mitwirkungspflichten des Ausländers nicht beendet.

(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und darüber, ob bereits in anderen Staaten oder im Bundesgebiet ein Verfahren mit dem Ziel der Anerkennung als ausländischer Flüchtling, auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 oder ein Asylverfahren eingeleitet oder durchgeführt ist.

(2) Der Ausländer hat alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die einer Abschiebung oder einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen.

(3) Ein späteres Vorbringen des Ausländers kann unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes verzögert würde. Der Ausländer ist hierauf und auf § 36 Absatz 4 Satz 3 hinzuweisen.

(4) Bei einem Ausländer, der verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, soll die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Asylantragstellung erfolgen. Einer besonderen Ladung des Ausländers und seines Bevollmächtigten bedarf es nicht. Entsprechendes gilt, wenn dem Ausländer bei oder innerhalb einer Woche nach der Antragstellung der Termin für die Anhörung mitgeteilt wird. Kann die Anhörung nicht an demselben Tag stattfinden, sind der Ausländer und sein Bevollmächtigter von dem Anhörungstermin unverzüglich zu verständigen.

(5) Bei einem Ausländer, der nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, kann von der persönlichen Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht folgt. In diesem Falle ist dem Ausländer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme innerhalb eines Monats zu geben.

(6) Die Anhörung ist nicht öffentlich. An ihr können Personen, die sich als Vertreter des Bundes, eines Landes oder des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen ausweisen, teilnehmen. Der Ausländer kann sich bei der Anhörung von einem Bevollmächtigten oder Beistand im Sinne des § 14 des Verwaltungsverfahrensgesetzes begleiten lassen. Das Bundesamt kann die Anhörung auch dann durchführen, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand trotz einer mit angemessener Frist erfolgten Ladung nicht an ihr teilnimmt. Satz 4 gilt nicht, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand seine Nichtteilnahme vor Beginn der Anhörung genügend entschuldigt. Anderen Personen kann der Leiter des Bundesamtes oder die von ihm beauftragte Person die Anwesenheit gestatten.

(7) Die Anhörung kann in geeigneten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen.

(8) Über die Anhörung ist eine Niederschrift aufzunehmen, die die wesentlichen Angaben des Ausländers enthält. Dem Ausländer ist eine Kopie der Niederschrift auszuhändigen oder mit der Entscheidung des Bundesamtes zuzustellen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die ordnungsbehördliche Untersagungsverfügung der Stadt L. vom 23. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 2007 im Zeitraum bis zum 20. Februar 2010 rechtswidrig war. Mit dieser Verfügung wurde dem Kläger aufgegeben, die gewerbliche Vermittlung von Sportwetten an nicht in Rheinland-Pfalz konzessionierte Anbieter in L. einzustellen; gleichzeitig wurde ihm untersagt, das Gewerbe fortzuführen. Nach erfolglosem Eilverfahren hat der Kläger am 20. Februar 2010 seinen Geschäftsbetrieb aufgegeben und die zuvor erhobene Anfechtungsklage auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt. Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße hat der Klage stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

2

Die dagegen erhobene Beschwerde des Beklagten, die sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO beruft und Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügt, hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

3

1. Die Beschwerdebegründung legt keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dar (§ 132 Abs. 2 Nr. 1, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Sie formuliert keine bestimmte, höchstrichterlich noch ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme (vgl. zu diesen Kriterien Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).

4

a) Die zur Werbung für das Sportwettenangebot aufgeworfenen Fragen wären, soweit sie sich auf den Begriff der Werbung beziehen, im angestrebten Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das angegriffene Urteil stützt sich nicht auf eine einschränkende Begriffsdefinition, sondern auf eine strenge Konkretisierung der Grenzen, in denen Werbung für Sportwetten nach § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. zulässig war. Die Fragen zur Vereinbarkeit dieser Zulässigkeitsgrenzen mit Verfassungs- und Unionsrecht und die daran anknüpfenden Fragen zur Erheblichkeit, zur Definition und zur Feststellung struktureller Defizite beim Vollzug der werbebeschränkenden Regelungen können nicht zur Zulassung der Revision führen. Sie betreffen bei Beschwerdeeinlegung bereits auslaufendes und seit dem Inkrafttreten des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages (auch) in Rheinland-Pfalz zum 1. Juli 2012 ausgelaufenes Recht (vgl. Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und 4 des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages - ErsterGlüÄndStV - vom 15. Dezember 2011 i.V.m. § 1 Abs. 1 des rheinland-pfälzischen Landesglücksspielgesetzes - LGlüG - vom 22. Juni 2012 ), ohne dass Umstände dargelegt sind, deretwegen ihnen dennoch grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zukäme.

5

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Rechtsfragen, die sich auf ausgelaufenes Recht beziehen, trotz anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, da § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO eine richtungweisende Klärung für die Zukunft herbeiführen soll. Eine Revisionszulassung wegen solcher Fragen kommt deshalb nur ausnahmsweise in Betracht, wenn die Fragen sich zu den Nachfolgevorschriften offensichtlich in gleicher Weise stellen oder wenn ihre Beantwortung für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist. Beides ist im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde substantiiert darzulegen (Beschlüsse vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9 S. 11 ff., vom 17. Mai 2004 - BVerwG 1 B 176.03 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 29 S. 11 und vom 15. Dezember 2005 - BVerwG 6 B 70.05 - juris Rn. 6, je m.w.N.). Daran fehlt es hier.

6

Der Beschwerdebegründung ist nicht zu entnehmen, dass die Rechtsfragen zur Zulässigkeit von Werbemaßnahmen sich unter der Geltung des auch in Rheinland-Pfalz zum 1. Juli 2012 in Kraft getretenen § 5 GlüStV n.F. offensichtlich in gleicher Weise stellen wie zuvor. Die in § 5 Abs. 1 GlüStV a.F. normierten Grenzen zulässiger Werbung, insbesondere deren Beschränkung auf Information und Aufklärung, wurden in den Wortlaut des § 5 GlüStV nicht übernommen. Auch das ausdrückliche Verbot zum Glücksspiel gezielt anreizender oder ermunternder Werbung (§ 5 Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F.) fehlt. Nach Absatz 1 der Neufassung ist die Werbung lediglich an den Zielen des - geänderten - Glücksspielstaatsvertrages auszurichten; Absatz 3 Satz 2 ermächtigt dazu, ausnahmsweise auch die zuvor nach § 5 Abs. 3 GlüStV a.F. absolut verbotene Werbung im Fernsehen, im Internet und über Telekommunikationsanlagen zuzulassen. Unter diesen neuen, die Werbebeschränkungen lockernden Regelungen stellen sich die Auslegungsfragen zu den Grenzen zulässiger Werbung nach § 5 GlüStV n.F. jedenfalls nicht offensichtlich in gleicher Weise wie unter der Geltung des § 5 GlüStV a.F. Gleiches gilt für die Fragen zur Vereinbarkeit der früher geltenden Werbebeschränkungen mit Verfassungs- und Unionsrecht. Da das experimentell eingeführte Konzessionssystem nach § 10a Abs. 1 und 2 GlüStV n.F. den Marktzugang für Veranstalter weniger stark beschränkt als die frühere Monopolregelung, stellen insbesondere Fragen der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung - einschließlich der neu geregelten Werbebeschränkungen - sich nicht mehr offenkundig ebenso wie unter dem ausgelaufenen Recht. Die bloße Möglichkeit, dass sich ihre unveränderte Relevanz bei näherer Prüfung der neuen Rechtslage erweisen könnte, reicht nicht aus (Beschluss vom 15. Dezember 2005 a.a.O. m.w.N.).

7

Die zum strukturellen Vollzugsdefizit bezüglich der Werbebeschränkungen aufgeworfenen Fragen wären im angestrebten Revisionsverfahren nur entscheidungserheblich, soweit sie sich auf Verstöße gegen die Werbebeschränkungen nach § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. beziehen; insoweit betreffen auch sie ausgelaufenes Recht. Dass sie sich unter der neuen, die Werbung liberalisierenden Rechtslage offensichtlich in gleicher Weise stellen würden, ist nicht dargelegt.

8

Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich auch nicht, dass mindestens eine der zum ausgelaufenen Recht aufgeworfenen Fragen noch in einer nicht überschaubaren Vielzahl von Fällen in unabsehbarer Zukunft von Bedeutung wäre. Selbst wenn derzeit noch zahlreiche Fortsetzungsfeststellungsklagen betreffend § 5 GlüStV a.F. bei den Verwaltungsgerichten anhängig sein sollten, ist daraus noch nicht auf eine unübersehbare Zahl offener Fälle zu schließen.

9

b) Auf die unionsrechtliche Frage, ob die sektorübergreifende Kohärenzprüfung eine Folgenabschätzung erfordert, käme es im Revisionsverfahren nicht an. Das Berufungsgericht hat nicht auf eine Inkohärenz wegen des Erlasses oder der Anwendung von Regelungen in einem anderen Glücksspielsektor abgestellt, sondern allein auf den Verstoß gegen Werbebeschränkungen im monopolisierten Sektor der Sportwetten selbst. Die Frage, ob die Monopolregelung durch die Glücksspielpolitik im Bereich der Geldspielgeräte konterkariert werde und (auch) deshalb unverhältnismäßig sei, hat es ausdrücklich offen gelassen.

10

c) Die sinngemäß gestellte Frage, ob der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 - (BVerfGE 115, 276 <319>) übergangsweise bis zum 31. Dezember 2007 weiter anwendbare Monopolregelung trotz der unionsrechtlichen Anerkennung eines mitgliedstaatlichen Regelungsspielraums und trotz der Erforderlichkeit einer intertemporären Regelung (auch) für diese Übergangszeit für unanwendbar erklären durfte, wäre im Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das Berufungsgericht hat die Unanwendbarkeit der Monopolregelung für die Übergangszeit bis zum 1. Juli 2007 nicht allein mit unionsrechtlichen Erwägungen begründet, sondern unabhängig davon und selbstständig tragend auf die Erwägung gestützt, die verfassungswidrigen Vorschriften hätten nur bei Beachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Maßgaben übergangsweise weiter angewendet werden dürfen. Daran fehle es, weil das geforderte Mindestmaß an Konsistenz in Rheinland-Pfalz wegen fortgesetzter und systematischer Verstöße gegen die verfassungsrechtlich gebotenen Werbebeschränkungen nicht hergestellt worden sei. Gegen diese Annahmen hat der Beklagte keine wirksamen Rügen erhoben. Dazu kann für die Grundsatzrügen zu den Werbebeschränkungen auf die Ausführungen oben unter Rn. 4 ff. und für die Verfahrensrügen auf die Ausführungen unten zu Rn. 19 ff. verwiesen werden.

11

Davon abgesehen ist die Frage, ob der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten mit innerstaatlich bindender Wirkung auch für die bundesverfassungsgerichtlich zugestandene Übergangszeit bejaht werden durfte, auf der Grundlage der bisherigen unions- und bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ohne Weiteres zu bejahen. Als primärrechtliche Gewährleistungen binden die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten der Union im definierten persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich unmittelbar, und zwar auch außerhalb der bereits durch sekundäres Unionsrecht harmonisierten Regelungsbereiche. Ihr Anwendungsvorrang schließt eine Anwendung grundfreiheitswidriger Regelungen prinzipiell aus (EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-409/06 Winner Wetten - Slg. 2010, I-08015 Rn. 53 ff.). Eine übergangsweise Anwendung mitgliedstaatlicher, die Grundfreiheiten verletzender Vorschriften kommt daher nur in Betracht, soweit das Unionsrecht selbst eine solche Anwendung zulässt, etwa aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit, die der Gerichtshof im Fall des Sportwettenmonopols verneint hat (EuGH, Urteil vom 8. September 2010 a.a.O. Rn. 67, 69; zur Zulässigkeit einer staatsvertraglichen Übergangsregelung vgl. EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-46/08, Carmen Media Group - Slg. 2010, I-08149 Rn. 106 ff.). Diese Rechtsprechung hält sich im Rahmen seiner unionsrechtlichen Kompetenzen und ist auch nicht mit verfassungsrechtlichen Erwägungen in Zweifel zu ziehen. Der Vortrag des Beklagten zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV zeigt insoweit keine klärungsbedürftigen Fragen auf. Art. 5 EUV verbietet der Union, ihre Kompetenzen über den Kreis der ihr jeweils nach Art. 23 Abs. 1 GG übertragenen Hoheitsrechte hinaus auszudehnen. Die vertraglich begründete Rechtsprechungskompetenz des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV schließt die Befugnis ein, den Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten und die Voraussetzungen einer übergangsweisen Anwendung sie verletzender mitgliedstaatlicher Vorschriften zu konkretisieren. Dass der Anwendungsvorrang von den mitgliedstaatlichen Gerichten aller Instanzen zu beachten ist, ergibt sich aus der Bindung der Mitgliedstaaten an den Vertrag, der als supranationales Primärrecht keiner Transformation bedarf, und aus der Bindung der Gerichte an das geltende Recht, zu dem auch das Unionsrecht zählt. Art. 100 GG greift nicht ein, da weder die Verfassungsmäßigkeit der Norm noch das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in Frage steht. Eine unionsrechtswidrige und deshalb im konkreten Fall unanwendbare Norm wird wegen des Unionsrechtsverstoßes nicht für nichtig erklärt.

12

Verfassungsrechtliche Grundsatzfragen ließen sich an das unionsgerichtliche Verneinen einer übergangsweisen Anwendbarkeit der grundfreiheitswidrigen Monopolregelung nur knüpfen, wenn dargelegt würde, dass die Übertragung der ihr zugrunde liegenden Rechtsprechungskompetenz auf den Gerichtshof den integrationsfesten, die Identität der Verfassung prägenden Kernbereich von Hoheitsbefugnissen beeinträchtigte (vgl. BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 u.a. - BVerfGE 123, 267 <353 f.>) oder dass sich die Wahrnehmung dieser Kompetenz durch den Gerichtshof im konkreten Fall als eine hinreichend qualifizierte, nämlich offensichtliche und strukturell bedeutsame Missachtung der Kompetenzgrenzen darstellte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286 <301 ff.>). Das trägt der Beklagte nicht vor.

13

d) Seine Rüge, die Berufungsentscheidung verletze das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, formuliert keine klärungsbedürftige Rechtsfrage zu dessen Auslegung und übersieht, dass die Bindung an Recht und Gesetz die Bindung an das die Mitgliedstaaten verpflichtende Unionsrecht einschließt. Die gerichtliche Durchsetzung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten ist Teil des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven (Individual-)Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), steht also nicht im Widerspruch zur Aufgabe der Verwaltungsgerichte, den Schutz subjektiver Rechte zu gewähren. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip ergibt sich auch nicht daraus, dass bei einer Inkohärenz der Monopolregelung - wie der Beklagte meint - sämtliche Schutzschranken außer Kraft gesetzt würden. Vielmehr ist in der Rechtsprechung geklärt, dass in einem solchen Fall zwar die Monopolregelung nicht mehr anzuwenden ist, dies aber nicht zwangsläufig zur Unanwendbarkeit etwa des Erlaubnisvorbehalts führt. Er bleibt vielmehr anwendbar, wenn er nicht allein der Durchsetzung des Monopols, sondern darüber hinaus anderen Zwecken dient und insoweit verfassungs- und unionsrechtskonform ist (Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 273 Rn. 73, 77 ff.). Entgegen der Auffassung des Beklagten verleiht die Aufhebung eines rechtswidrigen Verbots dem Betroffenen auch keine Rechtsposition, die über den konkreten Rechtsgrund der Aufhebung hinausginge. Insbesondere ist die Behörde durch die Aufhebung des rechtswidrigen Verbots nicht gehindert, ein mit dem geltenden Recht zu vereinbarendes neues Verbot zu erlassen.

14

e) Die zur Ermessensreduzierung auf Null und zum intendierten Ermessen aufgeworfenen Fragen rechtfertigen ebenfalls nicht die Zulassung der Revision.

15

Aus der bisherigen Rechtsprechung ergibt sich, dass die Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 284 Abs. 1 StGB nicht genügt, das Verbotsermessen der Behörde zulasten des Betroffenen auf Null zu reduzieren. Unerlaubtes, d.h. formell rechtswidriges Veranstalten oder Vermitteln von Sportwetten allein verpflichtet die zuständige Behörde noch nicht zum Erlass einer Verbotsverfügung; vielmehr ist auch die materielle Erlaubnisfähigkeit zu berücksichtigen (Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 4.10 - NVwZ 2011, 1326 = ZfWG 2011, 341 je Rn. 55). Umstände, deretwegen dem Kläger die Erlaubnis aus anderen, nicht monopolakzessorischen Gründen hätte versagt werden müssen (vgl. dazu Urteil vom 24. November 2010 a.a.O. Rn. 73 ff.), hat das Oberverwaltungsgericht nicht festgestellt.

16

Ob die Untersagungsermächtigung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV a.F. ein intendiertes Ermessen einräumt, dessentwegen das Verbot einer allein formell rechtswidrigen Tätigkeit keiner weiteren Begründung bedarf, ist keine Frage revisiblen Rechts. Der Glücksspielstaatsvertrag alter Fassung galt aufgrund der Transformationsgesetze der Länder als irrevisibles Landesrecht; eine Revisibilitätsklausel wurde erst mit § 33 GlüStV zum 1. Juli 2012 eingefügt.

17

f) Auch die weiter aufgeworfene Frage nach der Zulässigkeit einer "Rückwirkung" einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung führt nicht zur Zulassung der Revision, da sie sich ohne Weiteres auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung beantworten lässt. Danach liegt in einer Änderung der Rechtsprechung aufgrund einer nachträglichen Klärung gemeinschaftsrechtlicher (jetzt: unionsrechtlicher) Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) keine Änderung der materiellen Rechtslage, der Rückwirkung zukommen könnte, sondern nur eine die bisherige Rechtsprechungslinie korrigierende Erkenntnis des bestehenden Rechts (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 1 C 15.08 - BVerwGE 135, 121 Rn. 21 = Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 55).

18

g) Soweit die Beschwerde Fragen zur Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aufwirft, genügt sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Aus welchen Gründen es dem Kläger trotz seiner prozessualen Dispositionsbefugnis verwehrt sein sollte, sein Fortsetzungsfeststellungsbegehren bei einem Dauerverwaltungsakt zeitlich einzugrenzen, wird nicht dargetan. Soweit der Beklagte die berufungsgerichtliche Präzisierung des Streitgegenstands in zeitlicher Hinsicht angreift, formuliert er keine Grundsatzfrage zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO oder zur Auslegung des Klagebegehrens nach § 88 VwGO. Seine Anregung, die Voraussetzungen des besonderen Feststellungsinteresses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO restriktiver zu konkretisieren, genügt ebenfalls nicht den Substantiierungsanforderungen, da sie sich nicht mit der bisherigen Rechtsprechung zum Präjudizinteresse auseinandersetzt und nicht darlegt, inwieweit diese klärungsbedürftige Fragen offen lässt oder aus Rechtsgründen einer grundsätzlichen Überprüfung bedürfte.

19

2. Das angegriffene Urteil beruht auch nicht auf den vom Beklagten gerügten Verfahrensmängeln.

20

a) Offen bleiben kann, ob die - nach Auffassung des Beklagten - unzutreffende Bestimmung des Erledigungszeitpunkts und die seines Erachtens ebenfalls unzutreffende Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses als Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO oder als materiellrechtlicher Mangel im Sinne des Revisionsrechts einzuordnen wären. Jedenfalls legt die Beschwerdebegründung nicht dar, dass die Berufungsentscheidung auf einem der beiden Mängel beruhte.

21

Ob der Kläger seinen Betrieb am 20. Februar 2010 endgültig aufgegeben hatte, ist für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage bezüglich des zuvor liegenden Zeitraums unerheblich, weil der Dauerverwaltungsakt sich jeweils für den gesamten zurückliegenden Zeitraum erledigt hat und insoweit - selbst ohne endgültige Geschäftsaufgabe - Gegenstand eines Fortsetzungsfeststellungsantrags sein kann.

22

Die Beschwerdebegründung zeigt auch nicht auf, dass das Berufungsurteil auf einer fehlerhaften Annahme eines besonderen Feststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO beruhen kann. Ob die Vorinstanz zu Recht die Möglichkeit des Bestehens eines Amtshaftungsanspruchs oder anderer Ansprüche nach revisiblem Recht bejaht hat, ist unerheblich. Sie hat ihre Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses unabhängig davon auf die selbstständig tragende Erwägung gestützt, die Geltendmachung verschuldensunabhängiger Haftungsansprüche nach § 68 Abs. 1 Satz 2 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes des Landes Rheinland-Pfalz (POG RP) sei nicht offensichtlich aussichtslos. Die berufungsgerichtliche Anwendung der irrevisiblen landesrechtlichen Haftungsregelung ist nach § 137 Abs. 1 VwGO auch im Revisionsverfahren zugrunde zu legen. Der Senat wäre daher auch an die Annahme der Vorinstanz gebunden, die Voraussetzungen der landesrechtlichen Staatshaftung seien jedenfalls nicht von vornherein unter jedem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zu verneinen. Die Einwände des Beklagten gegen die Annahme einer geschützten Rechtsposition und eines ersatzfähigen Schadens gehen daher fehl, soweit sie die Anwendung des irrevisiblen Landesrechts betreffen. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich auch keine im angestrebten Revisionsverfahren erhebliche Grundsatzfrage zu revisiblen Rechtsgrenzen der landesrechtlichen Regelung oder ihrer berufungsgerichtlichen Anwendung.

23

b) Das Oberverwaltungsgericht hat seine Pflicht zur Amtsaufklärung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt. Soweit der Beklagte die berufungsgerichtliche Würdigung der Werbemaßnahmen und des Verhaltens der Aufsichtsbehörden beanstandet, rügt er keine Versäumnisse gerichtlicher Tatsachenermittlung, sondern zum einen die strenge berufungsgerichtliche Konkretisierung der Werbebeschränkungen gemäß § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F., die nicht mit der Verfahrensrüge angegriffen werden kann, und zum anderen die Beweiswürdigung der Vorinstanz (dazu sogleich Rn. 24). Dem Berufungsgericht musste sich auf der Grundlage seiner - für die Prüfung von Verfahrensfehlern maßgeblichen - materiellrechtlichen Rechtsauffassung ohne einen förmlichen Beweisantrag des Beklagten auch nicht aufdrängen, ein Sachverständigengutachten zum Einfluss von Werbemaßnahmen einzuholen. Da es unter Berufung auf die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung davon ausging, das Sachlichkeitsgebot des § 5 Abs. 1 GlüStV a.F. und das Anreizverbot des § 5 Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. verböten bei unionsrechtskonformer Auslegung jede Werbung mit einer gemeinnützigen Verwendung der Mittel sowie jede Werbung mit Sonderauslosungen aus Anlass bestimmter hervorgehobener Sportereignisse, erübrigte sich eine sachverständige Begutachtung der tatsächlichen Wirkung solcher Werbemaßnahmen. Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe sich insoweit entgegen § 108 Abs. 2 VwGO eigene Sachkunde zur Beurteilung entscheidungserheblicher Tatsachen angemaßt, trifft danach ebenfalls nicht zu.

24

c) Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts verletzt auch nicht den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO). (Angebliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Eine Ausnahme kommt bei einer selektiven oder aktenwidrigen Beweiswürdigung, bei einem Verstoß gegen die Denkgesetze oder einer sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht. Diese Voraussetzungen legt die Beschwerde nicht dar. Zwar meint der Beklagte, das Berufungsgericht habe seine tatsächlichen Annahmen zum strukturellen Vollzugsdefizit auf unzulängliche, bruchstückhafte, nicht nachvollziehbar bewertete Einzelinformationen und Erklärungen gestützt sowie fehlerhaft das Fehlen eines Einwilligungsvorbehalts für Werbemaßnahmen trotz anhaltender Vollzugsprobleme angeführt. Damit legt er jedoch keinen Verfahrensmangel dar, sondern wendet sich lediglich gegen die gerichtliche Beweiswürdigung. Soweit die Lückenhaftigkeit der Feststellungen gerügt wird, kann auf die Ausführungen zur Aufklärungsrüge (oben unter Rn. 23) verwiesen werden. Dass die Würdigung der getroffenen Feststellungen denkfehlerhaft wäre, ist nicht schon mit dem Vorbringen dargetan, die gezogenen Schlussfolgerungen seien unwahrscheinlich oder fernliegend. Denkfehlerhaft ist die Beweiswürdigung nur, wenn ihre Schlussfolgerungen denklogisch schlechthin unmöglich sind (stRspr, z.B. Beschlüsse vom 6. März 2008 - BVerwG 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 S. 17 und vom 22. Mai 2008 - BVerwG 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65). Das legt die Beschwerdebegründung nicht dar.

25

d) Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht prozessordnungsgemäß nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gerügt. Soweit der Beklagte sinngemäß beanstandet, das Gericht habe die rechtlichen Maßstäbe und tatsächlichen Annahmen nicht ausreichend mit den Beteiligten erörtert, fehlt eine substantiierte Darlegung der Gründe, aus denen das angegriffene Urteil auf einer Gehörsverletzung beruhen kann. Da es sich in materiellrechtlicher Hinsicht an der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts orientiert, sind keine für die Beteiligten überraschenden Erwägungen erkennbar. Zum Erörterungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht legt der Beklagte nicht dar, dass er die Entscheidungserheblichkeit bestimmter Tatsachen nicht schon auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und des Verfahrensverlaufs hätte erkennen und - auch ohne richterlichen Hinweis - entsprechend hätte vortragen können. Er hat auch nicht substantiiert dargetan, welche Beweisanträge er zu - aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen - Tatsachen gestellt hätte, wenn die vermisste (weitere) Erörterung stattgefunden hätte, welches Ergebnis diese Beweisaufnahme erbracht und inwieweit sie eine andere Entscheidung in der Sache ermöglicht hätte.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2

1. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

3

Die Frage,

ob bei der Beurteilung des Tatbestandsmerkmals schwere nichtpolitische Straftat im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG eine strafrechtliche Verurteilung des Ausländers im Heimatstaat, welche unter Verstoß gegen die Garantie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zustande gekommen ist, herangezogen werden darf,

würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, dass der Kläger vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat (Versuch der Tötung eines Dritten am 8. Februar 1978) außerhalb des Bundesgebiets begangen habe, ausdrücklich nicht darauf gestützt, dass der Kläger wegen dieser Tat mit Urteil des türkischen 1. Militärgerichts in Ankara vom 22. Oktober 1991 verurteilt worden ist. Dies hat es damit begründet, dass Urteile der türkischen Militärgerichte während des Ausnahmezustandes grundsätzlich nicht rechtsstaatlichen Maßstäben genügten, so dass sich eine Übernahme der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Würdigung dieser Gerichte ohne eigene Prüfung verbiete.

4

Sollte die aufgeworfene Frage dahin zu verstehen sein, ob in einem solchen Urteil wiedergegebene Aussagen von Opfern oder Zeugen geeignet sind, schwerwiegende Gründe für die Annahme zu begründen, ein Schutzsuchender habe eine schwere nichtpolitische Straftat begangen, entzieht sie sich hingegen einer rechtsgrundsätzlichen Klärung, weil sie auf eine einzelfallbezogene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts im vorliegenden Fall beschränkt ist.

5

Aus dem Grundsatz der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) folgt im Übrigen, dass Tatsachen nicht allein deswegen als Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ausscheiden, weil sie in einem rechtsstaatlichen Maßstäben nicht genügenden Urteil dokumentiert sind. Vielmehr sind auch derartige Umstände der freien Beweiswürdigung zugänglich, müssen allerdings besonders sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie an dem rechtsstaatlichen Makel teilhaben, der einem solchen Urteil insgesamt anhaftet. Das erkennende Gericht muss sich daher erkennbar mit der Frage der Verwertbarkeit solcher Tatsachen auseinandersetzen. Diesem Erfordernis ist das Berufungsgericht gerecht geworden. Der von der Beschwerde sinngemäß aufgestellte Rechtssatz, der Tatbestand eines gegen wesentliche Grundsätze der Rechtsordnung verstoßenden Urteils müsse als "nicht geschehen" behandelt werden, folgt auch nicht aus der vom Kläger nur allgemein herangezogenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder Art. 6 EMRK selbst.

6

2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

7

2.1 Das Berufungsgericht hat durch die Heranziehung der Zeugenaussage aus dem türkischen Gerichtsurteil nicht den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 VwGO) verletzt.

8

Soweit die Beschwerde mit ihrem Vorbringen eine Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geltend macht (Beschwerdebegründung S. 4 ff.), greift sie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind aber nach ständiger Rechtsprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. etwa Beschluss vom 19. Oktober 1999 - BVerwG 9 B 407.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11 m.w.N.). Ein Verfahrensverstoß kann ausnahmsweise u.a. dann in Betracht kommen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. etwa Beschluss vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135> m.w.N.). Dass die angefochtene Entscheidung derartige Mängel aufweist, macht die Beschwerde zwar geltend, legt dies indes nicht in einer Weise dar, die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

9

Das Berufungsgericht setzt sich bei seiner Bewertung einer den Kläger belastenden Zeugenaussage in dem Verfahren vor dem türkischen Militärgericht mit dem Erklärungsversuch des Klägers, man habe dem Opfer vor der Gegenüberstellung gesagt, wer die Tat begangen habe, auseinander. Es hält diese Erklärung für widersprüchlich, da der Kläger außerdem angegeben habe, er habe bei der Gegenüberstellung auf der Militärstation weder Personen sehen noch verstehen können. Diese Bewertung verletzt Gesetze der Logik nicht und lässt auch im Übrigen keine Überschreitung der Grenzen richterlicher Tatsachen- und Beweiswürdigung erkennen. Der Kritik des Klägers liegt vielmehr - wie ausgeführt - eine unzutreffende Rechtsauffassung zu Grunde, aus der sich die geltend gemachten Mängel nicht ableiten lassen.

10

2.2 Bei dem angefochtenen Berufungsurteil handelt es sich auch nicht um eine unzulässige Überraschungsentscheidung; der vom Kläger gerügte Gehörsverstoß liegt nicht vor.

11

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt sich eine gerichtliche Entscheidung als unzulässige Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit unter Verletzung seiner ihm nach § 86 Abs. 3, § 104 Abs. 1, § 173 VwGO i.V.m. § 139 Abs. 2 ZPO obliegenden Hinweis- und Erörterungspflicht dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (z.B. Beschluss vom 19. Juni 1998 - BVerwG 6 B 70.97 - NVwZ-RR 1998, 759; Urteile vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235 und vom 14. März 1991 - BVerwG 10 C 10.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 43 jeweils m.w.N.). Hierfür ist nichts ersichtlich.

12

Die Frage, ob der Kläger nach § 3 Abs. 2 AsylVfG wegen einer schweren nichtpolitischen Straftat von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen ist, bildet die zentrale Begründung für den vorliegend angefochtenen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Spätestens mit der Zulassung der Berufung wegen nachträglicher Abweichung des angefochtenen Urteils vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juli 2011 musste es sich dem Kläger deshalb aufdrängen, dass es im Verfahren (auch) auf diese Frage ankommen würde, zumal sie bereits im erstinstanzlichen Verfahren erörtert worden war. Im Übrigen hat der Kläger im Berufungsverfahren zu dieser Frage vorgetragen, die ihm in der Türkei vorgeworfenen Straftaten bestritten und geltend gemacht, dass das Urteil des türkischen Militärgerichts aus Rechtsgründen nicht verwendet werden dürfe. Auch die weitere Rüge, es sei bis zur mündlichen Verhandlung nicht ansatzweise ersichtlich gewesen, dass das Gericht das Tatbestandsmerkmal der nichtpolitischen Straftat als erwiesen ansah, lässt unabhängig von der Richtigkeit dieser Behauptung nicht erkennen, dass dem Kläger unter Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG die Gelegenheit abgeschnitten worden ist, sich zu den tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Entscheidung zu äußern.

13

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zwischen 1965 und 1972 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Bei der am ... Februar 1957 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin, die als Erwerbsunfähige laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, sind seit dem 22. Mai 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G und B im Wesentlichen wegen einer seelischen Störung und posttraumatischen Belastungsstörung (Teil-GdB von 70) anerkannt (Bescheid vom 3. Juli 2007, Bl. 41 SG-Akte).
Am 10. Oktober 1976 begab sich die Klägerin erstmalig in die Psychologische Ambulanz. Der Oberarzt der Klinik Dr. K. diagnostizierte eine konversionsneurotische Symptomatik einer infantilen Persönlichkeit (vielfältiger Symptomkomplex, ausgelöst durch den ersten Geschlechtsverkehr). Eine stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik wurde empfohlen (Arztbericht vom 15. Oktober 1976, Bl. 43 f. Senatsakte). Von Februar 1978 bis Dezember 1979 wurde sie wegen einer Zwangsstörung mit depressiver Komponente und suicidalen Tendenzen, Angstzuständen und Rechenstörung verhaltenstherapeutisch behandelt (vgl. Befundbericht von Dipl.-Psych. M. vom 11. Juni 2011, Bl. 42 Senatsakte). Eine erste stationäre Behandlung fand vom 15. November 1983 bis 16. Februar 1984 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus W. - Funktionsbereich Psychotherapie - wegen einer Angstneurose mit Zwangsgedanken statt (vgl. Arztbriefe vom 29. November 1983 und 1. März 1984, Bl. 37 f. und 39 f. Senatsakte).
Ihre Ausbildung zur Friseurin führte die Klägerin vom 1. Januar 1973 bis 30. Juni 1975 durch, war anschließend im Juli 1975 und dann wieder vom 23. März bis 9. Oktober 1976 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen von einer fünfmonatigen Arbeitslosigkeit. Eine weitere Versicherungspflicht bestand vom 1. Mai 1977 bis 31. Januar 1979, vom 15. Juni 1980 bis 7. November 1982, im März 1983, von März 1984 bis Januar 1986 und schließlich vom 8. März bis 12. August 1986. Danach war die Klägerin arbeitslos (vgl. Versicherungsverlauf vom 20. August 2008, Bl. 35 f. Senatsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt die Klägerin nicht.
Mit 24 Jahren heiratete die Klägerin das erste Mal, die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden. Ihren zweiten Mann heiratete sie mit 29 Jahren, er erkrankte 1997 nach einer Reise nach Kenia an Aids (nur Bluttest, nicht ausgebrochen, Bl. 41 V-Akte), 1998 trennte sie sich von ihm (vgl. Abschlussbericht Fachklinik H. vom 19. Juni 1998, Bl. 28 V-Akte).
Am 19. September 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Hinweis auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater von frühester Kindheit an bis zu dessen Tod in ihrem 15. Lebensjahr. Sie leide an Depressionen, Angststörung, Tinnitus, Zwängen, Alpträumen, Dissoziationsstörungen, sexueller Störung und Schwierigkeiten mit der Sexualität im Allgemeinen als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte den behandelnden Psychotherapeuten sowie die Schwester und die Mutter der Klägerin schriftlich. Der Psychotherapeut H., bei dem die Klägerin seit 2002 in regelmäßiger ambulanter Betreuung steht, legte die Entlassungsberichte der Fachklinik H. (stationäre psychiatrische Behandlung vom 2. Februar bis 27. Mai 1998 und 21. Juni bis 2. August 2000) vor. Er berichtete, dass zunächst eine Zwangssymptomatik im Vordergrund der Behandlung gestanden habe. Erst im Verlauf der Therapie seit 1997 sei die verdrängte schwere Traumatisierung (psychogene Amnesie) mit dem Grundgefühl des hilflos Ausgeliefertseins und tiefer Selbstwertproblematik in den Vordergrund getreten. In dem beigefügten Erstantrag auf Gewährung einer Psychotherapie führte Psychotherapeutin H. aus, sie habe die Klägerin bereits von September 1992 bis zum Mai 1996 psychotherapeutisch behandelt.
Die Schwester der Klägerin, R. Q., gab an, ihre Schwester habe im Alter von 12 Jahren das erste Mal über Ängste und Zwänge berichtet, diese aber nicht als ausdrücklichen Missbrauch geschildert. Ihre Schwester habe gegen ihren Willen beim Vater liegen müssen. Es sei wie ein Ritual gewesen. Er habe an die Wand geklopft, sie habe aufstehen und ins Schlafzimmer gehen müssen. Manchmal sei ihr anzusehen gewesen, dass sie am liebsten nicht gegangen wäre. Dann habe die Mutter sie aufgefordert zu gehen. Sie sei lange beim Vater geblieben. Sie habe auch beobachtet, wie ihr Vater die Brüste ihrer Schwester in der Badewanne eingeseift habe. Damals müsse sie 13 bis 14 Jahre alt gewesen sein. Eines Tages habe ihre Schwester erzählt, sie wolle nicht mehr, dass der Vater zu ihr ins Bad komme, um die Brüste einzuseifen. Das habe sie auch dem Vater gesagt, worauf ein großer Streit in der Familie entstanden sei. Es sei das erste Mal gewesen, dass die Klägerin sich gegen den Willen des Vaters aufgelehnt habe. Ihr selbst sei es zwar nicht verboten gewesen, das Schlafzimmer zu betreten, sie habe aber gewusst, dass das nicht gut sei. Eines Tages habe sie gesehen, dass ihr Vater und ihre Schwester ineinander verkeilt auf dem Bett gelegen hätten. Die Mutter habe vor ihrem Mann Angst um ihr eigenes Leben gehabt, sie habe sich nicht gegen ihn stellen können.
Die Mutter, E. Q., teilte mit, bei ihren Eltern habe es solche Sachen nicht gegeben. Darum habe sie sich niemals vorstellen können, dass ihr Mann sich an ihrer Tochter vergangen habe. Sie habe dies nicht gewusst und sie habe sich nichts dabei gedacht, wenn er die Tochter allein mit ins Schlafzimmer genommen habe. Außerdem habe er die Tochter oft brutal geschlagen und beschimpft. Dass er ihr mit 15 Jahren den Busen eingeseift habe, habe sie mitbekommen. Ihre Tochter habe es ihr damals erzählt (Bl. 53 f.; 55 Verwaltungsakte).
10 
Nach Beiziehung der Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. November 2006 den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne nicht nachweisen, dass sie durch vorsätzliche, rechtswidrige und tätliche Handlungen geschädigt worden sei. Den Antrag habe sie mehr als 30 Jahre nach dem Tod des Vaters und den letzten Schädigungshandlungen gestellt. Zeugen für die Vorfälle gebe es nicht. Die Klägerin habe selbst eingeräumt, sie wisse nicht mehr, was „hinter der verschlossen Tür geschah“. Somit lägen ausschließlich die Angaben der Klägerin gegenüber den behandelnden Ärzten vor und ihr könne der Nachweis sexueller Schädigungen nicht gelingen.
11 
Die Klägerin legte hiergegen unter Beifügung eines Attests vom Facharzt H. Widerspruch ein. Dieser führte aus, es gebe auf Grund der Anamnese und der Lebensgeschichte der Klägerin keinen Zweifel daran, dass sie missbraucht worden sei. Es müsse eine Retraumatisierung befürchtet werden. Die Dokumente müssten dringend einem medizinischen Sachverständigen vorgelegt werden, einer Behörde fehle der medizinische Sachverstand.
12 
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, bei lange zurückliegenden Ereignissen sei erfahrungsgemäß die Sachverhaltsaufklärung schwierig, da oftmals nur wenige oder gar keine Beweise vorlägen. Ein strafrechtliches Verfahren gegen den Vater als mutmaßlichen Schädiger sei zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden, sodass es an zeitnahen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen fehle. Die Zeuginnen hätten nur bestätigen können, dass die Klägerin in das elterliche Schlafzimmer gerufen worden wäre, hätten indessen nicht gewusst, was sich dort konkret ereignet habe. Der sexuelle Missbrauch sei der Klägerin erst im Rahmen einer Therapie durch einen Traum bewusst geworden. Die Therapeutin habe eine psychogene Amnesie diagnostiziert. Nach alledem bestünden Zweifel daran, ob die Darstellungen tatsächlich auf erlittenen Missbrauchshandlungen beruhten.
13 
Mit ihrer hiergegen am 7. März 2007 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin, nunmehr anwaltlich vertreten, ausgeführt, dass die ambulanten und stationären Einrichtungen einen klaren Zusammenhang zwischen den gestellten Diagnosen und einem in der Kindheit stattgefundenen schädigenden Ereignis in Form des sexuellen Missbrauchs bestätigt hätten. Der Beklagte habe auch nicht beachtet, dass ihre Schwester den Missbrauch aus eigener Anschauung geschildert habe.
14 
Sie hat eine weitere schriftliche Aussage ihrer Schwester R. Q. vom 16. Januar 2008 vorgelegt: „Ich habe verschwiegen, was ich damals wirklich gesehen habe. In unserer Familie wurde immer geschwiegen. Der Schande wegen. Meine Mutter und ich hatten damals nicht den Mut, das zu verhindern, was geschehen ist. Immer wieder habe ich gesehen, wie meine Schwester vom Vater mit ins Badezimmer genommen wurde, gegen ihren Willen. Auch habe ich gesehen, wie ihre Brüste eingeseift wurden. Als ich einmal meine Schwester im Schlafzimmer weinen hörte, habe ich die Tür geöffnet. Da sah ich, wie der Penis meines Vaters in dem Mund meiner Schwester steckte. Ich war so gelähmt und konnte damals mit dieser Situation nicht umgehen.“ (Bl. 46 SG-Akte).
15 
E. Q. hat ebenfalls mit Schreiben vom 19. Januar 2008 ergänzend zu ihrer ersten schriftlichen Aussage vorgetragen, dass sie doch gewusst habe, dass ihr Mann ihre Tochter im Schlafzimmer sexuell missbrauche. Sie habe indessen die Augen zugemacht, weil sie sich vor ihrer Familie geschämt habe. Sie habe nicht gewollt, dass diese Schande an die Öffentlichkeit gelange. Nur einmal habe sie ihren Mann zur Rede gestellt. Der habe ihr gesagt: „Die Sachen, die ich mit dir nicht machen will, die mache ich mit E..“ (Bl. 48 SG-Akte).
16 
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der damals zuständige Richter die Klägerin angehört und ihre Schwester als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Angaben wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 5. Dezember 2008 (Bl. 63 ff. SG-Akte) verwiesen. Des Weiteren ist die Klägerin nervenärztlich begutachtet worden.
17 
Der Sachverständige, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie Dr. Sch. hat in seinem Gutachten vom 15. Juli 2010 ausgeführt, dass die Klägerin an einer komplexen posttraumatischen Belastungs-/Persönlichkeitsstörung sowie einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leide, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sinne der Alleinverursachung auf die Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückzuführen sei. Er habe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin bis zum Tode ihres Vaters im Frühjahr 1972 unter körperlicher Gewalt durch ihren Vater gelitten habe, auch wenn sie sich nicht, kaum oder nur eingeschränkt erinnern könne. Bei ihr liege eine sogenannte „psychogene Amnesie“ vor. Die erhebliche Störung der Sexualität sei ebenfalls auf den Missbrauch zurückführen. Den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) schätze er mit 80 ein, da es sich um schwere Störungen handle, die im Grenzbereich zwischen erheblichen mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten lägen.
18 
Gestützt hierauf hat das SG mit Urteil vom 10. Dezember 2010 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 anzuerkennen und ihr wegen dieser Folgen Versorgung aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zu gewähren. Die Klägerin sei seit ihrem 4. Lebensjahr (1961) bis zum Tod ihres Vaters in ihrem 15. Lebensjahr (1972) fortgesetzt sexuell missbraucht worden und zwar unabhängig von einem eventuellen Einvernehmen mit dem Kind oder gegen dessen Willen. Die Schwester der Klägerin habe glaubhaft geschildert, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit als „Lieblingskind“ des gemeinsamen Vaters von ihm beim Baden abgeseift worden sei und zu ihm in das Schlafzimmer habe gehen müssen, wenn dieser an die Wand geklopft habe. Außerdem habe sie eindrücklich eine konkrete Begebenheit von sexuellem Missbrauch wiedergeben können. Dass die Klägerin von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, habe auch die Mutter in ihrem Schreiben vom 19. Januar 2008 bestätigt. Sie habe berichtet, dass sie ihren Mann einmal zur Rede gestellt und dieser ihr gesagt habe, dass er die „Sachen“, die er mit seiner Frau nicht machen wolle, mit der Klägerin mache. Diese Einlassungen bestätigten den Vortrag der Klägerin glaubhaft. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Schwester im Verwaltungsverfahren keine konkreten sexuellen Übergriffe geschildert habe. Nachvollziehbar habe die Zeugin angegeben, dass sie aus Scham nichts Konkretes geschrieben habe, nun aber ihr Gewissen erleichtern wolle. Dies treffe auch auf die Auskunft der Mutter zu. Die vom Beklagten gerügten „Diskrepanzen“ in den Aussagen seien damit hinreichend aufgelöst. Auch die Ausführungen der Klägerin seien in sich schlüssig und glaubhaft. Es bestünden solide ausgeprägte so genannte Realkennzeichen, wie sie eine glaubhafte Aussage charakterisierten. Das zeige sich insbesondere bei der Darstellung von Details wie dem Klopfen gegen die Wand, dem Krankenhausaufenthalt der Mutter oder dem Urlaub in Thüringen, von dem die Klägerin schildere, dass sie dort jeweils keinen Übergriffen des Vaters ausgesetzt gewesen sei, was ihre Schwester bestätigt habe. Dass die Klägerin erst im Jahr 2006 einen Antrag gestellt habe, könne ihr nicht entgegen gehalten werden. Sie sei glaubhaft erst im Jahr 2006 durch die behandelnde Therapeutin auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin werde weiter durch das Gutachten von Dr. Sch. bestätigt. Dieser sei nach Auswertung verschiedener psychologischer Tests zu dem Ergebnis gelangt, dass er keinen vernünftigen Zweifel an den von der Klägerin geschilderten Fällen sexuellen Missbrauchs habe. Er habe die Klägerin zwar nicht im Einzelnen zu den realen Missbrauchsereignissen befragt. Inwieweit sich diese Vorgehensweise nicht vollständig mit denen in der Rechtsprechung anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an Aussagen von psychologischen Begutachtungen decke, könne jedoch dahin gestellt bleiben. Denn allein auf Grund der Zeugenaussagen sei das erkennende Gericht vom Wahrheitsgehalt des Klägervorbringens überzeugt und der Vollbeweis des schädigenden Ereignisses somit bereits erbracht. Der Sachverständige habe auch überzeugend dargelegt, dass die gesundheitliche Schädigung auf die nachgewiesenen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffe zurückgeführt werden könnten und mit einem GdS von 80 zu bewerten sei. Die von ihm diagnostizierten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft in hohem Maße. Sie bedürfe selbst zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben der Unterstützung durch Psychotherapeuten und befinde sich seit ihrem 18. Lebensjahr fast vollständig in ambulanter oder stationärer Behandlung. Deswegen handle es sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, der mit dem GdS von 80 ausreichend Rechnung getragen werde, welches sich auch mit den Feststellungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald im Bescheid vom 3. Juli 2007 decke. Die Klägerin erfülle auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 10 a Abs. 1 OEG. Das sei erforderlich, weil die Schädigung in der Zeit von 1961 bis 1972 und damit im Zeitraum vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschehen sei. Die Klägerin sei allein infolge dieser Schädigung des sexuellen Missbrauchs schwerbeschädigt mit einem GdS von mindestens 50. Zudem sei sie, da sie Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII beziehe, auch bedürftig und habe ihren Wohnsitz in Deutschland im Geltungsbereich des OEG.
19 
Gegen das am 20. Januar 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Februar 2011 mit der Begründung Berufung eingelegt, es sei nicht nachvollziehbar, warum das SG noch ein aussagepsychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Klägerin eingeholt habe, wenn es denn den Zeugenaussagen Glauben schenke. Das Gericht habe nicht ausreichend gewürdigt, warum die Zeugen zunächst keine konkreten Angaben gemacht hätten, obwohl sie bereits zuvor im Verwaltungsverfahren die Gelegenheit zur Schilderung konkreter Vorfälle gehabt hätten. Auch die selbst vorgetragene Erinnerungslosigkeit der Klägerin sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Das Gutachten genüge nicht wissenschaftlichen Anforderungen. Denn der Sachverständige hätte nach der sogenannten Null-Hypothese vorgehen, d. h. zunächst unterstellen müssen, dass die Aussage der Klägerin unwahr sei. Hierzu bestünde auch deswegen besonderer Anlass, weil die Klägerin selbst zeitnah den damals behandelnden Ärzten geschildert habe, dass sie an ihrem Vater sehr gehangen und auch während mehrerer stationärer Behandlungen keine Angaben über einen sexuellen Missbrauch durch den Vater gemacht habe. Damals hätten die Ärzte zunächst auch erhebliche narzisstische Anteile oder eine schizoide Symptomatik beschrieben. Insoweit müsse auch geprüft werden, ob die therapeutischen Sitzungen nicht suggestive Einflüsse verfolgt hätten. Bei der Schilderung des Einseifens der Brust müsse berücksichtigt werden, dass das Waschen im Bad in der Badewanne erfolgt sei und es deswegen an einer Sexualbezogenheit der Handlung fehle. Auch habe die Schwester als Zeugin zunächst keine sexuellen Handlungen im Schlafzimmer geschildert, denn weder Vater noch Klägerin seien nackt gewesen oder hätten sexuelle Handlungen durchgeführt. Dies habe sie erst im Nachhinein angegeben.
20 
Der Beklagte beantragt,
21 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 insoweit aufzuheben, als die Klägerin nicht auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet hat und die Klage insoweit abzuweisen,
22 
hilfsweise von Amts wegen ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin bei dem Institut für Gerichtspsychologie B. bei der Diplom Psychologin S. J. von J. einzuholen,
23 
hilfsweise die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zum BSG zuzulassen.
24 
Die Klägerin beantragt,
25 
die Berufung zurückzuweisen.
26 
Sie hat darauf hingewiesen, dass das SG keineswegs ein sogenanntes Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt habe, sondern der Auftrag an den Gutachter habe gelautet, die Angaben der Klägerin als wahr zu unterstellen. Deswegen finde die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nur bedingt Anwendung. Grundsätzlich sei es ureigene Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Parteien zu beurteilen.
27 
Die Klägerin hat dem Senat den Versicherungsverlauf der Klägerin, erstellt durch die Deutsche Rentenversicherung, sowie weitere ärztliche Befundberichte vorgelegt.
28 
Die Vorsitzende hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 30. August 2011 erörtert. Der daraufhin von dem Beklagten gestellte Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende wurde mit Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2011 zurückgewiesen.
29 
Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 noch einmal befragt und ihre Schwester R. Q. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten ihrer Angaben wird auf die Niederschrift verwiesen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf die Rechte aus dem Urteil vom 10.12.2010 insoweit verzichtet, als ein sexueller Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 geltend gemacht und soweit der Klägerin Versorgung zugesprochen wurde.
30 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtskaten erster und zweiter Instanz sowie die von dem Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Gründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 524/02
vom
27. März 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
25. März 2003 in der Sitzung am 27. März 2003, an denen teilgenommen haben
:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. Juli 2002 mit den Feststellungen aufgehoben , soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf dreier weiterer Vergewaltigungen und einer vorsätzlichen Körperverletzung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen die Verurteilung. Das Rechtsmittel ist begründet.

I.

1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte entschloß sich am 30. Juni 2000 nach einem heftigen Streit, sich endgültig von seiner Freundin, der Zeugin B. , zu trennen. Er forderte sie auf, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nachdem er selbst aus der Wohnung gegangen war und wieder zurückkehrte, fand er die Zeugin dort noch auf dem Bett liegend
vor. Er entschloß sich nun, mit ihr geschlechtlich zu verkehren. Dies entsprang nicht einem Wunsch nach Versöhnung, sondern war als Bestrafung gedacht. Als er begann, der Zeugin mit einer Hand die Hose herunterzuziehen, wehrte sich diese und sagte, daß sie nichts von ihm wolle. Der Angeklagte packte die Zeugin an den Füßen, drehte sie in die Bauchlage und führte sowohl den vaginalen als auch den analen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß an ihr durch, obwohl die Zeugin schrie und ihn aufforderte, damit aufzuhören. Die Ausführung des Verkehrs erfolgte "in roher Weise". Die Zeugin blutete im Genitalbereich und trug blutende Haarrisse in der Haut der Scheidenwand davon. Kurz darauf erklärte er der Zeugin, er werde ihre Sachen aus dem Fenster werfen, wenn sie nicht innerhalb von fünfzehn Minuten die Wohnung verließe. 2. Bei ihrer Beweisführung gegen den bestreitenden Angeklagten folgt die Strafkammer im wesentlichen der Aussage der Zeugin B. . Zwar hat der von ihr zugezogene aussagepsychologische Sachverständige W. ausgeführt, die Aussage der Zeugin könne aus aussagepsychologischer Sicht nicht als verläßlich angesehen werden. Die Kammer geht indessen dennoch von deren Glaubhaftigkeit aus und stellt dabei auf die sonstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme, namentlich außerhalb der Aussage liegende Beweisanzeichen ab. 3. Der Freispruch von den Vorwürfen dreier zeitlich vorgelagerter Vergewaltigungen zum Nachteil der Zeugin B. gründet im wesentlichen darin, daß die Strafkammer insoweit Zweifel an der uneingeschränkten Glaubhaftigkeit der entsprechenden Angaben der Zeugin B. nicht zu überwinden vermochte. Der aussagepsychologische Sachverständige W. ist davon ausgegangen, daß die Bekundungen der Zeugin B. zum Kerngeschehen zu wenig detailliert seien; zum Teil hat er auch Widersprüche in den verschie-
denen Aussagen der Zeugin aufgezeigt. Er hat auch insoweit die sog. "Null- hypothese" für nicht widerlegt gehalten (vgl. BGHSt 45, 164, 167/168). Die Kammer hält schließlich für möglich, daß die Zeugin Gewaltanwendung des Angeklagten, die in der Beziehung nicht unüblich war, mit den Sexualakten vermengt oder verknüpft habe; möglicherweise sei dies unbewußt geschehen.

II.

Die der Verurteilung des Angeklagten (Fall 4 der Anklage) zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Obgleich sie sehr ausführlich ist, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken. 1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indessen dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muß insbesondere auch erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Aus den Urteilsgründen muß sich zudem ergeben , daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30; BGH
NStZ 2000, 48). Schließlich hängt der dem Tatgericht abzuverlangende Begründungsaufwand von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Beschluß vom 26. Februar 2003 - 5 StR 39/03; siehe zur Situation "Aussage gegen Aussage" BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257). Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muß er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, daß der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewußt falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257). 2. Diesen Maßstäben wird die Würdigung der Strafkammer nicht vollends gerecht. Freilich war die Beweissituation im vorliegenden Fall ungewöhnlich schwierig. Es stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Allein aufgrund der Analyse der Bekundungen der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin B. konnten sowohl die Strafkammer als auch der mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung zunächst beauftragte Sachverständige W. , dem die Kammer trotz eines methodenkritischen weiteren Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S. gefolgt ist, die Angaben der Zeugin nicht als zuverlässig bewerten. Diese waren nämlich zum Kerngeschehen und insbesondere zur Gewaltanwendung nicht hinreichend detailliert. Das war der wesentliche Grund für die Freisprüche von den zeitlich vorgelagerten Vorwürfen. Zu der konfliktreichen Beziehung der Zeugin zum Angeklagten kamen weitere für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung bedeutsame Umstände hinzu: Es gab konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Motivs für eine bewußte Falschbelastung. Die Zeugin war, insbesondere durch Angehörige, zu der Strafanzeige gedrängt worden; sie hatte überdies ihren Vater - möglicherweise zu Unrecht - bezichtigt , sie früher sexuell mißbraucht zu haben. Die psychiatrische Sachverständige hat ihr hysteroide Persönlichkeitszüge attestiert. Aus alldem ergeben sich hier besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung.

a) Die Strafkammer hätte bei der Beweiswürdigung zum Fall 4 der Anklage (Verurteilung) im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen auch diejenigen Umstände erkennbar in die Bewertung mit einbeziehen müssen , welche sie mit bewogen haben, den Angeklagten von den weiteren Vergewaltigungsvorwürfen freizusprechen. Dieses Erfordernis ergab sich hier auch daraus, daß die Kammer in jenen Fällen eine Vermengung von anderweitiger Gewaltanwendung des Angeklagten mit Sexualakten durch die Zeugin B. für möglich gehalten hat. Sie hat dabei nicht hinreichend verdeutlicht, ob die Zeugin verschiedene Sachverhalte etwa auch bewußt verknüpft haben könnte. In den mit Freispruch entschiedenen Fällen hat der aussagepsychologische Sachverständige W. teils die erforderlichen Realkennzeichen und die nötige Aussagekonstanz vermißt, des weiteren teilweise auch Widersprüche hervorgehoben. Insoweit ist ihm die Strafkammer gefolgt. Sie hat darüber hinaus zum Fall 1 der Anklage ausgeführt, die von der Zeugin B. beschriebenen Ohrfeigen könnten plausibel auch ihrem vorangegangenen Streit mit dem Angeklagten zugeordnet werden und wären "einer gedanklichen Übertragung auf die Durchführung der Sexualakte zugänglich" (UA S. 98). In der Beweiswürdigung zum Fall 2 der Anklage hebt die Strafkammer hervor, sie könne die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Schläge im Verlaufe eines Eifersuchtsstreites erfolgten und die anschließenden Geschlechtsakte von der Zeugin widerwillig und ohne für den Angeklagten erkennbaren Widerstand vollzogen worden seien, die Zeugin schließlich die Schläge - "auch eventuell unbewußt" - mit den Sexualakten verknüpft habe (UA S. 106). Im Fall 3 der Anklage begründet die Strafkammer den Freispruch unter anderem ähnlich damit, sie könne nicht ausschließen, daß die Zeugin B. frühere sexuelle Vorgänge mit dem Bruder des Angeklagten und dessen Freund, mit denen sie einvernehmlich und zu dritt sexuellen Verkehr hatte, "mit erkennbaren Verdrän-
gungstendenzen erinnert" und "möglicherweise unbewußt" mit ihren Erinnerungen zu dem Vorfall mit dem Angeklagten "vermengt" habe (UA S. 150). Diese Formulierungen lassen offen, ob die Zeugin etwa gar bewußt eine Verknüpfung anderweitiger Gewaltanwendung mit dem Geschlechts- bzw. Analverkehr vorgenommen hat ("eventuell unbewußt", "möglicherweise unbewußt" ). Wäre dem so, hätte das Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum Fall 4 der Anklage, in dem der Angeklagte verurteilt worden ist. Deshalb hätte das Landgericht diese Frage beantworten und gegebenenfalls in die Gesamtwürdigung aller Beweise einbeziehen müssen (vgl. dazu BGH NStZ 2000, 551, 552). Der Senat hat erwogen, ob die in Rede stehenden Wendungen sinngemäß dahin verstanden werden können, daß die Strafkammer allein von einer unbewußten Verknüpfung von Sachverhalten ausgegangen ist, also nur diese für möglich gehalten hat und eine bewußte Vermengung ausschließen wollte. Wegen des Zusammenhangs mit den nachfolgend aufgeführten Mängeln der Beweiswürdigung vermag er dies jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit anzunehmen.
b) Die Strafkammer hat - da konkrete Umstände dazu Anlaß gaben - zu Recht geprüft, ob die Zeugin B. ein Motiv hatte, den Angeklagten zu Unrecht zu belasten ("Rachehypothese"). Ihre Erwägungen lassen jedoch besorgen , daß sie von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem so nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist. aa) Die Kammer führt im Zusammenhang mit der Würdigung der Aussage der Zeugin B. zum Fall 4 der Anklage aus, sie habe sich nicht von einer Rachsucht der Zeugin als möglichem Motiv einer Falschaussage überzeugen können (UA S. 78). Dieser Ansatz ist nicht tragfähig. Es kam vielmehr - anders gewendet - darauf an, ob Rache als Motiv für eine Falschbezichtigung des An-
geklagten ausgeschlossen oder jedenfalls für wenig wahrscheinlich erachtet werden konnte. bb) Darüber hinaus läßt die in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendung, ein Rachemotiv sei generell keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage (UA S. 79 unten) befürchten, die Strafkammer könne von einem so nicht bestehenden allgemeingültigen Erfahrungssatz ausgegangen sein und sich über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggesetzt haben. Rache kann - je nach Lage des Einzelfalles - ein Beweggrund für eine unwahre Anschuldigung sein. Richtig ist allerdings, daß ein Vergewaltigungsopfer auch in berechtigtem Zorn auf den Vergewaltiger mittels wahrer Aussage dessen Bestrafung erstreben kann. Insofern kann Rache als Motiv für eine Beschuldigung durchaus ambivalent sein. Aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen läßt sich deswegen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage schließen (BGHSt 45, 164, 175). In der Aussagepsychologie ist anerkannt, daß die "Rachehypothese" im Rahmen der Begutachtung bei der sog. Motivationsanalyse als mögliche Quelle einer fehlerhaften Aussage bei konkreten Anhaltspunkten - wie sie hier vorliegen - als naheliegende Möglichkeit mit zu bedenken ist (vgl. BGHSt 45, 164, 173). Rachetendenzen, die etwa auch nur zu Übertreibungen führen, kommen seit jeher vor und können immer wieder beobachtet werden (siehe nur Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 97). Dessen ungeachtet ist gleichermaßen bekannt, daß häufig zu Unrecht ein Rachemotiv vermutet wird (ders. aaO). Rachegefühle müssen indes nicht zu einer unwahren Aussage oder zu Übertreibungen führen; sie können auch bei einer wahren Aussage vorhanden sein, aber von der Aussageperson beherrscht werden.
Für die Begutachtung ist eine Analyse der Aussagemotivation erforderlich sowohl für den Fall, daß die Aussage subjektiv (nach der Vorstellung des Zeugen) wahr ist, als auch für den Fall, daß sie bewußt falsch ist (vgl. Greuel/ Offe u.a., Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 173; siehe auch Bender /Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. 1, 2. Aufl. Rdn. 204). In diesem Zusammenhang kommt dem sog. Gleichgewichtsmerkmal besonderes Gewicht zu: Verzichtet der Zeuge auf solche Mehrbelastungen, die ihm möglich wären und dann nicht widerlegt werden könnten, und weisen seine Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht dies gegen eine falsche Belastung (vgl. Bender/Nack, aaO Rdn. 279). Der Tatrichter ist bei konkreten Anhaltspunkten für Rache als Motiv einer Falschbelastung gehalten, diese naheliegende Möglichkeit zu prüfen. Er ist dabei freilich nicht an die strikten methodischen Vorgaben gebunden, die für den aussagepsychologischen Sachverständigen und seine hypothesengeleitete Begutachtung als Standard gelten (vgl. BGHSt 45, 164). Für ihn gilt der Grundsatz freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Mitbestimmend hierfür sind indes die in der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Anforderungen, daß insbesondere seine Beweiswürdigung auch insoweit je nach der Beweislage im übrigen erschöpfend zu sein hat; sie darf nicht lückenhaft sein und erörterungsbedürftige Möglichkeiten unerwogen lassen. Sie darf schließlich anerkannten Erfahrungssätzen der Aussagepsychologie nicht widerstreiten. Zieht der Tatrichter allerdings einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu , so gilt dasselbe wie für die Würdigung aller Sachverständigengutachten: Will er dem Gutachten folgen, so muß er in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben. Einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgrün-
den bedarf es regelmäßig nicht (BGHSt 45, 164, 182). Folgt der Tatrichter dem Gutachten nicht, so muß er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Auffassung begründen. Lehnt er ein Gutachten ab und folgt einem anderen, etwa im Blick auf die Beweisergebnisse im übrigen, so muß er auch hierfür die Gründe angeben (vgl. nur BGHSt 34, 29, 31; BGH NStZ 2000, 550; 2001, 45; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 267 Rdn. 13 m.w.N.). Das Landgericht hat sich zwar ausführlich mit den gutachtlichen Äußerungen der beiden aussagepsychologischen und der psychiatrischen Sachverständigen auseinandergesetzt. Der von ihm aufgestellte Grundsatz, ein Rachemotiv sei „generell“ keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage, besteht indessen so nicht. Die Strafkammer hat überdies zwar einige auffällige Gesichtspunkte angeführt, derentwegen sie sich überzeugt sieht, daß die Zeugin B. keine rachegeleitete Falschaussage getätigt habe. Das geschieht aber nicht im Rahmen der gebotenen umfassenden Bewertung, insbesondere - bei zum Teil gegenläufigen Sachverständigenbewertungen - nicht im Hinblick auf das sog. Gleichgewichtsmerkmal. Diese Erwägungen vermögen im Blick auf die vorangestellten maßstäblichen Wendungen (keine "Überzeugung" von einem Rachemotiv, das zudem "generell keine taugliche Hypothese" für eine Falschaussage sei) mithin nicht die Besorgnis auszuräumen, die Strafkammer könne von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen sein.
c) Die Strafkammer prüft zu Recht, ob die Zeugin B. , nachdem sie aus ihrer Familie zur Strafanzeige gedrängt wurde, tatsächlich stattgefundene nicht einverständliche sexuelle Handlungen als - worauf es entscheidend ankommt - durch Gewalt erzwungen geschildert hat. Diese Möglichkeit widerlegt
die Strafkammer insbesondere mit zwei Kurzmitteilungen (SMS-Short Message Service), die die Zeugin B. mittels Mobiltelefon im Zusammenhang mit der Tat im Fall 4 an ihre Freundin M. versandt habe. Das wäre tragfähig, wenn die Strafkammer näher dargelegt hätte, daß die zweite - aufgrund ihres Inhalts beweiskräftige - Nachricht tatsächlich im Zusammenhang mit der Tat übermittelt wurde. Daran fehlt es aber. Die Strafkammer würdigt eine Abweichung zwischen den Angaben der Zeugin B. und der Zeugin M. hierzu nicht ausdrücklich. M. hat bekundet, sie habe von der Zeugin B. zwei SMS-Kurzmitteilungen auf ihrem Mobiltelefon erhalten: Die erste mit dem Text "Hilfe"; die zweite mit dem Hinweis, vergewaltigt worden zu sein. Die Zeugin B. hat sich nicht an diese zweite Kurzmitteilung erinnern können (UA S. 56 ff.). Das erscheint bei einem außergewöhnlichen Ereignis wie dem hier in Rede stehenden eher ungewöhnlich. Da die Strafkammer sich bei ihrer Beweisführung aber auch auf die zweite Kurzmitteilung stützt (UA S. 60), hätte sie sich auch mit dem Nichterinnern der Zeugin B. in seiner Bedeutung für die Beweiswürdigung auseinandersetzen müssen.
d) Ähnlich verhält es sich mit der Bedeutung einer etwaigen Falschbezichtigung des Vaters der Zeugin durch diese: Die Zeugin hatte u.a. gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Bi. eingeräumt, ihren Vater früher zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs zu ihrem Nachteil beschuldigt zu haben. Solche Vorwürfe gegen ihren Vater hatte sie unter anderem gegenüber einer Freundin, gegenüber der Ehefrau des Zahnarztes, bei dem sie tätig war, und bei ihrer Nervenärztin erhoben. Die Strafkammer hat sich außerstande gesehen , davon auszugehen, daß die Zeugin ihren Vater "bewußt wahrheitswidrig" des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt habe: Diese Frage müsse offenblei-
ben. Hypothetisch müsse erwogen werden, daß der Mißbrauch zutreffend sei und die Zeugin sich nicht mehr in der Lage sehe, dies zu offenbaren (UA S. 74). Diese Würdigung läßt für sich gesehen besorgen, daß die Strafkammer die Frage einer bewußt wahrheitswidrigen Bezichtigung des Vaters in ihrer Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin im abgeurteilten Fall 4 der Anklage nicht hinreichend bedacht hat. Selbst wenn die Strafkammer meinte dahinstellen zu sollen, ob die Bezichtigung zutraf oder nicht, hätte sie im Rahmen einer Gesamtschau auch auf die Bedeutung dieses Vorgangs für die Beweiswürdigung im Fall 4 der Anklage eingehen müssen. Dabei hätte sie, wenn sie den anderweitigen Vorwurf der Zeugin gegen ihren Vater nicht meinte klären zu können, auch dessen Unwahrheit in Betracht ziehen und diese Möglichkeit in eine Gesamtbewertung der Beweislage einstellen müssen. Denn daraus hätten sich Zweifel an der Richtigkeit der Aussage im Fall 4 der Anklage ergeben können.
3. Auf diesen rechtserheblichen Erörterungsmängeln kann das angefochtene Urteil beruhen. Der Senat sieht sich angesichts der Besonderheiten des Falles und der ersichtlich schwierigen Beweissituation nicht in der Lage, diese Mängel auch bei verständiger Lesart der betroffenen Urteilsstellen und der Betrachtung des gesamten Urteilszusammenhanges teils lediglich als Fassungsmängel , teils als weniger bedeutsame Einzelheiten zu begreifen und für nicht durchgreifend zu erachten. Zwar standen der Strafkammer im Fall 4 der Anklage gewichtige Beweisanzeichen außerhalb der Aussage der Zeugin zur Verfügung, insbesondere der von der Gynäkologin zeitnah diagnostizierte achtförmige Blutschaum um Anus und Scheide, deren Verursachung bei einem
in der vorausgegangenen Nacht möglicherweise stattgefundenen einvernehmlichen Verkehr eher fernliegend erscheint. Der Senat vermag jedoch angesichts der übrigen substantiellen Bedenken gegen die Aussage der Zeugin, insbesondere der Detailarmut der Schilderung zum Kerngeschehen, nicht sicher auszuschließen, daß die Bewertung im Ergebnis hätte anders ausfallen können , wenn der Tatrichter die genannten Gesichtspunkte ausdrücklich in eine abschließende Würdigung aller Umstände mit einbezogen hätte und von einem zutreffenden Ansatz zur Prüfung der Motivationslage der Zeugin für eine etwaige Falschaussage ausgegangen wäre. Das gilt zumal auch im Blick darauf, daß die neben den aussagepsychologischen Sachverständigen hinzugezogene psychiatrische Sachverständige Dr. Bi. - wenngleich wohl auf die Erstaussage der Zeugin bezogen - ausgeführt hat, die Aussage "müsse nicht falsch" sein; nur lasse sich schwer trennen, inwieweit sie auf Erlebtem oder Nichterlebtem beruhe. Die Aussagen der Zeugin seien in Belastungssituationen nicht zuverlässig.
Nach allem muß die Sache zum Fall 4 der Anklage neu verhandelt und entschieden werden. Der neue Tatrichter wird naheliegender Weise wieder den Rat eines forensisch hocherfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen in Anspruch nehmen. Die im freisprechenden - und rechtskräftigen - Teil des Ersturteils enthaltenen Feststellungen sind für ihn nicht bindend (§ 358 Abs. 1 StPO; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.). RiBGH Dr. Boetticher ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Nack Nack Schluckebier Kolz Hebenstreit

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zwischen 1965 und 1972 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Bei der am ... Februar 1957 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin, die als Erwerbsunfähige laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, sind seit dem 22. Mai 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G und B im Wesentlichen wegen einer seelischen Störung und posttraumatischen Belastungsstörung (Teil-GdB von 70) anerkannt (Bescheid vom 3. Juli 2007, Bl. 41 SG-Akte).
Am 10. Oktober 1976 begab sich die Klägerin erstmalig in die Psychologische Ambulanz. Der Oberarzt der Klinik Dr. K. diagnostizierte eine konversionsneurotische Symptomatik einer infantilen Persönlichkeit (vielfältiger Symptomkomplex, ausgelöst durch den ersten Geschlechtsverkehr). Eine stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik wurde empfohlen (Arztbericht vom 15. Oktober 1976, Bl. 43 f. Senatsakte). Von Februar 1978 bis Dezember 1979 wurde sie wegen einer Zwangsstörung mit depressiver Komponente und suicidalen Tendenzen, Angstzuständen und Rechenstörung verhaltenstherapeutisch behandelt (vgl. Befundbericht von Dipl.-Psych. M. vom 11. Juni 2011, Bl. 42 Senatsakte). Eine erste stationäre Behandlung fand vom 15. November 1983 bis 16. Februar 1984 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus W. - Funktionsbereich Psychotherapie - wegen einer Angstneurose mit Zwangsgedanken statt (vgl. Arztbriefe vom 29. November 1983 und 1. März 1984, Bl. 37 f. und 39 f. Senatsakte).
Ihre Ausbildung zur Friseurin führte die Klägerin vom 1. Januar 1973 bis 30. Juni 1975 durch, war anschließend im Juli 1975 und dann wieder vom 23. März bis 9. Oktober 1976 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen von einer fünfmonatigen Arbeitslosigkeit. Eine weitere Versicherungspflicht bestand vom 1. Mai 1977 bis 31. Januar 1979, vom 15. Juni 1980 bis 7. November 1982, im März 1983, von März 1984 bis Januar 1986 und schließlich vom 8. März bis 12. August 1986. Danach war die Klägerin arbeitslos (vgl. Versicherungsverlauf vom 20. August 2008, Bl. 35 f. Senatsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt die Klägerin nicht.
Mit 24 Jahren heiratete die Klägerin das erste Mal, die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden. Ihren zweiten Mann heiratete sie mit 29 Jahren, er erkrankte 1997 nach einer Reise nach Kenia an Aids (nur Bluttest, nicht ausgebrochen, Bl. 41 V-Akte), 1998 trennte sie sich von ihm (vgl. Abschlussbericht Fachklinik H. vom 19. Juni 1998, Bl. 28 V-Akte).
Am 19. September 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Hinweis auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater von frühester Kindheit an bis zu dessen Tod in ihrem 15. Lebensjahr. Sie leide an Depressionen, Angststörung, Tinnitus, Zwängen, Alpträumen, Dissoziationsstörungen, sexueller Störung und Schwierigkeiten mit der Sexualität im Allgemeinen als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte den behandelnden Psychotherapeuten sowie die Schwester und die Mutter der Klägerin schriftlich. Der Psychotherapeut H., bei dem die Klägerin seit 2002 in regelmäßiger ambulanter Betreuung steht, legte die Entlassungsberichte der Fachklinik H. (stationäre psychiatrische Behandlung vom 2. Februar bis 27. Mai 1998 und 21. Juni bis 2. August 2000) vor. Er berichtete, dass zunächst eine Zwangssymptomatik im Vordergrund der Behandlung gestanden habe. Erst im Verlauf der Therapie seit 1997 sei die verdrängte schwere Traumatisierung (psychogene Amnesie) mit dem Grundgefühl des hilflos Ausgeliefertseins und tiefer Selbstwertproblematik in den Vordergrund getreten. In dem beigefügten Erstantrag auf Gewährung einer Psychotherapie führte Psychotherapeutin H. aus, sie habe die Klägerin bereits von September 1992 bis zum Mai 1996 psychotherapeutisch behandelt.
Die Schwester der Klägerin, R. Q., gab an, ihre Schwester habe im Alter von 12 Jahren das erste Mal über Ängste und Zwänge berichtet, diese aber nicht als ausdrücklichen Missbrauch geschildert. Ihre Schwester habe gegen ihren Willen beim Vater liegen müssen. Es sei wie ein Ritual gewesen. Er habe an die Wand geklopft, sie habe aufstehen und ins Schlafzimmer gehen müssen. Manchmal sei ihr anzusehen gewesen, dass sie am liebsten nicht gegangen wäre. Dann habe die Mutter sie aufgefordert zu gehen. Sie sei lange beim Vater geblieben. Sie habe auch beobachtet, wie ihr Vater die Brüste ihrer Schwester in der Badewanne eingeseift habe. Damals müsse sie 13 bis 14 Jahre alt gewesen sein. Eines Tages habe ihre Schwester erzählt, sie wolle nicht mehr, dass der Vater zu ihr ins Bad komme, um die Brüste einzuseifen. Das habe sie auch dem Vater gesagt, worauf ein großer Streit in der Familie entstanden sei. Es sei das erste Mal gewesen, dass die Klägerin sich gegen den Willen des Vaters aufgelehnt habe. Ihr selbst sei es zwar nicht verboten gewesen, das Schlafzimmer zu betreten, sie habe aber gewusst, dass das nicht gut sei. Eines Tages habe sie gesehen, dass ihr Vater und ihre Schwester ineinander verkeilt auf dem Bett gelegen hätten. Die Mutter habe vor ihrem Mann Angst um ihr eigenes Leben gehabt, sie habe sich nicht gegen ihn stellen können.
Die Mutter, E. Q., teilte mit, bei ihren Eltern habe es solche Sachen nicht gegeben. Darum habe sie sich niemals vorstellen können, dass ihr Mann sich an ihrer Tochter vergangen habe. Sie habe dies nicht gewusst und sie habe sich nichts dabei gedacht, wenn er die Tochter allein mit ins Schlafzimmer genommen habe. Außerdem habe er die Tochter oft brutal geschlagen und beschimpft. Dass er ihr mit 15 Jahren den Busen eingeseift habe, habe sie mitbekommen. Ihre Tochter habe es ihr damals erzählt (Bl. 53 f.; 55 Verwaltungsakte).
10 
Nach Beiziehung der Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. November 2006 den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne nicht nachweisen, dass sie durch vorsätzliche, rechtswidrige und tätliche Handlungen geschädigt worden sei. Den Antrag habe sie mehr als 30 Jahre nach dem Tod des Vaters und den letzten Schädigungshandlungen gestellt. Zeugen für die Vorfälle gebe es nicht. Die Klägerin habe selbst eingeräumt, sie wisse nicht mehr, was „hinter der verschlossen Tür geschah“. Somit lägen ausschließlich die Angaben der Klägerin gegenüber den behandelnden Ärzten vor und ihr könne der Nachweis sexueller Schädigungen nicht gelingen.
11 
Die Klägerin legte hiergegen unter Beifügung eines Attests vom Facharzt H. Widerspruch ein. Dieser führte aus, es gebe auf Grund der Anamnese und der Lebensgeschichte der Klägerin keinen Zweifel daran, dass sie missbraucht worden sei. Es müsse eine Retraumatisierung befürchtet werden. Die Dokumente müssten dringend einem medizinischen Sachverständigen vorgelegt werden, einer Behörde fehle der medizinische Sachverstand.
12 
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, bei lange zurückliegenden Ereignissen sei erfahrungsgemäß die Sachverhaltsaufklärung schwierig, da oftmals nur wenige oder gar keine Beweise vorlägen. Ein strafrechtliches Verfahren gegen den Vater als mutmaßlichen Schädiger sei zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden, sodass es an zeitnahen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen fehle. Die Zeuginnen hätten nur bestätigen können, dass die Klägerin in das elterliche Schlafzimmer gerufen worden wäre, hätten indessen nicht gewusst, was sich dort konkret ereignet habe. Der sexuelle Missbrauch sei der Klägerin erst im Rahmen einer Therapie durch einen Traum bewusst geworden. Die Therapeutin habe eine psychogene Amnesie diagnostiziert. Nach alledem bestünden Zweifel daran, ob die Darstellungen tatsächlich auf erlittenen Missbrauchshandlungen beruhten.
13 
Mit ihrer hiergegen am 7. März 2007 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin, nunmehr anwaltlich vertreten, ausgeführt, dass die ambulanten und stationären Einrichtungen einen klaren Zusammenhang zwischen den gestellten Diagnosen und einem in der Kindheit stattgefundenen schädigenden Ereignis in Form des sexuellen Missbrauchs bestätigt hätten. Der Beklagte habe auch nicht beachtet, dass ihre Schwester den Missbrauch aus eigener Anschauung geschildert habe.
14 
Sie hat eine weitere schriftliche Aussage ihrer Schwester R. Q. vom 16. Januar 2008 vorgelegt: „Ich habe verschwiegen, was ich damals wirklich gesehen habe. In unserer Familie wurde immer geschwiegen. Der Schande wegen. Meine Mutter und ich hatten damals nicht den Mut, das zu verhindern, was geschehen ist. Immer wieder habe ich gesehen, wie meine Schwester vom Vater mit ins Badezimmer genommen wurde, gegen ihren Willen. Auch habe ich gesehen, wie ihre Brüste eingeseift wurden. Als ich einmal meine Schwester im Schlafzimmer weinen hörte, habe ich die Tür geöffnet. Da sah ich, wie der Penis meines Vaters in dem Mund meiner Schwester steckte. Ich war so gelähmt und konnte damals mit dieser Situation nicht umgehen.“ (Bl. 46 SG-Akte).
15 
E. Q. hat ebenfalls mit Schreiben vom 19. Januar 2008 ergänzend zu ihrer ersten schriftlichen Aussage vorgetragen, dass sie doch gewusst habe, dass ihr Mann ihre Tochter im Schlafzimmer sexuell missbrauche. Sie habe indessen die Augen zugemacht, weil sie sich vor ihrer Familie geschämt habe. Sie habe nicht gewollt, dass diese Schande an die Öffentlichkeit gelange. Nur einmal habe sie ihren Mann zur Rede gestellt. Der habe ihr gesagt: „Die Sachen, die ich mit dir nicht machen will, die mache ich mit E..“ (Bl. 48 SG-Akte).
16 
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der damals zuständige Richter die Klägerin angehört und ihre Schwester als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Angaben wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 5. Dezember 2008 (Bl. 63 ff. SG-Akte) verwiesen. Des Weiteren ist die Klägerin nervenärztlich begutachtet worden.
17 
Der Sachverständige, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie Dr. Sch. hat in seinem Gutachten vom 15. Juli 2010 ausgeführt, dass die Klägerin an einer komplexen posttraumatischen Belastungs-/Persönlichkeitsstörung sowie einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leide, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sinne der Alleinverursachung auf die Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückzuführen sei. Er habe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin bis zum Tode ihres Vaters im Frühjahr 1972 unter körperlicher Gewalt durch ihren Vater gelitten habe, auch wenn sie sich nicht, kaum oder nur eingeschränkt erinnern könne. Bei ihr liege eine sogenannte „psychogene Amnesie“ vor. Die erhebliche Störung der Sexualität sei ebenfalls auf den Missbrauch zurückführen. Den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) schätze er mit 80 ein, da es sich um schwere Störungen handle, die im Grenzbereich zwischen erheblichen mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten lägen.
18 
Gestützt hierauf hat das SG mit Urteil vom 10. Dezember 2010 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 anzuerkennen und ihr wegen dieser Folgen Versorgung aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zu gewähren. Die Klägerin sei seit ihrem 4. Lebensjahr (1961) bis zum Tod ihres Vaters in ihrem 15. Lebensjahr (1972) fortgesetzt sexuell missbraucht worden und zwar unabhängig von einem eventuellen Einvernehmen mit dem Kind oder gegen dessen Willen. Die Schwester der Klägerin habe glaubhaft geschildert, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit als „Lieblingskind“ des gemeinsamen Vaters von ihm beim Baden abgeseift worden sei und zu ihm in das Schlafzimmer habe gehen müssen, wenn dieser an die Wand geklopft habe. Außerdem habe sie eindrücklich eine konkrete Begebenheit von sexuellem Missbrauch wiedergeben können. Dass die Klägerin von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, habe auch die Mutter in ihrem Schreiben vom 19. Januar 2008 bestätigt. Sie habe berichtet, dass sie ihren Mann einmal zur Rede gestellt und dieser ihr gesagt habe, dass er die „Sachen“, die er mit seiner Frau nicht machen wolle, mit der Klägerin mache. Diese Einlassungen bestätigten den Vortrag der Klägerin glaubhaft. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Schwester im Verwaltungsverfahren keine konkreten sexuellen Übergriffe geschildert habe. Nachvollziehbar habe die Zeugin angegeben, dass sie aus Scham nichts Konkretes geschrieben habe, nun aber ihr Gewissen erleichtern wolle. Dies treffe auch auf die Auskunft der Mutter zu. Die vom Beklagten gerügten „Diskrepanzen“ in den Aussagen seien damit hinreichend aufgelöst. Auch die Ausführungen der Klägerin seien in sich schlüssig und glaubhaft. Es bestünden solide ausgeprägte so genannte Realkennzeichen, wie sie eine glaubhafte Aussage charakterisierten. Das zeige sich insbesondere bei der Darstellung von Details wie dem Klopfen gegen die Wand, dem Krankenhausaufenthalt der Mutter oder dem Urlaub in Thüringen, von dem die Klägerin schildere, dass sie dort jeweils keinen Übergriffen des Vaters ausgesetzt gewesen sei, was ihre Schwester bestätigt habe. Dass die Klägerin erst im Jahr 2006 einen Antrag gestellt habe, könne ihr nicht entgegen gehalten werden. Sie sei glaubhaft erst im Jahr 2006 durch die behandelnde Therapeutin auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin werde weiter durch das Gutachten von Dr. Sch. bestätigt. Dieser sei nach Auswertung verschiedener psychologischer Tests zu dem Ergebnis gelangt, dass er keinen vernünftigen Zweifel an den von der Klägerin geschilderten Fällen sexuellen Missbrauchs habe. Er habe die Klägerin zwar nicht im Einzelnen zu den realen Missbrauchsereignissen befragt. Inwieweit sich diese Vorgehensweise nicht vollständig mit denen in der Rechtsprechung anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an Aussagen von psychologischen Begutachtungen decke, könne jedoch dahin gestellt bleiben. Denn allein auf Grund der Zeugenaussagen sei das erkennende Gericht vom Wahrheitsgehalt des Klägervorbringens überzeugt und der Vollbeweis des schädigenden Ereignisses somit bereits erbracht. Der Sachverständige habe auch überzeugend dargelegt, dass die gesundheitliche Schädigung auf die nachgewiesenen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffe zurückgeführt werden könnten und mit einem GdS von 80 zu bewerten sei. Die von ihm diagnostizierten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft in hohem Maße. Sie bedürfe selbst zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben der Unterstützung durch Psychotherapeuten und befinde sich seit ihrem 18. Lebensjahr fast vollständig in ambulanter oder stationärer Behandlung. Deswegen handle es sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, der mit dem GdS von 80 ausreichend Rechnung getragen werde, welches sich auch mit den Feststellungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald im Bescheid vom 3. Juli 2007 decke. Die Klägerin erfülle auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 10 a Abs. 1 OEG. Das sei erforderlich, weil die Schädigung in der Zeit von 1961 bis 1972 und damit im Zeitraum vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschehen sei. Die Klägerin sei allein infolge dieser Schädigung des sexuellen Missbrauchs schwerbeschädigt mit einem GdS von mindestens 50. Zudem sei sie, da sie Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII beziehe, auch bedürftig und habe ihren Wohnsitz in Deutschland im Geltungsbereich des OEG.
19 
Gegen das am 20. Januar 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Februar 2011 mit der Begründung Berufung eingelegt, es sei nicht nachvollziehbar, warum das SG noch ein aussagepsychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Klägerin eingeholt habe, wenn es denn den Zeugenaussagen Glauben schenke. Das Gericht habe nicht ausreichend gewürdigt, warum die Zeugen zunächst keine konkreten Angaben gemacht hätten, obwohl sie bereits zuvor im Verwaltungsverfahren die Gelegenheit zur Schilderung konkreter Vorfälle gehabt hätten. Auch die selbst vorgetragene Erinnerungslosigkeit der Klägerin sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Das Gutachten genüge nicht wissenschaftlichen Anforderungen. Denn der Sachverständige hätte nach der sogenannten Null-Hypothese vorgehen, d. h. zunächst unterstellen müssen, dass die Aussage der Klägerin unwahr sei. Hierzu bestünde auch deswegen besonderer Anlass, weil die Klägerin selbst zeitnah den damals behandelnden Ärzten geschildert habe, dass sie an ihrem Vater sehr gehangen und auch während mehrerer stationärer Behandlungen keine Angaben über einen sexuellen Missbrauch durch den Vater gemacht habe. Damals hätten die Ärzte zunächst auch erhebliche narzisstische Anteile oder eine schizoide Symptomatik beschrieben. Insoweit müsse auch geprüft werden, ob die therapeutischen Sitzungen nicht suggestive Einflüsse verfolgt hätten. Bei der Schilderung des Einseifens der Brust müsse berücksichtigt werden, dass das Waschen im Bad in der Badewanne erfolgt sei und es deswegen an einer Sexualbezogenheit der Handlung fehle. Auch habe die Schwester als Zeugin zunächst keine sexuellen Handlungen im Schlafzimmer geschildert, denn weder Vater noch Klägerin seien nackt gewesen oder hätten sexuelle Handlungen durchgeführt. Dies habe sie erst im Nachhinein angegeben.
20 
Der Beklagte beantragt,
21 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 insoweit aufzuheben, als die Klägerin nicht auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet hat und die Klage insoweit abzuweisen,
22 
hilfsweise von Amts wegen ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin bei dem Institut für Gerichtspsychologie B. bei der Diplom Psychologin S. J. von J. einzuholen,
23 
hilfsweise die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zum BSG zuzulassen.
24 
Die Klägerin beantragt,
25 
die Berufung zurückzuweisen.
26 
Sie hat darauf hingewiesen, dass das SG keineswegs ein sogenanntes Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt habe, sondern der Auftrag an den Gutachter habe gelautet, die Angaben der Klägerin als wahr zu unterstellen. Deswegen finde die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nur bedingt Anwendung. Grundsätzlich sei es ureigene Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Parteien zu beurteilen.
27 
Die Klägerin hat dem Senat den Versicherungsverlauf der Klägerin, erstellt durch die Deutsche Rentenversicherung, sowie weitere ärztliche Befundberichte vorgelegt.
28 
Die Vorsitzende hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 30. August 2011 erörtert. Der daraufhin von dem Beklagten gestellte Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende wurde mit Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2011 zurückgewiesen.
29 
Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 noch einmal befragt und ihre Schwester R. Q. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten ihrer Angaben wird auf die Niederschrift verwiesen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf die Rechte aus dem Urteil vom 10.12.2010 insoweit verzichtet, als ein sexueller Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 geltend gemacht und soweit der Klägerin Versorgung zugesprochen wurde.
30 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtskaten erster und zweiter Instanz sowie die von dem Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Gründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

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Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

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Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

(1) § 75 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes gilt nicht für Entscheidungen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur nach § 27d Absatz 1, 1a und 4 und Entscheidungen der Baugenehmigungsbehörden auf Grund des Baurechts.

(2) Wird der Plan nicht innerhalb von fünf Jahren nach Rechtskraft durchgeführt, so können die vom Plan betroffenen Grundstückseigentümer verlangen, dass der Unternehmer ihre Grundstücke und Rechte insoweit erwirbt, als nach § 28 die Enteignung zulässig ist. Kommt keine Einigung zustande, so können sie die Durchführung des Enteignungsverfahrens bei der Enteignungsbehörde beantragen. Im Übrigen gilt § 28.

(3) Wird mit der Durchführung des Plans nicht innerhalb von zehn Jahren nach Eintritt der Unanfechtbarkeit begonnen, so tritt er außer Kraft, es sei denn, er wird vorher auf Antrag des Trägers des Vorhabens von der Planfeststellungsbehörde um höchstens fünf Jahre verlängert.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

Tenor

Der Planfeststellungsbeschluss für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld“ des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10. Juni 2014 in Gestalt von dessen Änderungsplanfeststellungsbeschluss (1. Planänderung) vom 27. Januar 2016 wird aufgehoben.

Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte mit Ausnahme ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten, die sie selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin - eine staatliche Hochschule des Landes - wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe für den Neubau der „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" („Universitätslinie“ - Jahnstraße, Kirschnerstraße, Hofmeisterweg, Tiergartenstraße und Straße Im Neuenheimer Feld).
Unter dem 03.12.2010 beantragte die beigeladene Vorhabenträgerin beim Regierungspräsidium Karlsruhe die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens und den Erlass eines Planfeststellungsbeschlusses für die „Universitätslinie Straßenbahn Neuenheimer Feld“. Beabsichtigt ist der Bau einer 2,5 km langen, zweigleisigen Straßenbahntrasse durch das Gebiet des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 mit fünf Haltestellen. Sie soll an das außerhalb des Bebauungsplangebiets bestehende, in der Berliner Straße verlaufende Straßenbahngleis nördlich der Haltestelle „Jahnstraße“ anschließen und nach Westen in die in Ost-West-Richtung verlaufende Kirschnerstraße abbiegen. Dort soll sie parallel zur Fahrbahn bis in Höhe des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ, Im Neuenheimer Feld 280) verlaufen. Nach Durchfahrung einer Grünfläche vor dem Gästehaus der Universität soll die Trasse in Randlage des Botanischen Gartens verlaufen, sodann vorbei am Zoologischen Garten und an der Kinderklinik. Dann soll sie Richtung Osten in die Straße Im Neuenheimer Feld abbiegen, deren Verlauf sie in südlicher Randlage - am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (INF 460) und der Kopfklinik (INF 400) vorbei - folgen soll. Danach soll sie in Nordlage schwenken und - vorbei an der Pädagogischen Hochschule (INF 560 - 562), dem Max-Planck-Institut (INF 535), dem Rechenzentrum (INF 293), dem Physikalisch-Chemischen-Institut (INF 253) und dem Institut für Geowissenschaften (Mineralogisches Institut, INF 236) - wieder außerhalb des Bebauungsplangebiets die Berliner Straße erreichen, wo sie an das bestehende Straßenbahnnetz anschließen soll.
Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ vom 28.07.1960 setzt u. a. ein (Sonder-)Gebiet „Universität“ mit einer „Bauvorbehaltsfläche“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung fest. Auf dieser Fläche sind - innerhalb der festgesetzten Baugrenze - sämtliche bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen.
Nachdem ihr bestätigt worden war, dass aufgrund der überlassenen Unterlagen das Anhörungsverfahren eingeleitet werden könne, reichte die Beigeladene ihre Planunterlagen bei der Stadt Heidelberg als zuständiger Anhörungsbehörde ein und beantragte die Durchführung des Anhörungsverfahrens.
Mit Schreiben vom 27.04.2011 bat die Anhörungsbehörde die betroffenen Eigentümer, Verbände und Träger öffentlicher Belange, bis einschließlich 30.06. bzw. 29.07.2011 zu dem Planvorhaben umfassend Stellung zu nehmen. Am 04.05.2011 gab sie die Auslegung der Planunterlagen vom 16.05. bis 16.06.2011 öffentlich bekannt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass jeder, dessen Belange durch die Planung berührt würden, bis einschließlich 30.06.2011 schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stadt Heidelberg Einwendungen gegen den Plan erheben oder sich zu den Umweltauswirkungen des Vorhabens äußern könne.
Die Antragsunterlagen lagen vom 16.05. bis 16.06.2011 bei der Stadt Heidelberg öffentlich aus.
Mit - offenbar noch am gleichen Tage per Kurierpost bei der Stadt Heidelberg eingegangenem - Anwaltsschreiben vom 29.06.2011 erhob die Klägerin Einwendungen gegen das Planvorhaben.
Am 20. und 21.03.2012 führte die Anhörungsbehörde den am 29.02.2012 öffentlich bekannt gemachten Erörterungstermin durch.
Aufgrund vorgebrachter Einwendungen und Stellungnahmen änderte die Beigeladene den eingereichten Plan. Die Anhörungsbehörde führte ergänzende Anhörungen durch, indem sie den von der Planänderung Betroffenen bzw. berührten Stellen jeweils Gelegenheit gab, zu den Planänderungen bis zum 06.12.2012 Stellung zu nehmen. Von einer erneuten Beteiligung der Öffentlichkeit wurde abgesehen.
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Die Klägerin hielt mit Schreiben vom 06.12.2012 ihre bisherigen Einwendungen aufrecht und erhob darüber hinaus weitere Einwendungen.
11 
Am 28.02.2013 übersandte die Anhörungsbehörde die bis dahin angefallenen Verfahrensunterlagen dem Regierungspräsidium Karlsruhe zur weiteren Veranlassung. Diesen waren ein Protokoll über den Erörterungstermin sowie der unter dem 07.02.2013 erstellte Anhörungsbericht beigefügt.
12 
In der Folge gab die Anhörungsbehörde den hiervon Betroffenen noch Gelegenheit, zu der von der Beigeladenen beabsichtigten Änderung des Grunderwerbsplans sowie des Grunderwerbsverzeichnisses Stellung zu nehmen.
13 
Mit Beschluss vom 10.06.2014 stellte das Regierungspräsidium Karlsruhe den Plan für den Neubau der „Straßenbahn Im Neuenheimer Feld" („Universitätslinie“ - Jahnstraße, Kirschnerstraße, Hofmeisterweg, Tiergartenstraße und Straße Im Neuenheimer Feld) fest (A. I., S. 21). Unter A. III. (S. 30 ff.) fügte die Planfeststellungsbehörde zahlreiche Nebenbestimmungen bei und unter A. IV. (S. 50 ff.) nahm sie zahlreiche Zusagen der Beigeladenen in den Planfeststellungsbeschluss auf. Die vorgebrachten Einwendungen - auch die der Klägerin - wies sie zurück, soweit ihnen nicht Rechnung getragen oder entsprochen wurde (vgl. A. VI., S. 65, 448 ff.). Eine Ausfertigung des Planfeststellungsbeschlusses lag vom 03.07. bis zum 17.07.2014 zur Einsichtnahme aus.
14 
Bei ihrer abschließenden Gesamtbetrachtung (S. 533 ff.) kam die Planfeststellungsbehörde zum Ergebnis, dass die mit dem Vorhaben verfolgten Ziele erreicht werden könnten. Nach der Gesamtabwägung aller durch das Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange werde dem Antrag des Vorhabenträgers zum Bau der Straßenbahn nach Maßgabe der getroffenen Entscheidungen, Nebenbestimmungen und Zusagen entsprochen. Durch das Vorhaben würden weder öffentliche noch private Belange in einer Weise beeinträchtigt, dass das Interesse an der Umsetzung des Vorhabens insgesamt zurücktreten müsste. Den mit dem Vorhaben verfolgten Zielen komme gegenüber den entgegenstehenden öffentlichen und privaten Belangen das größere Gewicht zu. Den gegen das Vorhaben sprechenden Belangen sei in großem Umfang durch Zusagen und Nebenbestimmungen Rechnung getragen. Es biete sich gegenüber der beantragten Trassenführung (Variante A2) keine Alternative an, mit der die dargestellten Ziele unter geringerer Inanspruchnahme entgegenstehender Belange erreicht werden könnten. Bei der Betrachtung von Alternativen sei die Planfeststellungsbehörde zur Überzeugung gelangt, dass sich die Antragsvariante aus verkehrlicher Sicht aufdränge, insbesondere weil sie den bisherigen Buslinienverlauf durch das Neuenheimer Feld aufgreife, sich im Sinne einer Bündelungsfunktion an die bestehenden Erschließungsstraßen anlehne, damit hinsichtlich der Erschließungsbereiche, aber insbesondere auch hinsichtlich der Taktfrequenz und der Umsteigebeziehungen günstige Auswirkungen auf die zentralen Bereiche des Neuenheimer Feldes habe und zusätzliche Richtungsänderungen mit engen Kurvenradien und negativen Auswirkungen auf Fahrkomfort und -geschwindigkeit vermeide. Mögliche Vorteile anderer Alternativen überwögen demgegenüber die Vorteile des beantragten und planfestgestellten Neubaus nicht in einer Weise, dass sich diese Alternativen „als - eindeutig - vorzugswürdig“ erwiesen. Dabei werde nicht verkannt, dass durch das Vorhaben auch negative Auswirkungen auf private und auch öffentliche Interessen entstünden. Im Bereich von Erschütterungen seien insbesondere in der Betriebsphase Auswirkungen auf die Umgebung, insbesondere auf erschütterungsempfindliche Geräte nicht ganz auszuschließen. Durch entsprechende Vorkehrungen der Vorhabenträgerin würden mögliche Beeinträchtigungen jedoch im Bereich des Zumutbaren verbleiben. Durch elektromagnetische Phänomene könnten sich zwar beim Betrieb der Straßenbahn nicht unerhebliche Auswirkungen auf gegenwärtig vorhandene und zukünftig noch zu beschaffende (hoch)empfindliche Geräte von im Planungsbereich angesiedelten Einrichtungen ergeben. Durch umfangreiche (Schutz)Maßnahmen, die sich insbesondere auf die Ausgestaltung der Trasse, die Fahrzeugart, die Gerätestandorte und/oder -abschirmungen bezögen, blieben diese Auswirkungen jedoch verträglich und zumutbar.
15 
Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 30.06.2014 zugestellten Planfeststellungsbeschluss hat die Klägerin am 30.07.2014 Klage zum erkennenden Gerichtshof erhoben. Zur Begründung trägt sie am 10.09.2014 im Wesentlichen vor: Die historisch gewachsene hocheffiziente Campusstruktur dürfe nicht durch verkehrstechnische Veränderungen in ihrem Bestand, ihrer Funktion, ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Entwicklungsmöglichkeiten gefährdet werden. Der Planfeststellungsbeschluss greife tief in ihre Belange, vor allem ihre Funktions-, Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit ein und beeinträchtige diese nachhaltig. Sie sei klagebefugt, da sie als Dauernutzungsberechtigte Grundstücke und Baulichkeiten im Universitätsareal nutze, welche von dem Vorhaben unmittelbar in Anspruch genommen und durch Immissionen unzumutbar beeinträchtigt würden. Insofern werde sie in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Forschungsfreiheit und in ihrem subjektiv öffentlichen Recht verletzt, von unzumutbaren Lärm- und Erschütterungswirkungen verschont zu bleiben. Durch letztere sowie betriebsbedingte elektromagnetische Felder werde die Funktionsfähigkeit ihrer empfindlichen Forschungseinrichtungen und -geräte unzumutbar gestört. Zuverlässige und geeignete Schutzmaßnahmen stünden noch nicht zur Verfügung. Darüber hinaus werde sie in ihrem subjektiven Recht auf fehlerfreie Abwägung verletzt. Dadurch, dass die Planfeststellungsbehörde ihre Belange nicht ordnungsgemäß ermittelt und abgewogen habe, habe sie sich bei der Variantenprüfung zu Unrecht für die Variante A2 entschieden. Diese sei auch mit den strikten und auch sie schützenden städtebaulichen Vorgaben im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet in Heidelberg“ vom 28.07.1960 und in den diesen Bebauungsplan flankierenden Verträgen nicht vereinbar. Denn danach sei das Universitätsgebiet von Anlagen des öffentlichen Verkehrs gerade freizuhalten.
16 
Ihre Klage sei auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss sei rechtswidrig. und verletze sie dadurch in ihren Rechten. Es stelle bereits einen Rechtsmangel dar, dass die Planfeststellungsbehörde ohne eigene fachliche Prüfung durchgängig den Vorstellungen des Beigeladenen gefolgt sei. Auch habe sie verkannt, dass die fachplanungsrechtlichen Grundsätze im Lichte des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auszulegen und anzuwenden seien. Der Planfeststellungsbeschluss greife substantiell in ihre Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ein. An der Straße Im Neuenheimer Feld befänden sich Einrichtungen mit - höchst - empfindlichen Geräten. Der Staat müsse sicherstellen, dass das Grundrecht freier wissenschaftlicher Bestätigung möglichst unangetastet bleibe. Insofern enthalte Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auch eine objektive, wertentscheidende Grundsatznorm. Störungen und Behinderungen der universitären Einrichtungen und Veranstaltungen müssten ausgeschlossen werden. Der Planfeststellungsbeschluss beachte nicht hinreichend, dass Wissenschaft und Forschung durch eine starke Entwicklungsoffenheit geprägt seien. Insofern müssten auch künftige und ungewisse Entwicklungsmöglichketen berücksichtigt werden. Die Entscheidung zugunsten der Variante A2 und damit gegen die sich aufdrängende Variante A1 sei abwägungsfehlerhaft. Ihren Belangen komme indes in dem durch den Bebauungsplan geprägten Universitätsgebiet überragende Bedeutung zu. Dieses Plangebiet solle von äußeren störenden Einflüssen, insbesondere von öffentlichem Verkehr verschont bleiben. Die innere Erschließung solle durch nicht festgestellte Privatstraßen erfolgen. Die „nördliche Haupterschließungsstraße“ (Straße Im Neuenheimer Feld) habe auch nur bis zum Ausbau des „Klausenpfads“ zur Verfügung stehen sollen. Dem entsprechend sei letzterer im Flächennutzungsplan als Haupterschließungsstraße, die Straße Im Neuenheimer Feld hingegen als innere Erschließungsstraße dargestellt gewesen. Darüber hinaus werde die festgestellte Planung auch dem Trennungsgrundsatz und dem fachplanungsrechtlichen Abwägungsgebot nicht gerecht. Denn die konkret geplante Variante A2 führe unmittelbar an Universitätsgebäuden mit hochspezialisierten Geräten vorbei, die gegenüber Schwingungen und elektromagnetischen Feldern hochempfindlich seien. Auch lägen an dieser Straße die letzten Entwicklungsflächen der Universität, denen überragende Bedeutung zukomme. Hier müssten ausreichende störungsfreie Flächen vorgehalten und potentielle Entwicklungsmöglichkeiten einbezogen werden. Dynamische elektromagnetische Felder könnten ohnehin nicht kompensiert werden. Besonders empfindlich sei eine für das Institut für Geowissenschaften (INF 236) beantragte und inzwischen auch aufgestellte Ionensonde. Da Verbesserungen und Schutzmaßnahmen an der Emissionsquelle nicht den erforderlichen hohen Schutz gewährleisteten, sei das Vorhaben nur bei einer Trassenführung über den „Klausenpfad“ (Variante A1) mit den universitären Belangen in Einklang zu bringen. Entgegen den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss seien die beiden Varianten A2 und A1 unter dem Gesichtspunkt „Erschütterungen/EMV“ keineswegs gleichwertig. Dies gelte bereits im Hinblick auf das vorhandene Rasterelektronenmikroskop, aber auch auf neu aufzustellende Geräte in den Gebäuden der Physikalischen Chemie (INF 253) und der Geowissenschaften (INF 234). Insofern seien Schutzmaßnahmen ungleich teurer als bei der Variante A1. Auch ein stromloser bzw. stromarmer Betrieb änderte nichts daran, dass die verbleibenden Immissionen eine ungeschmälerte Entwicklung in Trassennähe beeinträchtigten. Hinzukomme, dass die elektromagnetischen Wirkungen der Variante A1 lediglich „hochgerechnet“ und damit überschätzt worden seien. Tatsächlich gebe es in den an die Trasse der Variante A1 angrenzenden Gebäuden des „Technologieparks“ keine gegenüber elektromagnetischen Wirkungen hochempfindlichen Geräte. Auch sei die Zerschneidungswirkung für den Campus unberücksichtigt geblieben. Auch eine höhere Attraktivität der Variante A2 bestehe nicht. So bringe die geplante Haltestelle „Geowissenschaften“, sofern für sie überhaupt ein konkreter Bedarf bestehen sollte, im Vergleich zur bestehenden Haltestelle „Technologiepark“ an der Berliner Straße keine deutliche verkehrliche Verbesserung. Weitere Haltestellen seien bis zur „Kopfklinik“ ohnehin nicht vorgesehen. Die bauzeitlichen Immissionen seien bei der Variante A2 eindeutig stärker. Für mobilitätseingeschränkte Nutzer werde die Erschließung keineswegs verbessert. Auch sei die Wirksamkeit der Schutzvorkehrungen nicht hinreichend gesichert. Zusätzliche Belastungen könnten allenfalls dann, wenn auch nur ansatzweise, bewältigt werden, wenn die bestehenden Belastungen durch den motorisierten Individualverkehr reduziert würden, wovon jedoch derzeit nicht ausgegangen werden könne. Ihre Belange seien insbesondere hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit nicht ausreichend gewürdigt worden. Insoweit sei jedenfalls ein - der natürlichen Schwankung des Erdmagnetfeldes entsprechender - Grenzwert von 50 nT ab Gleismitte einzuhalten. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erfordere der störungsfreie Betrieb der derzeit und künftig eingesetzten Elektronenmikroskope allerdings die Einhaltung eines Grenzwerts von 20 nT. Um störungsfreies Arbeiten zu gewährleisten, seien im Gebäude INF 229 unlängst teure bauliche Maßnahmen ergriffen worden, die nun entwertet würden. Der von Prof. Dr. V. prognostizierten magnetischen Gleichfeldänderung liege die unzutreffende Annahme einer Stromstärke von nur 1000 A anstatt 2400 A zugrunde. Die zu erwartenden Belastungen überstiegen mehrfach die Schwelle des Zumutbaren und könnten durch passive Schutzmaßnahmen an den Geräten nicht wirksam kompensiert werden. Dass die vom Gutachter der Beigeladenen vorgeschlagenen Maßnahmen - magnetfeldkompensierte Trassenführung, Reduktion des Betriebsstroms und Verwendung aktiver Magnetfeldkompensationsanlagen - bei Einhaltung der jeweiligen Gerätespezifikationen Beeinträchtigungen verhinderten, sei fraglich. Eine Zunahme äußerer Einflüsse führe auch jenseits der in den jeweiligen Spezifikationen enthaltenen Angaben zu einer negativen Beeinflussung. Magnetfeldänderungen führten generell zu einer Verschlechterung der Standortbedingungen. Die Einhaltung der dargestellten Grenzwerte durch Schutzmaßnahmen sei mit Prognoseunsicherheiten behaftet, zumal eine magnetfeldkompensierte Trassenführung noch nicht dem Stand der Technik entspreche. Aktive Kompensationsanlagen, die zudem die Nutzbarkeit der Geräte und Räume einschränkten, seien nur bedingt geeignet. Bei inhomogenen Magnetfeldern und bei großen zu schützenden Bereichen seien sie ohnehin kaum wirksam. Derartige Einschränkungen seien in einem wissenschaftlichen Betrieb jedoch nicht hinnehmbar, zumal der Betrieb solcher Anlagen einen erhöhten organisatorischen Aufwand und eine erhöhte Aufmerksamkeit bedinge. Im Gutachten von Prof. Dr. V. vom 31.03.2011 werde auch nicht die künftige Nutzungseinschränkung aller Gebäude für magnetfeldempfindliche Geräte erörtert. Auch müsse eine Weiterentwicklung des Baubestands und der hochsensiblen Geräte berücksichtigt werden. Ein störungsfreier Forschungsbetrieb sei freilich auch infolge der prognostizierten Erschütterungswirkungen nicht mehr gewährleistet. So führe die Trasse der planfestgestellten Variante A2 an Gebäuden (INF 234-236, INF 253, INF 293) vorbei, in denen (höchst) schwingungsempfindliche Geräte betrieben würden. Die „Schwingungstechnische Untersuchung“ vom 25.10.2010 sei ohnehin veraltet. Abweichungen ergäben sich vor allem durch die am 31.05.2011 beantragte und inzwischen im Gebäude INF 235 aufgestellte Ionensonde. Bereits ergriffene Schutzmaßnahmen würden entwertet. Das Gutachten der I.B.U. vom 25.10.2010 gehe zu Unrecht davon aus, dass deutlich oberhalb der Gerätespezifikation liegende Einzelmesswerte künftig auch von der Straßenbahn erreicht werden dürften. Frühere, durch Lkw und Busse hervorgerufene Einzelereignisse könnten nicht mit einem regelmäßigen Straßenbahnverkehr gleichgesetzt werden. Die auf massive Bodenunebenheiten zurückzuführende untragbare Situation dürfe nicht als Maßstab für künftige Schwingungen der Straßenbahn herangezogen werden. Zur Vermeidung erheblicher Nutzungseinschränkungen dürften vom Straßenbahnbetrieb keine relevanten Erschütterungen mehr ausgehen. Auch mit einem hochwertigen Schwingungsschutz am Gleis (z. B. einem Masse-Feder-System) sei die Einhaltung der geforderten Grenzwerte nicht sicher zu gewährleisten. Dessen konkrete Realisierbarkeit und Wirksamkeit lasse sich nicht hinreichend sicher prognostizieren. Nur bei Einhaltung eines Sicherheitsabstands von 125 m ließen sich die Erschütterungen in den Gebäuden INF 253 und 234-236 sowie auf den letzten Entwicklungsflächen der Universität auf das erforderliche Maß (Nano-D-Linie) begrenzen. Dies sei nur bei der Variante A1 möglich. Dem Gutachten von Dr. H. vom 22.09.2013 zufolge würden die Erschütterungen an den Standorten der Rasterelektronenmikroskope derart erhöht, dass der für ihre Funktionsfähigkeit maßgebliche Nano-D-Grenzwert erstmals überschritten werde. Die erheblichen Auswirkungen während der Bauzeit seien nicht in den Blick genommen worden. Insoweit zeichneten sich schon jetzt erhebliche Probleme bei der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Forschungsbetriebs ab. Eine fachgerechte Prognose der zu erwartenden Beeinträchtigungen sei nicht erstellt worden. Die Trasse im Bereich des Hofmeisterwegs müsse unbedingt geändert und nach Süden verschoben werden. Ein Flächenverlust von 1.500 m2 sei beim Botanischen Garten wegen der Entwertung seiner Funktionalität und seines Charakters als universitäre Forschungs- und Lehreinrichtung nicht hinnehmbar. Insofern sei eine Trassenverschiebung nach Süden über die Flächen des nicht mehr benötigten Gebäudes INF 154 eindeutig vorzugswürdig.
17 
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten: Die Klägerin sei schon nicht klagebefugt, da sie als staatliche Einrichtung einen unzulässigen Insichprozess führe bzw. für den nicht klagebefugten Landesbetrieb „Vermögen und Bau Baden-Württemberg“ eine verdeckte Prozessstandschaft übernehme. Nutzungsrechte im Sinne einer subjektiven Rechtsposition stünden ihr nicht zu. In die grundrechtliche Garantie der Einrichtung wissenschaftlicher Hochschulen oder das Recht eines einzelnen Wissenschaftlers werde nicht eingegriffen. Sonstige Rechte, in denen sie als „nichtstaatliche“ Einrichtung verletzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die Klage sei auch unbegründet. Insoweit werde auf die Erwägungen im Planfeststellungsbeschluss verwiesen.
18 
Die Beigeladene hat ausgeführt: Es fehle bereits an der erforderlichen Klagebefugnis. Eine subjektive Rechtsverletzung ergebe sich auch nicht aus Art. 5 Abs. 3 GG, der keine Bestandsgarantie und keinen Anspruch auf ungehinderte räumliche Entwicklung begründe. Im Übrigen bleibe der Wissenschaftsbetrieb nicht zuletzt wegen des umfangreichen Schutzkonzepts in seiner bisherigen Qualität erhalten. Die mit dem Vorhaben verbundenen Immissionen würden durch zahlreiche Maßnahmen auf ein verträgliches und zumutbares Maß reduziert. Insbesondere komme es zu keinen unzumutbaren Beeinträchtigungen störungsempfindlicher Forschungseinrichtungen und -geräte. Durch umfangreiche Maßnahmen an der Störquelle werde deren Funktionsfähigkeit gewährleistet. Der angegriffene Beschluss enthalte auch zahlreiche Wirksamkeitsnachweise. Auch aus dem Bebauungsplan und den städtebaulichen Verträgen könne die Klägerin keine subjektiven Rechte herleiten. Die Klage sei auch unbegründet. Die Einwendungen der Klägerin seien ausführlich, sorgfältig und zutreffend abgearbeitet worden. Der Beklagte habe eine eigene Prüfung erheblichen Umfangs vorgenommen. Er habe zu nahezu allen Themenkreisen Fragen aufgeworfen und sie - die Beigeladene - um Stellungnahme gebeten. Auch seien in den Nebenbestimmungen weitergehende Auflagen erteilt worden. Die Planunterlagen seien im Anhörungsverfahren unter Beteiligung von Fachbehörden geprüft worden. Das planfestgestellte Schutzkonzept gewährleiste wissenschaftliche Tätigkeit und Forschung in höchster Qualität. Im Übrigen habe auch die Klägerin dafür zu sorgen, dass künftig aufzustellende Geräte störungsfrei betrieben werden könnten. Sie habe ohnehin keinen Anspruch auf die Nutzung bestimmter Flächen. Auch künftigen Entwicklungen sei - etwa durch die vorgesehene elastische Schienenlagerung und eine technisch flexibel ausgelegte Fahrleitung - ausreichend Rechnung getragen. Der Betrieb extrem hochsensibler Technik sei aufgrund der Wechselwirkung mit der Umgebung im städtischen Bereich generell problematisch. Die Klägerin habe den vorbelasteten Standort selbst gewählt. Seit Abschluss der städtebaulichen Verträge zwischen dem Beklagten und der Stadt Heidelberg finde im Einvernehmen mit der Klägerin durchgängig öffentlicher Busverkehr statt. Entlang der Straße Im Neuenheimer Feld würden keine Geräte mit einer Empfindlichkeit von 20 nT verwendet. Aktive Kompensationsanlagen könnten externe Störungen durchaus hinreichend reduzieren. Auch werde die Strecke in einer kompensierten Form gebaut und es werde auf ihr in sensiblen Abschnitten stromreduziert gefahren. Durch eine Kombination dieser Maßnahmen könne der Wert von 50 nT ab einem Abstand von ca. 50 m eingehalten werden. Aktive Kompensationsmaßnahmen funktionierten auch bei Elektronenmikroskopen. Die schwingungstechnische Untersuchung habe gezeigt, dass die prognostizierten Erschütterungen an den Gerätestandorten ohnehin unterhalb der Vorbelastung lägen. Durch Nebenbestimmungen und Zusagen werde auch der Baulärm auf ein Mindestmaß reduziert. Auch im Übrigen werde den Anforderungen an die Verhinderung bauzeitlicher Beeinträchtigungen entsprochen.
19 
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat mit Beschluss vom 18.12.2014 - 5 S 1444/14 - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
20 
Anschließend hat der Beklagte seinen „Vortrag zur bauplanungsrechtlichen Bewertung des planfestgestellten Trassenverlaufs ergänzt“: Es handle sich um ein Vorhaben von überörtlicher Bedeutung. Eine solche komme einer Straßenbahn zu, die ein Gebiet in einem Oberzentrum erschließe, in dem sich ausschließlich oder überwiegend infrastrukturelle Einrichtungen befänden, die zentralörtliche und insoweit überörtliche Bedeutung besäßen. Straßenbahnen seien auch zunehmend Teil eines überörtlichen Verkehrsverbundes. Sollte § 38 BauGB nicht anwendbar sein, wären gleichwohl keine subjektiven Rechte der Klägerin verletzt. Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ sei nichtig, da er nicht den Anforderungen des württemberg-badischen Aufbaugesetzes (AufbauG) entspreche. Denn er enthalte keine hinreichend konkretisierte Planungsentscheidung. Er setze letztlich nur ein 70 ha großes Baufenster fest. Das württemberg-badische Aufbaugesetz habe die Möglichkeit eines einfachen Bebauungsplans nicht vorgesehen. Dies erhelle auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG. Die wenigsten der dort aufgeführten Mindestfestsetzungen seien hier getroffen worden. Obwohl der Bebauungsplan eine öffentliche Einrichtung vorsehe, setze er keine öffentlichen Straßen fest. Unerheblich sei die Absicht des Satzungsgebers, das Gelände von öffentlichem Verkehr freizuhalten. Bei Anwendung von § 34 BauGB scheide eine Rechtsverletzung der Klägerin aus.
21 
Die Beigeladene hat sich diesem Vortrag des Beklagten angeschlossen und noch dargelegt: Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für eine am 04.08.2015 ausdrücklich beantragte Befreiung vom Bebauungsplan vor. Die Grundzüge der Planung seien nicht berührt, da die Straßenbahn gebietsverträglich sei. Dem Satzungsgeber sei es seinerzeit nur um den öffentlichen Individualverkehr gegangen. Auch in den städtebaulichen Verträgen finde sich kein Hinweis, dass bei dem für die Tiergartenstraße vorgesehenen Ersatz („Nordtrasse“) vom Bebauungsplan abgewichen würde. Offenbar sei man davon ausgegangen, dass dieser einer öffentlichen Verkehrserschließung des Universitätsgebiets nicht entgegenstehe. Daran ändere nichts, dass die „Nordtrasse“ nur vorübergehend habe genutzt werden sollen. Die Klägerin könne sich zur Abwehr nachteiliger Wirkungen nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen. Der Beklagte könne der Klägerin Grundstücke nur so zur Verfügung stellen, wie ihm dies nach Ausgleich aller Belange möglich sei. Der Beklagte habe sich keineswegs auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt. Denn er habe ihr - der Beigeladenen - eine Vielzahl von Auflagen erteilt. Auch dürfe die Planfeststellungsbehörde die Planunterlagen nachvollziehend abwägen und sich zu eigen machen. Begründungsdefizite rechtfertigten noch nicht den Schluss auf Abwägungsfehler. Das Neuenheimer Feld sei durch die in der Berliner Straße verkehrende Straßenbahn und den Individualverkehr ohnehin schon heute stark vorbelastet.
22 
Die Klägerin hat erwidert: Der Beklagte könne die fehlerhafte Gewichtung der bauplanungsrechtlichen Situation mit seinem weiteren Sachvortrag nicht heilen. Die Festsetzungen des Bebauungsplans seien zwingend zu beachten gewesen; § 38 BauGB sei nicht anwendbar. Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ sei wirksam. Die in § 8 Abs. 2 AufbauG aufgeführten Festsetzungen seien nur insoweit, als sie vom Plangeber getroffen würden, in die Lagepläne aufzunehmen. In der Auslegung des Beklagten wäre die Vorschrift überdies verfassungswidrig, da sie das kommunale Selbstverwaltungsrecht verletzte. Auf die Festsetzung öffentlicher Straßen und Wege sei bewusst verzichtet worden, um die Flexibilität der Nutzungsvariation der Bauvorbehaltsfläche zu erhöhen. Die Erschließung sei gleichwohl über die Frankfurter Straße in ausreichendem Umfang gesichert gewesen. Die Planfeststellungsbehörde habe nachteilige Auswirkungen auf die Einrichtungen der Universität schon nicht ermittelt, sodass sie auch nicht beurteilt werden könnten.
23 
Bereits am 21.04.2015 hatte die Beigeladene beim Regierungspräsidium Karlsruhe - in Anknüpfung an mit der Klägerin geführte Einigungsgespräche - verschiedene Planänderungen beantragt, und zwar im Bereich des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Hofmeisterwegs entlang des Botanischen Gartens (u. a. Verschiebung der Bahntrasse um 6,5 m nach Süden) sowie im Bereich der Straße Im Neuenheimer Feld (flächig gelagertes Masse-Federsystem von Station 1+657 bis 1+888, punktförmig gelagertes Masse-Feder-System von Station 1+913 bis 2+093, Änderung des Mastabstandes auf max. 30 m von Station 2+160 bis 2+413, stromloser Bereich Fahrleitung von Station 2+160 bis 2+439, Entfallen der Kompensationsleitungen unterhalb der Gleistrasse) - 1. Planänderung.
24 
Unter dem 07.05.2015 bat die Stadt Heidelberg als Anhörungsbehörde die Träger öffentlicher Belange und Verbände, zur 1. Planänderung umfassend Stellung zu nehmen. Der geänderte Plan wurde vom 20.05. bis 22.06.2015 öffentlich ausgelegt, wobei bis einschließlich 06.07.2015 Einwendungen erhoben werden konnten. Darauf war mit öffentlicher Bekanntmachung vom 13.05.2015 hingewiesen worden.
25 
Mit Schreiben vom 06.07.2015 hielt die Klägerin ihre Einwendungen aufrecht. Die 1. Planänderung sei nicht geeignet, ihre Bedenken auszuräumen und die Fehler des Planfeststellungsbeschlusses zu beheben. Die erschütterungstechnischen Maßnahmen seien nach wie vor unzureichend. Trotz des vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts komme es zu unzumutbaren elektromagnetischen Auswirkungen auf vorhandene und künftig anzuschaffende Geräte. Auch der Botanische Garten werde weiterhin beeinträchtigt.
26 
Am 11.08.2015 führte die Anhörungsbehörde den bereits am 13.05.2015 öffentlich bekannt gemachten Erörterungstermin durch.
27 
Mit Änderungsplanfeststellungsbeschluss vom 27.01.2016 stellte das Regierungspräsidium Karlsruhe die 1. Planänderung fest. Dabei änderte es im Hinblick auf die erweiterte Zusage der Beigeladenen, dass im Bereich des Deutschen Krebsforschungsinstitutes vor der geplanten Radiologie II nun jedenfalls ca. 200 m stromlos gefahren werde, auch verschiedene Nebenbestimmungen. Die Einwendungen der Klägerin wurden, soweit sie sich nicht erledigt hatten, zurückgewiesen (ÄPFB, S. 14 u. S. 48 ). Im Rahmen ihrer rechtlichen Würdigung wies die Planfeststellungsbehörde unter B. III 2. (S. 27) darauf hin, dass es bei den Festsetzungen und Begründungen des Ausgangs-Planfeststellungsbeschlusses verbleibe, soweit sich nicht gerade durch die beantragten Planänderungen eine modifizierte Bewertung ergebe und soweit nicht die Ausführungen im Ausgangs-Planfeststellungs-beschluss - klarstellend - vertieft würden (auch S. 55). Insofern nahm sie unter B. III. 3 (S. 53) im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ das „Gesamtgefüge nochmals in den Blick“ und hielt unter Nr. 3.1.3 (S. 69) „vorsorglich“ nunmehr ausdrücklich fest, „dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen und vom dort eröffneten Ermessen zugunsten der Beigeladenen Gebrauch gemacht werde“.
28 
Am 15.02.2016 hat die Klägerin den Änderungsplanfeststellungsbeschluss in ihre Klage einbezogen. Hierzu hat sie am 01.03.2016 noch vorgetragen: Die sie in ihren Rechten verletzenden Mängel seien derart schwerwiegend, dass sie zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses führen müssten. Im Zuge der 1. Planänderung sei eine ordnungsgemäße Vorprüfung des Einzelfalls unterblieben, ob eine erneute Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen sei. Eine Untersuchung und Bewertung der Folgen des Abrisses des Gebäudes INF 154 habe nicht stattgefunden. Die 1. Planänderung hätte auch nicht nach § 76 Abs. 1 LVwVfG zugelassen werden dürfen. Mängel in zentralen Punkten könnten weder in einem Planänderungs- noch in einem ergänzenden Verfahren behoben werden. Auch werde das Planungsziel, die Verkehrsanbindung und damit die Attraktivität des Wissenschaftsbetriebs zu erhöhen, konterkariert. Mit den festgestellten Planänderungen sei sie keineswegs klaglos gestellt worden. Auch wende der Beklagte weiterhin einen falschen Prüfungsmaßstab an. An der Fehlerhaftigkeit der Variantenprüfung habe sich nichts geändert. Mangels Teilbarkeit sei auch der sie betreffende Trassenbereich rechtswidrig.
29 
Die Klägerin beantragt - sachdienlich gefasst -,
30 
den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 (1. Planänderung) aufzuheben,
31 
hilfsweise dessen Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit festzustellen,
32 
höchsthilfsweise ihn um folgende weitere Schutzauflagen und -maßnahmen zu ergänzen, dass
33 
- im Streckenbereich zwischen Station 1+895 und 2+412 (Länge 517 m) für die Schienenlagerung ein punktförmig gelagertes Masse-Feder-System (pMFS) mit einer so niedrig wie möglichen Abstimmungsfrequenz vorzusehen ist,
34 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte Erschütterungswirkungen trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Vorgaben der DIN 4150-2 und der DIN 4150-3 nicht eingehalten werden und/oder die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder künftig von ihr angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird,
35 
- die gesamte Straßenbahnstrecke oberleitungsfrei und stromlos zu betreiben ist,
36 
- für die gesamte Straßenbahnstrecke eine Kompensationsleitung mit einem Mastabstand von 30 m sowie eine Kompensation an bereits vorhandenen und künftig angeschafften Geräten oder ein Mastabstand von 20 m mit Strombegrenzung vorzusehen ist,
37 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte elektromagnetische Felder trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder von ihr künftig angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird,
38 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte sonstige Immissionen oder Behinderungen trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder von ihr künftig angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird.
39 
- die Festsetzung weiterer Schutzmaßnahmen zur Vermeidung nachteiliger Wirkungen auf Rechte der Klägerin vorbehalten wird,
40 
- auf der gesamten Straßenbahnstrecke nur in Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf.
41 
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
42 
die Klage abzuweisen.
43 
Der Beklagte hält die Klägerin nach wie vor nicht für klagebefugt. Deren Interesse an der Nutzung bestimmter Standorte sei nicht schutzwürdig. Denn mit entsprechenden Planungen und Entwicklungen habe sie rechnen müssen. Eigentumsrechte und Standortfragen würden durch den „Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg" und das Universitätsbauamt Heidelberg bestimmt. Tatsächlich verkehrten auch seit Jahrzehnten Buslinien, deren Frequenz mit zunehmender Bebauung erhöht worden sei. Die Busse hätten vergleichbare elektromagnetische Auswirkungen. Sei die Klägerin hinsichtlich konkreter Forschungsstandorte vom Land Baden-Württemberg abhängig, könne sie sich auf kein verfestigtes Nutzungsrecht berufen. Die Planfeststellungsbehörde habe die von der Beigeladenen aufgrund ihrer Gestaltungsfreiheit getroffene Planungsentscheidung abwägend nachvollzogen. Zu diesem Zwecke seien im Planfeststellungsverfahren detaillierte und differenzierte Fachgutachten erstellt worden. Bei den elektromagnetischen Emissionen sei eine worst-case-Betrachtung erfolgt, indem im Zweifel der für die Klägerin günstigere Wert angesetzt worden sei. Die Qualität der Fachgutachten sei von der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt worden. Unabhängig davon seien deren Einwendungen geprüft worden. Die Planung sei durch eine Vielzahl von Nebenbestimmungen und Zusagen ergänzt worden. Dadurch seien auch denkbare, absehbare Entwicklungen und Standortverschiebungen geschützt. Die 50-nT-Linie beruhe auf von der Klägerin selbst genannten Werten. Werde jener Wert eingehalten, sei die elektromagnetische Wirkung nach Aussage des Gutachters V. und den größten Herstellern unproblematisch. Damit komme es zu keinen unzumutbaren Wirkungen. Die nachgefragte Geräteliste sei von der Klägerin erst nach Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses ergänzt worden. Dass „nicht überall“ Gerätschaften aufgestellt werden könnten, sei aufgrund der Vorbelastung schon bisher der Fall gewesen. Die „Ausfallquote“ dürfte sich eher verringern. Die Variante „Klausenpfad“ (A1) weise eine schlechtere Erschließung auf, da von Norden kommend jede zweite Straßenbahn in den „Klausenpfad“ abbiegen würde. Aus Süden kommend ermöglichte nur jede zweite Bahn eine Verbindung zum Technologiepark. Von einer Haltestelle „Tennisplatz“ könne nicht ohne Weiteres in das innere Neuenheimer Feld gelangt werden. Zudem verlängerte sich die Fahrzeit, wodurch sich auch die Taktung verschlechterte. Die schlechtere Erschließung sei auch nicht aus Gründen des Geräteschutzes in Kauf zu nehmen, da auch der Technologiepark sensible Nutzungen aufweise. Dort müsse technisch bedingt noch näher an den Gebäuden vorbeigefahren werden, was ähnliche Auswirkungen wie im Neuenheimer Feld hervorriefe. Schließlich werde die 2,5 km lange Trasse auf 680 m stromlos betrieben. Die entsprechenden Abschnitte vor dem MPI und dem DKFZ wiesen auch keine Stromkabel zur Versorgung stromhaltiger Abschnitte auf. Bei der Auslegung des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ müsse auch der Bebauungsplan „Im Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 berücksichtigt werden. 1952 habe es gesamtplanerische - auch verkehrliche - Überlegungen gegeben, die sich auch auf den Bereich westlich der Frankfurter (heute: Berliner) Straße bezogen hätten. Wäre vollkommene Verkehrsfreiheit beabsichtigt gewesen, wären die seinerzeit bestehenden Straßen und Fluchten - ebenso wie die damals im Plangebiet "Neues Universitätsgebiet" noch vorhandene OEG-Güterbahn - als aufzuhebende Straßen- und Baufluchten festzusetzen gewesen. Verkehrliche Überlegungen zu Querstraßenanschlüssen zum westlich gelegenen Universitätsgebiet hätten sich auch noch im Erläuterungsbericht vom 01.10.1955 gefunden.
44 
Die Beigeladene hat noch darauf hingewiesen, dass auf den Privatstraßen im Neuenheimer Feld seit Jahrzehnten öffentlicher Verkehr stattfinde. Insofern stünden dem Vorhaben weder der Bebauungsplan noch die städtebaulichen Verträge entgegen. Auch aus dem "Heidelberger Konzept" von 1994 ergebe sich, dass die innere Erschließung des Neuenheimer Feldes durch öffentlichen Personennahverkehr erfolge. Der Klägerin stehe ohnehin kein Vollüberprüfungsanspruch zu, da ihr die Gebäude lediglich vom Land bereitgestellt worden seien. Ihre Belange seien durch ein umfangreiches Schutzkonzept - teilweise überobligatorisch - berücksichtigt worden. Bezogen auf die 1. Planänderung liege kein Verfahrensverstoß vor. Eine etwa erforderliche Befreiung vom Bebauungsplan sei bereits vom Planfeststellungsbeschluss umfasst gewesen. In den das Vorhaben unterstützenden Gemeinderatsbeschlüssen sei „inzident“ eine Befreiung zu sehen. Mit einem Ausbau des bestehenden Busangebots ließen sich die verkehrlichen Ziele nicht erreichen. Die eingesetzten Busse stießen bereits an ihre Kapazitätsgrenze; die Nachfrage nehme im Prognosezeitraum weiterhin zu. Der entscheidende Unterschied zwischen den Varianten A1 und A2 liege in der geringeren Taktfrequenz der Anbindung der Haltestelle „Geowissenschaften“. Die Variante A1 sei nicht schonender zu realisieren, da im Technologiepark nach dem Bebauungsplan „Langgewann II“ auch Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen zulässig seien. Auch erhöhten sich so die elektromagnetischen Auswirkungen auf die Kopfklinik. Die Beeinträchtigungen beim Physikalisch-Chemischen Institut (PCI) und beim Institut für Geowissenschaften seien gleich gering. Bei den Erschütterungen sei entscheidend, dass die Vorbelastung nicht zu Lasten der Klägerin wesentlich erhöht werde. Aufgrund der vorgesehenen hochelastischen Schienenlagerung sei gesichert, dass die Erschütterungsimmissionen unter der Vorbelastung blieben. Im Übrigen seien die von der Klägerin geforderten Nano-D-Werte teilweise schon jetzt nicht eingehalten. Die elektromagnetische Betroffenheit des PCI und des Instituts für Geowissenschaften werde durch den mit der 1. Planänderung vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitt nochmals verringert. Eine aktive Kompensation sei nicht mehr notwendig. Bereits im ursprünglichen Fachgutachten, dem eine worst-case-Betrachtung zugrunde liege, sei festgestellt worden, dass die Messgeräte weiter betrieben werden könnten.
45 
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der zur Sache gehörenden - auch im vorläufigen Rechtschutzverfahren angefallenen - Gerichtsakten verwiesen. Diese waren ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung wie die das Planfeststellungsverfahren – einschließlich der Planänderung - betreffenden Verwaltungsakten und die vorgelegten Bebauungsplanakten, auf die ebenfalls Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe

 
46 
Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig (I.) und begründet (II.). Über die (höchst-)hilfsweise gestellten Klageanträge ist daher nicht zu entscheiden.
I.
47 
Die Klage ist, soweit sie auf eine Aufhebung des - geänderten - Planfeststellungsbeschlusses gerichtet ist, als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig.
48 
1. Der erkennende Gerichtshof ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO erstinstanzlich zuständig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die ein Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung der Strecken von Straßenbahnen betreffen.
49 
2. Die Klage ist am letzten Tage der mit (Individual-)Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses am 30.06.2014 in Lauf gesetzten einmonatigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG) und damit rechtzeitig erhoben worden. Bei der Einbeziehung des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses war diese Frist nicht zu beachten, da die verbleibenden Regelungsbestandteile des ursprünglichen Planfeststellungsbeschlusses und die durch den Änderungsbeschluss hinzutretenden Regelungsbestandteile inhaltlich unteilbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 31.07 -, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 15).
50 
3. Die Klägerin ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO); insbesondere steht nicht etwa ein unzulässiger „In-sich-Prozess“ in Rede. Die Klägerin macht als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Grundrechtsfähigkeit nach Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. 16.01.1963 - 1 BvR 316/60 - BVerfGE 15, 256 <261 f.>, juris Rn. 22) ungeachtet dessen, dass sie zugleich eine staatliche Einrichtung des Landes ist (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 LHG), jedenfalls hinreichend geltend, in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eines eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt zu sein (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG). Denn ihr Interesse, dass ihre im Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans "Neues Universitätsgebiet" gelegenen Forschungseinrichtungen und Erweiterungsflächen keinen nachteiligen Wirkungen des planfestgestellte Vorhabens - wie Erschütterungen und elektromagnetischen Feldern - ausgesetzt werden, die ihrer Betätigung auf dem Gebiete der Forschung abträglich wären, stellt einen solchen Belang dar. Dies folgt letztlich aus dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, das den öffentlichen Einrichtungen, die Wissenschafts- und/oder Forschungszwecken dienen, unmittelbar zugeordnet ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.03.1992 - 1 BvR 454/91 u. a. -, BVerfGE 85, 360, juris Rn. 78; auch § 3 Abs. 1 Satz 1 LHG). Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist nicht nur bei (unmittelbaren) Eingriffen in organisatorische Strukturen, sondern auch dann berührt, wenn, was hier in Betracht kommt, die geschützte Betätigung (mittelbar) faktisch behindert wird. Denn die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schließt das Einstehen des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft und Forschung und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet den Staat, sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen (vgl. BVerfG, Urt. v. 29.05.1973 - 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 -, BVerfGE 35, 79 <114>; Urt. v. 10.03.1992, a.a.O.). Dass die Klägerin nicht auch Eigentümerin der für ihre Forschungstätigkeit benötigten Dienstgebäude, -räume und -grundstücke ist, diese ihr vielmehr vom Land Baden-Württemberg lediglich im Wege der Zuweisung bereit gestellt wurden bzw. werden (vgl. VwV Liegenschaften v. 28.12.2011 - Az.: 4-3322.0/23 -, GABl. 2012, 6 ff.), ändert nichts. Dies verdeutlicht nur, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keinen Bestandsschutz vermittelt. Der Klägerin geht es jedoch nicht um Bestandsschutz, sondern um Funktionsschutz ihrer fortbestehenden Einrichtungen (vgl. Bethge, in Sachs, GG 7. A. 2014, Art. 5 Rn. 216). Dabei ist zu beachten, dass Forschung aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit auf Langfristigkeit und Stetigkeit angelegt ist (vgl. Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. IV 2011, § 100 Rn. 41).
51 
Ob die Klägerin tatsächlich (noch) in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt wird oder dies aufgrund umfangreicher Schutzmaßnahmen und planfestgestellter Änderungen (inzwischen) ausgeschlossen sein könnte, ist keine Frage der Klagebefugnis, sondern der Begründetheit (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
52 
4. Einer vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG; vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG, § 70 LVwVfG).
II.
53 
Der Anfechtungsantrag ist auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten. Er verstößt gegen § 30 Abs. 1 oder jedenfalls Abs. 3 BauGB i.V.m. dem Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 und gegen das Abwägungsgebot nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG. Da diese erheblichen, die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellenden Mängel bei der Abwägung weder durch Planergänzung noch durch ein ergänzendes verfahren behoben werden können, ist der Planfeststellungsbeschluss insgesamt aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 Satz 2 PBefG).
54 
Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss in seiner geänderten Gestalt sind §§ 28 und 29 PBefG i.V.m. §§ 72 ff. LVwVfG, insbesondere § 76 Abs. 1 LVwVfG. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit darauf beschränkt, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat, ob in sie an Belangen eingestellt worden ist, was nach Lage der Dinge einzustellen war, ob die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange richtig erkannt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht. Das Abwägungsgebot wird nicht dadurch verletzt, dass die Planfeststellungsbehörde bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurücksetzung eines anderen entscheidet. Nach § 29 Abs. 8 PBefG sind Mängel der Abwägung der von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind; erhebliche Mängel bei der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können; die §§ 45 und 46 VwVfG und die entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen bleiben unberührt.
55 
1. Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt dem Vorhaben allerdings nicht schon die erforderliche Planrechtfertigung. Insofern kann offen bleiben, ob sich die Klägerin als nicht mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung, sondern nur mittelbar in ihrer Forschungsfreiheit Betroffene überhaupt auf ein Fehlen der Planrechtfertigung etwa deshalb berufen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.11.2006 - 4 A 2001.06 -, BVerwGE 127, 95), weil dieses Erfordernis eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116).
56 
Das Erfordernis der Planrechtfertigung ist bereits dann erfüllt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben gemessen an den Zielsetzungen des jeweiligen Fachplanungsgesetzes - hier des Personenbeförderungsgesetzes - ein Bedarf besteht, die geplante Maßnahme unter diesem Blickwinkel also erforderlich bzw. vernünftigerweise geboten ist. Dies ist hier aufgrund der mit dem Vorhaben verfolgten Zielsetzung, den öffentlichen Personennahverkehr im Neuenheimer Feld zu verbessern (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.04.2005 - 9 A 56.04 -, BVerwGE 123, 286; Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13), der Fall. Denn das Personenbeförderungsgesetz verfolgt insbesondere das Ziel einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs im Orts- oder Nachbarschaftsbereich (vgl. §§ 4 Abs. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 PBefG; auch § 13 Abs. 2 Nr. 3 PBefG; hierzu OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319 m.w.N.; HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360). Dass ein konkreter Bedarf einer Straßenbahnverbindung ins Neuenheimer Feld im Erläuterungsbericht auch nicht ansatzweise durch nachvollziehbare Angaben belegt wird (a.a.O., S. 14), ist zwar im Rahmen der Abwägung von Bedeutung, stellt aber nicht schon die Planrechtfertigung in Frage; denn von einem "offensichtlichen planerischen Missgriff" (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.10.2014 – 9 B 29.14 -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 237) kann aus diesem Grund noch nicht gesprochen werden.
57 
Zweifel am Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung bestehen auch nicht deshalb, weil das Vorhaben nicht realisierbar wäre. Die Planrechtfertigung bestünde unter diesem Gesichtspunkt nur dann nicht, wenn die Verwirklichung des Vorhabens bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses auszuschließen war, weil sie nicht beabsichtigt oder objektiv ausgeschlossen war (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.07.2010 - 7 VR 4.10 -, NVwZ 2010, 533 m.N.).
58 
Allein der Umstand, dass ein Vorhaben wegen ihm derzeit entgegenstehender, im Wege der Abwägung nicht überwindbarer zwingender Rechtsvorschriften nicht zugelassen werden kann, lässt die Planrechtfertigung allerdings noch nicht entfallen. Insofern ist die Planrechtfertigung nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bebauungsplan "Neues Universitätsgebiet" derzeit einer Zulassung des Vorhabens entgegensteht (dazu unter 2.), zumal dieser aufgehoben oder geändert werden könnte. Dass das Vorhaben in seiner geänderten Gestalt wegen der mit dem Abriss des Gebäudes INF 154 „im Vorfeld“ verbundenen Wirkungen nicht realisierbar wäre, ist nicht zu erkennen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die für die (zur Entwässerung der Gleisanlage) vorgesehene Abwasserversickerung noch erforderliche wasserrechtliche Erlaubnis oder Bewilligung nicht noch - entsprechend den unionsrechtlichen Anforderungen an die Gewässerverträglichkeit - erteilt werden könnte. Abgesehen davon könnte das anfallende Abwasser auch anderweit beseitigt werden.
59 
Dass das Vorhaben bislang möglicherweise nicht derart in das GVFG-Bundesprogramm 2013 bis 2017 aufgenommen ist, dass eine Finanzierung mit GVFG-Mittel zu erwarten ist, stellt die Planrechtfertigung ebenso wenig in Frage (vgl. HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360; OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319). Denn die Finanzierung eines planfestgestellten Vorhabens ist im Rahmen der Planrechtfertigung nur von Bedeutung, wenn sie von vornherein ausgeschlossen erscheint und damit die Realisierung des Vorhabens eindeutig nicht möglich ist (vgl. Senatsurt., Urt. v. 06.04.2006 – 5 S 847/05 –, UPR 2006, 454; Urt. v. 02.11.2004 – 5 S 1063/04 –, UPR 2005, 118) bzw. dem Vorhaben „unüberwindliche“ finanzielle Schranken entgegenstehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.11.2013 - 9 A 14.12 -, BVerwGE 148, 373). Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein.
60 
Die erforderliche Planrechtfertigung lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit auch nicht mit der Erwägung verneinen, die Verwirklichung des planfestgestellten Vorhabens sei von den für die Durchführung maßgeblich Verantwortlichen in Wahrheit gar nicht mehr beabsichtigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1989 - 4 C 41.88 -, BVerwGE 84, 123). Ausweislich eines Vermerks für die Regierungspräsidentin vom 24.04.2015 (vgl. /41 der Verfahrensakten betreffend die 1. Planänderung) hatte sich der Leiter des Amts für Verkehrsmanagement der Stadt Heidelberg, die immerhin mittelbar mit 27,8 % Gesellschaftsanteilen und unmittelbar mit 25% Stimmanteilen an der Beigeladenen beteiligt ist, allerdings dahin geäußert, dass Oberbürgermeister W. das Verfahren nur weiterbetreibe, um später sagen zu können, dass die Kläger ihnen die Straßenbahn „kaputt gemacht“ hätten. Insofern war nach dem Vermerk auch bei der Planfeststellungsbehörde der Eindruck entstanden, dass vor allem die Stadt Heidelberg nicht mehr an einer Realisierung der Straßenbahn interessiert sei, sondern man die Suche nach einem „Sündenbock“ aufgenommen habe. Zwar beurteilt sich die Frage nach dem Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung für das Vorhaben gerade in seiner geänderten Gestalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.2009 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 69) nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses. Die Beigeladene hat jene Äußerungen jedoch inzwischen relativiert und erklärt, dass sie - und auch die Stadt Heidelberg als ihre Gesellschafterin - nach wie vor an dem Vorhaben festgehalten hätten. Auch der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel mehr geäußert.
61 
2. Die Zulassung des Planvorhabens im Neuenheimer Feld ist jedoch rechtswidrig und verletzt dadurch die Klägerin in ihren Rechten, weil sie zwingenden, auch nicht durch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB überwindbaren Festsetzungen des rechtswirksamen Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 widerspricht (vgl. § 30 BauGB), die auch dem Schutz der Klägerin dienen.
62 
a) Die planfestgestellte Straßenbahntrasse durchschneidet nicht nur die im Bebauungsplan festgesetzte „Bauvorbehaltsfläche“ für die Universität (vgl. § 8 Abs. 2c AufbauG), sondern verläuft innerhalb der Baugrenzen (vgl. § 8 Abs. 2e AufbauG) für die dort allein zulässigen baulichen Anlagen, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. B. a) Art der Nutzung). Ö f f e n t l i c h e Verkehrsanlagen sind innerhalb dieser Grenzen nicht vorgesehen. Solche sind im Bebauungsplan vielmehr bewusst nicht festgesetzt worden, um das Gebiet, das einem Sondergebiet nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BauNVO entspricht („Hochschulgebiet“), künftig - mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte - in sich geschlossen und vom öffentlichen Verkehr frei zu halten (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 15.10.2004 - 5 S 2586/03 -, BRS 67 Nr. 87); die Tiergartenstraße sollte aus diesem Grunde als öffentlicher Weg eingezogen werden. Insoweit sollte auch eine abschließende Regelung getroffen werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998 - 8 S 315/98 -, BRS 60 Nr. 140). Daran ändert nichts, dass sich der Erläuterungsbericht verschiedentlich zur verkehrlichen Erschließung verhält, denn insoweit sollten gerade keine bzw. noch keine Regelungen getroffen werden. Die angesprochenen Verkehrsflächen sollten nach den Vorstellungen des Plangebers zudem außerhalb der Baugrenze vorgesehen werden bzw. - wie die damals noch vorhandene OEG-Güterlinie - dorthin verlegt werden. Aus Rücksicht auf eine künftige Außenerschließung blieben die Baugrenzen auch hinter der Bauvorbehaltsflächengrenze zurück. Dass es, worauf der Beklagte erstmals im Schriftsatz vom 31.03.2016 hingewiesen hat, bei der Aufstellung älterer Bebauungspläne für die angrenzenden Gebiete - etwa des Bebauungsplans „Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 - noch planerische Überlegungen zu einer öffentlichen Erschließung auch von Teilen des Gebiets westlich der Frankfurter (bzw. Berliner) Straße gegeben hat, ist für die Auslegung des später aufgestellten Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ nicht von Bedeutung. Denn weder der Erläuterungsbericht noch der Bebauungsplan selbst knüpft an diese Vorstellungen an. Insbesondere findet sich darin kein „Querstraßenanschluss“ zur Tiergartenstraße mehr, wie er im Bebauungsplan vom 19.05.1956 noch als „geplant, aber nicht festzustellen“ eingetragen war.
63 
Anders als die Planfeststellungsbehörde meint, stellt das planfestgestellte Vorhaben auch keine nach dem Bebauungsplan zulässige „öffentliche Versorgungsanlage“ dar. Damit sind ersichtlich nur der Versorgung des Gebiets dienende Nebenanlagen gemeint (vgl. § 14 Abs. 2 BauNVO).
64 
b) Der entsprechend § 173 Abs. 3 BBauGB 1960 übergeleitete Bebauungsplan ist, jedenfalls was die hier in Rede stehende(n) Festsetzunge(en) angeht, entgegen der Auffassung der Planfeststellungsbehörde, die sich insoweit zudem möglicherweise eine ihr nicht zustehende Normverwerfungskompetenz angemaßt hat (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ. Urt. v. 09.09.2015 - 3 S 276/15 VBlBW 2016, 27 -), wirksam; er ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
65 
aa) Anhaltspunkte dafür, dass bei der Aufstellung des Plans das Verfahren nach dem Badischen Ortsstraßengesetz (OStG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 30.10.1936 (GVBl S. 179), 19.06.1937 (GVBl S. 245) nicht eingehalten worden wäre (vgl. § 9 AufbauG), sind nicht ersichtlich. Der Planentwurf vom 28.07.1960 war vom Gemeinderat (vgl. § 3 Abs. 1 OStG) der Stadt Heidelberg am 27.04.1961 beschlossen und vom Regierungspräsidium Nordbaden als zuständiger Aufsichtsbehörde (vgl. § 10 AufbauG) genehmigt worden. Er war mit seiner endgültigen Feststellung nach § 3 Abs. 6 OStG wirksam und am 13.10.1961 verkündet worden; der Ausfertigungsvermerk findet sich auf der Gemeinderatsvorlage vom 22.02.1961, auf der auch die Beschlussfassung vom 27.04.1961 dokumentiert ist.
66 
Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Bebauungsplan den nach der Übergangsvorschrift des § 174 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbaugesetzes (BBauG) vom 23.06.1960 weiterhin maßgeblichen Vorschriften des § 8 des württembergisch-badischen Aufbaugesetzes vom 18.08.1948 (RegBl S. 127), 16.05.1949 (RegBl S. 87) widerspräche. Die vom Beklagten als Beleg für seine gegenteilige Auffassung aufgestellten Rechtsbehauptungen treffen nicht zu. Das württembergisch-badische Aufbaugesetz erforderte keineswegs eine hinreichend konkretisierte Planung, in der a l l e in § 8 Abs. 1 Satz 2 AufbauG angesprochenen Gesichtspunkte der städtebaulichen Entwicklung zu regeln waren, was die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplans ausgeschlossen hätte. So sah § 7 Abs. 1 AufbauG - insoweit mit § 1 Abs. 3 BauGB vergleichbar - vor, dass die Gemeinden n a c h B e d ü r f n i s Bebauungspläne aufzustellen haben, w e n n die Entwicklung dies e r f o r d e r t. § 8 Abs. 1 AufbauG sah auch - vergleichbar mit § 1 Abs. 5 und 6 BauGB - nur die B e r ü c k s i c h t i g u n g verschiedener Bedürfnisse vor. Auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG folgt nichts anderes. Dass die Bebauungspläne die dort aufgeführten Festsetzungen in Lageplänen enthalten mussten, kann nur so verstanden werden, dass diese, so sie nach § 7 Abs. 1 AufbauG erforderlich waren, auch in den Lageplänen darzustellen waren (vgl. auch den Ersten Durchführungserlass zum Aufbaugesetz v. 05.02.1949 Nr. 6672/IV zu § 8 Abs. 2); dies ist hier erfolgt. Die gegenteilige Auslegung des Beklagten, die entgegen seiner Ansicht auch nicht durch das von ihm insoweit in Bezug genommenen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19.06.1959 - II 170/58 - gestützt wird, führte zu dem absurden Ergebnis, dass ein Bebauungsplan ungeachtet dessen, dass er zur Gewährleistung des Wiederaufbaus (vgl. § 1 Abs. 1 AufbauG) dringend erforderlich war, nicht hätte aufgestellt werden können, wenn für einzelne Festsetzungen (etwa nach § 8 Abs. 2f AufbauG) überhaupt kein Bedarf bestand. Von einem „Äquivalent zur Planzeichenverordnung“ kann allerdings nicht gesprochen werden. Denn die für die Darstellung zu verwendenden Planzeichen ergaben sich nach wie vor aus dem Runderlass des Ministeriums des Innern vom 06.07.1939 Nr. 56552 (BaVBl S. 787, vgl. hierzu den Ersten Durchführungserlass, a.a.O., zu §§ 7-11 a.E.). Nach alledem kann dahinstehen, ob es sich um einen einfachen Bebauungsplan i.S. des § 30 Abs. 3 BauGB handelt; allein daraus, dass er keine positiven Festsetzungen zu öffentlichen Verkehrsflächen enthält, dürfte sich letzteres aufgrund der beabsichtigten abschließenden Regelung freilich noch nicht ergeben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998, a.a.O.). Öffentliche Verkehrsflächen waren auch nicht deshalb erforderlich, weil - wie der Beklagte meint - öffentliche Einrichtungen ausschließlich durch öffentliche und nicht durch - tatsächlich öffentlichen Verkehr zulassende - Privatstraßen erschlossen werden könnten. Vielmehr kann die Binnenerschließung zu öffentlichen Zwecken gewidmeter Flächen durchaus durch Privatstraßen erfolgen, wenn diese - wie hier - ihrerseits an öffentliche Straßen angeschlossen sind (Außenerschließung). Sollte die „wenig benutzte“ Güterlinie der OEG - wie die Beigeladene geltend macht - bei Erlass des Bebauungsplans noch betrieben worden sein, führte dies zwar, da der Bebauungsplan deren Bestand unberührt ließ, zu einem gewissen Nutzungskonflikt. Dieser sollte und konnte jedoch durch eine spätere Aufhebung oder Verlegung gelöst werden, da die OEG dem nicht entgegengetreten war, sondern lediglich beanstandet hatte, dass nicht bereits der Bebauungsplan dies vorsah (/169 der Bebauungsplanakten). Insofern kann darin auch kein Verstoß gegen das Konfliktbewältigungsgebot und damit auch nicht gegen das allgemeine Gebot gerechter Abwägung gesehen werden, was eine Überleitung des Bebauungsplans ausgeschlossen hätte (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.10.1972 - IV C 14.71 -, BVerwGE 41, 67).
67 
bb) Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind auch nicht inzwischen dadurch funktionslos geworden, dass auf den vom Land Baden-Württemberg im Zuge der mit der Stadt Heidelberg in den Jahren 1969/70 geschlossenen städtebaulichen Verträge im Universitätsgebiet hergestellten Privatstraßen tatsächlich öffentlicher Verkehr stattfindet und die sog. Nordtrasse (heute Straße Im Neuenheimer Feld) seitdem - weil der Kurpfalzring bislang nicht ausgebaut worden ist - nach wie vor für den öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Die Nordtrasse ist für den öffentlichen Durchgangsverkehr von vornherein nur bis zur Fertigstellung des im Generalverkehrsplan 1969 vorgesehenen Ausbaus des Kurpfalzrings (Klausenpfad) gewidmet worden; nach dessen Fertigstellung soll sie von der Stadt entschädigungslos entwidmet werden (vgl. die dem Vertrag v. 06.11.1969 anliegende, vom Land gewählte Alternative A, Anl. 3 zum Antragsschriftsatz der Klägerin v. 30.03.2014 - 5 S 1444/14 -). Auch wenn damit eine vollständige Verwirklichung des mit dem Bebauungsplan verfolgten Ziels, das Gebiet insbesondere von Durchgangsverkehr frei zu halten, derzeit teilweise - nämlich im Bereich der vorhandenen Trasse der Straße Im Neuenheimer Feld - auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheinen mag, ist der Bebauungsplan doch nach wie vor geeignet, die Herstellung weiterer Verkehrsflächen, zumal für ein schienengebundenes öffentliches Verkehrsmittel zu verhindern, die das Gebiet weiter zerschneiden und die Möglichkeiten der Klägerin, das Gebiet nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, weiter beschneiden würden. Damit würde letztlich die seinerzeit beabsichtigte „Geschlossenheit“ des festgesetzten Universitätsgebiets konterkariert.
68 
c) Auch eine Befreiung von den dem Vorhaben entgegenstehenden Festsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB kommt nicht in Betracht und konnte daher auch nicht - wie nunmehr ausdrücklich geschehen - rechtmäßig im Planfeststellungsbeschluss erteilt werden, sollte sich die Konzentrationswirkung überhaupt auf eine solche Entscheidung erstrecken. Denn durch das Vorhaben werden bereits die „Grundzüge der Planung“ berührt. Ob diese berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39). Dies ist hier der Fall, da das Planvorhaben dem Grundkonzept, das Gebiet in sich geschlossen und vom - gebietsunverträglichen - öffentlichen (Durchgangs-) Verkehr weitgehend frei zu halten, ungeachtet der bereits Jahrzehnte andauernden Widmung der Straße Im Neuenheimer Feld für den öffentlichen Straßenverkehr diametral zuwiderläuft. Anders als in dem Falle, der dem Senatsurteil vom 15.10.2004 (a.a.O.) zugrunde lag, geht es nicht nur darum, dass das Vorhaben die Bauvorbehaltsfläche innerhalb der Baugrenze für die Universität um die Fläche für eine Straßenbahntrasse vermindert. Darüber hinaus kann aufgrund der defizitären Ermittlung und Bewertung der gegenläufigen Belange - auch derjenigen der Klägerin - derzeit auch nicht vom Vorliegen der übrigen Befreiungsvoraussetzungen (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, § 31 Abs. 2 BauGB a.E.) ausgegangen werden.
69 
d) Das planfestgestellte Vorhaben kann entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen auch nicht das sog. Fachplanungsprivileg nach § 38 BauGB für sich in Anspruch nehmen. Für die Zuerkennung des grundsätzlichen Vorrangs der Fachplanung gegenüber der Planungshoheit der Gemeinde ist nach der Neufassung der Vorschrift durch das Bau- und Raumordnungsgesetz vom 18.08.1997 (BGBl S. 2081) nicht mehr auf die voraussichtliche planerische Kraft der im Einzelfall betroffenen Gemeinde, sondern auf die überörtlichen Bezüge des Vorhabens abzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000 - 11 VR 5.00 -, UPR 2001, 33). Solche sind bei dem Bau von Straßenbahnen - anders als etwa bei Vorhaben nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.10.2000 - 11 VR 12.00 -, Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 51) und dem Bundesfernstraßengesetz allerdings nicht schon durch die durch das Fachplanungsgesetz - hier das Personenbeförderungsgesetz - begründete nicht-gemeindliche, überörtliche Planungszuständigkeit indiziert, mögen sie auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Denn Straßenbahnen sind - in Abgrenzung zu Eisenbahnen - definitionsgemäß nur solche Schienenbahnen, die ausschließlich oder überwiegend der Beförderung von Personen im O r t s- oder Nachbarschaftsbereich dienen (vgl. § 4 Abs. 1 PBefG; § 8 Abs. 1 PBefG, § 2 Abs. 5 AEG). Dienen sie wie hier der Beförderung von Personen im O r t s verkehr und wird nur das Gebiet einer Gemeinde berührt, kommt dem Vorhaben typischerweise keine überörtliche Bedeutung zu (vgl. Senatsurt. v. 15.10.2004, a.a.O.; Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB , § 38 Rn. 37, 152). Daran ändert auch der vom Beklagten und der Beigeladenen angeführte Umstand nichts, dass der Personennahverkehr überwiegend - wie auch hier - in Verkehrsverbünden organisiert ist (vgl. Runkel, a.a.O., § 38 Rn. 152), denn daraus folgt noch nicht die „Einbettung“ eines konkreten Straßenbahnvorhabens in ein überörtliches Verkehrsnetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000, a.a.O.). Denn allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Verkehrsverbund kommt noch nicht jeder Teilstrecke die gleiche, gegebenenfalls überörtliche Bedeutung in diesem Verkehrsnetz zu. Warum es sich deshalb anders verhalten sollte, weil mit der planfestgestellten Straßenbahn auch Einrichtungen von überörtlicher Bedeutung - insbesondere die im Neuenheimer Feld liegenden Universitätskliniken - erschlossen werden sollen, ist nicht zu erkennen. Der Beklagte und die Beigeladene übersehen, dass es um die überörtliche Bedeutung des Planvorhabens und nicht der von ihm erschlossenen öffentlichen Einrichtungen geht. Insofern kann die überörtliche Bedeutung auch nicht schon daraus hergeleitet werden, dass die „Universitätslinie“ Teil einer Straßenbahnverbindung vom bzw. zum Heidelberger Hauptbahnhof ist. Nach ihrer Argumentation käme letztlich jedem noch so unbedeutenden Straßenbahnvorhaben in einem Oberzentrum überörtliche oder gar überregionale Bedeutung zu, was letztlich die Anwendbarkeit des Personenbeförderungsgesetzes in einem solchen Fall in Frage stellte.
70 
e) Auf die Nichtbeachtung jener Festsetzungen des Bebauungsplans kann sich auch die Klägerin ungeachtet dessen berufen, dass nicht sie, sondern das Land Baden-Württemberg Eigentümer der für Zwecke der Universität genutzten Grundstücke ist. Denn die Festsetzung der Bauvorbehaltsfläche des Sondergebiets „Universität“ diente ersichtlich den Interessen und damit auch dem Schutz der Klägerin (vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO 11. A. 2008, § 11 Rn. 3). Dies lässt sich ohne weiteres dem beigefügten Erläuterungsbericht vom 28.07.1960 entnehmen. Danach entsprachen die in der Heidelberger Altstadt und im Bergheimer Viertel gelegenen Universitätsgebäude der Naturwissenschaften und der Medizin nicht mehr dem damaligen Stand der technischen Entwicklung und behinderten dadurch Forschung und Lehre. Zur Schaffung neuer, ausreichend bemessener Anlagen musste daher auf entsprechend große Flächen außerhalb des bebauten Stadtgebiets, und zwar auf das größere Gelände am rechten Neckarufer zurückgegriffen werden, das bereits der Wirtschaftsplan von 1935 als Universitätsviertel ausgewiesen hatte. Die dortigen Ansatzpunkte und Ausdehnungsmöglichkeiten ließen es zu, diesen Teil der Universität als geschlossene Anlage mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte zu schaffen. Zur Bereitstellung des erforderlichen Geländes wurde eine Widmung des zukünftigen Universitätsbereichs einschließlich aller Folgeeinrichtungen als Bauvorbehaltsfläche für die Zwecke der Universität als dringend erforderlich angesehen.
71 
Der Annahme eines ihr durch diese Festsetzung vermittelten subjektiv-rechtlichen Drittschutzes steht auch nicht entgegen, dass bauplanerische Festsetzungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) grundsätzlich grundstücks- und nicht personenbezogen sind (Repräsentationsprinzip; vgl. hierzu etwa Mager/Fischer, VBlBW 2015, 313 ff.). Denn bei der Aufstellung von Bebauungsplänen sind bzw. waren auch sonstige Belange zu berücksichtigen (vgl. § 1 Abs. 6 BauGB, insbes. § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB: „Belange des Bildungswesens“; § 8 Abs. 1 AufbauG: „kulturelle Bedürfnisse“), sodass es dem Plangeber - insbesondere kraft Bundesrechts (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 14.06.1968 - IV. C 44.66 -, BRS 20 Nr. 174) - nicht verwehrt ist, durch bestimmte, im Hinblick auf solche Belange getroffene Festsetzungen auch sonstigen Nutzungsberechtigten von Grundstücken wehrfähige Nachbarrechte im Ortsrecht zuzuerkennen (vgl. Battis/Krautzberger/ Löhr, BauGB 10. A. 2007 , § 31 Rn. 95 m.w.N.; Schlichter, NVwZ 1983, 641 <646>). Einer solchen Auslegung steht hier auch nicht entgegen, dass „lediglich“ ein entsprechend § 173 Abs. 3 BBauG übergeleiteter Bebauungsplan in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13.94 -,BVerwGE 101, 364).
72 
3. Unabhängig davon leidet der Planfeststellungsbeschluss - auch in seiner geänderten Gestalt - noch an beachtlichen Abwägungsmängeln (vgl.§ 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG) zum Nachteil der Klägerin. Denn die Planfeststellungsbehörde hat den schutzwürdigen Belang der Klägerin, von abträglichen Wirkungen des Vorhabens auf die derzeitige und künftige Forschungstätigkeit ihrer Einrichtungen verschont zu bleiben, in der Abwägung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG fehlerhaft behandelt. Denn sie hat sich entgegen ihres gesetzlichen Auftrags ohne eigene Feststellung und Bewertung der insoweit wesentlichen Tatsachen auf eine bloße Evidenzkontrolle der von der Beigeladenen vorgelegten Planung beschränkt (a). Daran hat auch der Änderungsplanfeststellungsbeschluss, insbesondere die darin angestellte „Gesamtbetrachtung“, nichts zu ändern vermocht. Mangels hinreichender eigener Feststellungen und Bewertungen der insoweit für die Abwägung wesentlichen Tatsachen durch die Planfeststellungsbehörde ist die Abwägungserheblichkeit der Belange der Klägerin auch nicht nachträglich entfallen (b). Eine weitere gerichtliche Erforschung des Sachverhalts ist insoweit - entgegen der Ansicht des Beklagten und der Beigeladenen - nicht geboten (c).
73 
a) Der Planfeststellungsbeschluss leidet bereits an einem kompletten Abwägungsausfall oder doch einem umfassenden Abwägungsdefizit, weil die Planfeststellungsbehörde sich entgegen ihrer Planungsaufgabe nach dem Personenbeförderungsgesetz, die Planung des Vorhabenträgers einer sachgerechten - wenn auch teilweise nur nachvollziehenden - eigenen Abwägung zu unterziehen, bewusst auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle beschränkt hat.
74 
Insofern erweisen sich nicht nur die Entscheidung zugunsten der planfestgestellten Variante A2 - und damit gegen die von der Klägerin favorisierten Varianten, insbesondere die Variante A1 („Klausenpfad“) -, sondern auch die konkrete Trassenführung und -gestaltung und das zum Schutz der Einrichtungen der Klägerin vorgesehene Schutzkonzept als abwägungsfehlerhaft. Diese Mängel sind, da sie sich ohne weiteres aus dem Planfeststellungsbeschluss ergeben, offensichtlich und schon deshalb auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, weil bei einer fehlerfreien Abwägung eine Entscheidung zugunsten der Variante A1 nicht nur konkret in Betracht kam (vgl. auch die undatierte Pressemitteilung www.uni-heidelberg.depresse/news/08/pm280415 -9str.html - der Stadt Heidelberg über eine zunächst gefundene Einigung auf einen Trassenverlauf über den Klausenpfad; § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG), sondern sich, wenn man den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss folgt, sogar als vorzugswürdig aufdrängte. Darauf, ob die vorgesehenen Schutzmaßnahmen zumindest gewährleisteten, dass die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze zum Nachteil der Klägerin nicht überschritten wird (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG), kommt es nicht mehr an, da die Abwägung es damit nicht bewenden lassen durfte.
75 
Die Planfeststellungsbehörde begründet ihre Entscheidung zugunsten der beantragten Variante A2 im Planfeststellungsbeschluss vom 10.06.2014, soweit sich darin hierzu überhaupt eigenständige Erwägungen der Behörde finden, zusammenfassend damit (S. 335 f.), dass sich bei der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Alternativlösungen im Ergebnis keine Alternative als „ e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r d i g“ bzw. die Antragsvariante „aus verkehrlicher Sicht“ aufgedrängt habe. Auch wenn bei der Trasse A1 deutlich weniger Einrichtungen den von dem Vorhaben ausgehenden Wirkungen ausgesetzt wären, sei dies nicht der allein ausschlaggebende Gesichtspunkt gewesen. Aufgrund der konkreten Zielsetzungen des Vorhabenträgers und der vorgesehenen Schutzmaßnahmen „d r ä n g e s i c h i h r n i c h t a u f“, dass die Vorteile der Variante A1 die Vorteile des beantragten Neubaus „in einer Weise“ überwögen, dass sie sich als „e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r- d i g“ erweise.
76 
Bereits aus diesen Ausführungen erhellt, dass die Planfeststellungsbehörde - auch bei Berücksichtigung ihrer weiteren Ausführungen zu den einzelnen Planungsalternativen - ihre gesetzliche Planungsaufgabe gänzlich verfehlt hat. Ob sie sich ohnehin an die vom Heidelberger Gemeinderat im November 2005 beschlossene Alternativen-Entscheidung („Maßnahmenbeschluss“) gebunden gefühlt hat, mag dahinstehen.
77 
Die von der Planfeststellungsbehörde mehrfach gebrauchte Wendung, dass sich eine andere Alternative „nicht als eindeutig vorzugswürdig aufgedrängt“ habe, vermag eine nachvollziehbare Begründung einer - in eigener Verantwortung für die Planung abwägungsfehlerfrei zu treffenden - Auswahlentscheidung von vornherein nicht zu ersetzen, da damit nur ein für die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle einer behördlichen Variantenentscheidung geltender Prüfungsmaßstab in Bezug genommen wird (vgl. Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011 - 7 MS 72/11 -). Die Prüfung, ob eine Auswahlentscheidung nach diesem Maßstab Bestand haben wird, obliegt nicht der Planfeststellungsbehörde, sondern dem erkennenden Verwaltungsgerichtshof. Die hierbei geltenden Einschränkungen der Kontrolle sind auch nur gerechtfertigt, weil eine demokratisch legitimierte Planfeststellungsbehörde zuvor die rechtliche Verantwortung für die Planung übernommen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1994, a.a.O., Rn. 21; BayVGH, Urt. v. 24.05.2011 - 22 A 10.40049 -, UPR 2011, 449). Dies ist umso mehr erforderlich, als einem Planfeststellungsbeschluss enteignungsrechtliche Vorwirkung zukommt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 -). Dies gilt erst recht, wenn der Vorhabenträger - wie die Beigeladene - privatrechtlich organisiert ist.
78 
Eine eigene Planungsentscheidung hat der Beklagte aufgrund seines fehlerhaften Ansatzes auch in der Sache nicht getroffen, denn er hat die Planunterlagen der Beigeladenen nicht, wie dies eigentlich erforderlich gewesen wäre, einer e i g e n s t ä n d i g e n rechtlichen Prüfung unterzogen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, Buchholz 406.400 § 19 BNatschG 2002 Nr. 7, juris Rn. 85). Einer solchen Prüfung war der Beklagte auch nicht deshalb enthoben, weil eine zur Planfeststellung vorgelegte Planung - aufgrund der Antragsbindung bzw. des Vorhabenbezugs - teilweise nur nachvollziehend abgewogen werden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, Urt. v. 24.11.1994 - 7 C 25.93 -, BVerwGE 97, 143, juris Rn. 20 u.21; Urt. v. 17.01.1986 - 4 C 6.84, 4 C 7.84 -, BVerwGE 72, 365; Senatsurt. v. 13.04.2000 - 5 S 1136/98 - u. v. 10.11.2011 - 5 S 2436/10 -; Steinberg/Wickel/Müller, a.a.O., S. 191 Rn. 1; Wickel in: HK-VerwR § 72 Rn. 31, 33 f.; krit. zu diesem Begriff Lieber, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 74 Rn. 34; Vallendar/Wurster, in Beck’scher AEG Komm., 2. A. 2014, § 18 Rn. 140). Insbesondere folgt aus dem Begriff „nachvollziehend“ nicht, dass die Planung für die Planfeststellungsbehörde etwa nur „nachvollzieh b a r“ sein müsste.
79 
Beim Abwägungsgebot im Fachplanungsrecht ist unter „nachvollziehender Abwägung“ - entgegen der offenbar vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung (vgl. Urt. v. 27.11.2012 - 22 A 09.40034 -; Urt. v. 13.10.2015 - 22 A 14.40037 - im Anschluss an Vallendar, in: Beck’scher AEG Komm. 2006, § 18 Rn. 119) - auch nicht eine Abwägung zu verstehen, wie sie im Rahmen einer gebundenen Vorhabenzulassung (vgl. zum Bauplanungsrecht BVerwG, Urt. v. 24.10.2013 - 7 C 36.11 -, BVerwGE 148, 155), im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung oder bei der Frage der „Beeinträchtigung“ des Wohls der Allgemeinheit i. S. des § 31 WHG anzunehmen ist und hier einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren Vorgang der Rechtsanwendung meint (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.2014 - 4 B 47.13 -, BRS 82 Nr. 109). Insofern geht auch der Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss (S. 54) auf das Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 29.03.2013 - 3 S 284/11 - (juris Rn. 125) fehl. Auch eine solche „nachvollziehende Abwägung“ hat die Planfeststellungsbehörde freilich nicht vorgenommen, weil sie selbst nicht „nachvollziehend“ abgewogen, sondern die Planung der Vorhabenträgerin lediglich als „nachvollzieh b a r“ und p l a u s i b e l angesehen hat.
80 
Eine sachgerechte - zumindest „nachvollziehende“ - Abwägung der verschiedenen Varianten war ihr aufgrund der unzureichenden Planunterlagen allerdings auch nicht möglich. Denn der im Erläuterungsbericht enthaltene „Vergleich der Varianten“ (a.a.O., S. 15 ff.) besteht im Wesentlichen nur aus einer zusammenfassenden Darstellung des Entscheidungsprozesses im Heidelberger Gemeinderat von 1992 bis zum „Maßnahmenbeschluss“ im November 2005, mit dem dieser sich für die Variante A2 entschieden hatte.
81 
Zwar unterliegt auch die Überprüfung der Variantenauswahl durch die Planfeststellungsbehörde aufgrund der Antragsbindung gewissen Einschränkungen. Dies gilt aber nur für die eigentliche (endgültige) planerische Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Alternativen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 39.07 -,BVerwGE 133, 239). Dies entbindet die Planfeststellungsbehörde jedoch nicht von ihrer Pflicht, zuvor alle ernsthaft in Betracht kommenden Planungsalternativen auch selbst ernsthaft in Betracht zu ziehen und zu prüfen, und zwar - entgegen der Auffassung des Beklagten - unabhängig davon, ob sie sich ihr „aufdrängten“ oder nicht (vgl. Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. A. 2012, § 3 Rn. 183 f.). Ihre Pflicht zur Ermittlung, Bewertung und Gewichtung einzelner Belange im Rahmen der Variantenprüfung ist damit für die Planfeststellungsbehörde in keiner Weise zurückgenommen (vgl. BVerwG, Gerichtsbesch. v. 21.09.2010 - 7 A 7.10 -, juris, Rn. 17 unter 2.d; Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075/04 -, BVerwGE 125, 116, juris Rn. 98; Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011, a.a.O.). Erst bei der eigentlichen (endgültigen) Auswahlentscheidung ist sie - im Hinblick auf die planerische Gestaltungsfreiheit des Vorhabenträgers - auf die Prüfung beschränkt, ob dessen Erwägungen vertretbar und damit geeignet sind, die (endgültige) Variantenwahl zu rechtfertigen u n d ob - und ggf. aus welchen Gründen - sie sich diese zu eigen machen will (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009, a.a.O.). Nach dem auch für sie geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 LVwVfG; hierzu BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, a.a.O.; Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 8. A., 2014 § 74 Rn. 8) hat die Planfeststellungsbehörde jedoch zuvor die eine sachgerechte Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange erst ermöglichenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen (und zu bewerten) und hierzu erforderlichenfalls auch noch weitere eigene Ermittlungen anzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.1992 - 4 B 1.92 u. a., -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89; Beschl. v. 02.04.2009 - 7 VR 1.09 -; Urt. v. 24.03.2011, a.a.O.).
82 
Diesen Anforderungen des Abwägungsgebots entspricht die von der Planfeststellungsbehörde getroffene Entscheidung aufgrund ihres verfehlten Ansatzes in keiner Weise.
83 
So begnügte sich die Planfeststellungsbehörde - jedenfalls ganz überwiegend - damit, den gegen die Antragsvariante vorgebrachten, durchaus substantiierten Einwendungen - auch der Klägerin - jeweils die gegenteilige Sicht der Beigeladenen gegenüberzustellen, um im Anschluss daran - ohne eigenständige Begründung - auszuführen, dass die Annahmen der Einwender und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „nicht geteilt“ würden, dass sie „sich die Ausführungen des Vorhabenträgers zu eigen mache“, sie „keine b e - l a s t b a r e n Anhaltspunkte bzw. Erkenntnisse“ dafür habe, dass sich dessen Ausgangsüberlegungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „(e i n d e u t i g) unzutreffend oder fehlgewichtet“ darstellen könnten und daher „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ bzw. „nicht zu beanstanden“ seien. Diese im Beschluss ständig wiederkehrenden Wendungen erweisen, dass sich die Planfeststellungsbehörde von vornherein - jedenfalls ganz überwiegend - auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle jeglicher von der Vorhabenträgerin der Planung zugrunde gelegten Annahmen beschränkt hat und dass sie - nach einer ebenfalls nur eingeschränkten Prüfung - auch deren tatsächliche und rechtliche Bewertungen und Gewichtungen der Einzelbelange - auch derjenigen der Klägerin - übernommen hat. Ein solches Vorgehen ist mit der Aufgabe einer Planfeststellungsbehörde, der ungeachtet des Vorhabenbezugs ein Planungsermessen eingeräumt ist und die insofern eine eigenständige, wenn auch teils nur nachvollziehende abwägende Entscheidung zu treffen hat, schlechterdings nicht vereinbar.
84 
Zwar trifft es zu, wie die Beigeladene einwendet, dass allein ein etwaiger Begründungsmangel noch nicht den Schluss auf einen Abwägungsmangel rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011, a.a.O., Rn. 84). Hier liegt jedoch nicht nur ein bloßer formeller Mangel in der Dokumentation oder Begründung vor, sondern ein im Planfeststellungsbeschluss an zahllosen Stellen dokumentierter grundlegender materieller Abwägungsmangel. Den aufgezeigten Formulierungen - wie „nicht e i n d e u t i g unzutreffend oder fehlgewichtet“, „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ kommt auch keineswegs nur eine - letztlich unerhebliche - „semantische“ Bedeutung zu, wie der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf einen dem Verfasser des Planfeststellungsbeschlusses eigenen Stil geltend gemacht hat.
85 
Da auch die Entscheidungen über die der Beigeladenen erteilten „Schutzauflagen“ von dem vorbezeichneten Mangel betroffen sind, lässt sich auch aus deren Beifügung nicht auf eine eigene Abwägung schließen, zumal die Schutzauflagen zu einem großen Teil ohnehin nicht von der Planfeststellungsbehörde, sondern von der Anhörungsbehörde, mithin der Stadt Heidelberg formuliert worden sind, die gleichzeitig Gesellschafterin der Vorhabenträgerin ist.
86 
Der von der Planfeststellungsbehörde gewählte Ansatz einer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung wird bereits auf der Ebene der Ermittlung, Bewertung und Gewichtung der für die Trassenwahl besonders bedeutsamen Auswirkungen des Vorhabens deutlich. Dies gilt insbesondere für die von dem Vorhaben ausgehenden Erschütterungen und elektromagnetischen Felder, gegen die sich die Klägerin wegen ihrer von diesen Wirkungen betroffenen Forschungseinrichtungen bzw. dort eingesetzter hochempfindlicher Geräte - vor allem an der Straße Im Neuenheimer Feld, aber auch im Botanischen Garten - hauptsächlich wendet. Gleiches gilt für die weiteren Auswirkungen des Vorhabens, insbesondere für die mit ihm verbundenen Zerschneidungswirkungen bzw. Einschränkungen hinsichtlich einer bedarfsgerechten Nutzung der Bauvorbehaltsfläche durch die Klägerin.
87 
Hinsichtlich der für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Beurteilung der Immissionswirkungen hat die Planfeststellungsbehörde dabei zunächst auf ihre Ausführungen unter Abschnitt B. III. 2.3 „Zwingendes Recht“ verwiesen (S. 326 ff.), wo stereotyp den Einwendungen - auch denen der Klägerin - („… wird geltend macht, …“) jeweils die gegenteilige Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. ihrer Gutachter gegenübergestellt wird („Der Vorhabenträger hat dazu ausgeführt, …“), um dies jeweils mit der Wendung abzuschließen, dass sie „keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte“ dafür habe, dass sich die gutachterlichen Einschätzungen, Annahmen und Schlussfolgerungen „im Ergebnis als unzutreffend“ oder „u n v e r t r e t b a r“ (!) darstellten bzw. die Überlegungen, Ansätze und Schlussfolgerungen des Fachgutachters „in einer Weise erschüttert“ würden, dass sich daraus ein „z w i n g e n d e r“ weitergehender Handlungsbedarf ergäbe.
88 
Vor diesem Hintergrund entbehrt auch das von der Planfeststellungsbehörde gezogene Fazit jeder tatsächlichen Grundlage, dass die Erschütterungswirkungen der Zulassung des Vorhabens „nicht zwingend“ entgegenstünden und dass mit den von der Vorhabenträgerin aufgrund umfangreicher fachgutachterlicher Expertisen vorgesehenen Schutzmaßnahmen den berechtigten Belangen der betroffenen Einrichtungen im Hinblick auf eine elektro-magnetische Verträglichkeit „angemessen Rechnung“ getragen werde.
89 
Diese Ausführungen lassen darüber hinaus erkennen, dass es der Planfeststellungsbehörde ohnehin nur darauf ankam, zwingendes Recht, und zwar die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG) einzuhalten, sie jedoch darüber hinaus für eine sachgerechte Abwägung mit dem Interesse der Klägerin, von weiteren - gerade auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen - nachteiligen Einwirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, tatsächlich nicht offen war. Dies zeigt auch der Umstand, dass sie es dahinstehen ließ, ob bei einer Trassenführung über den von der Klägerin favorisierten „Klausenpfad“ (Variante A1) deutlich weniger empfindliche Einrichtungen betroffen wären, und es nicht für aufklärungsbedürftig ansah, ob in dem dort gelegenen „Technologiepark“ überhaupt in vergleichbaren Entfernungen ebenso empfindliche Nutzungen stattfinden.
90 
Ohne entsprechende „belastbare“ Feststellungen erweist sich die von der Planfeststellungsbehörde wiedergegebene Sichtweise der Vorhabenträgerin, wonach beide Varianten hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit und der Erschütterungen „nahezu vergleichbar“ seien, keineswegs als „nachvollziehbar und plausibel“, sondern als nicht „vertretbar“.
91 
Dies gilt umso mehr, als die Planfeststellungsbehörde auch die bauplanungsrechtliche Situation - und die sie konkretisierenden städtebaulichen Verträge - nicht mit dem ihr zukommenden Gewicht zu Gunsten der Belange der Klägerin berücksichtigt hat, indem sie selbst hier - wiederum ohne erkennbar eigenständige Prüfung - die unzutreffende, rechtliche Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. des Rechtsamts der Stadt Heidelberg zugrunde gelegt hat. Die bestehende bauplanungsrechtliche Situation wäre indes bei der Abwägung nicht nur als wesentlicher städtebaulicher Belang, sondern auch als schutzwürdiges Interesse der betroffenen Einrichtungen an der Beibehaltung des bestehenden Zustandes (vgl. Senatsurt. v. 06.05.2011 - 5 S 1670/09 -, VBlBW 2012, 108) mit besonderem - grundrechtlichen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) - Gewicht zu berücksichtigen gewesen (vgl. Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13). Dies hätte auch dann gegolten, wenn sich die Beigeladene auf das Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB n.F. hätte berufen können. Selbst wenn der Bebauungsplan unwirksam wäre, hätte das Vorliegen eines seit den 1960iger Jahren tatsächlich vorhandenen Universitätsgebiets zugunsten der Klägerin angemessen berücksichtigt werden müssen.
92 
In städtebaulicher Hinsicht hat die Planfeststellungsbehörde zudem übersehen, dass der von ihr in den Vordergrund gerückte „Technologiepark“ jedenfalls ganz überwiegend im Geltungsbereich des „Bebauungsplans Handschuhsheim Langgewann II - Technologiepark Heidelberg“ vom 16.03.2000 liegt. Dieser erklärt aber nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Geschäfts-, Büro und Verwaltungsgebäude für zulässig. Zwar sollen dabei auch Forschungseinrichtungen, daneben aber auch Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen zulässig sein. Bei den danach zulässigen Nutzungsarten kann von einer vergleichbaren Schutzwürdigkeit wie im angrenzenden „Universitätsgebiet“ nicht die Rede sein. Denn auf der durch den Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung festgesetzten Bauvorbehaltsfläche sind lediglich bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. b) der Besonderen Bauvorschriften).
93 
Schließlich belegt der Hinweis der Planfeststellungsbehörde auf das Fehlen einer - von der Klägerin gar nicht geltend gemachten - Bestandsgarantie und den im Neuenheimer Feld weiterhin möglichen Wissenschaftsbetrieb, dass die Planfeststellungsbehörde das Gewicht des durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG besonders geschützten Belangs der Klägerin unterschätzt hat, ihre Forschungseinrichtungen von möglicherweise die Forschung beeinträchtigenden Auswirkungen des Vorhabens soweit als möglich zu verschonen. Diese unzutreffende Gewichtung kommt auch in den Bemerkungen des Vertreters der Planfeststellungsbehörde in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck, die Universität werde schon „nicht untergehen“, wenn die Straßenbahn durchs Neuenheimer Feld fahre. Zu Recht weist die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der Forschungsfreiheit aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten noch mehr als beim Eigentum auch mögliche künftige Nutzungen - auch auf den „Erweiterungsflächen“ der Universität - in den Blick zu nehmen waren. Der Umstand, dass solche Nutzungen noch nicht unmittelbar angestanden haben oder dass deren Realisierung aufgrund der bereits erreichten Bebauungsdichte möglicherweise zunächst den Abriss anderer Gebäude bedingte, mag für die Gewichtung dieses Belangs von Bedeutung sein, stellt indessen - nicht zuletzt im Hinblick auf den Prognosehorizont - dessen Abwägungserheblichkeit nicht in Frage. Anderes gilt auch nicht deshalb, weil die Klägerin nicht Eigentümerin jener „Erweiterungsflächen“ ist. Denn auch diese Flächen liegen im festgesetzten „Universitätsgebiet“ und sind nach dem nach wie vor wirksamen Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ grundsätzlich für die universitären Zwecke der Klägerin nutzbar. Insofern leidet die Entscheidung jedenfalls an einer Abwägungsfehlgewichtung, wenn nicht gar an einer Abwägungsdisproportionalität.
94 
Die Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss lassen auch nicht annähernd erkennen, dass insbesondere die von der Klägerin als vorzugswürdiger angesehene Variante A1 derartige Abstriche an den verkehrlichen Zielsetzungen der Vorhabenträgerin bedingt hätte, dass sie ungeachtet der betroffenen gegenläufigen Interessen, insbesondere des Interesses der Klägerin, von nachteiligen Auswirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, und ungeachtet des von der Planfeststellungsbehörde zu beachtenden Trennungsgrundsatzes (vgl. § 50 Satz 2 BImSchG) jedenfalls nicht hinzunehmen wären. Entgegen der Behauptung des Beklagten-Vertreters in der mündlichen Verhandlung war der Variante A2 gegenüber der Variante A1, der die Planfeststellungsbehörde durchaus auch gewisse Vorteile attestiert hat, lediglich aufgrund überwiegender Vorteile der Vorzug gegeben worden (a.a.O., S. 336). Solches ließe sich auch nicht bereits mit den angeführten Nachteilen hinsichtlich der Erschließungswirkung begründen (a.a.O., S. 335), zumal sich die Planfeststellungsbehörde im Hinblick auf das jeweilige Fahrgastaufkommen auf die Wendung zurückgezogen hat (S. 321), dass es sich aus ihrer Sicht „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ sei, wenn sich d e m V o r h a b e n t r ä g e r, der als Verkehrsunternehmer das stärkste Interesse habe, ein möglichst hohes Fahrgastpotential auszuschöpfen, die Beibehaltung einer bestehenden Linienführung a u f d r ä n g e (sic!). Entsprechende Abstriche wären hier indes umso eher gerechtfertigt gewesen, je gewichtiger die gegenläufigen Belange sind, insbesondere je einschneidender sich die nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens bei der Variante A2 auf die weitere Funktionsfähigkeit der derzeit und künftig betroffenen Forschungseinrichtungen der Klägerin erweisen. Über diese hätte sich die Planfeststellungsbehörde jedoch zunächst selbst Gewissheit verschaffen müssen, auch wenn dies für sie bzw. die hierzu zunächst berufene Anhörungsbehörde mit einem größeren Aufwand verbunden gewesen wäre. Dies gilt umso mehr, als der Erläuterungsbericht der Vorhabenträgerin einen besonderen Bedarf einer Straßenbahnverbindung anstatt einer Busverbindung ins Neuenheimer Feld zwar behauptet, jedoch auch nicht annähernd nachvollziehbar belegt hat. Inwiefern dies unbeachtlich sein sollte, weil die Stadt Heidelberg inzwischen eine - Ende 2011 fertiggestellte - aktuellere Verkehrsprognose in Auftrag gegeben habe (S. 129), erschließt sich nicht.
95 
All diese, sich bereits bei der Variantenentscheidung manifestierenden Mängel, die letztlich auf den falschen Prüfungsmaßstab der Planfeststellungsbehörde zurückzuführen sind, setzen sich bei der Entscheidung über die konkrete Trassenführung- und -gestaltung sowie bei der Entscheidung über das dabei vorzusehende Schutzkonzept (einschließlich der verfügten Nebenbestimmungen) fort. Denn auch hier hat sich die Planfeststellungsbehörde jedenfalls ganz überwiegend auf eine reine Evidenz- und Plausibilitätskontrolle zurückgezogen, ob insbesondere durch die von der Anhörungsbehörde vorgeschlagenen Nebenbestimmungen die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle eingehalten werden wird oder nicht. Ob wenigstens dies hinsichtlich der besonders kritischen Erschütterungswirkungen und elektromagnetischen Wirkungen sowie der weiteren, von der Klägerin beanstandeten Auswirkungen des Vorhabens tatsächlich gewährleistet sein könnte, bedarf - wie ausgeführt - vor dem Hintergrund der aufgezeigten grundlegenden Abwägungsmängel keiner Prüfung mehr.
96 
b) Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss sind auch unter Berücksichtigung der mit ihm festgestellten Planänderungen - insbesondere bei Berücksichtigung des im Bereich des Max-Planck-Instituts und der besonders betroffenen Institute der Klägerin vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts - nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundenen weiteren Abwägungsmängel zu beheben. Dies gilt ungeachtet dessen, dass einzelne, für die Abwägung erhebliche Umstände - etwa die derzeitige konkrete Betroffenheit bestimmter Geräte bzw. Gerätestandorte - aktuell nachermittelt wurden.
97 
Mit der anlässlich der 1. Planänderung von Amts wegen vorgenommenen „Gesamtbetrachtung“ wurde die bisher im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt. Das war ohne Weiteres zulässig (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG; § 114 Satz 2 VwGO). Insofern hätten sogar neue Erwägungen nachgeschoben werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.1991 - 7 B 65.91 -, Buchholz 451.22 AbfG Nr. 44). Da nur von „klarstellenden und vertiefenden“ Ausführungen die Rede ist und die Planfeststellungsbehörde Mängel der ursprünglich getroffenen Entscheidung gerade in Abrede gestellt hat, können die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allerdings nur so verstanden werden, dass lediglich die im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt, nicht jedoch eine neue Abwägungsentscheidung getroffen werden sollte (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. 20.12.1991 - 4 C 25.90 -, Buchholz 316 § 76 VwVfG Nr. 4). Auch der Sache nach wurde eine solche nicht getroffen. Abgesehen von der nunmehr ausdrücklich erteilten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB wurde die bereits getroffene Abwägungsentscheidung vielmehr nur im Hinblick auf den zwischenzeitlich ergangenen Senatsbeschluss vom 18.12.2014 „überprüft“ und - teilweise - weiter begründet, um sie im Ergebnis zu rechtfertigen und unberührt zu lassen. Allein diesem Zweck dienten auch die „Aktualisierung“ der Gerätestandorte und die Einholung weiterer Gutachten, mit denen lediglich die bisherigen Gutachten zu den Auswirkungen des Vorhabens ergänzt wurden. Wurden damit aber bestimmte Probleme nicht - zum Zwecke einer erneuten Abwägung - einer Neubewertung unterzogen, ist für die gerichtliche Kontrolle insoweit auch nicht auf den Zeitpunkt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 -, BVerwGE136, 291). Dass mit dem Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses tatsächlich keine Fehlerbehebung entsprechend § 75 Abs. 1a LVwVfG beabsichtigt war, haben die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung schließlich ausdrücklich bestätigt.
98 
Soweit die Planfeststellungsbehörde ihre Variantenentscheidung „ergänzend“ damit zu rechtfertigen versucht hat, dass die Variante A1 tatsächlich frühzeitig hätte ausgeschieden werden können, da sie schon nicht ernsthaft in Betracht gekommen sei, weil sie offensichtlich „am Bedarf vorbeifahre“ (vgl. S. 95 f.), ist dies jedenfalls aufgrund der im Änderungsplanfeststellungsbeschluss gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar. Denn die planfestgestellte Variante sieht zwischen der Haltestelle „Geowissenschaften“, deren Erschließungswirkung - auch nach der vom Planfeststellungsbeschluss für plausibel gehaltenen Sicht der Vorhabenträgerin (vgl. PFB, S. 319 f.) - mit derjenigen der in der Berliner Straße vorhandenen Haltestelle „Technologiepark“ fast vergleichbar ist, bis zur Haltestelle „Kopfklinik“ gar keine weiteren Haltestellen entlang der Straße Im Neuenheimer Feld vor. Soweit der Beklagte und die Beigeladene im gerichtlichen Verfahren nun maßgeblich darauf abgehoben haben, dass der Einzugsbereich beider Haltestellen bei der Variante A1 nur mit einem geringeren Takt bedient werden könnte, mag dies eventuell auf einen abwägungserheblichen Nachteil dieser Variante führen. Daraus folgt aber nicht, dass diese Variante deshalb schon nicht „zielkonform“ und ungeachtet der mit der Antragsvariante verbundenen Auswirkungen - insbesondere auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin - nicht weiter in den Blick zu nehmen gewesen wäre. Soweit der Vertreter des Beklagten dies in der mündlichen Verhandlung mit im (geänderten) Planfeststellungsbeschluss nicht erwähnten Nachteilen - etwa einer notwendigen „Verlegung eines Hubschrauberlandeplatzes“ - zu belegen versucht hat, mag dieser Gesichtspunkt, sollte er zutreffen, gegebenenfalls im Rahmen einer neuen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen sein.
99 
Auch der Hinweis, dass bei der Variante A1 - allerdings in nicht kompensierter Form - ebenfalls mit Immissionswirkungen in den „Kernbereich“ des Neuenheimer Felds hinein zu rechnen wäre, lässt nicht erkennen, warum diese Variante nicht gleichwohl vorzugswürdiger sein könnte. Denn ungeachtet auch dann zu erwartender Immissionswirkungen verliefe sie doch in deutlich größerem Abstand zu den besonders schutzbedürftigen Einrichtungen und „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, was die Wirksamkeit auch bei der Alternativtrasse vorzusehender Schutzmaßnahmen erhöhte. Soweit die Planfeststellungsbehörde wiederum auf den „Technologiepark“ verweist, lassen ihre Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen, inwiefern sich aus dem „nochmals abgefragten Gerätebestand“ ergeben sollte, dass gleichermaßen empfindliche Geräte tatsächlich in vergleichbarer Entfernung zu den Gleisen eingesetzt würden. Abgesehen davon bliebe wiederum unberücksichtigt, dass dem Sondergebiet „Technologiepark“ eben eine geringere Schutzwürdigkeit als dem im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ als Bauvorbehaltsfläche für die Klägerin ausgewiesenen Sondergebiet „Universität“ zukommt.
100 
Die planänderungsbedingten Verbesserungen hinsichtlich der elektromagnetischen Wirkungen im Bereich der besonders empfindlichen Institute der Klägerin - Realisierung eines stromlosen Abschnitts von Station 2+160 bis 2+439 bei Vergrößerung des Mastabstands und Entfallen der Kompensationsleitungen -, waren für sich genommen noch nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundene Abwägungsfehleinschätzung zu beheben. Abgesehen davon, dass diese Verbesserungen an den anderen Wirkungen des Planvorhabens - insbesondere den Erschütterungs- und Zerschneidungswirkungen - nichts änderten, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nach wie vor nicht erkennen, von welchen für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen und Bewertungen die Planfeststellungsbehörde - nicht deren Gutachter - nunmehr ausgegangen ist. Nach wie vor fehlt es an einer für die gerichtliche Kontrolle nachvollziehbaren und fachlich nachprüfbaren Auseinandersetzung mit den elektromagnetischen Auswirkungen (und Erschütterungen) auf den derzeitigen u n d künftigen Forschungsbetrieb. Auch hat die Planfeststellungsbehörde weiterhin davon abgesehen, in Ermangelung gesetzlicher Regelungen selbst festzulegen, wo s i e jeweils die Zumutbarkeitsgrenze ziehen will, jenseits derer sie „lediglich“ noch abzuwägen hat (a.a.O., S. 60; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschl. v. 02.10.2014 - 7 A 14.12 -, NuR 2014, 785).
101 
Die Planfeststellungsbehörde hat sich auch im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht die eingeholten einschlägigen Fachgutachten zur elektromagnetischen Verträglichkeit zu Eigen gemacht. Vielmehr werden deren Ergebnisse im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allenfalls (teilweise) referiert und als Arbeitshypothese unterstellt („Geht man, wie es der V o r h a b e n - t r ä g e r vorsorglich getan hat, von diesem Wert aus…; bei einem u n t e r - s t e l l t e n Grenzwert von 50 nT …, a.a.O., S. 50; „nach dem aktuellen fachlichen K e n n t n i s s t a n d d e s v o r h a b e n t r ä g e r i s c h e n Gutachters“, a.a.O., S. 76). Daran ändern auch die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Einflussgrenzen EMV“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter Nr. I.1.2 des verfügenden Teils nichts. Der Umstand, dass die Planfeststellungsbehörde ein ihr bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses vorliegendes Gutachten von Prof. Dr. V. nunmehr pauschal für überzeugend und „nachvollziehbar“ bezeichnet (a.a.O., S. 79), vermag daran ebenso wenig etwas zu ändern, zumal zahlreiche Einwendungen gegen die elektromagnetische Verträglichkeit im Planfeststellungsbeschluss noch lediglich mit der Begründung zurückgewiesen worden waren, dass "keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte bestünden, dass sich die Aussagen des Gutachters der Vorhabenträgerin als u n v e r t r e t b a r (sic!) darstellen könnten (vgl. insbes. S. 249 ff.). Inwieweit und aus welchen Gründen die Planfeststellungsbehörde nunmehr eine eigene Überzeugung erlangt haben will, obwohl es gerade bei den bisherigen Begründungen verbleiben sollte, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen.
102 
Soweit der Beklagte maßgeblich darauf verweist, dass bereits der Einflussbereich der Straßenbahn in der Berliner Straße einen Großteil des östlichen Neuenheimer Felds überdecke und weitere Störungen - zumal bei den vorgesehenen Schutzvorkehrungen - keine neue Qualität erreichten, lässt sich solches - mangels Feststellung entsprechender Tatsachen und Bewertungen durch die Planfeststellungsbehörde - anhand ihrer „vertieften“ Begründung nicht nachvollziehen. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, warum bei einer solchen Vorbelastung jede weitere Verschlechterung der Umgebungsbedingungen - auch auf den angrenzenden „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, die nach dem Bebauungsplan ebenfalls für universitäre Zwecke nutzbar sind - abwägungsfehlerfrei sein sollte. Ohne ausreichende Tatsachenfeststellungen zu den damit einhergehenden Schwierigkeiten kann die Klägerin auch nicht abwägungsfehlerfrei auf (aktive) Kompensationsmaßnahmen verwiesen werden. Hinzukommt, dass auch nach Auffassung der Planfeststellungsbehörde im unmittelbar an die Trasse angrenzenden Bereich noch eine Einzelfallbetrachtung erforderlich würde. Auch unterstellt die Planfeststellungsbehörde ohne nähere Begründung, dass die von der vorhandenen Straßenbahnstrecke in der Berliner Straße ausgehenden Beeinträchtigungen ungeachtet der Festsetzungen im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ im bisherigen Ausmaß hinzunehmen sind. Nicht nachvollziehbar sind auch ihre Ausführungen zur künftigen Überlagerung elektromagnetischer Wirkungen (a.a.O., S. 78). Es liegt auf der Hand, dass es ungeachtet dessen, ob von einer Überlagerung "im klassischen Sinne" ausgegangen werden und dies im Einzelfall auch einmal zu geringeren Belastungen führen kann, durchaus auch eine Überlagerung i. S. einer Verstärkung bereits bestehender elektromagnetischer Felder mit weiteren einschränkenden Wirkungen auf empfindliche Geräte möglich ist. Dennoch hat die Planfeststellungsbehörde dies gar nicht in Betracht gezogen. Darauf, ob hierbei dem von der Klägerin in Auftrag gegebenen Gutachten der M.-BBM GmbH (Dr. Ing. G.) Aussagekraft beizumessen war, kommt es nicht mehr entscheidend an. Letztlich belegt auch der Hinweis der Planfeststellungsbehörde (a.a.O., S. 49 f.), ein anderes Gutachten des Fachbüros M.-BBM zu einem ganz anderen Vorhaben - nämlich zur „Mainzelbahn“ in Würzburg - herangezogen zu haben, weil ein in Bezug genommenes Gutachten dieses Fachbüros (noch) nicht zur Verfügung gestellt worden sei, dass nach wie vor gar keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den entsprechenden Belangen der Klägerin vorgenommen wurde.
103 
Ohne eine n a c h v o l l z i e h b a r e Feststellung und Bewertung der derzeitigen und künftigen elektromagnetischen Auswirkungen des Vorhabens kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass von dem geänderten Planvorhaben insoweit auch deshalb keine - abwägungserheblichen - Beeinträchtigungen (mehr) ausgingen, weil es nicht zuletzt aufgrund der gegebenen Vorbelastung zu keinen Verschlechterungen mehr kommen könne.
104 
Nichts anderes gilt für die von der Klägerin beanstandeten Erschütterungswirkungen. Auch hier fehlt es nach wie vor an einer nachvollziehbaren fachlichen Auseinandersetzung mit den von der Klägerin geltend gemachten zusätzlichen nachteiligen Auswirkungen auf ihren derzeitigen und künftigen Forschungsbetrieb. Der aus sich heraus nicht nachvollziehbare Hinweis, aus den vorliegenden Gutachten ergebe sich, „dass die Vorbelastung bereits teilweise über den Grenzwerten liegt“, vermag eine solche jedenfalls nicht zu ersetzen, zumal sich in dem im Änderungsplanfeststellungsbeschluss in Bezug genommenen (a.a.O., S. 48, 82) Ausgangsplanfeststellungsbeschluss keine entsprechenden Feststellungen finden. Auch in diesem Zusammenhang genügten die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Standorte erschütterungsempfindlicher Geräte“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter I.1.2 des verfügenden Teils nicht. Weiterhin als bloße Behauptung stellt sich dar, dass es aufgrund der bereits vorhandenen Vorbelastung durch den motorisierten Individualverkehr, welche schon heute situationsbedingt Schutzmaßnahmen erfordert haben mag, bei den vorgesehenen schwingungstechnischen Systemen zu keinen weiteren negativen Erschütterungswirkungen mehr käme (a.a.O., S. 83) bzw. diese jedenfalls auf ein auch für Forschungszwecke zumutbares Maß minimiert würden (a.a.O, S. 86), zumal künftig allenfalls Busse entfallen dürften. Vorgesehen ist im Bereich der besonders empfindlichen Forschungseinrichtungen der Klägerin auch nur eine hochelastische Schienenlagerung und kein punktförmig oder flächig gelagertes Messe-Feder-System. Anderes mag hinsichtlich der Erschütterungswirkungen für die Gewächshäuser des Botanischen Gartens der Klägerin gelten, da sich für diese aufgrund der festgestellten Planänderungen nunmehr tatsächliche Verbesserungen ergaben, da die Trasse von diesen nunmehr weiter entfernt geführt wird. Soweit der Beklagte noch auf die Vorbelastung durch Baustellen mit Baukränen verweist, geht dies schon deshalb fehl, weil solche am jeweiligen Standort nur vorübergehend betrieben werden und insofern nicht die Zumutbarkeit und Abwägungserheblichkeit der von einer dauerhaften Straßenbahntrasse künftig regelmäßig ausgehenden Erschütterungswirkungen herabsetzen bzw. entfallen lassen.
105 
Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss erweisen überdies, dass - unabhängig von dem grundlegenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizit hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens - die besondere Bedeutung des festgesetzten (Sonder-)Gebiets „Universität“ gerade für die grundrechtlich geschützten Forschungstätigkeit der Klägerin trotz gegenteiliger Behauptungen mit der Folge einer Abwägungsfehleinschätzung nicht angemessen berücksichtigt wurde. Dies erhellt nicht zuletzt aus dem Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss, dass auch auf dem Universitätsgelände damit zu rechnen sei, dass andere Emittenten vorhanden seien oder hinzukämen und daher von vornherein nicht erwartet werden könne, dass keine elektromagnetischen Felder vorhanden seien oder hinzukämen (S. 51). Auch wenn die in den Universitätskliniken praktizierte „Verknüpfung von Forschung und angewandter Medizin“ eine gewisse Toleranz gegenüber alltäglichen Störquellen bedingen mag (S. 81), führt dies jedenfalls nicht dazu, dass die Auswirkungen des Planvorhabens nicht mehr abwägungserheblich wären. Inwiefern es schließlich ungeachtet dessen, dass die Variante „Mittellage“ verworfen wurde, vorhabenbedingt zu einer erheblichen Verminderung des bisherigen Aufkommens an Individual- und Omnibusverkehr und damit verbundener Störungen käme (S. 82), wird im Änderungsplanfeststellungsbeschluss auch nicht annähernd nachvollziehbar aufgezeigt.
106 
c) Den in der mündlichen Verhandlung gestellten unbedingten Beweisanträgen ist - ganz überwiegend mangels Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen - nicht nachzugehen.
107 
Der Beklagte und die Beigeladene übersehen mit ihren Beweisangeboten bereits, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Planfeststellungsbehörde ist, die für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten. Insofern kann ein von der Planfeststellungsbehörde zu verantwortendes grundlegendes Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, an dem die „Abwägung“ im angegriffenen Planfeststellungsbeschluss leidet, insbesondere nicht durch gerichtlichen Sachverständigenbeweis ausgeglichen und damit gleichsam „geheilt“ werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.1988 - 4 C 32.86, 4 C 33.86 -, Buchholz 407.56 NStrG Nr. 2; Urt. v. 22.10.1987 - 7 C 4.85 -, BVerwGE 78, 177; Senatsurt. v. 15.11.1994 - 5 S 1602/93 -, ESVGH 45, 109). Demzufolge brauchte den auf eine solche Beweiserhebung gerichteten Anträgen des Beklagten und der Beigeladenen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachgegangen zu werden. Sie zielen auf die erstmalige Klärung von Sachverhalten, die zwar für eine sachgerechte Abwägung der Planfeststellungsbehörde von Bedeutung gewesen sind, von dieser jedoch - aufgrund ihres falschen Prüfungsmaßstabs - so bislang gar nicht festgestellt und ihrer Entscheidung daher auch nicht zugrunde gelegt worden sind. Dass damit teilweise einzelne Annahmen der Gutachter der Vorhabenträgerin - durch „Sachverständigenkontrollgutachten“ - verifiziert werden sollen, ändert nichts. Denn diese Annahmen hat sich die Planfeststellungsbehörde aufgrund ihrer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung nicht zu eigen gemacht.
108 
Im Übrigen sind die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit die Beweisanträge nicht schon auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet sind, auch deshalb nicht entscheidungserheblich, weil entsprechende Beweisergebnisse an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten. Insbesondere verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens auf schutzwürdige Belange der Klägerin. Tatsächlich ist die Planfeststellungsbehörde auch nur einer möglichen Beeinflussung vorhandener Geräte an ihren derzeitigen Standorten - bei Unterstellung bestimmter, von der Klägerin freilich teilweise in Frage gestellter Grenzwerte - nachgegangen. Zukünftige Entwicklungen konkret zu berücksichtigen, hielt sie demgegenüber für unmöglich, da die künftig anzuschaffenden Geräte ja nicht bekannt seien (a.a.O., S. 49). Dennoch ging sie ohne weiteres und ohne dies ansatzweise zu begründen davon aus, dass der Klägerin noch genügend Entwicklungsflächen verblieben (a.a.O., S. 49). Dabei wären gerade die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer Fortführung der bisher ausgeübten Forschungstätigkeit infolge neuer (noch empfindlicherer) Gerätegenerationen und damit möglicherweise einhergehender höherer Anforderungen an den Aufstellort bei der Planung einer Straßenbahntrasse durch das Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ zu berücksichtigen gewesen. Denn ohne Berücksichtigung künftiger - wenn auch noch nicht konkret absehbarer - technischer Entwicklungen ist Forschung kaum vorstellbar. Davon, dass die oben festgestellten Abwägungsfehler unbeachtlich geworden wären, weil die Belange der Klägerin tatsächlich nicht (mehr) abwägungserheblich gewesen wären, kann danach nicht die Rede sein.
109 
Dazu, dass die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit sie nicht schon ohne jede tatsächliche Grundlage behauptet worden sind, an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten und insofern nicht entscheidungserheblich waren, bleibt hinsichtlich der einzelnen Beweisanträge noch das Folgende auszuführen:
110 
Soweit der Beklagte durch Einnahme eines Augenscheins eine „erhebliche Bautätigkeit“ innerhalb des Neuenheimer Felds festgestellt wissen will (Nr. 1), ist nicht ersichtlich, inwiefern damit verbundene - typischerweise vorübergehende - Beeinträchtigungen - dazu führten, dass der Belang der Klägerin, von d a u e r h a f t e n nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens verschont zu bleiben, nicht mehr abwägungserheblich gewesen wäre, sodass letztere von der Planfeststellungsbehörde nicht mehr näher zu ermitteln und zu bewerten gewesen wären.
111 
Inwiefern die ebenfalls durch eine Inaugenscheinnahme unter Beweis gestellte „erhebliche Beeinträchtigung des Verkehrsflusses in „Stoßzeiten“ (Nr. 2) die unterbliebene, jedoch gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit einer aktuellen V e r k e h r s p r o g n o s e durch die Planfeststellungsbehörde erübrigte, ist ebenso wenig zu erkennen.
112 
Auch die vom Beklagte beantragten „Sachverständigenkontrollgutachten“ über die fachliche und sachliche Richtigkeit „der“ Gutachten von Prof. Dr. V. und von Dr. Lenz beantragt hat Nr. 3 u. 16) machten die unterbliebene, indes gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den sachverständigen Annahmen der Gutachter durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
113 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache beantragt hat, dass die im Neuenheimer Feld eingesetzten Busse elektromagnetische Auswirkungen bis zu 200 nT erzeugen könnten (Nr. 3), erübrigten solche nicht eine genaue Ermittlung und Bewertung der für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde.
114 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten über die von den im Neuenheimer Feld eingesetzten Kräne ausgehenden elektromagnetischen Auswirkungen beantragt hat (Nr. 5), welches erweisen solle, dass diese kritischer als eine vorbeifahrende Straßenbahn seien, machten auch solche - vorübergehende - Auswirkungen eine genaue Ermittlung und Bewertung der d a u e r h a f t e n für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
115 
Ähnlich verhält es sich, soweit der Beklagte durch Zeugenbeweis geklärt wissen will, dass „tagtäglich elektromagnetisch und erschütterungstechnisch sensible Geräte neben Straßenbahnen aufgestellt und betrieben“ würden (Nr. 7), bestimmte optische Geräte eines Herstellers auch bei einer regulären Straßenbahn im Abstand von 5 Metern unter aktiver Kompensation funktionsfähig seien (Nr. 8) und bestimmte Geräte eines anderen Herstellers im Abstand von 40 m zu einer regulären Straßenbahn betrieben werden könnten (Nr. 11). Denn der Umstand, dass ganz bestimmte Forschungsgeräte, zu denen die Zeugen Angaben machen könnten, irgendwo in bestimmten Abständen zur Straßenbahn tatsächlich aufgestellt und - irgendwie, nach ganz bestimmten Maßgaben - betrieben werden können, änderte nichts daran, dass eine sachgerechte, auch künftige Entwicklungen berücksichtigende Abwägung die Ermittlung voraussetzte, inwieweit sich die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin nutzbaren Flächen durch die von dem Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen künftig verschlechtern werden.
116 
Letztlich dasselbe gilt für die vom Beklagten unter Zeugenbeweis gestellte Tatsache (Nr. 12), dass eine passive Kompensation insbesondere bei Elektronenmikroskopen möglich und wirkungsvoll sei und aktive mit passiven Schutzmaßnahmen kombinierbar seien. Denn für eine sachgerechte Abwägung der Belange der Klägerin genügte nicht die Klärung, ob Schutzmaßnahmen - mit welchem Aufwand auch immer - möglich sind, vielmehr setzte eine solche Ermittlungen voraus, inwieweit sich die Forschungsbedingungen auf den dafür nach dem Bebauungsplan vorgesehenen Flächen verschlechterten. Hierbei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin aufgezeigten Grenzen und nicht ohne weiteres hinzunehmenden abwägungserheblichen Nachteilen solcher Schutzmaßnahmen auseinanderzusetzen.
117 
Für die Beweisanträge der Beigeladenen gilt letztlich nichts anderes:
118 
Soweit die Beigeladene durch Sachverständigengutachten geklärt wissen will, dass durch das planfestgestellte Vorhaben außerhalb der im Lageplan festgestellten roten und grünen Bereiche keine magnetischen Felder mit einer Feldstärke über 50 nT erzeugt würden (Nr. 1), würde dies die unterbliebene, jedoch gebotene Auseinandersetzung mit den entsprechenden - im Planfeststellungsbeschluss lediglich referierten - Annahmen des Gutachters und den von der Klägerin geltend gemachten weitergehenden Anforderungen - teilweise 20 nT - nicht erübrigen.
119 
Soweit sie durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt hat (Nr. 2 u. 3), dass innerhalb der grün dargestellten Bereiche EMV-empfindliche Geräte mit aktiver Kompensation nach einer Einzelfallprüfung und auch in den roten Bereichen nach einer Einzelfallprüfung aufgestellt werden könnten, ist ihr entgegenzuhalten, dass es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf ankam, ob Geräte derzeit - mit welchem Aufwand auch immer - in Trassennähe aufgestellt werden können, sondern inwieweit sich durch das Vorhaben die Bedingungen für die Spitzenforschung auf den hierfür vorgesehenen Flächen verschlechterten. Dabei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin geltend gemachten - abwägungserheblichen - Unzuträglichkeiten auseinanderzusetzen gehabt.
120 
Ähnlich verhält es sich bei dem von ihr beantragten Sachverständigen- bzw. Zeugenbeweis, mit dem sie unter Beweis gestellt hat, dass die Klägerin in den im Lageplan rot, grün und blau dargestellten Bereichen bereits heute EMV-empfindliche Geräte betreibe (Nr. 4). Auch hier kam es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf an, ob derzeit in diesen Bereichen störungsempfindliche Geräte aufgestellt sind und - irgendwie - betrieben werden, sondern darauf, inwieweit sich durch die vom Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin insgesamt nutzbaren Flächen künftig verschlechtern werden. Auch hier verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin.
121 
Soweit die Beigeladene die Einholung amtlicher Auskünfte beim Universitätsbauamt und beim Baurechtsamt der Stadt Heidelberg zum Beweis der Tatsache beantragt hat (Nr. 5), dass keine konkreten Planungen der Klägerin für den Einsatz solcher Geräte im Einwirkungsbereich des Vorhabens vorlägen, welche auch bei aktiver Kompensation nicht betrieben werden könnten, ist ihr bereits entgegenzuhalten, dass es für die Aufstellung von Geräten nicht ohne weiteres eines baurechtlichen Verfahrens bedarf. Schließlich war eine etwaige Verschlechterung der künftigen Standortbedingungen unabhängig davon abwägungserheblich, ob die Klägerin bereits konkrete Planungen für den Einsatz weiterer empfindlicher Geräte verfolgt hat.
122 
Soweit die Beigeladene noch unter Sachverständigenbeweis gestellt hat, dass es für die erschütterungsempfindlichen Geräte - auch hinsichtlich der Nano-D-Anforderungen - planbedingt zu keiner Verschlechterung komme (Nr. 6), kam es tatsächlich nicht nur auf eine Verschlechterung für die bereits derzeit betriebenen Geräte an. Soweit darüber hinaus unter Beweis gestellt wird, es werde noch nicht einmal die bestehende Vorbelastung erhöht, ist dies auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet. Denn für ihre Behauptung fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.07.2010 - 4 BN 25.10 -). Denn konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich für alle für eine Aufstellung solcher Geräte in Betracht kommenden Flächen die (zu berücksichtigende) Vorbelastung planbedingt nicht erhöhte, liegen nicht vor; solche lassen sich insbesondere auch dem Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht entnehmen.
123 
4. Nach alldem liegen nach wie vor offensichtliche Mängel der Abwägung vor, die - wie ausgeführt - bereits auf die Variantenwahl und damit jedenfalls auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind und auch nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden könnten (vgl. § 29 Abs. 8 PBefG).
124 
Im ergänzenden Verfahren heilbar sind alle Fehler bei der Abwägung, bei denen die Möglichkeit besteht, dass die Planfeststellungsbehörde nach erneuter Abwägung an der getroffenen Entscheidung festhält und hierzu im Rahmen ihres planerischen Ermessens auch berechtigt ist, bei denen sie also nicht von vornherein darauf verwiesen ist, den Planfeststellungsbeschluss aufzuheben oder zu ändern. Hierzu können auch Mängel bei der Variantenprüfung oder Fehler gehören, die darauf beruhen, dass die planende Behörde durch Abwägung nicht überwindbare Schranken des strikten Rechts verletzt hat. Im ergänzenden Verfahren nicht behoben werden können dagegen Mängel bei der Abwägung, die von solcher Art und Schwere sind, dass sie die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008 - 9 B 28.08 -, Buchholz 406.25 § 50 BImSchG Nr. 6; Urt. v. 01.04.2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <283 f.>; Urt. v. 17.05.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254 <268> u. v. 12.12.1996 - 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358 <365>). Die Unzulässigkeit eines ergänzenden Verfahrens hängt danach zwar nicht allein von der "Bedeutung und großen Zahl fehlgewichteter Belange" ab. Vielmehr muss von vornherein ausgeschlossen sein, dass die Planfeststellungsbehörde diese Mängel unter Aufrechterhaltung ihres Planfeststellungsbeschlusses beheben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008, a.a.O.).
125 
Dies ist hier der Fall. Denn der Planfeststellungsbeschluss leidet an schwerwiegenden Abwägungsmängeln, die schon aufgrund der bei der Variantenprüfung unterlaufenen Fehler und des nahezu vollständigen Abwägungsausfalls oder doch umfassenden Abwägungsdefizits die Planung als Ganzes in Frage stellen. Hinzukommt, dass der Planung einer Straßenbahn durch das (Sonder-)Gebiet „Universität“ derzeit ohnehin der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg entgegensteht, woran sich bei realistischer Betrachtung auch in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Zwar wird die Anwendung des § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass die Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren von zusätzlichen Entscheidungen anderer Organe abhinge (vgl. BVerwG, Urt. 24.11.2010 - 9 A 13.09 -,BVerwGE 138, 226 zur Anpassung eines Flächennutzungsplans; Urt. v. 01.04.2004, a.a.O.). Dies kann freilich nicht gelten, wenn zunächst in einem umfangreichen und zeitaufwändigen Verfahren ein dem Vorhaben entgegenstehender Bebauungsplan in seinen Grundzügen geändert werden müsste, dessen Einleitung und Ergebnis sich auch nicht entfernt absehen lässt. Doch selbst dann, wenn eine Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren auch in einem solchen Fall möglich wäre, käme hier eine Planerhaltung nicht mehr in Betracht. Denn die Planung einer Straßenbahn durch ein (jedenfalls vorhandenes) Universitätsgebiet setzte im Hinblick auf die von dem Vorhaben ausgehenden, einer weiteren Forschungstätigkeit abträglichen Auswirkungen eine sorgfältige Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Belang der Forschungsfreiheit der Universität voraus, die hier - nicht zuletzt aufgrund eines falschen Prüfungsmaßstabs und eines dadurch bedingten nahezu umfassenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizits - nunmehr bezogen auf eine neue Sach- und Rechtslage - erstmals getroffen werden müsste. Zu diesem Zwecke müsste der Planfeststellungsbeschluss zumindest in seinem Begründungsteil gänzlich neugefasst werden, sodass von einer „Aufrechterhaltung“ der ursprünglichen Entscheidung selbst dann nicht mehr gesprochen werden könnte, wenn letzten Endes wieder dieselbe Variante planfestgestellt würde. Hinzukommt, dass die Planunterlagen bislang weder eine nachvollziehbare Variantenuntersuchung noch eine nachvollziehbare Bedarfsprognose enthalten. Ohne entsprechende nachvollziehbare - und aktualisierte - Planunterlagen ist eine sachgerechte Abwägungsentscheidung jedoch nicht möglich. Insofern müsste das Planfeststellungsverfahren zumindest ab dem Anhörungsverfahren wiederholt werden. Sinn und Zweck der Planerhaltungsvorschriften ist jedoch die Vermeidung eines erneuten, umfangreichen und zeitaufwändigen Planfeststellungsverfahrens (vgl. Deutsch, in Mann/Senne-kamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 75 Rn. 121). Dies ist jedoch von vornherein nicht erreichbar, wenn nicht nur punktuelle Nachbesserungen einer ansonsten intakten Gesamtplanung in Rede stehen, sondern - nach einem umfangreichen und zeitaufwendigen Bebauungsplanverfahren - erstmals umfassend neu abzuwägen ist. Die in einem solchen Fall gebotene umfassende Ergebnisoffenheit lässt sich auch nur in einem neuen Planfeststellungsverfahren gewährleisten (vgl. hierzu Deutsch, a.a.O., § 75 Rn. 123).
126 
Ist damit der - auch nicht hinsichtlich einzelner Streckenabschnitte teilbare - Planfeststellungsbeschluss bereits nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 PBefG in vollem Umfang aufzuheben, kann dahinstehen, ob sich auch aus § 4 Abs. 3 u. 1 UmwRG ein Aufhebungsanspruch ergäbe.
127 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 u. 3, 159 Satz 1 VwGO. Der Senat sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, sie für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
128 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
129 
Beschluss vom 10. Mai 2016
130 
Der Streitwert wird endgültig auf 60.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 34.2.2 u. 34.3 des Streitwertkatalogs 2013; hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 18.12.2014 - 5 S 1444/14 -).
131 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
46 
Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig (I.) und begründet (II.). Über die (höchst-)hilfsweise gestellten Klageanträge ist daher nicht zu entscheiden.
I.
47 
Die Klage ist, soweit sie auf eine Aufhebung des - geänderten - Planfeststellungsbeschlusses gerichtet ist, als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig.
48 
1. Der erkennende Gerichtshof ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO erstinstanzlich zuständig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die ein Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung der Strecken von Straßenbahnen betreffen.
49 
2. Die Klage ist am letzten Tage der mit (Individual-)Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses am 30.06.2014 in Lauf gesetzten einmonatigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG) und damit rechtzeitig erhoben worden. Bei der Einbeziehung des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses war diese Frist nicht zu beachten, da die verbleibenden Regelungsbestandteile des ursprünglichen Planfeststellungsbeschlusses und die durch den Änderungsbeschluss hinzutretenden Regelungsbestandteile inhaltlich unteilbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 31.07 -, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 15).
50 
3. Die Klägerin ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO); insbesondere steht nicht etwa ein unzulässiger „In-sich-Prozess“ in Rede. Die Klägerin macht als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Grundrechtsfähigkeit nach Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. 16.01.1963 - 1 BvR 316/60 - BVerfGE 15, 256 <261 f.>, juris Rn. 22) ungeachtet dessen, dass sie zugleich eine staatliche Einrichtung des Landes ist (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 LHG), jedenfalls hinreichend geltend, in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eines eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt zu sein (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG). Denn ihr Interesse, dass ihre im Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans "Neues Universitätsgebiet" gelegenen Forschungseinrichtungen und Erweiterungsflächen keinen nachteiligen Wirkungen des planfestgestellte Vorhabens - wie Erschütterungen und elektromagnetischen Feldern - ausgesetzt werden, die ihrer Betätigung auf dem Gebiete der Forschung abträglich wären, stellt einen solchen Belang dar. Dies folgt letztlich aus dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, das den öffentlichen Einrichtungen, die Wissenschafts- und/oder Forschungszwecken dienen, unmittelbar zugeordnet ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.03.1992 - 1 BvR 454/91 u. a. -, BVerfGE 85, 360, juris Rn. 78; auch § 3 Abs. 1 Satz 1 LHG). Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist nicht nur bei (unmittelbaren) Eingriffen in organisatorische Strukturen, sondern auch dann berührt, wenn, was hier in Betracht kommt, die geschützte Betätigung (mittelbar) faktisch behindert wird. Denn die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schließt das Einstehen des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft und Forschung und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet den Staat, sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen (vgl. BVerfG, Urt. v. 29.05.1973 - 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 -, BVerfGE 35, 79 <114>; Urt. v. 10.03.1992, a.a.O.). Dass die Klägerin nicht auch Eigentümerin der für ihre Forschungstätigkeit benötigten Dienstgebäude, -räume und -grundstücke ist, diese ihr vielmehr vom Land Baden-Württemberg lediglich im Wege der Zuweisung bereit gestellt wurden bzw. werden (vgl. VwV Liegenschaften v. 28.12.2011 - Az.: 4-3322.0/23 -, GABl. 2012, 6 ff.), ändert nichts. Dies verdeutlicht nur, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keinen Bestandsschutz vermittelt. Der Klägerin geht es jedoch nicht um Bestandsschutz, sondern um Funktionsschutz ihrer fortbestehenden Einrichtungen (vgl. Bethge, in Sachs, GG 7. A. 2014, Art. 5 Rn. 216). Dabei ist zu beachten, dass Forschung aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit auf Langfristigkeit und Stetigkeit angelegt ist (vgl. Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. IV 2011, § 100 Rn. 41).
51 
Ob die Klägerin tatsächlich (noch) in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt wird oder dies aufgrund umfangreicher Schutzmaßnahmen und planfestgestellter Änderungen (inzwischen) ausgeschlossen sein könnte, ist keine Frage der Klagebefugnis, sondern der Begründetheit (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
52 
4. Einer vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG; vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG, § 70 LVwVfG).
II.
53 
Der Anfechtungsantrag ist auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten. Er verstößt gegen § 30 Abs. 1 oder jedenfalls Abs. 3 BauGB i.V.m. dem Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 und gegen das Abwägungsgebot nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG. Da diese erheblichen, die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellenden Mängel bei der Abwägung weder durch Planergänzung noch durch ein ergänzendes verfahren behoben werden können, ist der Planfeststellungsbeschluss insgesamt aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 Satz 2 PBefG).
54 
Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss in seiner geänderten Gestalt sind §§ 28 und 29 PBefG i.V.m. §§ 72 ff. LVwVfG, insbesondere § 76 Abs. 1 LVwVfG. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit darauf beschränkt, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat, ob in sie an Belangen eingestellt worden ist, was nach Lage der Dinge einzustellen war, ob die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange richtig erkannt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht. Das Abwägungsgebot wird nicht dadurch verletzt, dass die Planfeststellungsbehörde bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurücksetzung eines anderen entscheidet. Nach § 29 Abs. 8 PBefG sind Mängel der Abwägung der von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind; erhebliche Mängel bei der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können; die §§ 45 und 46 VwVfG und die entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen bleiben unberührt.
55 
1. Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt dem Vorhaben allerdings nicht schon die erforderliche Planrechtfertigung. Insofern kann offen bleiben, ob sich die Klägerin als nicht mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung, sondern nur mittelbar in ihrer Forschungsfreiheit Betroffene überhaupt auf ein Fehlen der Planrechtfertigung etwa deshalb berufen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.11.2006 - 4 A 2001.06 -, BVerwGE 127, 95), weil dieses Erfordernis eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116).
56 
Das Erfordernis der Planrechtfertigung ist bereits dann erfüllt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben gemessen an den Zielsetzungen des jeweiligen Fachplanungsgesetzes - hier des Personenbeförderungsgesetzes - ein Bedarf besteht, die geplante Maßnahme unter diesem Blickwinkel also erforderlich bzw. vernünftigerweise geboten ist. Dies ist hier aufgrund der mit dem Vorhaben verfolgten Zielsetzung, den öffentlichen Personennahverkehr im Neuenheimer Feld zu verbessern (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.04.2005 - 9 A 56.04 -, BVerwGE 123, 286; Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13), der Fall. Denn das Personenbeförderungsgesetz verfolgt insbesondere das Ziel einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs im Orts- oder Nachbarschaftsbereich (vgl. §§ 4 Abs. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 PBefG; auch § 13 Abs. 2 Nr. 3 PBefG; hierzu OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319 m.w.N.; HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360). Dass ein konkreter Bedarf einer Straßenbahnverbindung ins Neuenheimer Feld im Erläuterungsbericht auch nicht ansatzweise durch nachvollziehbare Angaben belegt wird (a.a.O., S. 14), ist zwar im Rahmen der Abwägung von Bedeutung, stellt aber nicht schon die Planrechtfertigung in Frage; denn von einem "offensichtlichen planerischen Missgriff" (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.10.2014 – 9 B 29.14 -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 237) kann aus diesem Grund noch nicht gesprochen werden.
57 
Zweifel am Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung bestehen auch nicht deshalb, weil das Vorhaben nicht realisierbar wäre. Die Planrechtfertigung bestünde unter diesem Gesichtspunkt nur dann nicht, wenn die Verwirklichung des Vorhabens bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses auszuschließen war, weil sie nicht beabsichtigt oder objektiv ausgeschlossen war (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.07.2010 - 7 VR 4.10 -, NVwZ 2010, 533 m.N.).
58 
Allein der Umstand, dass ein Vorhaben wegen ihm derzeit entgegenstehender, im Wege der Abwägung nicht überwindbarer zwingender Rechtsvorschriften nicht zugelassen werden kann, lässt die Planrechtfertigung allerdings noch nicht entfallen. Insofern ist die Planrechtfertigung nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bebauungsplan "Neues Universitätsgebiet" derzeit einer Zulassung des Vorhabens entgegensteht (dazu unter 2.), zumal dieser aufgehoben oder geändert werden könnte. Dass das Vorhaben in seiner geänderten Gestalt wegen der mit dem Abriss des Gebäudes INF 154 „im Vorfeld“ verbundenen Wirkungen nicht realisierbar wäre, ist nicht zu erkennen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die für die (zur Entwässerung der Gleisanlage) vorgesehene Abwasserversickerung noch erforderliche wasserrechtliche Erlaubnis oder Bewilligung nicht noch - entsprechend den unionsrechtlichen Anforderungen an die Gewässerverträglichkeit - erteilt werden könnte. Abgesehen davon könnte das anfallende Abwasser auch anderweit beseitigt werden.
59 
Dass das Vorhaben bislang möglicherweise nicht derart in das GVFG-Bundesprogramm 2013 bis 2017 aufgenommen ist, dass eine Finanzierung mit GVFG-Mittel zu erwarten ist, stellt die Planrechtfertigung ebenso wenig in Frage (vgl. HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360; OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319). Denn die Finanzierung eines planfestgestellten Vorhabens ist im Rahmen der Planrechtfertigung nur von Bedeutung, wenn sie von vornherein ausgeschlossen erscheint und damit die Realisierung des Vorhabens eindeutig nicht möglich ist (vgl. Senatsurt., Urt. v. 06.04.2006 – 5 S 847/05 –, UPR 2006, 454; Urt. v. 02.11.2004 – 5 S 1063/04 –, UPR 2005, 118) bzw. dem Vorhaben „unüberwindliche“ finanzielle Schranken entgegenstehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.11.2013 - 9 A 14.12 -, BVerwGE 148, 373). Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein.
60 
Die erforderliche Planrechtfertigung lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit auch nicht mit der Erwägung verneinen, die Verwirklichung des planfestgestellten Vorhabens sei von den für die Durchführung maßgeblich Verantwortlichen in Wahrheit gar nicht mehr beabsichtigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1989 - 4 C 41.88 -, BVerwGE 84, 123). Ausweislich eines Vermerks für die Regierungspräsidentin vom 24.04.2015 (vgl. /41 der Verfahrensakten betreffend die 1. Planänderung) hatte sich der Leiter des Amts für Verkehrsmanagement der Stadt Heidelberg, die immerhin mittelbar mit 27,8 % Gesellschaftsanteilen und unmittelbar mit 25% Stimmanteilen an der Beigeladenen beteiligt ist, allerdings dahin geäußert, dass Oberbürgermeister W. das Verfahren nur weiterbetreibe, um später sagen zu können, dass die Kläger ihnen die Straßenbahn „kaputt gemacht“ hätten. Insofern war nach dem Vermerk auch bei der Planfeststellungsbehörde der Eindruck entstanden, dass vor allem die Stadt Heidelberg nicht mehr an einer Realisierung der Straßenbahn interessiert sei, sondern man die Suche nach einem „Sündenbock“ aufgenommen habe. Zwar beurteilt sich die Frage nach dem Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung für das Vorhaben gerade in seiner geänderten Gestalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.2009 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 69) nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses. Die Beigeladene hat jene Äußerungen jedoch inzwischen relativiert und erklärt, dass sie - und auch die Stadt Heidelberg als ihre Gesellschafterin - nach wie vor an dem Vorhaben festgehalten hätten. Auch der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel mehr geäußert.
61 
2. Die Zulassung des Planvorhabens im Neuenheimer Feld ist jedoch rechtswidrig und verletzt dadurch die Klägerin in ihren Rechten, weil sie zwingenden, auch nicht durch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB überwindbaren Festsetzungen des rechtswirksamen Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 widerspricht (vgl. § 30 BauGB), die auch dem Schutz der Klägerin dienen.
62 
a) Die planfestgestellte Straßenbahntrasse durchschneidet nicht nur die im Bebauungsplan festgesetzte „Bauvorbehaltsfläche“ für die Universität (vgl. § 8 Abs. 2c AufbauG), sondern verläuft innerhalb der Baugrenzen (vgl. § 8 Abs. 2e AufbauG) für die dort allein zulässigen baulichen Anlagen, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. B. a) Art der Nutzung). Ö f f e n t l i c h e Verkehrsanlagen sind innerhalb dieser Grenzen nicht vorgesehen. Solche sind im Bebauungsplan vielmehr bewusst nicht festgesetzt worden, um das Gebiet, das einem Sondergebiet nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BauNVO entspricht („Hochschulgebiet“), künftig - mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte - in sich geschlossen und vom öffentlichen Verkehr frei zu halten (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 15.10.2004 - 5 S 2586/03 -, BRS 67 Nr. 87); die Tiergartenstraße sollte aus diesem Grunde als öffentlicher Weg eingezogen werden. Insoweit sollte auch eine abschließende Regelung getroffen werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998 - 8 S 315/98 -, BRS 60 Nr. 140). Daran ändert nichts, dass sich der Erläuterungsbericht verschiedentlich zur verkehrlichen Erschließung verhält, denn insoweit sollten gerade keine bzw. noch keine Regelungen getroffen werden. Die angesprochenen Verkehrsflächen sollten nach den Vorstellungen des Plangebers zudem außerhalb der Baugrenze vorgesehen werden bzw. - wie die damals noch vorhandene OEG-Güterlinie - dorthin verlegt werden. Aus Rücksicht auf eine künftige Außenerschließung blieben die Baugrenzen auch hinter der Bauvorbehaltsflächengrenze zurück. Dass es, worauf der Beklagte erstmals im Schriftsatz vom 31.03.2016 hingewiesen hat, bei der Aufstellung älterer Bebauungspläne für die angrenzenden Gebiete - etwa des Bebauungsplans „Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 - noch planerische Überlegungen zu einer öffentlichen Erschließung auch von Teilen des Gebiets westlich der Frankfurter (bzw. Berliner) Straße gegeben hat, ist für die Auslegung des später aufgestellten Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ nicht von Bedeutung. Denn weder der Erläuterungsbericht noch der Bebauungsplan selbst knüpft an diese Vorstellungen an. Insbesondere findet sich darin kein „Querstraßenanschluss“ zur Tiergartenstraße mehr, wie er im Bebauungsplan vom 19.05.1956 noch als „geplant, aber nicht festzustellen“ eingetragen war.
63 
Anders als die Planfeststellungsbehörde meint, stellt das planfestgestellte Vorhaben auch keine nach dem Bebauungsplan zulässige „öffentliche Versorgungsanlage“ dar. Damit sind ersichtlich nur der Versorgung des Gebiets dienende Nebenanlagen gemeint (vgl. § 14 Abs. 2 BauNVO).
64 
b) Der entsprechend § 173 Abs. 3 BBauGB 1960 übergeleitete Bebauungsplan ist, jedenfalls was die hier in Rede stehende(n) Festsetzunge(en) angeht, entgegen der Auffassung der Planfeststellungsbehörde, die sich insoweit zudem möglicherweise eine ihr nicht zustehende Normverwerfungskompetenz angemaßt hat (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ. Urt. v. 09.09.2015 - 3 S 276/15 VBlBW 2016, 27 -), wirksam; er ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
65 
aa) Anhaltspunkte dafür, dass bei der Aufstellung des Plans das Verfahren nach dem Badischen Ortsstraßengesetz (OStG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 30.10.1936 (GVBl S. 179), 19.06.1937 (GVBl S. 245) nicht eingehalten worden wäre (vgl. § 9 AufbauG), sind nicht ersichtlich. Der Planentwurf vom 28.07.1960 war vom Gemeinderat (vgl. § 3 Abs. 1 OStG) der Stadt Heidelberg am 27.04.1961 beschlossen und vom Regierungspräsidium Nordbaden als zuständiger Aufsichtsbehörde (vgl. § 10 AufbauG) genehmigt worden. Er war mit seiner endgültigen Feststellung nach § 3 Abs. 6 OStG wirksam und am 13.10.1961 verkündet worden; der Ausfertigungsvermerk findet sich auf der Gemeinderatsvorlage vom 22.02.1961, auf der auch die Beschlussfassung vom 27.04.1961 dokumentiert ist.
66 
Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Bebauungsplan den nach der Übergangsvorschrift des § 174 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbaugesetzes (BBauG) vom 23.06.1960 weiterhin maßgeblichen Vorschriften des § 8 des württembergisch-badischen Aufbaugesetzes vom 18.08.1948 (RegBl S. 127), 16.05.1949 (RegBl S. 87) widerspräche. Die vom Beklagten als Beleg für seine gegenteilige Auffassung aufgestellten Rechtsbehauptungen treffen nicht zu. Das württembergisch-badische Aufbaugesetz erforderte keineswegs eine hinreichend konkretisierte Planung, in der a l l e in § 8 Abs. 1 Satz 2 AufbauG angesprochenen Gesichtspunkte der städtebaulichen Entwicklung zu regeln waren, was die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplans ausgeschlossen hätte. So sah § 7 Abs. 1 AufbauG - insoweit mit § 1 Abs. 3 BauGB vergleichbar - vor, dass die Gemeinden n a c h B e d ü r f n i s Bebauungspläne aufzustellen haben, w e n n die Entwicklung dies e r f o r d e r t. § 8 Abs. 1 AufbauG sah auch - vergleichbar mit § 1 Abs. 5 und 6 BauGB - nur die B e r ü c k s i c h t i g u n g verschiedener Bedürfnisse vor. Auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG folgt nichts anderes. Dass die Bebauungspläne die dort aufgeführten Festsetzungen in Lageplänen enthalten mussten, kann nur so verstanden werden, dass diese, so sie nach § 7 Abs. 1 AufbauG erforderlich waren, auch in den Lageplänen darzustellen waren (vgl. auch den Ersten Durchführungserlass zum Aufbaugesetz v. 05.02.1949 Nr. 6672/IV zu § 8 Abs. 2); dies ist hier erfolgt. Die gegenteilige Auslegung des Beklagten, die entgegen seiner Ansicht auch nicht durch das von ihm insoweit in Bezug genommenen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19.06.1959 - II 170/58 - gestützt wird, führte zu dem absurden Ergebnis, dass ein Bebauungsplan ungeachtet dessen, dass er zur Gewährleistung des Wiederaufbaus (vgl. § 1 Abs. 1 AufbauG) dringend erforderlich war, nicht hätte aufgestellt werden können, wenn für einzelne Festsetzungen (etwa nach § 8 Abs. 2f AufbauG) überhaupt kein Bedarf bestand. Von einem „Äquivalent zur Planzeichenverordnung“ kann allerdings nicht gesprochen werden. Denn die für die Darstellung zu verwendenden Planzeichen ergaben sich nach wie vor aus dem Runderlass des Ministeriums des Innern vom 06.07.1939 Nr. 56552 (BaVBl S. 787, vgl. hierzu den Ersten Durchführungserlass, a.a.O., zu §§ 7-11 a.E.). Nach alledem kann dahinstehen, ob es sich um einen einfachen Bebauungsplan i.S. des § 30 Abs. 3 BauGB handelt; allein daraus, dass er keine positiven Festsetzungen zu öffentlichen Verkehrsflächen enthält, dürfte sich letzteres aufgrund der beabsichtigten abschließenden Regelung freilich noch nicht ergeben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998, a.a.O.). Öffentliche Verkehrsflächen waren auch nicht deshalb erforderlich, weil - wie der Beklagte meint - öffentliche Einrichtungen ausschließlich durch öffentliche und nicht durch - tatsächlich öffentlichen Verkehr zulassende - Privatstraßen erschlossen werden könnten. Vielmehr kann die Binnenerschließung zu öffentlichen Zwecken gewidmeter Flächen durchaus durch Privatstraßen erfolgen, wenn diese - wie hier - ihrerseits an öffentliche Straßen angeschlossen sind (Außenerschließung). Sollte die „wenig benutzte“ Güterlinie der OEG - wie die Beigeladene geltend macht - bei Erlass des Bebauungsplans noch betrieben worden sein, führte dies zwar, da der Bebauungsplan deren Bestand unberührt ließ, zu einem gewissen Nutzungskonflikt. Dieser sollte und konnte jedoch durch eine spätere Aufhebung oder Verlegung gelöst werden, da die OEG dem nicht entgegengetreten war, sondern lediglich beanstandet hatte, dass nicht bereits der Bebauungsplan dies vorsah (/169 der Bebauungsplanakten). Insofern kann darin auch kein Verstoß gegen das Konfliktbewältigungsgebot und damit auch nicht gegen das allgemeine Gebot gerechter Abwägung gesehen werden, was eine Überleitung des Bebauungsplans ausgeschlossen hätte (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.10.1972 - IV C 14.71 -, BVerwGE 41, 67).
67 
bb) Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind auch nicht inzwischen dadurch funktionslos geworden, dass auf den vom Land Baden-Württemberg im Zuge der mit der Stadt Heidelberg in den Jahren 1969/70 geschlossenen städtebaulichen Verträge im Universitätsgebiet hergestellten Privatstraßen tatsächlich öffentlicher Verkehr stattfindet und die sog. Nordtrasse (heute Straße Im Neuenheimer Feld) seitdem - weil der Kurpfalzring bislang nicht ausgebaut worden ist - nach wie vor für den öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Die Nordtrasse ist für den öffentlichen Durchgangsverkehr von vornherein nur bis zur Fertigstellung des im Generalverkehrsplan 1969 vorgesehenen Ausbaus des Kurpfalzrings (Klausenpfad) gewidmet worden; nach dessen Fertigstellung soll sie von der Stadt entschädigungslos entwidmet werden (vgl. die dem Vertrag v. 06.11.1969 anliegende, vom Land gewählte Alternative A, Anl. 3 zum Antragsschriftsatz der Klägerin v. 30.03.2014 - 5 S 1444/14 -). Auch wenn damit eine vollständige Verwirklichung des mit dem Bebauungsplan verfolgten Ziels, das Gebiet insbesondere von Durchgangsverkehr frei zu halten, derzeit teilweise - nämlich im Bereich der vorhandenen Trasse der Straße Im Neuenheimer Feld - auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheinen mag, ist der Bebauungsplan doch nach wie vor geeignet, die Herstellung weiterer Verkehrsflächen, zumal für ein schienengebundenes öffentliches Verkehrsmittel zu verhindern, die das Gebiet weiter zerschneiden und die Möglichkeiten der Klägerin, das Gebiet nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, weiter beschneiden würden. Damit würde letztlich die seinerzeit beabsichtigte „Geschlossenheit“ des festgesetzten Universitätsgebiets konterkariert.
68 
c) Auch eine Befreiung von den dem Vorhaben entgegenstehenden Festsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB kommt nicht in Betracht und konnte daher auch nicht - wie nunmehr ausdrücklich geschehen - rechtmäßig im Planfeststellungsbeschluss erteilt werden, sollte sich die Konzentrationswirkung überhaupt auf eine solche Entscheidung erstrecken. Denn durch das Vorhaben werden bereits die „Grundzüge der Planung“ berührt. Ob diese berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39). Dies ist hier der Fall, da das Planvorhaben dem Grundkonzept, das Gebiet in sich geschlossen und vom - gebietsunverträglichen - öffentlichen (Durchgangs-) Verkehr weitgehend frei zu halten, ungeachtet der bereits Jahrzehnte andauernden Widmung der Straße Im Neuenheimer Feld für den öffentlichen Straßenverkehr diametral zuwiderläuft. Anders als in dem Falle, der dem Senatsurteil vom 15.10.2004 (a.a.O.) zugrunde lag, geht es nicht nur darum, dass das Vorhaben die Bauvorbehaltsfläche innerhalb der Baugrenze für die Universität um die Fläche für eine Straßenbahntrasse vermindert. Darüber hinaus kann aufgrund der defizitären Ermittlung und Bewertung der gegenläufigen Belange - auch derjenigen der Klägerin - derzeit auch nicht vom Vorliegen der übrigen Befreiungsvoraussetzungen (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, § 31 Abs. 2 BauGB a.E.) ausgegangen werden.
69 
d) Das planfestgestellte Vorhaben kann entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen auch nicht das sog. Fachplanungsprivileg nach § 38 BauGB für sich in Anspruch nehmen. Für die Zuerkennung des grundsätzlichen Vorrangs der Fachplanung gegenüber der Planungshoheit der Gemeinde ist nach der Neufassung der Vorschrift durch das Bau- und Raumordnungsgesetz vom 18.08.1997 (BGBl S. 2081) nicht mehr auf die voraussichtliche planerische Kraft der im Einzelfall betroffenen Gemeinde, sondern auf die überörtlichen Bezüge des Vorhabens abzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000 - 11 VR 5.00 -, UPR 2001, 33). Solche sind bei dem Bau von Straßenbahnen - anders als etwa bei Vorhaben nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.10.2000 - 11 VR 12.00 -, Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 51) und dem Bundesfernstraßengesetz allerdings nicht schon durch die durch das Fachplanungsgesetz - hier das Personenbeförderungsgesetz - begründete nicht-gemeindliche, überörtliche Planungszuständigkeit indiziert, mögen sie auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Denn Straßenbahnen sind - in Abgrenzung zu Eisenbahnen - definitionsgemäß nur solche Schienenbahnen, die ausschließlich oder überwiegend der Beförderung von Personen im O r t s- oder Nachbarschaftsbereich dienen (vgl. § 4 Abs. 1 PBefG; § 8 Abs. 1 PBefG, § 2 Abs. 5 AEG). Dienen sie wie hier der Beförderung von Personen im O r t s verkehr und wird nur das Gebiet einer Gemeinde berührt, kommt dem Vorhaben typischerweise keine überörtliche Bedeutung zu (vgl. Senatsurt. v. 15.10.2004, a.a.O.; Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB , § 38 Rn. 37, 152). Daran ändert auch der vom Beklagten und der Beigeladenen angeführte Umstand nichts, dass der Personennahverkehr überwiegend - wie auch hier - in Verkehrsverbünden organisiert ist (vgl. Runkel, a.a.O., § 38 Rn. 152), denn daraus folgt noch nicht die „Einbettung“ eines konkreten Straßenbahnvorhabens in ein überörtliches Verkehrsnetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000, a.a.O.). Denn allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Verkehrsverbund kommt noch nicht jeder Teilstrecke die gleiche, gegebenenfalls überörtliche Bedeutung in diesem Verkehrsnetz zu. Warum es sich deshalb anders verhalten sollte, weil mit der planfestgestellten Straßenbahn auch Einrichtungen von überörtlicher Bedeutung - insbesondere die im Neuenheimer Feld liegenden Universitätskliniken - erschlossen werden sollen, ist nicht zu erkennen. Der Beklagte und die Beigeladene übersehen, dass es um die überörtliche Bedeutung des Planvorhabens und nicht der von ihm erschlossenen öffentlichen Einrichtungen geht. Insofern kann die überörtliche Bedeutung auch nicht schon daraus hergeleitet werden, dass die „Universitätslinie“ Teil einer Straßenbahnverbindung vom bzw. zum Heidelberger Hauptbahnhof ist. Nach ihrer Argumentation käme letztlich jedem noch so unbedeutenden Straßenbahnvorhaben in einem Oberzentrum überörtliche oder gar überregionale Bedeutung zu, was letztlich die Anwendbarkeit des Personenbeförderungsgesetzes in einem solchen Fall in Frage stellte.
70 
e) Auf die Nichtbeachtung jener Festsetzungen des Bebauungsplans kann sich auch die Klägerin ungeachtet dessen berufen, dass nicht sie, sondern das Land Baden-Württemberg Eigentümer der für Zwecke der Universität genutzten Grundstücke ist. Denn die Festsetzung der Bauvorbehaltsfläche des Sondergebiets „Universität“ diente ersichtlich den Interessen und damit auch dem Schutz der Klägerin (vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO 11. A. 2008, § 11 Rn. 3). Dies lässt sich ohne weiteres dem beigefügten Erläuterungsbericht vom 28.07.1960 entnehmen. Danach entsprachen die in der Heidelberger Altstadt und im Bergheimer Viertel gelegenen Universitätsgebäude der Naturwissenschaften und der Medizin nicht mehr dem damaligen Stand der technischen Entwicklung und behinderten dadurch Forschung und Lehre. Zur Schaffung neuer, ausreichend bemessener Anlagen musste daher auf entsprechend große Flächen außerhalb des bebauten Stadtgebiets, und zwar auf das größere Gelände am rechten Neckarufer zurückgegriffen werden, das bereits der Wirtschaftsplan von 1935 als Universitätsviertel ausgewiesen hatte. Die dortigen Ansatzpunkte und Ausdehnungsmöglichkeiten ließen es zu, diesen Teil der Universität als geschlossene Anlage mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte zu schaffen. Zur Bereitstellung des erforderlichen Geländes wurde eine Widmung des zukünftigen Universitätsbereichs einschließlich aller Folgeeinrichtungen als Bauvorbehaltsfläche für die Zwecke der Universität als dringend erforderlich angesehen.
71 
Der Annahme eines ihr durch diese Festsetzung vermittelten subjektiv-rechtlichen Drittschutzes steht auch nicht entgegen, dass bauplanerische Festsetzungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) grundsätzlich grundstücks- und nicht personenbezogen sind (Repräsentationsprinzip; vgl. hierzu etwa Mager/Fischer, VBlBW 2015, 313 ff.). Denn bei der Aufstellung von Bebauungsplänen sind bzw. waren auch sonstige Belange zu berücksichtigen (vgl. § 1 Abs. 6 BauGB, insbes. § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB: „Belange des Bildungswesens“; § 8 Abs. 1 AufbauG: „kulturelle Bedürfnisse“), sodass es dem Plangeber - insbesondere kraft Bundesrechts (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 14.06.1968 - IV. C 44.66 -, BRS 20 Nr. 174) - nicht verwehrt ist, durch bestimmte, im Hinblick auf solche Belange getroffene Festsetzungen auch sonstigen Nutzungsberechtigten von Grundstücken wehrfähige Nachbarrechte im Ortsrecht zuzuerkennen (vgl. Battis/Krautzberger/ Löhr, BauGB 10. A. 2007 , § 31 Rn. 95 m.w.N.; Schlichter, NVwZ 1983, 641 <646>). Einer solchen Auslegung steht hier auch nicht entgegen, dass „lediglich“ ein entsprechend § 173 Abs. 3 BBauG übergeleiteter Bebauungsplan in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13.94 -,BVerwGE 101, 364).
72 
3. Unabhängig davon leidet der Planfeststellungsbeschluss - auch in seiner geänderten Gestalt - noch an beachtlichen Abwägungsmängeln (vgl.§ 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG) zum Nachteil der Klägerin. Denn die Planfeststellungsbehörde hat den schutzwürdigen Belang der Klägerin, von abträglichen Wirkungen des Vorhabens auf die derzeitige und künftige Forschungstätigkeit ihrer Einrichtungen verschont zu bleiben, in der Abwägung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG fehlerhaft behandelt. Denn sie hat sich entgegen ihres gesetzlichen Auftrags ohne eigene Feststellung und Bewertung der insoweit wesentlichen Tatsachen auf eine bloße Evidenzkontrolle der von der Beigeladenen vorgelegten Planung beschränkt (a). Daran hat auch der Änderungsplanfeststellungsbeschluss, insbesondere die darin angestellte „Gesamtbetrachtung“, nichts zu ändern vermocht. Mangels hinreichender eigener Feststellungen und Bewertungen der insoweit für die Abwägung wesentlichen Tatsachen durch die Planfeststellungsbehörde ist die Abwägungserheblichkeit der Belange der Klägerin auch nicht nachträglich entfallen (b). Eine weitere gerichtliche Erforschung des Sachverhalts ist insoweit - entgegen der Ansicht des Beklagten und der Beigeladenen - nicht geboten (c).
73 
a) Der Planfeststellungsbeschluss leidet bereits an einem kompletten Abwägungsausfall oder doch einem umfassenden Abwägungsdefizit, weil die Planfeststellungsbehörde sich entgegen ihrer Planungsaufgabe nach dem Personenbeförderungsgesetz, die Planung des Vorhabenträgers einer sachgerechten - wenn auch teilweise nur nachvollziehenden - eigenen Abwägung zu unterziehen, bewusst auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle beschränkt hat.
74 
Insofern erweisen sich nicht nur die Entscheidung zugunsten der planfestgestellten Variante A2 - und damit gegen die von der Klägerin favorisierten Varianten, insbesondere die Variante A1 („Klausenpfad“) -, sondern auch die konkrete Trassenführung und -gestaltung und das zum Schutz der Einrichtungen der Klägerin vorgesehene Schutzkonzept als abwägungsfehlerhaft. Diese Mängel sind, da sie sich ohne weiteres aus dem Planfeststellungsbeschluss ergeben, offensichtlich und schon deshalb auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, weil bei einer fehlerfreien Abwägung eine Entscheidung zugunsten der Variante A1 nicht nur konkret in Betracht kam (vgl. auch die undatierte Pressemitteilung www.uni-heidelberg.depresse/news/08/pm280415 -9str.html - der Stadt Heidelberg über eine zunächst gefundene Einigung auf einen Trassenverlauf über den Klausenpfad; § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG), sondern sich, wenn man den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss folgt, sogar als vorzugswürdig aufdrängte. Darauf, ob die vorgesehenen Schutzmaßnahmen zumindest gewährleisteten, dass die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze zum Nachteil der Klägerin nicht überschritten wird (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG), kommt es nicht mehr an, da die Abwägung es damit nicht bewenden lassen durfte.
75 
Die Planfeststellungsbehörde begründet ihre Entscheidung zugunsten der beantragten Variante A2 im Planfeststellungsbeschluss vom 10.06.2014, soweit sich darin hierzu überhaupt eigenständige Erwägungen der Behörde finden, zusammenfassend damit (S. 335 f.), dass sich bei der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Alternativlösungen im Ergebnis keine Alternative als „ e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r d i g“ bzw. die Antragsvariante „aus verkehrlicher Sicht“ aufgedrängt habe. Auch wenn bei der Trasse A1 deutlich weniger Einrichtungen den von dem Vorhaben ausgehenden Wirkungen ausgesetzt wären, sei dies nicht der allein ausschlaggebende Gesichtspunkt gewesen. Aufgrund der konkreten Zielsetzungen des Vorhabenträgers und der vorgesehenen Schutzmaßnahmen „d r ä n g e s i c h i h r n i c h t a u f“, dass die Vorteile der Variante A1 die Vorteile des beantragten Neubaus „in einer Weise“ überwögen, dass sie sich als „e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r- d i g“ erweise.
76 
Bereits aus diesen Ausführungen erhellt, dass die Planfeststellungsbehörde - auch bei Berücksichtigung ihrer weiteren Ausführungen zu den einzelnen Planungsalternativen - ihre gesetzliche Planungsaufgabe gänzlich verfehlt hat. Ob sie sich ohnehin an die vom Heidelberger Gemeinderat im November 2005 beschlossene Alternativen-Entscheidung („Maßnahmenbeschluss“) gebunden gefühlt hat, mag dahinstehen.
77 
Die von der Planfeststellungsbehörde mehrfach gebrauchte Wendung, dass sich eine andere Alternative „nicht als eindeutig vorzugswürdig aufgedrängt“ habe, vermag eine nachvollziehbare Begründung einer - in eigener Verantwortung für die Planung abwägungsfehlerfrei zu treffenden - Auswahlentscheidung von vornherein nicht zu ersetzen, da damit nur ein für die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle einer behördlichen Variantenentscheidung geltender Prüfungsmaßstab in Bezug genommen wird (vgl. Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011 - 7 MS 72/11 -). Die Prüfung, ob eine Auswahlentscheidung nach diesem Maßstab Bestand haben wird, obliegt nicht der Planfeststellungsbehörde, sondern dem erkennenden Verwaltungsgerichtshof. Die hierbei geltenden Einschränkungen der Kontrolle sind auch nur gerechtfertigt, weil eine demokratisch legitimierte Planfeststellungsbehörde zuvor die rechtliche Verantwortung für die Planung übernommen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1994, a.a.O., Rn. 21; BayVGH, Urt. v. 24.05.2011 - 22 A 10.40049 -, UPR 2011, 449). Dies ist umso mehr erforderlich, als einem Planfeststellungsbeschluss enteignungsrechtliche Vorwirkung zukommt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 -). Dies gilt erst recht, wenn der Vorhabenträger - wie die Beigeladene - privatrechtlich organisiert ist.
78 
Eine eigene Planungsentscheidung hat der Beklagte aufgrund seines fehlerhaften Ansatzes auch in der Sache nicht getroffen, denn er hat die Planunterlagen der Beigeladenen nicht, wie dies eigentlich erforderlich gewesen wäre, einer e i g e n s t ä n d i g e n rechtlichen Prüfung unterzogen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, Buchholz 406.400 § 19 BNatschG 2002 Nr. 7, juris Rn. 85). Einer solchen Prüfung war der Beklagte auch nicht deshalb enthoben, weil eine zur Planfeststellung vorgelegte Planung - aufgrund der Antragsbindung bzw. des Vorhabenbezugs - teilweise nur nachvollziehend abgewogen werden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, Urt. v. 24.11.1994 - 7 C 25.93 -, BVerwGE 97, 143, juris Rn. 20 u.21; Urt. v. 17.01.1986 - 4 C 6.84, 4 C 7.84 -, BVerwGE 72, 365; Senatsurt. v. 13.04.2000 - 5 S 1136/98 - u. v. 10.11.2011 - 5 S 2436/10 -; Steinberg/Wickel/Müller, a.a.O., S. 191 Rn. 1; Wickel in: HK-VerwR § 72 Rn. 31, 33 f.; krit. zu diesem Begriff Lieber, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 74 Rn. 34; Vallendar/Wurster, in Beck’scher AEG Komm., 2. A. 2014, § 18 Rn. 140). Insbesondere folgt aus dem Begriff „nachvollziehend“ nicht, dass die Planung für die Planfeststellungsbehörde etwa nur „nachvollzieh b a r“ sein müsste.
79 
Beim Abwägungsgebot im Fachplanungsrecht ist unter „nachvollziehender Abwägung“ - entgegen der offenbar vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung (vgl. Urt. v. 27.11.2012 - 22 A 09.40034 -; Urt. v. 13.10.2015 - 22 A 14.40037 - im Anschluss an Vallendar, in: Beck’scher AEG Komm. 2006, § 18 Rn. 119) - auch nicht eine Abwägung zu verstehen, wie sie im Rahmen einer gebundenen Vorhabenzulassung (vgl. zum Bauplanungsrecht BVerwG, Urt. v. 24.10.2013 - 7 C 36.11 -, BVerwGE 148, 155), im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung oder bei der Frage der „Beeinträchtigung“ des Wohls der Allgemeinheit i. S. des § 31 WHG anzunehmen ist und hier einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren Vorgang der Rechtsanwendung meint (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.2014 - 4 B 47.13 -, BRS 82 Nr. 109). Insofern geht auch der Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss (S. 54) auf das Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 29.03.2013 - 3 S 284/11 - (juris Rn. 125) fehl. Auch eine solche „nachvollziehende Abwägung“ hat die Planfeststellungsbehörde freilich nicht vorgenommen, weil sie selbst nicht „nachvollziehend“ abgewogen, sondern die Planung der Vorhabenträgerin lediglich als „nachvollzieh b a r“ und p l a u s i b e l angesehen hat.
80 
Eine sachgerechte - zumindest „nachvollziehende“ - Abwägung der verschiedenen Varianten war ihr aufgrund der unzureichenden Planunterlagen allerdings auch nicht möglich. Denn der im Erläuterungsbericht enthaltene „Vergleich der Varianten“ (a.a.O., S. 15 ff.) besteht im Wesentlichen nur aus einer zusammenfassenden Darstellung des Entscheidungsprozesses im Heidelberger Gemeinderat von 1992 bis zum „Maßnahmenbeschluss“ im November 2005, mit dem dieser sich für die Variante A2 entschieden hatte.
81 
Zwar unterliegt auch die Überprüfung der Variantenauswahl durch die Planfeststellungsbehörde aufgrund der Antragsbindung gewissen Einschränkungen. Dies gilt aber nur für die eigentliche (endgültige) planerische Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Alternativen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 39.07 -,BVerwGE 133, 239). Dies entbindet die Planfeststellungsbehörde jedoch nicht von ihrer Pflicht, zuvor alle ernsthaft in Betracht kommenden Planungsalternativen auch selbst ernsthaft in Betracht zu ziehen und zu prüfen, und zwar - entgegen der Auffassung des Beklagten - unabhängig davon, ob sie sich ihr „aufdrängten“ oder nicht (vgl. Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. A. 2012, § 3 Rn. 183 f.). Ihre Pflicht zur Ermittlung, Bewertung und Gewichtung einzelner Belange im Rahmen der Variantenprüfung ist damit für die Planfeststellungsbehörde in keiner Weise zurückgenommen (vgl. BVerwG, Gerichtsbesch. v. 21.09.2010 - 7 A 7.10 -, juris, Rn. 17 unter 2.d; Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075/04 -, BVerwGE 125, 116, juris Rn. 98; Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011, a.a.O.). Erst bei der eigentlichen (endgültigen) Auswahlentscheidung ist sie - im Hinblick auf die planerische Gestaltungsfreiheit des Vorhabenträgers - auf die Prüfung beschränkt, ob dessen Erwägungen vertretbar und damit geeignet sind, die (endgültige) Variantenwahl zu rechtfertigen u n d ob - und ggf. aus welchen Gründen - sie sich diese zu eigen machen will (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009, a.a.O.). Nach dem auch für sie geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 LVwVfG; hierzu BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, a.a.O.; Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 8. A., 2014 § 74 Rn. 8) hat die Planfeststellungsbehörde jedoch zuvor die eine sachgerechte Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange erst ermöglichenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen (und zu bewerten) und hierzu erforderlichenfalls auch noch weitere eigene Ermittlungen anzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.1992 - 4 B 1.92 u. a., -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89; Beschl. v. 02.04.2009 - 7 VR 1.09 -; Urt. v. 24.03.2011, a.a.O.).
82 
Diesen Anforderungen des Abwägungsgebots entspricht die von der Planfeststellungsbehörde getroffene Entscheidung aufgrund ihres verfehlten Ansatzes in keiner Weise.
83 
So begnügte sich die Planfeststellungsbehörde - jedenfalls ganz überwiegend - damit, den gegen die Antragsvariante vorgebrachten, durchaus substantiierten Einwendungen - auch der Klägerin - jeweils die gegenteilige Sicht der Beigeladenen gegenüberzustellen, um im Anschluss daran - ohne eigenständige Begründung - auszuführen, dass die Annahmen der Einwender und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „nicht geteilt“ würden, dass sie „sich die Ausführungen des Vorhabenträgers zu eigen mache“, sie „keine b e - l a s t b a r e n Anhaltspunkte bzw. Erkenntnisse“ dafür habe, dass sich dessen Ausgangsüberlegungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „(e i n d e u t i g) unzutreffend oder fehlgewichtet“ darstellen könnten und daher „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ bzw. „nicht zu beanstanden“ seien. Diese im Beschluss ständig wiederkehrenden Wendungen erweisen, dass sich die Planfeststellungsbehörde von vornherein - jedenfalls ganz überwiegend - auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle jeglicher von der Vorhabenträgerin der Planung zugrunde gelegten Annahmen beschränkt hat und dass sie - nach einer ebenfalls nur eingeschränkten Prüfung - auch deren tatsächliche und rechtliche Bewertungen und Gewichtungen der Einzelbelange - auch derjenigen der Klägerin - übernommen hat. Ein solches Vorgehen ist mit der Aufgabe einer Planfeststellungsbehörde, der ungeachtet des Vorhabenbezugs ein Planungsermessen eingeräumt ist und die insofern eine eigenständige, wenn auch teils nur nachvollziehende abwägende Entscheidung zu treffen hat, schlechterdings nicht vereinbar.
84 
Zwar trifft es zu, wie die Beigeladene einwendet, dass allein ein etwaiger Begründungsmangel noch nicht den Schluss auf einen Abwägungsmangel rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011, a.a.O., Rn. 84). Hier liegt jedoch nicht nur ein bloßer formeller Mangel in der Dokumentation oder Begründung vor, sondern ein im Planfeststellungsbeschluss an zahllosen Stellen dokumentierter grundlegender materieller Abwägungsmangel. Den aufgezeigten Formulierungen - wie „nicht e i n d e u t i g unzutreffend oder fehlgewichtet“, „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ kommt auch keineswegs nur eine - letztlich unerhebliche - „semantische“ Bedeutung zu, wie der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf einen dem Verfasser des Planfeststellungsbeschlusses eigenen Stil geltend gemacht hat.
85 
Da auch die Entscheidungen über die der Beigeladenen erteilten „Schutzauflagen“ von dem vorbezeichneten Mangel betroffen sind, lässt sich auch aus deren Beifügung nicht auf eine eigene Abwägung schließen, zumal die Schutzauflagen zu einem großen Teil ohnehin nicht von der Planfeststellungsbehörde, sondern von der Anhörungsbehörde, mithin der Stadt Heidelberg formuliert worden sind, die gleichzeitig Gesellschafterin der Vorhabenträgerin ist.
86 
Der von der Planfeststellungsbehörde gewählte Ansatz einer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung wird bereits auf der Ebene der Ermittlung, Bewertung und Gewichtung der für die Trassenwahl besonders bedeutsamen Auswirkungen des Vorhabens deutlich. Dies gilt insbesondere für die von dem Vorhaben ausgehenden Erschütterungen und elektromagnetischen Felder, gegen die sich die Klägerin wegen ihrer von diesen Wirkungen betroffenen Forschungseinrichtungen bzw. dort eingesetzter hochempfindlicher Geräte - vor allem an der Straße Im Neuenheimer Feld, aber auch im Botanischen Garten - hauptsächlich wendet. Gleiches gilt für die weiteren Auswirkungen des Vorhabens, insbesondere für die mit ihm verbundenen Zerschneidungswirkungen bzw. Einschränkungen hinsichtlich einer bedarfsgerechten Nutzung der Bauvorbehaltsfläche durch die Klägerin.
87 
Hinsichtlich der für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Beurteilung der Immissionswirkungen hat die Planfeststellungsbehörde dabei zunächst auf ihre Ausführungen unter Abschnitt B. III. 2.3 „Zwingendes Recht“ verwiesen (S. 326 ff.), wo stereotyp den Einwendungen - auch denen der Klägerin - („… wird geltend macht, …“) jeweils die gegenteilige Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. ihrer Gutachter gegenübergestellt wird („Der Vorhabenträger hat dazu ausgeführt, …“), um dies jeweils mit der Wendung abzuschließen, dass sie „keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte“ dafür habe, dass sich die gutachterlichen Einschätzungen, Annahmen und Schlussfolgerungen „im Ergebnis als unzutreffend“ oder „u n v e r t r e t b a r“ (!) darstellten bzw. die Überlegungen, Ansätze und Schlussfolgerungen des Fachgutachters „in einer Weise erschüttert“ würden, dass sich daraus ein „z w i n g e n d e r“ weitergehender Handlungsbedarf ergäbe.
88 
Vor diesem Hintergrund entbehrt auch das von der Planfeststellungsbehörde gezogene Fazit jeder tatsächlichen Grundlage, dass die Erschütterungswirkungen der Zulassung des Vorhabens „nicht zwingend“ entgegenstünden und dass mit den von der Vorhabenträgerin aufgrund umfangreicher fachgutachterlicher Expertisen vorgesehenen Schutzmaßnahmen den berechtigten Belangen der betroffenen Einrichtungen im Hinblick auf eine elektro-magnetische Verträglichkeit „angemessen Rechnung“ getragen werde.
89 
Diese Ausführungen lassen darüber hinaus erkennen, dass es der Planfeststellungsbehörde ohnehin nur darauf ankam, zwingendes Recht, und zwar die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG) einzuhalten, sie jedoch darüber hinaus für eine sachgerechte Abwägung mit dem Interesse der Klägerin, von weiteren - gerade auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen - nachteiligen Einwirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, tatsächlich nicht offen war. Dies zeigt auch der Umstand, dass sie es dahinstehen ließ, ob bei einer Trassenführung über den von der Klägerin favorisierten „Klausenpfad“ (Variante A1) deutlich weniger empfindliche Einrichtungen betroffen wären, und es nicht für aufklärungsbedürftig ansah, ob in dem dort gelegenen „Technologiepark“ überhaupt in vergleichbaren Entfernungen ebenso empfindliche Nutzungen stattfinden.
90 
Ohne entsprechende „belastbare“ Feststellungen erweist sich die von der Planfeststellungsbehörde wiedergegebene Sichtweise der Vorhabenträgerin, wonach beide Varianten hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit und der Erschütterungen „nahezu vergleichbar“ seien, keineswegs als „nachvollziehbar und plausibel“, sondern als nicht „vertretbar“.
91 
Dies gilt umso mehr, als die Planfeststellungsbehörde auch die bauplanungsrechtliche Situation - und die sie konkretisierenden städtebaulichen Verträge - nicht mit dem ihr zukommenden Gewicht zu Gunsten der Belange der Klägerin berücksichtigt hat, indem sie selbst hier - wiederum ohne erkennbar eigenständige Prüfung - die unzutreffende, rechtliche Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. des Rechtsamts der Stadt Heidelberg zugrunde gelegt hat. Die bestehende bauplanungsrechtliche Situation wäre indes bei der Abwägung nicht nur als wesentlicher städtebaulicher Belang, sondern auch als schutzwürdiges Interesse der betroffenen Einrichtungen an der Beibehaltung des bestehenden Zustandes (vgl. Senatsurt. v. 06.05.2011 - 5 S 1670/09 -, VBlBW 2012, 108) mit besonderem - grundrechtlichen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) - Gewicht zu berücksichtigen gewesen (vgl. Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13). Dies hätte auch dann gegolten, wenn sich die Beigeladene auf das Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB n.F. hätte berufen können. Selbst wenn der Bebauungsplan unwirksam wäre, hätte das Vorliegen eines seit den 1960iger Jahren tatsächlich vorhandenen Universitätsgebiets zugunsten der Klägerin angemessen berücksichtigt werden müssen.
92 
In städtebaulicher Hinsicht hat die Planfeststellungsbehörde zudem übersehen, dass der von ihr in den Vordergrund gerückte „Technologiepark“ jedenfalls ganz überwiegend im Geltungsbereich des „Bebauungsplans Handschuhsheim Langgewann II - Technologiepark Heidelberg“ vom 16.03.2000 liegt. Dieser erklärt aber nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Geschäfts-, Büro und Verwaltungsgebäude für zulässig. Zwar sollen dabei auch Forschungseinrichtungen, daneben aber auch Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen zulässig sein. Bei den danach zulässigen Nutzungsarten kann von einer vergleichbaren Schutzwürdigkeit wie im angrenzenden „Universitätsgebiet“ nicht die Rede sein. Denn auf der durch den Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung festgesetzten Bauvorbehaltsfläche sind lediglich bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. b) der Besonderen Bauvorschriften).
93 
Schließlich belegt der Hinweis der Planfeststellungsbehörde auf das Fehlen einer - von der Klägerin gar nicht geltend gemachten - Bestandsgarantie und den im Neuenheimer Feld weiterhin möglichen Wissenschaftsbetrieb, dass die Planfeststellungsbehörde das Gewicht des durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG besonders geschützten Belangs der Klägerin unterschätzt hat, ihre Forschungseinrichtungen von möglicherweise die Forschung beeinträchtigenden Auswirkungen des Vorhabens soweit als möglich zu verschonen. Diese unzutreffende Gewichtung kommt auch in den Bemerkungen des Vertreters der Planfeststellungsbehörde in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck, die Universität werde schon „nicht untergehen“, wenn die Straßenbahn durchs Neuenheimer Feld fahre. Zu Recht weist die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der Forschungsfreiheit aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten noch mehr als beim Eigentum auch mögliche künftige Nutzungen - auch auf den „Erweiterungsflächen“ der Universität - in den Blick zu nehmen waren. Der Umstand, dass solche Nutzungen noch nicht unmittelbar angestanden haben oder dass deren Realisierung aufgrund der bereits erreichten Bebauungsdichte möglicherweise zunächst den Abriss anderer Gebäude bedingte, mag für die Gewichtung dieses Belangs von Bedeutung sein, stellt indessen - nicht zuletzt im Hinblick auf den Prognosehorizont - dessen Abwägungserheblichkeit nicht in Frage. Anderes gilt auch nicht deshalb, weil die Klägerin nicht Eigentümerin jener „Erweiterungsflächen“ ist. Denn auch diese Flächen liegen im festgesetzten „Universitätsgebiet“ und sind nach dem nach wie vor wirksamen Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ grundsätzlich für die universitären Zwecke der Klägerin nutzbar. Insofern leidet die Entscheidung jedenfalls an einer Abwägungsfehlgewichtung, wenn nicht gar an einer Abwägungsdisproportionalität.
94 
Die Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss lassen auch nicht annähernd erkennen, dass insbesondere die von der Klägerin als vorzugswürdiger angesehene Variante A1 derartige Abstriche an den verkehrlichen Zielsetzungen der Vorhabenträgerin bedingt hätte, dass sie ungeachtet der betroffenen gegenläufigen Interessen, insbesondere des Interesses der Klägerin, von nachteiligen Auswirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, und ungeachtet des von der Planfeststellungsbehörde zu beachtenden Trennungsgrundsatzes (vgl. § 50 Satz 2 BImSchG) jedenfalls nicht hinzunehmen wären. Entgegen der Behauptung des Beklagten-Vertreters in der mündlichen Verhandlung war der Variante A2 gegenüber der Variante A1, der die Planfeststellungsbehörde durchaus auch gewisse Vorteile attestiert hat, lediglich aufgrund überwiegender Vorteile der Vorzug gegeben worden (a.a.O., S. 336). Solches ließe sich auch nicht bereits mit den angeführten Nachteilen hinsichtlich der Erschließungswirkung begründen (a.a.O., S. 335), zumal sich die Planfeststellungsbehörde im Hinblick auf das jeweilige Fahrgastaufkommen auf die Wendung zurückgezogen hat (S. 321), dass es sich aus ihrer Sicht „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ sei, wenn sich d e m V o r h a b e n t r ä g e r, der als Verkehrsunternehmer das stärkste Interesse habe, ein möglichst hohes Fahrgastpotential auszuschöpfen, die Beibehaltung einer bestehenden Linienführung a u f d r ä n g e (sic!). Entsprechende Abstriche wären hier indes umso eher gerechtfertigt gewesen, je gewichtiger die gegenläufigen Belange sind, insbesondere je einschneidender sich die nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens bei der Variante A2 auf die weitere Funktionsfähigkeit der derzeit und künftig betroffenen Forschungseinrichtungen der Klägerin erweisen. Über diese hätte sich die Planfeststellungsbehörde jedoch zunächst selbst Gewissheit verschaffen müssen, auch wenn dies für sie bzw. die hierzu zunächst berufene Anhörungsbehörde mit einem größeren Aufwand verbunden gewesen wäre. Dies gilt umso mehr, als der Erläuterungsbericht der Vorhabenträgerin einen besonderen Bedarf einer Straßenbahnverbindung anstatt einer Busverbindung ins Neuenheimer Feld zwar behauptet, jedoch auch nicht annähernd nachvollziehbar belegt hat. Inwiefern dies unbeachtlich sein sollte, weil die Stadt Heidelberg inzwischen eine - Ende 2011 fertiggestellte - aktuellere Verkehrsprognose in Auftrag gegeben habe (S. 129), erschließt sich nicht.
95 
All diese, sich bereits bei der Variantenentscheidung manifestierenden Mängel, die letztlich auf den falschen Prüfungsmaßstab der Planfeststellungsbehörde zurückzuführen sind, setzen sich bei der Entscheidung über die konkrete Trassenführung- und -gestaltung sowie bei der Entscheidung über das dabei vorzusehende Schutzkonzept (einschließlich der verfügten Nebenbestimmungen) fort. Denn auch hier hat sich die Planfeststellungsbehörde jedenfalls ganz überwiegend auf eine reine Evidenz- und Plausibilitätskontrolle zurückgezogen, ob insbesondere durch die von der Anhörungsbehörde vorgeschlagenen Nebenbestimmungen die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle eingehalten werden wird oder nicht. Ob wenigstens dies hinsichtlich der besonders kritischen Erschütterungswirkungen und elektromagnetischen Wirkungen sowie der weiteren, von der Klägerin beanstandeten Auswirkungen des Vorhabens tatsächlich gewährleistet sein könnte, bedarf - wie ausgeführt - vor dem Hintergrund der aufgezeigten grundlegenden Abwägungsmängel keiner Prüfung mehr.
96 
b) Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss sind auch unter Berücksichtigung der mit ihm festgestellten Planänderungen - insbesondere bei Berücksichtigung des im Bereich des Max-Planck-Instituts und der besonders betroffenen Institute der Klägerin vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts - nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundenen weiteren Abwägungsmängel zu beheben. Dies gilt ungeachtet dessen, dass einzelne, für die Abwägung erhebliche Umstände - etwa die derzeitige konkrete Betroffenheit bestimmter Geräte bzw. Gerätestandorte - aktuell nachermittelt wurden.
97 
Mit der anlässlich der 1. Planänderung von Amts wegen vorgenommenen „Gesamtbetrachtung“ wurde die bisher im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt. Das war ohne Weiteres zulässig (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG; § 114 Satz 2 VwGO). Insofern hätten sogar neue Erwägungen nachgeschoben werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.1991 - 7 B 65.91 -, Buchholz 451.22 AbfG Nr. 44). Da nur von „klarstellenden und vertiefenden“ Ausführungen die Rede ist und die Planfeststellungsbehörde Mängel der ursprünglich getroffenen Entscheidung gerade in Abrede gestellt hat, können die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allerdings nur so verstanden werden, dass lediglich die im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt, nicht jedoch eine neue Abwägungsentscheidung getroffen werden sollte (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. 20.12.1991 - 4 C 25.90 -, Buchholz 316 § 76 VwVfG Nr. 4). Auch der Sache nach wurde eine solche nicht getroffen. Abgesehen von der nunmehr ausdrücklich erteilten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB wurde die bereits getroffene Abwägungsentscheidung vielmehr nur im Hinblick auf den zwischenzeitlich ergangenen Senatsbeschluss vom 18.12.2014 „überprüft“ und - teilweise - weiter begründet, um sie im Ergebnis zu rechtfertigen und unberührt zu lassen. Allein diesem Zweck dienten auch die „Aktualisierung“ der Gerätestandorte und die Einholung weiterer Gutachten, mit denen lediglich die bisherigen Gutachten zu den Auswirkungen des Vorhabens ergänzt wurden. Wurden damit aber bestimmte Probleme nicht - zum Zwecke einer erneuten Abwägung - einer Neubewertung unterzogen, ist für die gerichtliche Kontrolle insoweit auch nicht auf den Zeitpunkt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 -, BVerwGE136, 291). Dass mit dem Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses tatsächlich keine Fehlerbehebung entsprechend § 75 Abs. 1a LVwVfG beabsichtigt war, haben die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung schließlich ausdrücklich bestätigt.
98 
Soweit die Planfeststellungsbehörde ihre Variantenentscheidung „ergänzend“ damit zu rechtfertigen versucht hat, dass die Variante A1 tatsächlich frühzeitig hätte ausgeschieden werden können, da sie schon nicht ernsthaft in Betracht gekommen sei, weil sie offensichtlich „am Bedarf vorbeifahre“ (vgl. S. 95 f.), ist dies jedenfalls aufgrund der im Änderungsplanfeststellungsbeschluss gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar. Denn die planfestgestellte Variante sieht zwischen der Haltestelle „Geowissenschaften“, deren Erschließungswirkung - auch nach der vom Planfeststellungsbeschluss für plausibel gehaltenen Sicht der Vorhabenträgerin (vgl. PFB, S. 319 f.) - mit derjenigen der in der Berliner Straße vorhandenen Haltestelle „Technologiepark“ fast vergleichbar ist, bis zur Haltestelle „Kopfklinik“ gar keine weiteren Haltestellen entlang der Straße Im Neuenheimer Feld vor. Soweit der Beklagte und die Beigeladene im gerichtlichen Verfahren nun maßgeblich darauf abgehoben haben, dass der Einzugsbereich beider Haltestellen bei der Variante A1 nur mit einem geringeren Takt bedient werden könnte, mag dies eventuell auf einen abwägungserheblichen Nachteil dieser Variante führen. Daraus folgt aber nicht, dass diese Variante deshalb schon nicht „zielkonform“ und ungeachtet der mit der Antragsvariante verbundenen Auswirkungen - insbesondere auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin - nicht weiter in den Blick zu nehmen gewesen wäre. Soweit der Vertreter des Beklagten dies in der mündlichen Verhandlung mit im (geänderten) Planfeststellungsbeschluss nicht erwähnten Nachteilen - etwa einer notwendigen „Verlegung eines Hubschrauberlandeplatzes“ - zu belegen versucht hat, mag dieser Gesichtspunkt, sollte er zutreffen, gegebenenfalls im Rahmen einer neuen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen sein.
99 
Auch der Hinweis, dass bei der Variante A1 - allerdings in nicht kompensierter Form - ebenfalls mit Immissionswirkungen in den „Kernbereich“ des Neuenheimer Felds hinein zu rechnen wäre, lässt nicht erkennen, warum diese Variante nicht gleichwohl vorzugswürdiger sein könnte. Denn ungeachtet auch dann zu erwartender Immissionswirkungen verliefe sie doch in deutlich größerem Abstand zu den besonders schutzbedürftigen Einrichtungen und „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, was die Wirksamkeit auch bei der Alternativtrasse vorzusehender Schutzmaßnahmen erhöhte. Soweit die Planfeststellungsbehörde wiederum auf den „Technologiepark“ verweist, lassen ihre Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen, inwiefern sich aus dem „nochmals abgefragten Gerätebestand“ ergeben sollte, dass gleichermaßen empfindliche Geräte tatsächlich in vergleichbarer Entfernung zu den Gleisen eingesetzt würden. Abgesehen davon bliebe wiederum unberücksichtigt, dass dem Sondergebiet „Technologiepark“ eben eine geringere Schutzwürdigkeit als dem im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ als Bauvorbehaltsfläche für die Klägerin ausgewiesenen Sondergebiet „Universität“ zukommt.
100 
Die planänderungsbedingten Verbesserungen hinsichtlich der elektromagnetischen Wirkungen im Bereich der besonders empfindlichen Institute der Klägerin - Realisierung eines stromlosen Abschnitts von Station 2+160 bis 2+439 bei Vergrößerung des Mastabstands und Entfallen der Kompensationsleitungen -, waren für sich genommen noch nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundene Abwägungsfehleinschätzung zu beheben. Abgesehen davon, dass diese Verbesserungen an den anderen Wirkungen des Planvorhabens - insbesondere den Erschütterungs- und Zerschneidungswirkungen - nichts änderten, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nach wie vor nicht erkennen, von welchen für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen und Bewertungen die Planfeststellungsbehörde - nicht deren Gutachter - nunmehr ausgegangen ist. Nach wie vor fehlt es an einer für die gerichtliche Kontrolle nachvollziehbaren und fachlich nachprüfbaren Auseinandersetzung mit den elektromagnetischen Auswirkungen (und Erschütterungen) auf den derzeitigen u n d künftigen Forschungsbetrieb. Auch hat die Planfeststellungsbehörde weiterhin davon abgesehen, in Ermangelung gesetzlicher Regelungen selbst festzulegen, wo s i e jeweils die Zumutbarkeitsgrenze ziehen will, jenseits derer sie „lediglich“ noch abzuwägen hat (a.a.O., S. 60; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschl. v. 02.10.2014 - 7 A 14.12 -, NuR 2014, 785).
101 
Die Planfeststellungsbehörde hat sich auch im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht die eingeholten einschlägigen Fachgutachten zur elektromagnetischen Verträglichkeit zu Eigen gemacht. Vielmehr werden deren Ergebnisse im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allenfalls (teilweise) referiert und als Arbeitshypothese unterstellt („Geht man, wie es der V o r h a b e n - t r ä g e r vorsorglich getan hat, von diesem Wert aus…; bei einem u n t e r - s t e l l t e n Grenzwert von 50 nT …, a.a.O., S. 50; „nach dem aktuellen fachlichen K e n n t n i s s t a n d d e s v o r h a b e n t r ä g e r i s c h e n Gutachters“, a.a.O., S. 76). Daran ändern auch die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Einflussgrenzen EMV“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter Nr. I.1.2 des verfügenden Teils nichts. Der Umstand, dass die Planfeststellungsbehörde ein ihr bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses vorliegendes Gutachten von Prof. Dr. V. nunmehr pauschal für überzeugend und „nachvollziehbar“ bezeichnet (a.a.O., S. 79), vermag daran ebenso wenig etwas zu ändern, zumal zahlreiche Einwendungen gegen die elektromagnetische Verträglichkeit im Planfeststellungsbeschluss noch lediglich mit der Begründung zurückgewiesen worden waren, dass "keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte bestünden, dass sich die Aussagen des Gutachters der Vorhabenträgerin als u n v e r t r e t b a r (sic!) darstellen könnten (vgl. insbes. S. 249 ff.). Inwieweit und aus welchen Gründen die Planfeststellungsbehörde nunmehr eine eigene Überzeugung erlangt haben will, obwohl es gerade bei den bisherigen Begründungen verbleiben sollte, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen.
102 
Soweit der Beklagte maßgeblich darauf verweist, dass bereits der Einflussbereich der Straßenbahn in der Berliner Straße einen Großteil des östlichen Neuenheimer Felds überdecke und weitere Störungen - zumal bei den vorgesehenen Schutzvorkehrungen - keine neue Qualität erreichten, lässt sich solches - mangels Feststellung entsprechender Tatsachen und Bewertungen durch die Planfeststellungsbehörde - anhand ihrer „vertieften“ Begründung nicht nachvollziehen. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, warum bei einer solchen Vorbelastung jede weitere Verschlechterung der Umgebungsbedingungen - auch auf den angrenzenden „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, die nach dem Bebauungsplan ebenfalls für universitäre Zwecke nutzbar sind - abwägungsfehlerfrei sein sollte. Ohne ausreichende Tatsachenfeststellungen zu den damit einhergehenden Schwierigkeiten kann die Klägerin auch nicht abwägungsfehlerfrei auf (aktive) Kompensationsmaßnahmen verwiesen werden. Hinzukommt, dass auch nach Auffassung der Planfeststellungsbehörde im unmittelbar an die Trasse angrenzenden Bereich noch eine Einzelfallbetrachtung erforderlich würde. Auch unterstellt die Planfeststellungsbehörde ohne nähere Begründung, dass die von der vorhandenen Straßenbahnstrecke in der Berliner Straße ausgehenden Beeinträchtigungen ungeachtet der Festsetzungen im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ im bisherigen Ausmaß hinzunehmen sind. Nicht nachvollziehbar sind auch ihre Ausführungen zur künftigen Überlagerung elektromagnetischer Wirkungen (a.a.O., S. 78). Es liegt auf der Hand, dass es ungeachtet dessen, ob von einer Überlagerung "im klassischen Sinne" ausgegangen werden und dies im Einzelfall auch einmal zu geringeren Belastungen führen kann, durchaus auch eine Überlagerung i. S. einer Verstärkung bereits bestehender elektromagnetischer Felder mit weiteren einschränkenden Wirkungen auf empfindliche Geräte möglich ist. Dennoch hat die Planfeststellungsbehörde dies gar nicht in Betracht gezogen. Darauf, ob hierbei dem von der Klägerin in Auftrag gegebenen Gutachten der M.-BBM GmbH (Dr. Ing. G.) Aussagekraft beizumessen war, kommt es nicht mehr entscheidend an. Letztlich belegt auch der Hinweis der Planfeststellungsbehörde (a.a.O., S. 49 f.), ein anderes Gutachten des Fachbüros M.-BBM zu einem ganz anderen Vorhaben - nämlich zur „Mainzelbahn“ in Würzburg - herangezogen zu haben, weil ein in Bezug genommenes Gutachten dieses Fachbüros (noch) nicht zur Verfügung gestellt worden sei, dass nach wie vor gar keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den entsprechenden Belangen der Klägerin vorgenommen wurde.
103 
Ohne eine n a c h v o l l z i e h b a r e Feststellung und Bewertung der derzeitigen und künftigen elektromagnetischen Auswirkungen des Vorhabens kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass von dem geänderten Planvorhaben insoweit auch deshalb keine - abwägungserheblichen - Beeinträchtigungen (mehr) ausgingen, weil es nicht zuletzt aufgrund der gegebenen Vorbelastung zu keinen Verschlechterungen mehr kommen könne.
104 
Nichts anderes gilt für die von der Klägerin beanstandeten Erschütterungswirkungen. Auch hier fehlt es nach wie vor an einer nachvollziehbaren fachlichen Auseinandersetzung mit den von der Klägerin geltend gemachten zusätzlichen nachteiligen Auswirkungen auf ihren derzeitigen und künftigen Forschungsbetrieb. Der aus sich heraus nicht nachvollziehbare Hinweis, aus den vorliegenden Gutachten ergebe sich, „dass die Vorbelastung bereits teilweise über den Grenzwerten liegt“, vermag eine solche jedenfalls nicht zu ersetzen, zumal sich in dem im Änderungsplanfeststellungsbeschluss in Bezug genommenen (a.a.O., S. 48, 82) Ausgangsplanfeststellungsbeschluss keine entsprechenden Feststellungen finden. Auch in diesem Zusammenhang genügten die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Standorte erschütterungsempfindlicher Geräte“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter I.1.2 des verfügenden Teils nicht. Weiterhin als bloße Behauptung stellt sich dar, dass es aufgrund der bereits vorhandenen Vorbelastung durch den motorisierten Individualverkehr, welche schon heute situationsbedingt Schutzmaßnahmen erfordert haben mag, bei den vorgesehenen schwingungstechnischen Systemen zu keinen weiteren negativen Erschütterungswirkungen mehr käme (a.a.O., S. 83) bzw. diese jedenfalls auf ein auch für Forschungszwecke zumutbares Maß minimiert würden (a.a.O, S. 86), zumal künftig allenfalls Busse entfallen dürften. Vorgesehen ist im Bereich der besonders empfindlichen Forschungseinrichtungen der Klägerin auch nur eine hochelastische Schienenlagerung und kein punktförmig oder flächig gelagertes Messe-Feder-System. Anderes mag hinsichtlich der Erschütterungswirkungen für die Gewächshäuser des Botanischen Gartens der Klägerin gelten, da sich für diese aufgrund der festgestellten Planänderungen nunmehr tatsächliche Verbesserungen ergaben, da die Trasse von diesen nunmehr weiter entfernt geführt wird. Soweit der Beklagte noch auf die Vorbelastung durch Baustellen mit Baukränen verweist, geht dies schon deshalb fehl, weil solche am jeweiligen Standort nur vorübergehend betrieben werden und insofern nicht die Zumutbarkeit und Abwägungserheblichkeit der von einer dauerhaften Straßenbahntrasse künftig regelmäßig ausgehenden Erschütterungswirkungen herabsetzen bzw. entfallen lassen.
105 
Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss erweisen überdies, dass - unabhängig von dem grundlegenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizit hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens - die besondere Bedeutung des festgesetzten (Sonder-)Gebiets „Universität“ gerade für die grundrechtlich geschützten Forschungstätigkeit der Klägerin trotz gegenteiliger Behauptungen mit der Folge einer Abwägungsfehleinschätzung nicht angemessen berücksichtigt wurde. Dies erhellt nicht zuletzt aus dem Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss, dass auch auf dem Universitätsgelände damit zu rechnen sei, dass andere Emittenten vorhanden seien oder hinzukämen und daher von vornherein nicht erwartet werden könne, dass keine elektromagnetischen Felder vorhanden seien oder hinzukämen (S. 51). Auch wenn die in den Universitätskliniken praktizierte „Verknüpfung von Forschung und angewandter Medizin“ eine gewisse Toleranz gegenüber alltäglichen Störquellen bedingen mag (S. 81), führt dies jedenfalls nicht dazu, dass die Auswirkungen des Planvorhabens nicht mehr abwägungserheblich wären. Inwiefern es schließlich ungeachtet dessen, dass die Variante „Mittellage“ verworfen wurde, vorhabenbedingt zu einer erheblichen Verminderung des bisherigen Aufkommens an Individual- und Omnibusverkehr und damit verbundener Störungen käme (S. 82), wird im Änderungsplanfeststellungsbeschluss auch nicht annähernd nachvollziehbar aufgezeigt.
106 
c) Den in der mündlichen Verhandlung gestellten unbedingten Beweisanträgen ist - ganz überwiegend mangels Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen - nicht nachzugehen.
107 
Der Beklagte und die Beigeladene übersehen mit ihren Beweisangeboten bereits, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Planfeststellungsbehörde ist, die für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten. Insofern kann ein von der Planfeststellungsbehörde zu verantwortendes grundlegendes Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, an dem die „Abwägung“ im angegriffenen Planfeststellungsbeschluss leidet, insbesondere nicht durch gerichtlichen Sachverständigenbeweis ausgeglichen und damit gleichsam „geheilt“ werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.1988 - 4 C 32.86, 4 C 33.86 -, Buchholz 407.56 NStrG Nr. 2; Urt. v. 22.10.1987 - 7 C 4.85 -, BVerwGE 78, 177; Senatsurt. v. 15.11.1994 - 5 S 1602/93 -, ESVGH 45, 109). Demzufolge brauchte den auf eine solche Beweiserhebung gerichteten Anträgen des Beklagten und der Beigeladenen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachgegangen zu werden. Sie zielen auf die erstmalige Klärung von Sachverhalten, die zwar für eine sachgerechte Abwägung der Planfeststellungsbehörde von Bedeutung gewesen sind, von dieser jedoch - aufgrund ihres falschen Prüfungsmaßstabs - so bislang gar nicht festgestellt und ihrer Entscheidung daher auch nicht zugrunde gelegt worden sind. Dass damit teilweise einzelne Annahmen der Gutachter der Vorhabenträgerin - durch „Sachverständigenkontrollgutachten“ - verifiziert werden sollen, ändert nichts. Denn diese Annahmen hat sich die Planfeststellungsbehörde aufgrund ihrer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung nicht zu eigen gemacht.
108 
Im Übrigen sind die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit die Beweisanträge nicht schon auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet sind, auch deshalb nicht entscheidungserheblich, weil entsprechende Beweisergebnisse an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten. Insbesondere verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens auf schutzwürdige Belange der Klägerin. Tatsächlich ist die Planfeststellungsbehörde auch nur einer möglichen Beeinflussung vorhandener Geräte an ihren derzeitigen Standorten - bei Unterstellung bestimmter, von der Klägerin freilich teilweise in Frage gestellter Grenzwerte - nachgegangen. Zukünftige Entwicklungen konkret zu berücksichtigen, hielt sie demgegenüber für unmöglich, da die künftig anzuschaffenden Geräte ja nicht bekannt seien (a.a.O., S. 49). Dennoch ging sie ohne weiteres und ohne dies ansatzweise zu begründen davon aus, dass der Klägerin noch genügend Entwicklungsflächen verblieben (a.a.O., S. 49). Dabei wären gerade die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer Fortführung der bisher ausgeübten Forschungstätigkeit infolge neuer (noch empfindlicherer) Gerätegenerationen und damit möglicherweise einhergehender höherer Anforderungen an den Aufstellort bei der Planung einer Straßenbahntrasse durch das Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ zu berücksichtigen gewesen. Denn ohne Berücksichtigung künftiger - wenn auch noch nicht konkret absehbarer - technischer Entwicklungen ist Forschung kaum vorstellbar. Davon, dass die oben festgestellten Abwägungsfehler unbeachtlich geworden wären, weil die Belange der Klägerin tatsächlich nicht (mehr) abwägungserheblich gewesen wären, kann danach nicht die Rede sein.
109 
Dazu, dass die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit sie nicht schon ohne jede tatsächliche Grundlage behauptet worden sind, an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten und insofern nicht entscheidungserheblich waren, bleibt hinsichtlich der einzelnen Beweisanträge noch das Folgende auszuführen:
110 
Soweit der Beklagte durch Einnahme eines Augenscheins eine „erhebliche Bautätigkeit“ innerhalb des Neuenheimer Felds festgestellt wissen will (Nr. 1), ist nicht ersichtlich, inwiefern damit verbundene - typischerweise vorübergehende - Beeinträchtigungen - dazu führten, dass der Belang der Klägerin, von d a u e r h a f t e n nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens verschont zu bleiben, nicht mehr abwägungserheblich gewesen wäre, sodass letztere von der Planfeststellungsbehörde nicht mehr näher zu ermitteln und zu bewerten gewesen wären.
111 
Inwiefern die ebenfalls durch eine Inaugenscheinnahme unter Beweis gestellte „erhebliche Beeinträchtigung des Verkehrsflusses in „Stoßzeiten“ (Nr. 2) die unterbliebene, jedoch gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit einer aktuellen V e r k e h r s p r o g n o s e durch die Planfeststellungsbehörde erübrigte, ist ebenso wenig zu erkennen.
112 
Auch die vom Beklagte beantragten „Sachverständigenkontrollgutachten“ über die fachliche und sachliche Richtigkeit „der“ Gutachten von Prof. Dr. V. und von Dr. Lenz beantragt hat Nr. 3 u. 16) machten die unterbliebene, indes gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den sachverständigen Annahmen der Gutachter durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
113 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache beantragt hat, dass die im Neuenheimer Feld eingesetzten Busse elektromagnetische Auswirkungen bis zu 200 nT erzeugen könnten (Nr. 3), erübrigten solche nicht eine genaue Ermittlung und Bewertung der für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde.
114 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten über die von den im Neuenheimer Feld eingesetzten Kräne ausgehenden elektromagnetischen Auswirkungen beantragt hat (Nr. 5), welches erweisen solle, dass diese kritischer als eine vorbeifahrende Straßenbahn seien, machten auch solche - vorübergehende - Auswirkungen eine genaue Ermittlung und Bewertung der d a u e r h a f t e n für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
115 
Ähnlich verhält es sich, soweit der Beklagte durch Zeugenbeweis geklärt wissen will, dass „tagtäglich elektromagnetisch und erschütterungstechnisch sensible Geräte neben Straßenbahnen aufgestellt und betrieben“ würden (Nr. 7), bestimmte optische Geräte eines Herstellers auch bei einer regulären Straßenbahn im Abstand von 5 Metern unter aktiver Kompensation funktionsfähig seien (Nr. 8) und bestimmte Geräte eines anderen Herstellers im Abstand von 40 m zu einer regulären Straßenbahn betrieben werden könnten (Nr. 11). Denn der Umstand, dass ganz bestimmte Forschungsgeräte, zu denen die Zeugen Angaben machen könnten, irgendwo in bestimmten Abständen zur Straßenbahn tatsächlich aufgestellt und - irgendwie, nach ganz bestimmten Maßgaben - betrieben werden können, änderte nichts daran, dass eine sachgerechte, auch künftige Entwicklungen berücksichtigende Abwägung die Ermittlung voraussetzte, inwieweit sich die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin nutzbaren Flächen durch die von dem Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen künftig verschlechtern werden.
116 
Letztlich dasselbe gilt für die vom Beklagten unter Zeugenbeweis gestellte Tatsache (Nr. 12), dass eine passive Kompensation insbesondere bei Elektronenmikroskopen möglich und wirkungsvoll sei und aktive mit passiven Schutzmaßnahmen kombinierbar seien. Denn für eine sachgerechte Abwägung der Belange der Klägerin genügte nicht die Klärung, ob Schutzmaßnahmen - mit welchem Aufwand auch immer - möglich sind, vielmehr setzte eine solche Ermittlungen voraus, inwieweit sich die Forschungsbedingungen auf den dafür nach dem Bebauungsplan vorgesehenen Flächen verschlechterten. Hierbei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin aufgezeigten Grenzen und nicht ohne weiteres hinzunehmenden abwägungserheblichen Nachteilen solcher Schutzmaßnahmen auseinanderzusetzen.
117 
Für die Beweisanträge der Beigeladenen gilt letztlich nichts anderes:
118 
Soweit die Beigeladene durch Sachverständigengutachten geklärt wissen will, dass durch das planfestgestellte Vorhaben außerhalb der im Lageplan festgestellten roten und grünen Bereiche keine magnetischen Felder mit einer Feldstärke über 50 nT erzeugt würden (Nr. 1), würde dies die unterbliebene, jedoch gebotene Auseinandersetzung mit den entsprechenden - im Planfeststellungsbeschluss lediglich referierten - Annahmen des Gutachters und den von der Klägerin geltend gemachten weitergehenden Anforderungen - teilweise 20 nT - nicht erübrigen.
119 
Soweit sie durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt hat (Nr. 2 u. 3), dass innerhalb der grün dargestellten Bereiche EMV-empfindliche Geräte mit aktiver Kompensation nach einer Einzelfallprüfung und auch in den roten Bereichen nach einer Einzelfallprüfung aufgestellt werden könnten, ist ihr entgegenzuhalten, dass es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf ankam, ob Geräte derzeit - mit welchem Aufwand auch immer - in Trassennähe aufgestellt werden können, sondern inwieweit sich durch das Vorhaben die Bedingungen für die Spitzenforschung auf den hierfür vorgesehenen Flächen verschlechterten. Dabei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin geltend gemachten - abwägungserheblichen - Unzuträglichkeiten auseinanderzusetzen gehabt.
120 
Ähnlich verhält es sich bei dem von ihr beantragten Sachverständigen- bzw. Zeugenbeweis, mit dem sie unter Beweis gestellt hat, dass die Klägerin in den im Lageplan rot, grün und blau dargestellten Bereichen bereits heute EMV-empfindliche Geräte betreibe (Nr. 4). Auch hier kam es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf an, ob derzeit in diesen Bereichen störungsempfindliche Geräte aufgestellt sind und - irgendwie - betrieben werden, sondern darauf, inwieweit sich durch die vom Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin insgesamt nutzbaren Flächen künftig verschlechtern werden. Auch hier verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin.
121 
Soweit die Beigeladene die Einholung amtlicher Auskünfte beim Universitätsbauamt und beim Baurechtsamt der Stadt Heidelberg zum Beweis der Tatsache beantragt hat (Nr. 5), dass keine konkreten Planungen der Klägerin für den Einsatz solcher Geräte im Einwirkungsbereich des Vorhabens vorlägen, welche auch bei aktiver Kompensation nicht betrieben werden könnten, ist ihr bereits entgegenzuhalten, dass es für die Aufstellung von Geräten nicht ohne weiteres eines baurechtlichen Verfahrens bedarf. Schließlich war eine etwaige Verschlechterung der künftigen Standortbedingungen unabhängig davon abwägungserheblich, ob die Klägerin bereits konkrete Planungen für den Einsatz weiterer empfindlicher Geräte verfolgt hat.
122 
Soweit die Beigeladene noch unter Sachverständigenbeweis gestellt hat, dass es für die erschütterungsempfindlichen Geräte - auch hinsichtlich der Nano-D-Anforderungen - planbedingt zu keiner Verschlechterung komme (Nr. 6), kam es tatsächlich nicht nur auf eine Verschlechterung für die bereits derzeit betriebenen Geräte an. Soweit darüber hinaus unter Beweis gestellt wird, es werde noch nicht einmal die bestehende Vorbelastung erhöht, ist dies auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet. Denn für ihre Behauptung fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.07.2010 - 4 BN 25.10 -). Denn konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich für alle für eine Aufstellung solcher Geräte in Betracht kommenden Flächen die (zu berücksichtigende) Vorbelastung planbedingt nicht erhöhte, liegen nicht vor; solche lassen sich insbesondere auch dem Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht entnehmen.
123 
4. Nach alldem liegen nach wie vor offensichtliche Mängel der Abwägung vor, die - wie ausgeführt - bereits auf die Variantenwahl und damit jedenfalls auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind und auch nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden könnten (vgl. § 29 Abs. 8 PBefG).
124 
Im ergänzenden Verfahren heilbar sind alle Fehler bei der Abwägung, bei denen die Möglichkeit besteht, dass die Planfeststellungsbehörde nach erneuter Abwägung an der getroffenen Entscheidung festhält und hierzu im Rahmen ihres planerischen Ermessens auch berechtigt ist, bei denen sie also nicht von vornherein darauf verwiesen ist, den Planfeststellungsbeschluss aufzuheben oder zu ändern. Hierzu können auch Mängel bei der Variantenprüfung oder Fehler gehören, die darauf beruhen, dass die planende Behörde durch Abwägung nicht überwindbare Schranken des strikten Rechts verletzt hat. Im ergänzenden Verfahren nicht behoben werden können dagegen Mängel bei der Abwägung, die von solcher Art und Schwere sind, dass sie die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008 - 9 B 28.08 -, Buchholz 406.25 § 50 BImSchG Nr. 6; Urt. v. 01.04.2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <283 f.>; Urt. v. 17.05.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254 <268> u. v. 12.12.1996 - 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358 <365>). Die Unzulässigkeit eines ergänzenden Verfahrens hängt danach zwar nicht allein von der "Bedeutung und großen Zahl fehlgewichteter Belange" ab. Vielmehr muss von vornherein ausgeschlossen sein, dass die Planfeststellungsbehörde diese Mängel unter Aufrechterhaltung ihres Planfeststellungsbeschlusses beheben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008, a.a.O.).
125 
Dies ist hier der Fall. Denn der Planfeststellungsbeschluss leidet an schwerwiegenden Abwägungsmängeln, die schon aufgrund der bei der Variantenprüfung unterlaufenen Fehler und des nahezu vollständigen Abwägungsausfalls oder doch umfassenden Abwägungsdefizits die Planung als Ganzes in Frage stellen. Hinzukommt, dass der Planung einer Straßenbahn durch das (Sonder-)Gebiet „Universität“ derzeit ohnehin der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg entgegensteht, woran sich bei realistischer Betrachtung auch in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Zwar wird die Anwendung des § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass die Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren von zusätzlichen Entscheidungen anderer Organe abhinge (vgl. BVerwG, Urt. 24.11.2010 - 9 A 13.09 -,BVerwGE 138, 226 zur Anpassung eines Flächennutzungsplans; Urt. v. 01.04.2004, a.a.O.). Dies kann freilich nicht gelten, wenn zunächst in einem umfangreichen und zeitaufwändigen Verfahren ein dem Vorhaben entgegenstehender Bebauungsplan in seinen Grundzügen geändert werden müsste, dessen Einleitung und Ergebnis sich auch nicht entfernt absehen lässt. Doch selbst dann, wenn eine Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren auch in einem solchen Fall möglich wäre, käme hier eine Planerhaltung nicht mehr in Betracht. Denn die Planung einer Straßenbahn durch ein (jedenfalls vorhandenes) Universitätsgebiet setzte im Hinblick auf die von dem Vorhaben ausgehenden, einer weiteren Forschungstätigkeit abträglichen Auswirkungen eine sorgfältige Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Belang der Forschungsfreiheit der Universität voraus, die hier - nicht zuletzt aufgrund eines falschen Prüfungsmaßstabs und eines dadurch bedingten nahezu umfassenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizits - nunmehr bezogen auf eine neue Sach- und Rechtslage - erstmals getroffen werden müsste. Zu diesem Zwecke müsste der Planfeststellungsbeschluss zumindest in seinem Begründungsteil gänzlich neugefasst werden, sodass von einer „Aufrechterhaltung“ der ursprünglichen Entscheidung selbst dann nicht mehr gesprochen werden könnte, wenn letzten Endes wieder dieselbe Variante planfestgestellt würde. Hinzukommt, dass die Planunterlagen bislang weder eine nachvollziehbare Variantenuntersuchung noch eine nachvollziehbare Bedarfsprognose enthalten. Ohne entsprechende nachvollziehbare - und aktualisierte - Planunterlagen ist eine sachgerechte Abwägungsentscheidung jedoch nicht möglich. Insofern müsste das Planfeststellungsverfahren zumindest ab dem Anhörungsverfahren wiederholt werden. Sinn und Zweck der Planerhaltungsvorschriften ist jedoch die Vermeidung eines erneuten, umfangreichen und zeitaufwändigen Planfeststellungsverfahrens (vgl. Deutsch, in Mann/Senne-kamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 75 Rn. 121). Dies ist jedoch von vornherein nicht erreichbar, wenn nicht nur punktuelle Nachbesserungen einer ansonsten intakten Gesamtplanung in Rede stehen, sondern - nach einem umfangreichen und zeitaufwendigen Bebauungsplanverfahren - erstmals umfassend neu abzuwägen ist. Die in einem solchen Fall gebotene umfassende Ergebnisoffenheit lässt sich auch nur in einem neuen Planfeststellungsverfahren gewährleisten (vgl. hierzu Deutsch, a.a.O., § 75 Rn. 123).
126 
Ist damit der - auch nicht hinsichtlich einzelner Streckenabschnitte teilbare - Planfeststellungsbeschluss bereits nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 PBefG in vollem Umfang aufzuheben, kann dahinstehen, ob sich auch aus § 4 Abs. 3 u. 1 UmwRG ein Aufhebungsanspruch ergäbe.
127 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 u. 3, 159 Satz 1 VwGO. Der Senat sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, sie für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
128 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
129 
Beschluss vom 10. Mai 2016
130 
Der Streitwert wird endgültig auf 60.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 34.2.2 u. 34.3 des Streitwertkatalogs 2013; hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 18.12.2014 - 5 S 1444/14 -).
131 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
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b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am ...1995 in Damaskus geborene, ledige Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ eigenen Angaben zufolge im November 2014 sein Heimatland und reiste am 26.07.2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 26.08.2015 einen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge händigte ihm im Verwaltungsverfahren einen Fragebogen aus, um ihm die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [sein] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen dieses Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger beantwortete in der Folge die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.03.2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus Dahiyat Qudsaya, Damaskus, und habe in Syrien als Koch gearbeitet. Fragen nach der Ableistung von Wehrdienst, einer Tätigkeit für die Sicherheitsbehörden oder die Polizei, der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung oder in einer politischen Organisation verneinte er ebenso wie die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von Kriegsverbrechen, Übergriffen auf die Zivilbevölkerung o.ä. geworden sei. Ihm sei nichts passiert; er habe befürchtet, zum Militär zu müssen, habe aber auch eine bessere Zukunft gewollt und sei deshalb nach Deutschland gereist. Ferner legte der Kläger dem Bundesamt sein syrisches Abiturzeugnis nebst Übersetzung vor sowie einen am 11.11.2015 ausgestellten Auszug aus dem Zivilregister für Personenstandsangelegenheiten. Einem entsprechenden Aktenvermerk vom 01.03.2016 zufolge hält das Bundesamt den Kläger „zweifelsohne“ für einen Syrer.
Mit Bescheid vom 09.03.2016, zugestellt am 31.03.2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung habe er nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich allein auf die allgemeine Gefährdung durch den Krieg in seinem Heimatland berufen. Aus seinem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.
Der Kläger hat am 08.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, es liege ein objektiver Nachfluchtgrund vor, weil davon auszugehen sei, dass das syrische Regime jeden syrischen Staatsangehörigen, der das Land verlasse bzw. fliehe, als potenziellen Regimegegner betrachte. Hinzu komme, dass der Kläger auch als „fahnenflüchtig“ oder als Deserteur betrachtet werde. Im Übrigen sei den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Es sei schwer vorstellbar, dass die Familie des Klägers das Land aus „flüchtlingsrelevanten Gründen“ verlassen habe, ausgerechnet er selbst aber nicht.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, auch diejenigen der Eltern des Klägers (Gesch.-Z. ...), sowie seiner Brüder A. (Gesch.-Z. ...) und Mohamad A. (Gesch.-Z. ...). Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
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Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
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Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
90 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
93 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
95 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

30

und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
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„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
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In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
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Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
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http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
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Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
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b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
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aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
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Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
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bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
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Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
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Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
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cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
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Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
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Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
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cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
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„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
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Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

(2) Der Rechtsstreit darf dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor der Kammer mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.

(3) Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(4) In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet ein Mitglied der Kammer als Einzelrichter. Der Einzelrichter überträgt den Rechtsstreit auf die Kammer, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn er von der Rechtsprechung der Kammer abweichen will.

(5) Ein Richter auf Probe darf in den ersten sechs Monaten nach seiner Ernennung nicht Einzelrichter sein.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Asylberechtigten und Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt worden ist, wird die Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre. Ausländern, die die Voraussetzungen des § 25 Absatz 3 erfüllen, wird die Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr erteilt. Die Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 1 und Absatz 4b werden jeweils für ein Jahr, Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 3 jeweils für zwei Jahre erteilt und verlängert; in begründeten Einzelfällen ist eine längere Geltungsdauer zulässig.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.

(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1.
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
2.
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
2a.
Blaue Karte EU (§ 18b Absatz 2),
2b.
ICT-Karte (§ 19),
2c.
Mobiler-ICT-Karte (§ 19b),
3.
Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder
4.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).
Die für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Rechtsvorschriften werden auch auf die Blaue Karte EU, die ICT-Karte und die Mobiler-ICT-Karte angewandt, sofern durch Gesetz oder Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist.

(2) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. Juli 2006 - A 1 K 10388/05 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger, ein am xxx geborener angolanischer Staatsangehöriger bakongolesischer Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - (nunmehr § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) vorliegen.
Der Kläger reiste am 24.12.1990 gemeinsam mit seiner Ehefrau in das Bundesgebiet ein und beantragte mit ihr zunächst erfolglos die Anerkennung als Asylberechtigter (VG Stuttgart, Urteil v. 09.02.1993 - A 6 K 13516/92 - und VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.02.1995 - A 13 S 3176/94 -). Am 03.07.1995 beantragten beide erneut erfolglos ihre Anerkennung als Asylberechtigte in einem (ersten) Asylfolgeverfahren (VG Stuttgart, Urteil v. 24.09.1996 - A 14 K 15135/95 - und VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 18.02.1997 - A 13 S 3461/96). Auch ein weiterer Asylfolgeantrag vom 22.01.1998 wurde mit Bescheid vom 30.12.1998 durch das seinerzeitige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgelehnt. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und die Abschiebung nach Angola angedroht. Auf die von dem Kläger und seiner Ehefrau erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 23.03.2001 - A 9 K 10000/01 - unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 30.12.1998 die Beklagte zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und bei seiner Ehefrau ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG jeweils in Bezug auf Angola vorliegen. Zur Begründung der Klage hatte der Kläger dem Verwaltungsgericht mehrere Belege für eine exilpolitische Betätigung vorgelegt. Hinsichtlich seiner Klage hat das Verwaltungsgericht ausgeführt:
„Die Funktion des Klägers zu 1 als Informationssekretär der in den angolanischen Bürgerkrieg verwickelten UNITA in Verbindung mit seinen vielfältigen exilpolitischen Aktivitäten an verantwortlicher Stelle, auch etwa beim AK Asyl, führt dazu, dass dem Kläger zu 1 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola politische Verfolgung droht. Es handelt sich dabei zwar um selbstgeschaffene Nachfluchtgründe, die gemäß § 28 Satz 1 AsylVfG nicht zur Asylberechtigung nach Art. 16 a Abs. 1 GG führen können, da sie - nach Auffassung des Gerichts - nicht den Ausdruck einer festen, bereits in Angola erkennbar betätigten Überzeugung darstellen. Denn der Kläger zu 1 ist nach den rechtskräftigen Feststellungen des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 22.02.1995 (A 13 S 3176/94) aus Angola weder vorverfolgt noch aufgrund einer latenten Gefährdungslage ausgereist. Sein Vorbringen bezüglich konkreter politischer Aktivitäten in Angola wurde als widersprüchlich und nicht glaubhaft eingestuft. Selbst wenn der Kläger zu 1 in Angola als Anhänger der tocoistischen Kirche eine UNITA-freundliche Überzeugung gehabt haben sollte, so wurde diese jedenfalls nicht i.S.d. § 28 S. 1 AsylVfG „erkennbar betätigt" (vgl. BVerwG - 9 C 42.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 75).
Beim Kläger zu 1 liegen jedoch wegen der genannten Umstände die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor („kleines Asyl"). Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine solche Abschiebungseinschränkung kommt in Betracht, wenn dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Dieser Prognosemaßstab gilt für unverfolgt aus ihrem Heimatstaat ausgereiste Schutzsuchende im Abschiebungsschutz des § 51 Abs. 1 AuslG ebenso wie im Asylanerkennungsverfahren. Er setzt voraus, dass bei „qualifizierender" Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist nicht eine mathematisch-statistische Wahrscheinlichkeitssicht, sondern eine wertende Betrachtungsweise, die auch die Schwere des befürchteten Verfolgungseingriffs berücksichtigt. Je gravierender die möglichen Rechtsgutverletzungen sind, desto weniger kann es dem Betroffenen zugemutet werden, sich der Verfolgungsgefahr auszusetzen.
Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger zu 1 bei qualifizierender Betrachtungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Angola politische Verfolgung. Die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers zu 1 waren und sind gezielt gegen die angolanische Regierung gerichteten. Sie sind öffentlichkeitswirksam und von Gewicht. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese nunmehr seit einigen Jahren andauernden Aktivitäten pro UNITA den angolanischen Sicherheitsbehörden bekannt geworden sind und von ihnen als ernst zu nehmender Versuch gewertet werden, das Regime in der Öffentlichkeit zu diskreditieren oder zu schwächen. Denn nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes im - zum Gegenstand des Verfahrens gemachten - Lagebericht vom 15.11.2000 achtet die angolanische Regierung bei den im Ausland agierenden UNITA-Vertretern insbesondere auf Führungspersönlichkeiten. Bei UNITA-Zugehörigkeit sei mit staatlichen Repressalien zu rechnen, insbesondere, wenn sich diese Zugehörigkeit - wie bei dem Kläger zu 1 - in nachgewiesenen, langjährigen und gewichtigen Aktivitäten manifestiert hat. Selbst wenn der Kläger zu 1 in Angola wegen dieser Aktivitäten im Ergebnis, entgegen seiner weiterreichenden Befürchtungen, „nur" mit Freiheitsentziehung zu rechnen hätte, würde dies für § 51 Abs. 1 AuslG ausreichen. Nach den Schilderungen des Lageberichts ist der angolanische Strafvollzug im Übrigen selbst für afrikanische Verhältnisse extrem hart. Die dort herrschenden Zustände bedeuten eine außergewöhnliche Verschärfung jeder Freiheitsstrafe, die vielfach als unmenschlich und lebensbedrohend qualifiziert werden muss. Weder die Ernährung noch die medizinische Versorgung noch die Unterbringung in den Gefängnissen erfüllten im entferntesten Minimalbedingungen.
Nach Einschätzung des Gerichts drohen dem Kläger zu 1 in Angola mithin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest unmenschliche oder erniedrigende Maßnahmen durch die angolanischen Sicherheitsbehörden. Bei einer Abschiebung nach Angola könnte sich der Kläger zu 1 zudem den Sicherheitsbehörden praktisch kaum entziehen. Denn nach den Informationen des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 15.11.2000 führt der einzig mögliche Abschiebeweg nach Angola über den internationalen Flughafen von Luanda; wegen der schlechten Sicherheitslage sei eine Weiterreise in die von der UNITA kontrollierten Gebiete kaum möglich.“
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge kam den Verpflichtungen des Verwaltungsgerichts mit Bescheiden vom 15.05.2001 nach.
Hinsichtlich der in den Jahren 1992, 1994 und 1998 geborenen Kinder des Klägers und seiner Ehefrau stellte das Bundesamt mit Bescheiden vom 03.08.1998 und 30.04.2001 auf eine entsprechende Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht Stuttgart hin fest, dass bei ihnen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG in Bezug auf Angola vorliegen.
Mit Verfügung vom 08.11.2004 leitete das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Widerrufsverfahren gemäß § 73 AsylVfG gegen den Kläger und seine Familie ein. Mit Anhörungsschreiben vom 11.11.2004 vertrat das Bundesamt die Auffassung, mit Abschluss des Waffenstillstandsabkommens zwischen der Regierung und den UNITA-Rebellen vom 04.04.2002, das de facto als Friedensvertrag wirke, könnten Verfolgungsmaßnahmen des angolanischen Staates nunmehr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
10 
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers wandte sich hiergegen mit Schreiben vom 13.12.2004.
11 
Mit Bescheid vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223) widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 15.05.2001 erfolgte Feststellung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Ferner stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der seinerzeitigen Fassung noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung führte es u.a. aus, ein Widerruf erfordere bei erlittener Vorverfolgung hinreichende Sicherheit vor einer Wiederholung der Verfolgung. Sei der Ausländer von konkreten Verfolgungsmaßnahmen bedroht gewesen, sei der Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen nach dem herabgeminderten Prognosemaßstab zu beurteilen. Vor dem Hintergrund des seit der Beendigung des Bürgerkriegs in Angola neuen Verhältnisses zwischen der Regierung und der größten Oppositionspartei UNITA bestehe keine Gefährdung angolanischer Staatsangehöriger aufgrund von exilpolitischen Tätigkeiten für die UNITA in der Bundesrepublik Deutschland. Ein gegenteiliger Schluss könne auch nicht aus der konkret angeführten Teilnahme des Klägers an der gegen die Ausländerpolitik der Bundesrepublik und nicht gegen den angolanischen Staat gerichteten Aktion „Solidarität statt Abschiebung“ des Arbeitskreises Asyl in xxx am 04.12.2004 gezogen werden. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe gemäß § 73 Abs.1 S. 3 AsylVfG, aus denen der Ausländer die Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ablehnen könne, seien nicht ersichtlich. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1 und § 60 Abs. 2-7 AufenthG lägen nicht vor.
12 
Mit weiterem Bescheid vom 10.02.2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheiden vom 03.08.1998, 30.04.2001 und 15.05.2001 erfolgten Feststellungen, dass bei der Ehefrau des Klägers und seinen Kindern jeweils ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG gegeben ist. Außerdem wurde festgestellt, dass bei diesen weder die Voraussetzung des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen.
13 
Am 23.02.2005 haben der Kläger, seine Ehefrau und die Kinder beim Verwaltungsgericht Stuttgart Anfechtungsklagen gegen die Bescheide des Bundesamtes vom 10.02.2005 erhoben und hilfsweise beantragt, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung hat der Kläger für sich im Wesentlichen vorgetragen, er sei Informationssekretär und herausgehobenes Mitglied des UNITA-Komitees xxx und setze sich, den Zielen des Komitees entsprechend, für eine Autonomielösung für das angolanische Bekongo-Gebiet ein. Die UNITA werde in Angola durch die MPLA verfolgt, auch sei sein Name dem angolanischen Geheimdienst bekannt. Außerdem sei er Mitglied des Arbeitskreises Asyl xxx, in dem er sich für die Rechte angolanischer und sonstiger Asylbewerber einsetze. Er nehme dort an Veranstaltungen und Aktionen teil, halte wegen des UNITA-Verbots aber keine Reden mehr. Auch habe er in der Vergangenheit die angolanische Regierung kritisierende Artikel in den Zeitungen „Flash Flash“ und „Eveil“ veröffentlicht. Hinzu komme, dass seine Familie und er aufgrund des langen Aufenthalts in Deutschland und der damit verbundenen fehlenden Anpassung an die angolanischen Lebensverhältnisse sowohl sozial als auch gesundheitsmäßig nicht, jedenfalls nicht würdig, überleben könnten. Ob noch Verwandte in Angola leben würden, sei ihm unbekannt, jedenfalls gebe es mit den in Frage kommenden Personen ohnehin persönliche Probleme.
14 
Mit Urteil vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 - hat das Verwaltungsgericht Stuttgart - neben den Klagen seiner Ehefrau und seiner Kinder - auch die Klage des Klägers abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung sei zu Recht erfolgt, da sich die innenpolitischen und sonstigen Verhältnisse in Angola nach dem maßgeblichen Zeitpunkt erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Angola keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG mehr drohe. Eine politische Verfolgung des unverfolgt ausgereisten Klägers in Angola wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit könne, selbst wenn diese Tätigkeit in Angola bekannt wäre, mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Mit staatlichen Repressionen müssten lediglich Personen rechnen, die in besonders ausgeprägter Weise an Kampfhandlungen gegen das Regime teilgenommen hätten. Übergriffe auf UNITA-Angehörige seien nur vereinzelt bekannt geworden und bezögen sich auf Personen, die vor Ort in Kampfhandlungen verstrickt gewesen seien. Gegenüber exilpolitisch Tätigen seien keine Übergriffe bekannt, die Tätigkeit des Klägers sei im Übrigen keine exponierte politische Aktivität. Eine politische Verfolgung aus anderen Gründen drohe ebenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit, insbesondere auch nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo. Ferner lägen keine Gefahren aufgrund der allgemeinen angolanischen Sicherheits- und Versorgungslage vor, die gemäß § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG ein Absehen von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr rechtfertigten. Es bestehe auch kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG. Was § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG angehe, verleihe diese Vorschrift dem Ausländer dann keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots, wenn er sich auf Gefahren berufe, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er angehöre, allgemein ausgesetzt sei. So liege es hier etwa im Hinblick auf die Gefahr der Erkrankung an Malaria und Cholera in Angola.
15 
Gegen das dem Kläger am 21.09.2006 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz vom 05.10.2006 die Zulassung der Berufung beantragt.
16 
Mit Beschluss vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 -, dem Kläger zugestellt am 23.01.2008, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen und ihm Prozesskostenhilfe bewilligt. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, die Rechtssache habe grundlegende Bedeutung in Bezug auf die Frage, ob sich die Situation in Angola nach Ende des Bürgerkriegs im April 2002 so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert habe, dass Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Personen, die für die UNITA tätig gewesen seien, auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen seien.
17 
Unter dem 28.01.2008 hat der Kläger die Berufung begründet.
18 
Er trägt vor, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung der Rechtskraft des Urteils im Vorverfahren. Denn ein Widerruf der Asylanerkennung sei nur dann zulässig, wenn sich die im Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. Das Verwaltungsgericht habe aber unter Bezugnahme auf den Bundesamtsbescheid vom 10.02.2005 lediglich darauf abgehoben, ob dem Kläger politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Die Elemente „nicht nur vorübergehend“ und „hinreichende Sicherheit auf absehbare Zeit“ habe es ignoriert. Es verfehle auch die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien, wonach im Heimatstaat eine funktionierende Regierung, grundlegende Verwaltungsstrukturen und eine angemessene Infrastruktur gegeben sein müssten. Diese Voraussetzungen lägen in Angola nicht vor. Die die Vorverfolgung begründenden Machtstrukturen seien auch nach Beendigung der militärischen Kämpfe bestehen geblieben. Die MPLA als derzeit allein herrschende politische Kraft sei erheblich konsolidiert. Zwar könne gegenwärtig nicht mehr davon ausgegangen werden, dass UNITA-Aktivisten generell verfolgt würden. Dass dies nicht nur vorübergehend, sondern auf absehbare Zeit ausgeschlossen sei, könne aufgrund der faktischen Alleinherrschaft der MPLA jedoch derzeit mangels gewaltenteilender, rechtsstaatlicher, demokratischer und menschenrechtsbeachtender Strukturen nicht festgestellt werden. Als gegenwärtige Oppositionspartei sei die UNITA angesichts der Vorherrschaft der MPLA in einer Position der Schwäche. In den Provinzen habe es auf Distrikt- und Kommunalebene eine Reihe gewalttätiger Angriffe gegen UNITA-Delegationen und andere Parteien gegeben. Entgegen den Versicherungen von MPLA-Regierungsvertretern, diese „Exzesse von Individuen“ seien Sache der Polizei und Justiz, seien bislang keine Strafverfolgungsmaßnahmen bekannt geworden. Ungenügende Infrastruktur und Kommunikation, chronischer Mangel an qualifiziertem Personal und mangelnde Gewaltenteilung zeichneten das angolanische Justizsystem nach wie vor aus, weshalb Straflosigkeit und Selbstjustiz noch immer verbreitet seien. Dementsprechend seien auch Attentate auf oppositionelle Parlamentarier wie gegen den UNITA-Parlamentarier Vicente Tembo, der am 11.11.2004 von Unbekannten angeschossen worden sei, unaufgeklärt geblieben. Ungeachtet der Tatsache, dass es eine generelle politische Verfolgung von Mitgliedern der Opposition in Angola derzeit nicht gebe, könne doch ein politisch motiviertes asylrelevantes Vorgehen von Teilen der Sicherheitskräfte oder Angehörigen des MPLA-Machtapparats und/oder von den herrschenden Kräften angestacheltes und/oder jedenfalls nicht verhindertes Vorgehen Dritter gegen UNITA-Mitglieder derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Gegen solche Übergriffe sei auch kein Schutz durch staatliche Autorität zu erwarten. Zudem werde die angolanische Menschenrechtsorganisation AJPD von der Regierung bedroht. Es herrsche ein Klima der politischen Intoleranz und Angst. Auch die Wahlen am 05.09.2008 seien weder frei noch fair gewesen. Aus diesen Gründen könne die erneute Verfolgung des Klägers aufgrund seiner UNITA-Mitgliedschaft nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27.07.2006 - A 1 K 10388/05 -, soweit es ihn selbst betrifft, zu ändern, sowie die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989-223) aufzuheben.
21 
Die Beklagte tritt dem entgegen und macht geltend, der Bürgerkrieg in Angola sei beendet, sodass Angehörigen der UNITA keine Verfolgung mehr drohe. Dies gelte selbst für militante Kämpfer und hochrangige Mitglieder der Organisation. Es lägen für die vergangenen Jahre keine Hinweise auf asylrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen von Mitgliedern der UNITA im Gegensatz zu Aktivisten der Organisation FLEC, die für eine Unabhängigkeit der Provinz Cabinda eintrete, vor.
22 
Mit Beschluss vom 21.01.2010 - A 5 S 135/08 - hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Das Verfahren ist nach dem Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 02.03.2010 in den Rechtssachen C 175/08, C 176/08, C 178/08 und C 179/08 zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/83/EU des Rates vom 29.04.2004 (Qualifikationsrichtlinie) mit Schriftsatz des Beklagten vom 12.01.2011 wieder angerufen worden. Hiernach sei, so der Beklagte, bei der Prüfung eines Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft generell zu beachten, dass der der Prognose zu Grunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab selbst dann unverändert bleibe, wenn der Schutzsuchende bereits Vorverfolgung erlitten habe, weshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie im Einzelfall selbst dann widerlegt sein könne, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs gegeben sei. Die Rechtskraft des zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden verwaltungsrechtlichen Urteils könne dem nicht entgegenstehen. Es werde zudem auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - Bezug genommen. Sei mit dem Verwaltungsgericht mit dem Grad der hinreichenden Sicherheit eine Gefährdung des Klägers nach einer Rückkehr nach Angola auszuschließen, könne dies nur als stichhaltiger Grund im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie eingestuft werden. Denn bei festzustellender hinreichender Verfolgungssicherheit sei im Ergebnis dem Erfordernis stichhaltiger Gründe Genüge getan.
23 
Mit Schriftsatz vom 25.07.2012 ließ der Kläger mitteilen, er sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und bemühe sich um seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
24 
Mit Beschluss vom 17.12.2012 - A 5 S 148/11 - ist auf Antrag der Beteiligten erneut das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden.
25 
Unter dem 06.10.2014 hat der Beklagte das Verfahren wieder angerufen, nachdem sich kein positiver Abschluss des Einbürgerungsverfahrens des Klägers abgezeichnet hat. Das Verfahren wird seither unter dem Aktenzeichen A 12 S 1999/14 fortgeführt.
26 
Dem Senat liegen die Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu den Az. 2313865-223 und 5132989-223 sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart zu den Verfahren A 9 K 10000/01 und A 1 K 10388/05 vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 - zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist nicht begründet.
28 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989.223) - nur hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers - zu Recht abgewiesen. Denn der Kläger kann nicht die Aufhebung des Widerrufs der mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 15.05.2001 getroffenen Feststellung verlangen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen (vgl. nachfolgend unter 1.). Ihm kommt auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. §§ 3 bis 3e AsylG (jeweils i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722) zu (vgl. unter 2.).
29 
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 ist in seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht gegeben.
30 
a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben sind, hatte bei Entscheidungen über Asylanträge, die vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden sind, spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG a.F.), was vorliegend mit der Entscheidung des Bundesamtes vom 10.02.2005 beachtet worden ist.
31 
b) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist in materieller Hinsicht § 73 AsylG in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722. Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
32 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 S. 12; berichtigt ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24; nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mir Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren.
33 
Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
34 
Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-​175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt danach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O., m.w.N.).
35 
Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 84 ff., 98 f.; BVerwG, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 7.11- Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 43).
36 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn auch nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
37 
Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d. h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Eine Veränderung kann in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (BVerwG, Urteil v. 24.02.2011 - 10 C 3.11 - BVerwGE 139, 109). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991, a.a.O.), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.).
38 
Die Rechtskraft des zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils aus dem Jahr 2001 steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft,; vgl. BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.). Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
39 
Die Rechtskraftwirkung besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.). Allerdings entfalten fehlerhafte Urteile keine weitergehende Rechtskraftwirkung als fehlerfreie Urteile. Eine Lösung von der Rechtskraftwirkung eines Urteils, das das Bundesamt zur Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling verpflichtet hat, ist vielmehr immer dann möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat, unabhängig davon, ob das zur Anerkennung verpflichtende Urteil richtig oder fehlerhaft war.
40 
Die Voraussetzungen für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung entsprechen damit weitgehend denen, die für den Widerruf einer Anerkennungsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG gelten. Denn auch § 73 Abs. 1 AsylG setzt eine wesentliche Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse voraus. Für den Widerruf einer Behördenentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass es unerheblich ist, ob die Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht danach auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Nachhinein scheinbar nicht entfallen sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der Widerrufsbestimmung. Dies gilt erst recht für den Widerruf der auf einem Verpflichtungsurteil beruhenden Anerkennung, von deren Rechtmäßigkeit wegen der Rechtskraft des Urteils auch im Rahmen der Widerrufsprüfung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2011 - 10 C 29.10 - NVwZ 2012, 1042, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 8.11 - AuAS 2012, 153).
41 
Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - „wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt“ (Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des Flüchtlings ergeben (GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl. auch OVG Saarland, Urteil v. 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A - juris).
42 
Für den Widerruf der Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung ist schließlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015 - 1 C 2.15 - InfAuslR 2015, 401) entschieden, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil v. 31.01.2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE 146, 31). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asylverfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319; Beschluss v. 10.10.2011 - 10 B 24.11 - juris).
43 
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für den Kläger aus heutiger Sicht aufgrund der in Angola seit Mitte des Jahres 2002 eingetretenen veränderten Verhältnisse sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit von über 13 Jahren und des individuellen Vorbringens der Klägers nicht (mehr) mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass dieser bei einer unterstellten nunmehrigen Rückkehr nach Angola von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 23.03.2001 nach den o.g. Maßstäben rechtfertigt.
44 
Der insoweit anzustellenden Prognose ist zunächst die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2001 zu Grunde zu legen, wonach der in seiner Heimat nicht tatsächlich verfolgte und von politischer Verfolgung auch nicht unmittelbar bedroht gewesene Kläger seinerzeit in Deutschland als im Exil befindlicher Informationssekretär der UNITA aufgrund selbstgeschaffener Nachfluchtgründe in Angola zumindest mit seiner Inhaftierung zu rechnen hatte, was aufgrund der dortigen spezifischen Haftbedingungen zudem eine unmenschliche bzw. erniedrigende Maßnahme dargestellt hätte.
45 
Relevant ist vor diesem Hintergrund in erster Linie, ob sich die Verhältnisse in Angola seither derart nachhaltig und stabil geändert haben, dass seitens des angolanischen Staates entsprechende Maßnahmen „asylrelevanter Weise“ bei einer unterstellten jetzigen Rückkehr des Klägers nach Angola nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.03.2012, a.a.O.). Insbesondere ist daher von Bedeutung, ob es in Angola zu einer hinreichend erheblichen und dauerhaften Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/83/EG gekommen ist, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass für den Kläger keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht, er insbesondere nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat, der dargestellten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
46 
Die Veränderung der Verhältnisse muss danach kausal für den Wegfall der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung sein (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 04.08.2011 - A 2 S 1381/11- juris), wobei das Erfordernis der Veränderung der Verhältnisse in Widerrufsfällen gerade auch deshalb einer gesonderten Prüfung bedarf, um eine unzulässige Neubewertung der Gefährdungslage auf ein und derselben Tatsachengrundlage zu vermeiden.
47 
Nach der jüngeren Rechtsprechung (des 5. Senats) des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stellt sich Situation in Angola nach dem schon im Jahr 2002 beendeten, insbesondere zwischen der MPLA und der UNITA geführten Bürgerkrieg so dar, dass angolanischen Staatsangehörigen im Falle einer Rückkehr nach Angola weder wegen Stellung eines Asylantrags und eines Auslandsaufenthalts noch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo bzw. einer Nähe zur UNITA mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende menschenrechtswidrige Behandlung droht. Auch wenn es immer noch zu von den staatlichen Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen komme, habe sich die Menschenrechtlage zwischenzeitlich deutlich verbessert (Urt. v. 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - juris). In einem Verfahren, in welchem der dortige Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Angola Mitglied der UNITA gewesen ist und als tatsächlich verfolgt anzusehen war, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs - noch ohne Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 02.03.2010 (a.a.O.) - das Folgende ausgeführt (Urteil v. 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - juris):
48 
„Dem Kläger zu 1 droht zwar aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office, Operational Guidance Note v. 11. bzw. 29.07.2008, 3.8.8 „clearly unfounded“), doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend sicher. (…)
49 
Bei seiner Einschätzung geht der Senat (vgl. bereits Senatsurt. v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215f) aufgrund der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen von folgender Situation in Angola aus:
50 
Nachdem der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen der Rebellen-UNITA und der MPLA-Regierung im März 2002 sein Ende gefunden und die Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien am 04.04.2002 zu einem Waffenstillstandsabkommen mit einer Wiederaufnahme der Umsetzung des Lusaka-Protokolls vom November 1994 geführt hatten, gibt es seitdem in fast allen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen. Die UNITA wurde an der Regierung beteiligt und erhielt daneben auch führende Positionen in den Provinzen. Die Regierung hatte auch zugesagt, die Reorganisation der UNITA zur politischen Partei nicht zu behindern. Die beschlossene Demobilisierung der UNITA-Kämpfer konnte trotz Anlaufschwierigkeiten ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und am 30.07.2002 abgeschlossen werden; die demobilisierten Kämpfer erhielten Hilfen zur Integration in das zivile Leben bzw. wurden zu einem kleinen Teil (ca. 5.000) bis Oktober 2004 in die angolanischen Streitkräfte FAA integriert. Auch das bereits am 02.04.2002 vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz, das Straffreiheit für alle UNITA-Kombattanten vorsieht, die sich innerhalb von 45 Tagen ergeben und ihre soziale Integration in die Gesellschaft akzeptiert haben, wurde umgesetzt. Diese Bestimmungen werden auch auf Personen angewandt, die erst jetzt aus dem Ausland zurückkehren. Ob davon auch lediglich politisch tätige Anhänger der UNITA profitieren konnten, ist allerdings nicht bekannt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002). Am 05.09.2008 haben nunmehr auch die seit 1992 ersten Parlamentswahlen stattgefunden, die zuletzt mehrfach vertagt worden waren. An diesen konnte sich auch die UNITA beteiligen, die sich inzwischen zu einer ihre verschiedenen Fraktionen wieder vereinigenden politischen Partei entwickelt hatte. Auch wenn sich politische Parteien seit 2002 grundsätz-lich betätigen können, kann von für alle Parteien gleichen Voraussetzungen nicht die Rede sein. Abgesehen davon, dass die staatlichen Medienanstalten zugunsten der MPLA eingesetzt wurden (vgl. FAS v. 08.09.2008 „Die bösen Jahre sind noch nicht vorbei“) und für die Oppositionsparteien außerhalb Luandas kein freier Zugang zu den elektronischen Medien bestand, wurde von staatlich finanzierten Wahlgeschenken (vgl. hierzu auch Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007) durch die MPLA und Einschüchterungen durch deren Sympathisanten gesprochen (vgl. British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006, S. 7; Refugee Documentation Centre (Ireland) vom 09.11.2009; FR v. 05.09.2008 „Das reichste arme Land der Welt wählt“). Die Wahl wurde von der Regierungspartei MPLA mit knapp 82 % der abgegebenen Stimmen gewonnen, während die UNITA nur etwas mehr als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der Gewährleistung rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit der Verteidigung sind zwar verfassungsrechtlich verankert, auch sind die bestehenden Gesetze an rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet, jedoch laufen entsprechende Rechte aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und korruptionsanfälligen Justizsystems weitgehend leer. Der Justizweg ist insofern allenfalls eingeschränkt gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab-schieberelevante Lage in der Republik Angola v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; Africa Yearbook 2006, Angola, S. 410, 2007). Ermittlungsbehörden und Gerichte sind überlastet, unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig. Straffreiheit für kriminelle Vergehen und Menschenrechtsverletzungen sind insofern keine Seltenheit (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 2; amnesty international, Jahresbericht Angola 2007).
51 
Staatliche Repressionsmaßnahmen, die systematisch gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer politischen Überzeugung eingesetzt werden, gibt es - insoweit ist dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu folgen - nicht mehr. Allerdings sind solche im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen, zumal der Schutz der Menschenrechte noch immer unzureichend ist und sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure weiterhin Menschenrechtsverletzungen begehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006; amnesty international, Report Angola 2008 und 2009, Jahresberichte Angola 2007; US Department of State, Human Rights Report vom 25.02.2009; Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009).
52 
Zwar müssen selbst ehemalige UNITA-Kämpfer in Angola grundsätzlich nicht mehr mit staatlichen Repressionen rechnen. So spielen hochrangige ehemalige UNITA-Militärführer inzwischen durchaus eine wichtige Rolle als Politiker bzw. sind in den angolanischen Streitkräften FAA weiterhin als solche tätig. Allerdings kam es Mitte Juli 2004 in vier Orten im Landesinnern zu Übergriffen der lokalen Bevölkerung auf ehemalige UNITA-Angehörige, die sich dort niederlassen wollten. Besonders schwer waren die Übergriffe in Cazombo in der Provinz Moxico, bei denen 80 Häuser zerstört worden sein sollen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Angola v. 05.11.2004 bzw. v. 18.04.2006), nachdem ein ehemaliger UNITA-General die Leitung des dortigen UNITA-Büros hatte übernehmen wollen. Zwar wurden entsprechende Übergriffe von Regierungsseite öffentlich kritisiert, doch gibt es verschiedene glaubhafte Berichte, wonach lokale MPLA-Vertreter in derartige Vorkommnisse involviert waren und die Polizei nicht zum Schutz der Opposition einschritt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007).
53 
Für UNITA-Angehörige, die sich in Angola für Dritte erkennbar politisch für die UNITA betätigen, besteht schließlich auch mehr als sieben Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch ein gewisses Risiko, erheblichen Repressionen seitens der Anhänger der Regierungspartei MPLA bzw. ihr zuzurechnenden Gruppierungen ausgesetzt zu sein. So beklagen die verschiedenen Oppositionsparteien – namentlich die UNITA – regelmäßig Akte „politischer Intoleranz“ hauptsächlich in den ländlichen Gebieten verschiedener Provinzen, wobei die Verantwortlichen regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen würden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free an Fair Elections, 12.08.2008; UK Border Agency, Operational Guidance Note Angola vom 01.06.2009). An dem tief verwurzelten Klima der Intoleranz wird sich aufgrund der weiteren Marginalisierung der Zivilgesellschaft und zivilen Oppositionsparteien voraussichtlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, da insofern das bestehende autoritäre politische System und die politische Bipolarität zwischen den Bürgerkriegsparteien MPLA und UNITA unangetastet bleiben dürfte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002).
54 
Bereits 2004 wurden von der UNITA zunehmend Fälle von Einschüchterung ihrer Funktionäre beklagt, die u. a. von Angehörigen einer MPLA-nahen Miliz ausgegangen sein sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 31.03.2005, S. 7; British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch wurde beklagt, dass zunehmend Erpressung und Druck ausgeübt werde, in die MPLA einzutreten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, S. 1; Africa Yearbook 2004, Angola, S. 388, 2005: Africa Yearbook 2005, S. 399, 2006). Wiederholt wurde 2003/2004 von Verfolgungen, Ein-schüchterungen und Gewalt gegen Funktionäre in verschiedenen Provinzen und Städten im Landesinneren berichtet (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch 2005 kam es zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Parteien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; British Home Office, Operational Guidance Note Angola,11. bzw. 29.07.2008). Im März 2005 sollen in der Stadt Mavinga eine Person gar getötet und 28 weitere Personen verletzt worden sein, als UNITA-Mitglieder ihre Parteiflagge zu hissen versuchten (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008; amnesty international, Jahresbericht Angola 2006). Die UNITA sprach von gezielter Aufhetzung der Bevölkerung durch die MPLA und die lokalen Behörden mit dem Ziel, die landesweite Errichtung oppositioneller Strukturen zu verhindern. Selbst Angolas Präsident dos Santos soll nach den Vorfällen Ende Februar und Mitte März die Besorgnis der UNITA als „legitim“ anerkannt haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 21.03.2005). 2006 berichteten UNITA und MPLA von wechselseitigen körperlichen Angriffen politischer bzw. militanter Aktivisten auf ihre Mitglieder (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Reports on Human Rights Practices - 2006 v. 06.03.2007, Section 3). Die UNITA sprach gar von 13 getöteten Parteimitgliedern (vgl. Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007). Auch 2007 berichteten die Oppositionsparteien von Belästigungen, Einschüchterungen und Körperverletzungen durch Anhänger der Regierungspartei (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Re-ports on Human Rights Practices - 2007 v. 11.03.2008, Section 3). Im März 2007 sollen Unbekannte (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola v. 11. bzw. 29.07.2008; U.S. Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices - 2007, a.a.O.), möglicherweise gar Polizisten (vgl. amnesty international, Report Angola 2008), in der Provinz Kwanza Norte während einer Sitzung im örtlichen Parteibüro auf den zu Besuch anwesenden Parteivorsitzenden der UNITA – Isaias Samakuva – geschossen haben, der dabei leicht verletzt wurde; über das Ergebnis der deswegen in Gang gesetzten Untersuchung ist - soweit ersichtlich - noch nichts bekannt. Mitglieder der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft berichteten auch 2007 von zunehmender „politischer Intoleranz“. Auch im unmittelbaren Vorfeld der für Herbst 2008 angesetzten Parlamentswahlen wurde von Fällen politischer Gewalt hauptsächlich in den ländlichen Gebieten berichtet. So seien am 02.03.2008 Mitglieder einer kommunalen UNITA-Delegation im Dorf Kafindua in der Provinz Benguela von einer Gruppe örtlicher MPLA-Aktivisten geschlagen worden, als sie ihre Parteiflagge hätten hissen wollen. Die Polizei habe die Angreifer zwar verhört, jedoch wieder laufen lassen; diese hätten anschließend erklärt, „die Polizei gehöre ihnen“. Traditionelle Autoritäten seien zunehmend dem Druck der MPLA ausgesetzt, Aktivitäten der UNITA in den verschiedenen Dörfern zu verhindern. Am 30.05.2008 habe eine Gruppe von MPLA-Anhängern den traditionellen Führer im Dorf Bongue Kandala in der Provinz Benguela sowie fünf UNITA-Mitglieder zusammengeschlagen, weil jener zuvor erlaubt hätte, die Parteifahne hochzuhalten (vgl. Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free and Fair Elections, 12.08.2008). Am 13.08.2008 sollen UNITA-Mitglieder während einer öffentlichen Versammlung in Kipeio in der Provinz Huambo von einer Gruppe mit Stöcken und Steinen angegriffen worden sein; eine Frau musste im Krankenhaus behandelt werden, die anderen erlitten weniger ernste Verletzungen. Die Polizei sei zwar eingeschritten, die Angreifer seien jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden. In der Provinz Benguela sollen UNITA-Mitglieder am 23.08.2008 gesteinigt worden sein. In Chico da Waiti sei eine 40-köpfige Delegation von UNITA-Mitglieder mit Steinen beworfen worden, wobei 8 Personen verletzt worden seien. Die Polizei habe die Delegation eskortiert, jedoch niemanden verhaftet. Der zuständige Gemeindeverwaltungsbeamte habe später erklärt, dass er lediglich die Sicherheit der Wahlbeobachter der UNITA, nicht aber für deren Wahlkampagne garantiere (vgl. Human Rights Watch, Angola: Irregula-rities Marred Historic Elections, 14.09.2008).
55 
Für 2009 sind den bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Erkenntnismitteln zwar keine entsprechenden Vorkommnisse im Zusammenhang mit der UNITA zu entnehmen, lediglich in Zusammenhang mit dem Vorgehen des Militärs gegen bewaffnete Rebellen der Liberation Front of the Enclave Cabinda (FLEC) in der Provinz Cabinda soll es in 2009 zu willkürlichen Verhaftungen gekommen sein (Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009). Es ist aber noch völlig offen, ob sich diese positive Entwicklung in der Zukunft verstetigt. Derzeit und auf absehbare Zeit kann deshalb nach wie vor nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Angola vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre.“
56 
Dem Kläger des zu entscheidenden Berufungsverfahrens, der im Gegensatz zu dem Kläger zu 1 jenes Verfahrens vor seiner Ausreise keine Verfolgung erlitten hat und der von einer solchen auch nicht unmittelbar bedroht gewesen ist, droht danach im Falle einer Rückkehr nach Angola politische Verfolgung jedenfalls nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v. 03.12.2009 - A 5 S 122/08 - juris, Urteil v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - InfAuslR 2009, 215, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1729/97 - juris, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1730/97 - juris).
57 
Diese Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der in das Berufungsverfahren eingeführten neueren Erkenntnisquellen für den gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht zu erhalten.
58 
So hat sich die Situation in Angola in den vergangenen Jahren weiter verstetigt, ohne dass es dabei zu besonderen Veränderungen mit einer Tendenz zum Besseren oder zum Schlechteren gekommen wäre. Von besonderer Bedeutung auch für den politischen Prozess der Aussöhnung zwischen den früheren Bürgerkriegsparteien waren die am 31.08.2012 abgehaltenen Parlamentswahlen, bei welchen die regierende MPLA zu Gunsten der Oppositionsparteien Stimmenverluste hinnehmen musste. Die UNITA als größte Oppositionspartei vermochte ihren Stimmenanteil auf 18,66 % auszubauen, obwohl sich von ihr zuvor die neue Oppositionspartei CASA-CE abgespalten hatte, die ihrerseits 6 % der Stimmen errang. Alle am Bürgerkrieg beteiligten Parteien unterstützen die Wiederaufbauphase, in der sich das Land nach wie vor befindet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.09.2009 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden).
59 
Hingegen ist die MPLA die führende und die Geschicke des Landes vorherrschend bestimmende Organisation geblieben, die letztlich alle anderen Parteien im Fokus hat und alle führenden Persönlichkeiten überwacht (Deutsche Botschaft Luanda, Auskunft vom 15.09.2011 an das Verwaltungsgericht Minden). In dieser Situation kommt es in Angola immer noch zu Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei, etwa durch den exzessiven Einsatz von Gewalt und staatlichem Mord. Nur wenige Beamte mussten sich hierfür bislang strafrechtlich verantworten. Es wurde über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen durch die Polizei berichtet, die ihre Funktionen zudem parteiisch ausübt, vor allem während einiger gegen die Regierung gerichteter Demonstrationen. Bei der Auflösung von Demonstrationen wurde zum Teil mit exzessiver Gewalt vorgegangen (Amnesty international, Report Angola 2010 und 2012).
60 
Insbesondere im Vorfeld der Wahlen von 2012 gab es Berichte über sporadische politisch motivierte Gewalttaten von Mitgliedern der MPLA, die sich gegen die UNITA und das Bündnis CASA-CE richteten. Den Berichten zufolge war aber auch die UNITA für vereinzelte gewaltsame Handlungen gegen die MPLA verantwortlich, die politisch motiviert waren (Amnesty international, Report Angola 2013).
61 
Am 23.11.2013 wurden in Luanda bei einer vom Innenministerium verbotenen Demonstration, zu der die UNITA aufgerufen hatte, 292 Personen festgenommen. Die Demonstration sollte an das ungeklärte Schicksal zweier Aktivisten erinnern, nachdem Informationen bekannt geworden waren, wonach die beiden im Mai 2012 durch staatliche Kräfte entführt, gefoltert und getötet worden sein sollen (BaMF-Briefing Notes vom 25.11.2013).
62 
Auch für das Jahr 2014 berichtet Amnesty International nach wie vor über - allerdings ausdrücklich nur sporadische - politisch motivierte Gewalttaten zwischen Mitgliedern der regierenden MPLA und solchen der UNITA. Friedliche Demonstrationen wurden mitunter von Polizei und Sicherheitskräften unter Anwendung von Gewalt unterbunden (Amnesty international, Report Angola 2015).
63 
Am 09.03.2014 störten Mitglieder der MPLA in der Provinz Kwanza Sul eine Gedenkveranstaltung der UNITA zu deren 48-jährigem Bestehen, wobei drei Provinzführer der UNITA während einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einzelnen Unterstützern der beiden Parteien getötet worden sein sollen. Öffentlich zugängliche Informationen über irgendwelche Verhaftungen oder Untersuchungen durch die Polizei wegen dieser Angelegenheit seien nicht erhältlich gewesen. Die Regierung unternahm gleichwohl generell einige Schritte zur Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs durch Beamte, welche indes nur schwer nachvollzogen werden können (US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2014).
64 
Auch auf der Basis der dem Senat im Übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen muss festgestellt werden, dass in Angola das geltende Verfassungsrecht und die gegebene Verfassungswirklichkeit nicht immer übereinstimmen, was sich vor allem in der Machtausübung der Sicherheitskräfte, der weitreichenden Korruption und einer Behinderung der Arbeit von Journalisten zeigt. Gelegentlich wird dieses Bild auch durch einzelne mitunter gewaltsame Machtdemonstrationen Angehöriger der MPLA gegenüber Anhängern der Oppositionsparteien bestätigt, ohne dass jedoch angenommen werden müsste, dass die Betätigung der Oppositionsparteien in Angola generell gefährlich ist bzw. eine solche gar staatlicherseits unterbunden wird (vgl. US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2011 und 2012; Refugee Documentation Centre Ireland v. 22.10.2009; UK Border Agency v. 01.09.2010; Freedom House Länderberichte 2010, 2011 und 2012).
65 
Zutreffend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in diesem Zusammenhang auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10.09.2015 zu Angola (2015/2839(RSP)) hingewiesen, welche vor dem Hintergrund insbesondere der Festnahme des angolanischen Menschenrechtsaktivisten José Marcos Mavungo am 14.03.2015 die angolanische Regierung u.a. dazu auffordert, Fällen von willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inhaftierung und Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte unverzüglich ein Ende zu setzen.
66 
Zusammenfassend lässt sich für den Senat festhalten, dass seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers und weitere 6 Jahre nach dem zitierten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - sich die Verhältnisse in Angola derart verstetigt haben, dass der Kläger nunmehr dort jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat.
67 
Diese Einschätzung beruht überdies auf der individuellen Situation des Klägers, der bereits seit Längerem nicht mehr als exilpolitischer Aktivist für die Sache der UNITA angesehen werden kann. So hat er im Rahmen des Widerrufsverfahrens nicht mehr von einer ins Gewicht fallenden Fortsetzung seiner Betätigung für die UNITA für die Zeit nach seiner Flüchtlingsanerkennung berichtet. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er gar eingeräumt, seit einem ihm gegenüber ausgesprochenen Verbot der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 nur noch „auf kleiner Flamme“ politisch tätig zu sein. Insoweit gebe es nichts weiter zu berichten. Der Kläger vermittelte dem Senat auch keineswegs den Eindruck, er werde nach einer Rückkehr nach Angola seine Aktivitäten für die UNITA wieder aufnehmen, weil er sich etwa hierzu aufgrund einer tiefen inneren Überzeugung verpflichtet fühle. Die damit anzunehmende zwischenzeitliche Veränderung auch in der Person des Klägers (vgl. dazu allgemein bereits oben) verdeutlichen dem Senat, dass dieser im Fall seiner nunmehrigen Rückkehr nach Angola auch nicht von einer im Jahr 2015 möglicherweise wieder etwas verschärfteren Situation für Regimegegner betroffen wäre.
68 
Anhaltspunkte für das Vorliegen von dem Kläger nicht geltend gemachter Anfechtungsgründe (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015, a.a.O.) lassen sich für den Senat im Übrigen nicht erkennen.
69 
Dass der Kläger schließlich - wie dies sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - aufgrund des verhängten Verbots der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 einem Flüchtling, dem die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu Gute kommt, gleichzustellen sei, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
70 
d) Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat schließlich auch nicht aufgrund der Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auszuscheiden. Denn der Kläger kann sich ersichtlich nicht auf zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen, um eine Rückkehr nach Angola abzulehnen.
71 
2. Aus dem Vorgenannten ergibt sich zugleich, dass der von dem Kläger angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 auch hinsichtlich seiner Nr. 2, wonach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vorliegen, rechtmäßig ist.
72 
Es kommt daher für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht darauf an, ob der von ihm gewählte isolierte Antrag auf Aufhebung der diesbezüglichen Entscheidung des Bundesamtes überhaupt sachdienlich ist.
73 
Gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722, darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (vgl. im Übrigen §§ 3 bis 3e AsylG).
74 
Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend von dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die Befürchtung von Repressionen im Zusammenhang mit seinem geltend gemachten exilpolitischen Verhalten in Betracht. Wie bereits ausgeführt, kann insoweit jedoch für den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, was in erster Linie darin begründet ist, dass der Kläger bereits seit Längerem so gut wie gar nicht mehr exilpolitisch tätig ist und er auch für den Fall seiner Rückkehr nach Angola in keiner Weise bekundet hat, sich dort zukünftig aktiv für die UNITA politisch betätigen zu wollen.
75 
Die Berufung des Klägers ist nach allem mit der sich aus § 154 Abs. 2 VwGO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
76 
Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
77 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Gründe

 
27 
Die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.01.2008 - A 5 S 1130/06 - zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist nicht begründet.
28 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 (Az. 5 132 989.223) - nur hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers - zu Recht abgewiesen. Denn der Kläger kann nicht die Aufhebung des Widerrufs der mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 15.05.2001 getroffenen Feststellung verlangen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen (vgl. nachfolgend unter 1.). Ihm kommt auch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. §§ 3 bis 3e AsylG (jeweils i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722) zu (vgl. unter 2.).
29 
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 ist in seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht gegeben.
30 
a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben sind, hatte bei Entscheidungen über Asylanträge, die vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden sind, spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a, Abs. 7 AsylVfG a.F.), was vorliegend mit der Entscheidung des Bundesamtes vom 10.02.2005 beachtet worden ist.
31 
b) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist in materieller Hinsicht § 73 AsylG in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722. Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
32 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 S. 12; berichtigt ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24; nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mir Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren.
33 
Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
34 
Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-​175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt danach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O., m.w.N.).
35 
Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O., Rn. 84 ff., 98 f.; BVerwG, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 7.11- Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 43).
36 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn auch nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
37 
Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d. h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Eine Veränderung kann in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (BVerwG, Urteil v. 24.02.2011 - 10 C 3.11 - BVerwGE 139, 109). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (BVerwG, Urteil v. 05.11.1991, a.a.O.), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil v. 02.03.2010, a.a.O.). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.).
38 
Die Rechtskraft des zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils aus dem Jahr 2001 steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft,; vgl. BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht befugt, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.). Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.).
39 
Die Rechtskraftwirkung besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001, a.a.O.). Allerdings entfalten fehlerhafte Urteile keine weitergehende Rechtskraftwirkung als fehlerfreie Urteile. Eine Lösung von der Rechtskraftwirkung eines Urteils, das das Bundesamt zur Anerkennung als Asylberechtigter und Flüchtling verpflichtet hat, ist vielmehr immer dann möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat, unabhängig davon, ob das zur Anerkennung verpflichtende Urteil richtig oder fehlerhaft war.
40 
Die Voraussetzungen für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung entsprechen damit weitgehend denen, die für den Widerruf einer Anerkennungsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG gelten. Denn auch § 73 Abs. 1 AsylG setzt eine wesentliche Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnisse voraus. Für den Widerruf einer Behördenentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass es unerheblich ist, ob die Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht danach auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Nachhinein scheinbar nicht entfallen sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der Widerrufsbestimmung. Dies gilt erst recht für den Widerruf der auf einem Verpflichtungsurteil beruhenden Anerkennung, von deren Rechtmäßigkeit wegen der Rechtskraft des Urteils auch im Rahmen der Widerrufsprüfung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.11.2011 - 10 C 29.10 - NVwZ 2012, 1042, Urteil v. 01.03.2012 - 10 C 8.11 - AuAS 2012, 153).
41 
Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - „wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt“ (Urteil v. 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des Flüchtlings ergeben (GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl. auch OVG Saarland, Urteil v. 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A - juris).
42 
Für den Widerruf der Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung ist schließlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015 - 1 C 2.15 - InfAuslR 2015, 401) entschieden, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil v. 31.01.2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE 146, 31). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asylverfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319; Beschluss v. 10.10.2011 - 10 B 24.11 - juris).
43 
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für den Kläger aus heutiger Sicht aufgrund der in Angola seit Mitte des Jahres 2002 eingetretenen veränderten Verhältnisse sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit von über 13 Jahren und des individuellen Vorbringens der Klägers nicht (mehr) mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass dieser bei einer unterstellten nunmehrigen Rückkehr nach Angola von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 23.03.2001 nach den o.g. Maßstäben rechtfertigt.
44 
Der insoweit anzustellenden Prognose ist zunächst die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2001 zu Grunde zu legen, wonach der in seiner Heimat nicht tatsächlich verfolgte und von politischer Verfolgung auch nicht unmittelbar bedroht gewesene Kläger seinerzeit in Deutschland als im Exil befindlicher Informationssekretär der UNITA aufgrund selbstgeschaffener Nachfluchtgründe in Angola zumindest mit seiner Inhaftierung zu rechnen hatte, was aufgrund der dortigen spezifischen Haftbedingungen zudem eine unmenschliche bzw. erniedrigende Maßnahme dargestellt hätte.
45 
Relevant ist vor diesem Hintergrund in erster Linie, ob sich die Verhältnisse in Angola seither derart nachhaltig und stabil geändert haben, dass seitens des angolanischen Staates entsprechende Maßnahmen „asylrelevanter Weise“ bei einer unterstellten jetzigen Rückkehr des Klägers nach Angola nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. BVerwG, Urteil v. 01.03.2012, a.a.O.). Insbesondere ist daher von Bedeutung, ob es in Angola zu einer hinreichend erheblichen und dauerhaften Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/83/EG gekommen ist, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass für den Kläger keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht, er insbesondere nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat, der dargestellten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
46 
Die Veränderung der Verhältnisse muss danach kausal für den Wegfall der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung sein (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 04.08.2011 - A 2 S 1381/11- juris), wobei das Erfordernis der Veränderung der Verhältnisse in Widerrufsfällen gerade auch deshalb einer gesonderten Prüfung bedarf, um eine unzulässige Neubewertung der Gefährdungslage auf ein und derselben Tatsachengrundlage zu vermeiden.
47 
Nach der jüngeren Rechtsprechung (des 5. Senats) des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stellt sich Situation in Angola nach dem schon im Jahr 2002 beendeten, insbesondere zwischen der MPLA und der UNITA geführten Bürgerkrieg so dar, dass angolanischen Staatsangehörigen im Falle einer Rückkehr nach Angola weder wegen Stellung eines Asylantrags und eines Auslandsaufenthalts noch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Bakongo bzw. einer Nähe zur UNITA mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende menschenrechtswidrige Behandlung droht. Auch wenn es immer noch zu von den staatlichen Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen komme, habe sich die Menschenrechtlage zwischenzeitlich deutlich verbessert (Urt. v. 25.02.2010 - A 5 S 640/09 - juris). In einem Verfahren, in welchem der dortige Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Angola Mitglied der UNITA gewesen ist und als tatsächlich verfolgt anzusehen war, hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs - noch ohne Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 02.03.2010 (a.a.O.) - das Folgende ausgeführt (Urteil v. 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - juris):
48 
„Dem Kläger zu 1 droht zwar aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office, Operational Guidance Note v. 11. bzw. 29.07.2008, 3.8.8 „clearly unfounded“), doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend sicher. (…)
49 
Bei seiner Einschätzung geht der Senat (vgl. bereits Senatsurt. v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215f) aufgrund der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen von folgender Situation in Angola aus:
50 
Nachdem der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen der Rebellen-UNITA und der MPLA-Regierung im März 2002 sein Ende gefunden und die Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien am 04.04.2002 zu einem Waffenstillstandsabkommen mit einer Wiederaufnahme der Umsetzung des Lusaka-Protokolls vom November 1994 geführt hatten, gibt es seitdem in fast allen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen. Die UNITA wurde an der Regierung beteiligt und erhielt daneben auch führende Positionen in den Provinzen. Die Regierung hatte auch zugesagt, die Reorganisation der UNITA zur politischen Partei nicht zu behindern. Die beschlossene Demobilisierung der UNITA-Kämpfer konnte trotz Anlaufschwierigkeiten ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und am 30.07.2002 abgeschlossen werden; die demobilisierten Kämpfer erhielten Hilfen zur Integration in das zivile Leben bzw. wurden zu einem kleinen Teil (ca. 5.000) bis Oktober 2004 in die angolanischen Streitkräfte FAA integriert. Auch das bereits am 02.04.2002 vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz, das Straffreiheit für alle UNITA-Kombattanten vorsieht, die sich innerhalb von 45 Tagen ergeben und ihre soziale Integration in die Gesellschaft akzeptiert haben, wurde umgesetzt. Diese Bestimmungen werden auch auf Personen angewandt, die erst jetzt aus dem Ausland zurückkehren. Ob davon auch lediglich politisch tätige Anhänger der UNITA profitieren konnten, ist allerdings nicht bekannt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002). Am 05.09.2008 haben nunmehr auch die seit 1992 ersten Parlamentswahlen stattgefunden, die zuletzt mehrfach vertagt worden waren. An diesen konnte sich auch die UNITA beteiligen, die sich inzwischen zu einer ihre verschiedenen Fraktionen wieder vereinigenden politischen Partei entwickelt hatte. Auch wenn sich politische Parteien seit 2002 grundsätz-lich betätigen können, kann von für alle Parteien gleichen Voraussetzungen nicht die Rede sein. Abgesehen davon, dass die staatlichen Medienanstalten zugunsten der MPLA eingesetzt wurden (vgl. FAS v. 08.09.2008 „Die bösen Jahre sind noch nicht vorbei“) und für die Oppositionsparteien außerhalb Luandas kein freier Zugang zu den elektronischen Medien bestand, wurde von staatlich finanzierten Wahlgeschenken (vgl. hierzu auch Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007) durch die MPLA und Einschüchterungen durch deren Sympathisanten gesprochen (vgl. British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006, S. 7; Refugee Documentation Centre (Ireland) vom 09.11.2009; FR v. 05.09.2008 „Das reichste arme Land der Welt wählt“). Die Wahl wurde von der Regierungspartei MPLA mit knapp 82 % der abgegebenen Stimmen gewonnen, während die UNITA nur etwas mehr als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der Gewährleistung rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit der Verteidigung sind zwar verfassungsrechtlich verankert, auch sind die bestehenden Gesetze an rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet, jedoch laufen entsprechende Rechte aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und korruptionsanfälligen Justizsystems weitgehend leer. Der Justizweg ist insofern allenfalls eingeschränkt gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab-schieberelevante Lage in der Republik Angola v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; Africa Yearbook 2006, Angola, S. 410, 2007). Ermittlungsbehörden und Gerichte sind überlastet, unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig. Straffreiheit für kriminelle Vergehen und Menschenrechtsverletzungen sind insofern keine Seltenheit (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 2; amnesty international, Jahresbericht Angola 2007).
51 
Staatliche Repressionsmaßnahmen, die systematisch gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer politischen Überzeugung eingesetzt werden, gibt es - insoweit ist dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu folgen - nicht mehr. Allerdings sind solche im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen, zumal der Schutz der Menschenrechte noch immer unzureichend ist und sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure weiterhin Menschenrechtsverletzungen begehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola Update Juli 2006; British Home Office, Country of Origin Information Key Documents, 1/2006; amnesty international, Report Angola 2008 und 2009, Jahresberichte Angola 2007; US Department of State, Human Rights Report vom 25.02.2009; Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009).
52 
Zwar müssen selbst ehemalige UNITA-Kämpfer in Angola grundsätzlich nicht mehr mit staatlichen Repressionen rechnen. So spielen hochrangige ehemalige UNITA-Militärführer inzwischen durchaus eine wichtige Rolle als Politiker bzw. sind in den angolanischen Streitkräften FAA weiterhin als solche tätig. Allerdings kam es Mitte Juli 2004 in vier Orten im Landesinnern zu Übergriffen der lokalen Bevölkerung auf ehemalige UNITA-Angehörige, die sich dort niederlassen wollten. Besonders schwer waren die Übergriffe in Cazombo in der Provinz Moxico, bei denen 80 Häuser zerstört worden sein sollen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Angola v. 05.11.2004 bzw. v. 18.04.2006), nachdem ein ehemaliger UNITA-General die Leitung des dortigen UNITA-Büros hatte übernehmen wollen. Zwar wurden entsprechende Übergriffe von Regierungsseite öffentlich kritisiert, doch gibt es verschiedene glaubhafte Berichte, wonach lokale MPLA-Vertreter in derartige Vorkommnisse involviert waren und die Polizei nicht zum Schutz der Opposition einschritt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007).
53 
Für UNITA-Angehörige, die sich in Angola für Dritte erkennbar politisch für die UNITA betätigen, besteht schließlich auch mehr als sieben Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch ein gewisses Risiko, erheblichen Repressionen seitens der Anhänger der Regierungspartei MPLA bzw. ihr zuzurechnenden Gruppierungen ausgesetzt zu sein. So beklagen die verschiedenen Oppositionsparteien – namentlich die UNITA – regelmäßig Akte „politischer Intoleranz“ hauptsächlich in den ländlichen Gebieten verschiedener Provinzen, wobei die Verantwortlichen regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen würden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht v. 26.06.2007, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free an Fair Elections, 12.08.2008; UK Border Agency, Operational Guidance Note Angola vom 01.06.2009). An dem tief verwurzelten Klima der Intoleranz wird sich aufgrund der weiteren Marginalisierung der Zivilgesellschaft und zivilen Oppositionsparteien voraussichtlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, da insofern das bestehende autoritäre politische System und die politische Bipolarität zwischen den Bürgerkriegsparteien MPLA und UNITA unangetastet bleiben dürfte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Die Situation seit dem Friedensabkommen vom 04. April 2002 - Update, Oktober 2002).
54 
Bereits 2004 wurden von der UNITA zunehmend Fälle von Einschüchterung ihrer Funktionäre beklagt, die u. a. von Angehörigen einer MPLA-nahen Miliz ausgegangen sein sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 31.03.2005, S. 7; British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch wurde beklagt, dass zunehmend Erpressung und Druck ausgeübt werde, in die MPLA einzutreten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, S. 1; Africa Yearbook 2004, Angola, S. 388, 2005: Africa Yearbook 2005, S. 399, 2006). Wiederholt wurde 2003/2004 von Verfolgungen, Ein-schüchterungen und Gewalt gegen Funktionäre in verschiedenen Provinzen und Städten im Landesinneren berichtet (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008). Auch 2005 kam es zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Parteien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006; British Home Office, Operational Guidance Note Angola,11. bzw. 29.07.2008). Im März 2005 sollen in der Stadt Mavinga eine Person gar getötet und 28 weitere Personen verletzt worden sein, als UNITA-Mitglieder ihre Parteiflagge zu hissen versuchten (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola, 11. bzw. 29.07.2008; amnesty international, Jahresbericht Angola 2006). Die UNITA sprach von gezielter Aufhetzung der Bevölkerung durch die MPLA und die lokalen Behörden mit dem Ziel, die landesweite Errichtung oppositioneller Strukturen zu verhindern. Selbst Angolas Präsident dos Santos soll nach den Vorfällen Ende Februar und Mitte März die Besorgnis der UNITA als „legitim“ anerkannt haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola im Übergang - Update März 2005, 21.03.2005). 2006 berichteten UNITA und MPLA von wechselseitigen körperlichen Angriffen politischer bzw. militanter Aktivisten auf ihre Mitglieder (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Reports on Human Rights Practices - 2006 v. 06.03.2007, Section 3). Die UNITA sprach gar von 13 getöteten Parteimitgliedern (vgl. Africa Yearbook 2006, Angola, S. 409, 2007). Auch 2007 berichteten die Oppositionsparteien von Belästigungen, Einschüchterungen und Körperverletzungen durch Anhänger der Regierungspartei (vgl. U.S. Departement of State, Angola - Country Re-ports on Human Rights Practices - 2007 v. 11.03.2008, Section 3). Im März 2007 sollen Unbekannte (vgl. British Home Office, Operational Guidance Note Angola v. 11. bzw. 29.07.2008; U.S. Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices - 2007, a.a.O.), möglicherweise gar Polizisten (vgl. amnesty international, Report Angola 2008), in der Provinz Kwanza Norte während einer Sitzung im örtlichen Parteibüro auf den zu Besuch anwesenden Parteivorsitzenden der UNITA – Isaias Samakuva – geschossen haben, der dabei leicht verletzt wurde; über das Ergebnis der deswegen in Gang gesetzten Untersuchung ist - soweit ersichtlich - noch nichts bekannt. Mitglieder der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft berichteten auch 2007 von zunehmender „politischer Intoleranz“. Auch im unmittelbaren Vorfeld der für Herbst 2008 angesetzten Parlamentswahlen wurde von Fällen politischer Gewalt hauptsächlich in den ländlichen Gebieten berichtet. So seien am 02.03.2008 Mitglieder einer kommunalen UNITA-Delegation im Dorf Kafindua in der Provinz Benguela von einer Gruppe örtlicher MPLA-Aktivisten geschlagen worden, als sie ihre Parteiflagge hätten hissen wollen. Die Polizei habe die Angreifer zwar verhört, jedoch wieder laufen lassen; diese hätten anschließend erklärt, „die Polizei gehöre ihnen“. Traditionelle Autoritäten seien zunehmend dem Druck der MPLA ausgesetzt, Aktivitäten der UNITA in den verschiedenen Dörfern zu verhindern. Am 30.05.2008 habe eine Gruppe von MPLA-Anhängern den traditionellen Führer im Dorf Bongue Kandala in der Provinz Benguela sowie fünf UNITA-Mitglieder zusammengeschlagen, weil jener zuvor erlaubt hätte, die Parteifahne hochzuhalten (vgl. Human Rights Watch, Angola: Doubts Over Free and Fair Elections, 12.08.2008). Am 13.08.2008 sollen UNITA-Mitglieder während einer öffentlichen Versammlung in Kipeio in der Provinz Huambo von einer Gruppe mit Stöcken und Steinen angegriffen worden sein; eine Frau musste im Krankenhaus behandelt werden, die anderen erlitten weniger ernste Verletzungen. Die Polizei sei zwar eingeschritten, die Angreifer seien jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen worden. In der Provinz Benguela sollen UNITA-Mitglieder am 23.08.2008 gesteinigt worden sein. In Chico da Waiti sei eine 40-köpfige Delegation von UNITA-Mitglieder mit Steinen beworfen worden, wobei 8 Personen verletzt worden seien. Die Polizei habe die Delegation eskortiert, jedoch niemanden verhaftet. Der zuständige Gemeindeverwaltungsbeamte habe später erklärt, dass er lediglich die Sicherheit der Wahlbeobachter der UNITA, nicht aber für deren Wahlkampagne garantiere (vgl. Human Rights Watch, Angola: Irregula-rities Marred Historic Elections, 14.09.2008).
55 
Für 2009 sind den bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Erkenntnismitteln zwar keine entsprechenden Vorkommnisse im Zusammenhang mit der UNITA zu entnehmen, lediglich in Zusammenhang mit dem Vorgehen des Militärs gegen bewaffnete Rebellen der Liberation Front of the Enclave Cabinda (FLEC) in der Provinz Cabinda soll es in 2009 zu willkürlichen Verhaftungen gekommen sein (Human Rights Watch, Bericht vom 22.06.2009). Es ist aber noch völlig offen, ob sich diese positive Entwicklung in der Zukunft verstetigt. Derzeit und auf absehbare Zeit kann deshalb nach wie vor nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Angola vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre.“
56 
Dem Kläger des zu entscheidenden Berufungsverfahrens, der im Gegensatz zu dem Kläger zu 1 jenes Verfahrens vor seiner Ausreise keine Verfolgung erlitten hat und der von einer solchen auch nicht unmittelbar bedroht gewesen ist, droht danach im Falle einer Rückkehr nach Angola politische Verfolgung jedenfalls nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil v. 03.12.2009 - A 5 S 122/08 - juris, Urteil v. 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 - InfAuslR 2009, 215, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1729/97 - juris, Urteil v. 01.02.2002 - A 13 S 1730/97 - juris).
57 
Diese Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der in das Berufungsverfahren eingeführten neueren Erkenntnisquellen für den gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht zu erhalten.
58 
So hat sich die Situation in Angola in den vergangenen Jahren weiter verstetigt, ohne dass es dabei zu besonderen Veränderungen mit einer Tendenz zum Besseren oder zum Schlechteren gekommen wäre. Von besonderer Bedeutung auch für den politischen Prozess der Aussöhnung zwischen den früheren Bürgerkriegsparteien waren die am 31.08.2012 abgehaltenen Parlamentswahlen, bei welchen die regierende MPLA zu Gunsten der Oppositionsparteien Stimmenverluste hinnehmen musste. Die UNITA als größte Oppositionspartei vermochte ihren Stimmenanteil auf 18,66 % auszubauen, obwohl sich von ihr zuvor die neue Oppositionspartei CASA-CE abgespalten hatte, die ihrerseits 6 % der Stimmen errang. Alle am Bürgerkrieg beteiligten Parteien unterstützen die Wiederaufbauphase, in der sich das Land nach wie vor befindet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.09.2009 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden).
59 
Hingegen ist die MPLA die führende und die Geschicke des Landes vorherrschend bestimmende Organisation geblieben, die letztlich alle anderen Parteien im Fokus hat und alle führenden Persönlichkeiten überwacht (Deutsche Botschaft Luanda, Auskunft vom 15.09.2011 an das Verwaltungsgericht Minden). In dieser Situation kommt es in Angola immer noch zu Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei, etwa durch den exzessiven Einsatz von Gewalt und staatlichem Mord. Nur wenige Beamte mussten sich hierfür bislang strafrechtlich verantworten. Es wurde über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen durch die Polizei berichtet, die ihre Funktionen zudem parteiisch ausübt, vor allem während einiger gegen die Regierung gerichteter Demonstrationen. Bei der Auflösung von Demonstrationen wurde zum Teil mit exzessiver Gewalt vorgegangen (Amnesty international, Report Angola 2010 und 2012).
60 
Insbesondere im Vorfeld der Wahlen von 2012 gab es Berichte über sporadische politisch motivierte Gewalttaten von Mitgliedern der MPLA, die sich gegen die UNITA und das Bündnis CASA-CE richteten. Den Berichten zufolge war aber auch die UNITA für vereinzelte gewaltsame Handlungen gegen die MPLA verantwortlich, die politisch motiviert waren (Amnesty international, Report Angola 2013).
61 
Am 23.11.2013 wurden in Luanda bei einer vom Innenministerium verbotenen Demonstration, zu der die UNITA aufgerufen hatte, 292 Personen festgenommen. Die Demonstration sollte an das ungeklärte Schicksal zweier Aktivisten erinnern, nachdem Informationen bekannt geworden waren, wonach die beiden im Mai 2012 durch staatliche Kräfte entführt, gefoltert und getötet worden sein sollen (BaMF-Briefing Notes vom 25.11.2013).
62 
Auch für das Jahr 2014 berichtet Amnesty International nach wie vor über - allerdings ausdrücklich nur sporadische - politisch motivierte Gewalttaten zwischen Mitgliedern der regierenden MPLA und solchen der UNITA. Friedliche Demonstrationen wurden mitunter von Polizei und Sicherheitskräften unter Anwendung von Gewalt unterbunden (Amnesty international, Report Angola 2015).
63 
Am 09.03.2014 störten Mitglieder der MPLA in der Provinz Kwanza Sul eine Gedenkveranstaltung der UNITA zu deren 48-jährigem Bestehen, wobei drei Provinzführer der UNITA während einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einzelnen Unterstützern der beiden Parteien getötet worden sein sollen. Öffentlich zugängliche Informationen über irgendwelche Verhaftungen oder Untersuchungen durch die Polizei wegen dieser Angelegenheit seien nicht erhältlich gewesen. Die Regierung unternahm gleichwohl generell einige Schritte zur Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs durch Beamte, welche indes nur schwer nachvollzogen werden können (US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2014).
64 
Auch auf der Basis der dem Senat im Übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen muss festgestellt werden, dass in Angola das geltende Verfassungsrecht und die gegebene Verfassungswirklichkeit nicht immer übereinstimmen, was sich vor allem in der Machtausübung der Sicherheitskräfte, der weitreichenden Korruption und einer Behinderung der Arbeit von Journalisten zeigt. Gelegentlich wird dieses Bild auch durch einzelne mitunter gewaltsame Machtdemonstrationen Angehöriger der MPLA gegenüber Anhängern der Oppositionsparteien bestätigt, ohne dass jedoch angenommen werden müsste, dass die Betätigung der Oppositionsparteien in Angola generell gefährlich ist bzw. eine solche gar staatlicherseits unterbunden wird (vgl. US Department of State, Country Report on Human Rights Angola 2011 und 2012; Refugee Documentation Centre Ireland v. 22.10.2009; UK Border Agency v. 01.09.2010; Freedom House Länderberichte 2010, 2011 und 2012).
65 
Zutreffend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in diesem Zusammenhang auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10.09.2015 zu Angola (2015/2839(RSP)) hingewiesen, welche vor dem Hintergrund insbesondere der Festnahme des angolanischen Menschenrechtsaktivisten José Marcos Mavungo am 14.03.2015 die angolanische Regierung u.a. dazu auffordert, Fällen von willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inhaftierung und Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte unverzüglich ein Ende zu setzen.
66 
Zusammenfassend lässt sich für den Senat festhalten, dass seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers und weitere 6 Jahre nach dem zitierten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 01.02.2010 - A 5 S 123/08 - sich die Verhältnisse in Angola derart verstetigt haben, dass der Kläger nunmehr dort jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat.
67 
Diese Einschätzung beruht überdies auf der individuellen Situation des Klägers, der bereits seit Längerem nicht mehr als exilpolitischer Aktivist für die Sache der UNITA angesehen werden kann. So hat er im Rahmen des Widerrufsverfahrens nicht mehr von einer ins Gewicht fallenden Fortsetzung seiner Betätigung für die UNITA für die Zeit nach seiner Flüchtlingsanerkennung berichtet. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er gar eingeräumt, seit einem ihm gegenüber ausgesprochenen Verbot der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 nur noch „auf kleiner Flamme“ politisch tätig zu sein. Insoweit gebe es nichts weiter zu berichten. Der Kläger vermittelte dem Senat auch keineswegs den Eindruck, er werde nach einer Rückkehr nach Angola seine Aktivitäten für die UNITA wieder aufnehmen, weil er sich etwa hierzu aufgrund einer tiefen inneren Überzeugung verpflichtet fühle. Die damit anzunehmende zwischenzeitliche Veränderung auch in der Person des Klägers (vgl. dazu allgemein bereits oben) verdeutlichen dem Senat, dass dieser im Fall seiner nunmehrigen Rückkehr nach Angola auch nicht von einer im Jahr 2015 möglicherweise wieder etwas verschärfteren Situation für Regimegegner betroffen wäre.
68 
Anhaltspunkte für das Vorliegen von dem Kläger nicht geltend gemachter Anfechtungsgründe (vgl. BVerwG, Urteil v. 29.06.2015, a.a.O.) lassen sich für den Senat im Übrigen nicht erkennen.
69 
Dass der Kläger schließlich - wie dies sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - aufgrund des verhängten Verbots der politischen Betätigung durch die Stadt xxx vom 07.05.2001 einem Flüchtling, dem die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu Gute kommt, gleichzustellen sei, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
70 
d) Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat schließlich auch nicht aufgrund der Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auszuscheiden. Denn der Kläger kann sich ersichtlich nicht auf zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen, um eine Rückkehr nach Angola abzulehnen.
71 
2. Aus dem Vorgenannten ergibt sich zugleich, dass der von dem Kläger angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.02.2005 auch hinsichtlich seiner Nr. 2, wonach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vorliegen, rechtmäßig ist.
72 
Es kommt daher für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht darauf an, ob der von ihm gewählte isolierte Antrag auf Aufhebung der diesbezüglichen Entscheidung des Bundesamtes überhaupt sachdienlich ist.
73 
Gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.d.F. des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015, BGBl. I S. 1722, darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (vgl. im Übrigen §§ 3 bis 3e AsylG).
74 
Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend von dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die Befürchtung von Repressionen im Zusammenhang mit seinem geltend gemachten exilpolitischen Verhalten in Betracht. Wie bereits ausgeführt, kann insoweit jedoch für den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, was in erster Linie darin begründet ist, dass der Kläger bereits seit Längerem so gut wie gar nicht mehr exilpolitisch tätig ist und er auch für den Fall seiner Rückkehr nach Angola in keiner Weise bekundet hat, sich dort zukünftig aktiv für die UNITA politisch betätigen zu wollen.
75 
Die Berufung des Klägers ist nach allem mit der sich aus § 154 Abs. 2 VwGO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
76 
Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
77 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Juni 2010 - A 4 K 4167/09 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt in erster Linie die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am … 1968 geborene Kläger ist ein Staatsangehöriger Sri Lankas tamilischer Volkszugehörigkeit. Ihm wurde am 20.08.2008 in Colombo ein Reiseausweis ausgestellt. Er reiste am 04.09.2008 über den Flughafen Düsseldorf in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sogleich nach der Einreise wurde er von der Bundespolizei vernommen; hinsichtlich des Ergebnisses wird auf die darüber angefertigten Protokolle verwiesen.
Am 17.09.2008 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. Er wurde am 09.10.2008 zu seinem Begehren angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Am 09.11.2009 hat der Kläger (Untätigkeits-)Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben. Dieses hat mit Urteil vom 28.06.2010, nachdem die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten, die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus: Ungeachtet, ob der Kläger bereits politische Verfolgung erlitten habe oder unmittelbar von ihr bedroht gewesen sei, habe er aufgrund der derzeitigen politischen Lage in Sri Lanka zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung zu rechnen. Auch nach (vorläufiger) Beendigung des Bürgerkriegs habe sich die Sicherheitslage noch nicht spürbar entspannt und der Ausnahmezustand bleibe bestehen. Es komme weiterhin zu einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte, aber auch durch Dritte. Aus der Gesamtsituation ergebe sich, dass der Kläger jedenfalls für den Fall einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten müsse. Denn der aus dem Norden stammende Kläger, der sich im Süden oder in Colombo niederlassen müsste, nachdem die Freizügigkeit immer noch in erheblichem Umfang eingeschränkt sei, müsse für den Fall einer Rückkehr damit rechnen, dass er dem Anfangsverdacht, der LTTE zuzugehören, ausgesetzt sei. Hieraus ergebe sich das konkrete Risiko, von den Sicherheitskräften verhaftet zu werden. Das Ende dieser Haft, die keiner gerichtlichen Kontrolle mehr unterliege, sei nicht abzusehen und mit dem Risiko erheblicher Misshandlungen verbunden. Diese erheblichen Gefahren, die an die unterstellte Unterstützung der LTTE anknüpften, begründeten unabhängig von einer Vorverfolgung die Gefahr politischer Verfolgung, sie stellten eine politisch motivierte Verfolgung dar, die an die tamilische Volkszugehörigkeit und die damit verbundene Vermutung der LTTE-Unterstützung anknüpfe.
Auf Antrag der Beklagten vom 27.07.2010 hat der damals zuständige 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Beschluss vom 16.02.2012 - A 12 S 1863/10 - die Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil zugelassen. Mit einem am 05.03.2012 eingegangenen Schriftsatz vom 29.02.2012 hat die Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags begründet. Sie macht im Wesentlichen geltend: Nach dem bisherigen klägerischen Vorbringen könne keine individuell erlittene Vorverfolgung oder eine Ausreise unter dem Druck bevorstehender Verfolgung festzustellen sein. Das Vorbringen des Klägers in den verschiedenen Verfahrensstadien sei erkennbar zu unterschiedlich geblieben, ohne dass sich dafür nachvollziehbare Gründe zeigten oder er dies anderweitig überzeugend hätte erklären können. Allein wegen der Zugehörigkeit zur tamilischen Volksgruppe drohe ihm keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Juni 2010 - A 4 K 4167/09 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt:
die Berufung zurückzuweisen,
10 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
11 
weiter hilfsweise festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote hinsichtlich Sri Lanka bestehen.
12 
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und führt ergänzend aus, er habe eine extralegale Entführung dargelegt, wobei allein diese Entführung und die Drohung mit einer Gefahr für Leib und Leben ein traumatisches Ereignis darstellten, das im Zusammenhang mit der Angst um die Familie dazu führe, dass bei einer Abschiebung oder Rückkehr ein so genanntes Wiederholungstrauma einsetze.
13 
Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung zu den Gründen seines Asylbegehrens angehört worden; hinsichtlich seiner Angaben wird auf Anlage 1 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger folgenden Hilfsbeweisantrag gestellt (Anlage 2 der Niederschrift):
15 
Zum Beweis der Tatsachen,
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dass es aufgrund der 6-jährigen Dauer des Verfahrens beim VGH Baden-Württemberg bei einer Dauer von über 8 Jahren des Asylverfahrens insgesamt ein gravierender Vertrauensverstoß ist bzw. es gegen Treu und Glauben verstößt, jetzt nun nach dieser langen Zeit vom Urteil des Verwaltungsgericht Stuttgart abzuweichen, dass dies zum jetzigen Zeitpunkt eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 MRK wäre, ihm nach 8 Jahren Asylverfahren und 6 Jahren in der Rechtsstellung als Asylberechtigten diese nach dieser langen Dauer des Verfahrens wegzunehmen, und dass dies wegen der Dauer des Verfahrens und bei einer Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu einer gravierenden psychischen Reaktion führen würde, auch im Sinne einer psychischen Erkrankung,
17 
wird beantragt,
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1. ein Gutachten eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht einzuholen und
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2. ein Gutachten von Herrn Dr. ..., Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalytik, ... …, ...,
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einzuholen.
21 
Dem Senat liegen die Akten des Bundesamts und die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart vor. Hierauf sowie auf die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
22 
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Denn auf diese Möglichkeit war in der Ladung zum Termin hingewiesen worden (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
23 
Die nach Zulassung durch den 12. Senat des erkennenden Gerichtshofs statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Denn die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (I.) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (II.), keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (III.), keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (IV.) und keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots (V.). Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen (VI.).
I.
24 
Für die Beurteilung des Begehrens des Klägers ist auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG). Maßgeblich in rechtlicher Hinsicht ist deshalb das zuletzt durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31.07.2016 (BGBl I S. 1939) geänderte Asylgesetz.
25 
Die erstinstanzlich gestellten Klageanträge sind im Hinblick auf die aktuelle Rechtslage, insbesondere auf die seit 01.12.2013 geltenden §§ 3 ff. AsylG (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl I S. 3474), wie folgt zu verstehen und entsprechend in der mündlichen Verhandlung gestellt worden:
26 
Der auf die Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag ist weder durch die genannte noch durch sonstige Gesetzesnovellen berührt worden.
27 
Der auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG in der zum Zeitpunkt des Ergehens des verwaltungsgerichtlichen Urteils geltenden Fassung gerichtete erste Hilfsantrag ist nunmehr als Antrag auf die Verpflichtung zur Gewährung subsidiären Schutzes auszulegen. Denn in § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind die bisher in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbote zusammengefasst worden (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 25).
28 
Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG „höchsthilfsweise“ gestellte Hilfsantrag kann ohne Änderung weiterverfolgt werden; die Vorschriften sind nicht geändert worden.
II.
29 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG.
30 
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9; so genannte Qualifikationsrichtlinie - QRL -) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 24 a.E.).
32 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
33 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 26 m.w.N.).
34 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 27 ff.). Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchstabe d QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 = NVwZ 2013, 936 Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
35 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
36 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
37 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (zur so genannten Gruppenverfolgung vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 30 ff.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
38 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die auch vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylG, Art. 8 QRL).
39 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie durch § 3c Nr. 3 AsylG (vgl. Art. 6 Buchstabe c QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
40 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 und 2 AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit.
41 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 34 m.w.N.). Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden mit Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
42 
2. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nicht aus individuellen Verfolgungsgründen zuzuerkennen. Der Senat konnte aufgrund des bisherigen Ablaufs des Asylverfahrens und insbesondere aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des in ihr von seiner Person gewonnenen Eindrucks nicht die erforderliche Überzeugung davon gewinnen, dass die nach seinem Vorbringen fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe der Wahrheit entspricht. Vielmehr spricht nach Auffassung des Senats vieles dafür, dass der Kläger den wahren Grund für seine Ausreise nach wie vor für sich behält.
43 
An der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen zunächst aus dem Grund ganz erhebliche Zweifel, dass er im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Einreise im September 2008 nicht miteinander in Einklang zu bringende Angaben zu den Gründen seiner Flucht gemacht hat. So gab er bei der Bundespolizei im Wesentlichen an, er habe schon seit zwei Jahren versucht, Sri Lanka zu verlassen, sei seit über zehn Jahren Mitglied der LTTE, habe lange Zeit das sri-lankische Militär mit Bargeld bestochen und müsse damit rechnen, vom Militär grundlos verhaftet zu werden. Von einer Entführung und Erpressung durch Mitglieder tamilischer regierungsnaher Organisationen war nicht im Ansatz die Rede. Es besteht für den Senat keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass der Kläger die in den Wortprotokollen über die Vernehmungen niedergelegten Angaben gemacht hat. Nicht zuletzt wurden die Vernehmungen, bei denen ein Dolmetscher für die tamilische Sprache eingebunden war, ausweislich von beigefügten Vermerken dem Kläger vorgelesen und von ihm genehmigt. Plausible Gründe dafür, dass die Vernehmungen unrichtig wiedergegeben worden sein könnten, hat der Kläger im Übrigen auch in der mündlichen Verhandlung nicht gemacht; er hat sich - darauf angesprochen - mehrmals darauf beschränkt zu bestreiten, die in den Protokollen festgehaltenen Angaben gemacht zu haben. Eine ganz andere Verfolgungsgeschichte hat der Kläger dann in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt: Grund für seine Ausreise sei gewesen, dass Leute ihn mitgenommen und von ihm Geld verlangt hätten; dann hätten sie ihn wieder gehen lassen. Auf Nachfragen des Anhörenden berichtete er unter anderem, die Entführung habe am 14.04.2008 stattgefunden, er sei sechs Tage in einem Haus festgehalten und ihm sei dann eine dreimonatige Zahlungsfrist gewährt worden.
44 
Die angebliche Entführung und Erpressung hat der Kläger dann auch in der mündlichen Verhandlung als Ereignis genannt, das bei ihm erst den Entschluss zur Flucht ins Ausland hat reifen lassen. Allerdings konnte er dem Senat nicht den Eindruck vermitteln, von etwas tatsächlich Erlebtem zu berichten; es spricht vielmehr viel dafür, dass der Kläger ein Schicksal, das andere Personen erlitten haben, auf sich projiziert hat. Auf die eingangs seiner Anhörung gestellte Frage nach dem Grund seiner Ausreise nannte der Kläger in einigen wenigen Sätzen lediglich Eckpunkte der angeblichen Entführung und Erpressung. Wesentlich ausführlicher, detailreicher und nach Einschätzung des Senats durchaus glaubhaft wurden dann erst die Schilderungen seines Reisewegs, auf die sich die Fragestellung indes überhaupt nicht erstreckte. Die gezielten Nachfragen brachten dann auch keine Ausführungen, die den Schluss zulassen könnten, dass sich das Geschehen tatsächlich so wie vom Kläger behauptet ereignet hat. In diesem Zusammenhang merkt der Senat an, dass ihm selbstverständlich bewusst ist, dass die Erinnerung an Ereignisse mit zunehmendem Zeitablauf nachlässt; allerdings wäre die vom Kläger behauptete Entführung und Erpressung ein so einschneidendes Ereignis gewesen, dass auch nach über acht Jahren zu erwarten gewesen wäre, dass der Kläger zumindest einige für die Richtigkeit seiner Angaben sprechende Details hätte schildern können. Das hat er indes nicht getan. Auf die gezielten Fragen antwortete er meist wortkarg. Einzelheiten zu dem Raum etwa, in dem er immerhin sechs Tage festgehalten worden sein will, konnte er mit Ausnahme solcher, die letztlich nur ein geringes Maß an Einfallsreichtum erfordern (angebliche Größe, weiße Wandfarbe, Licht an der Decke) nicht liefern. Angaben dazu, ob der Raum Fenster hatte, wie er möbliert war und dabei insbesondere, ob er eine als solche zu bezeichnende Schlafgelegenheit hatte, wie sie eigentlich zu erwarten gewesen wären, machte der Kläger nicht. Auf die Forderungen der Entführer angesprochen verwies der Kläger stets nur auf deren Verlangen von Geld. Mit welchen Nachteilen die Entführer für den Fall der Nichtzahlung gedroht haben, war dem Kläger keiner nähren Erwähnung wert. Blass blieben auch die Ausführungen zu der angeblichen Folter. Nachdem er zunächst lediglich die Behauptung von Folter in den Raum gestellt hatte, verwies er auf Nachfrage nur darauf, dass er geschlagen worden sei. Auf weitere Nachfrage gab er sodann an, er sei mit Stiefeln getreten und mit einem Holzknüppel geschlagen worden. Wie viele Personen ihn angeblich geschlagen und getreten haben, welche Körperstellen betroffen waren und ob und welche Verletzungen er infolge der Misshandlungen erlitten hat, blieb unerwähnt. Hinzu kommt, dass es sich insoweit um gesteigertes Vorbringen handelt, da der Kläger die Thematik „Folter“ erstmals vor dem Senat erwähnt hat. Auf entsprechenden Vorhalt hat er lediglich erklärt, er sei wohl bei seiner Anhörung nicht ausdrücklich danach gefragt worden. Sollte er allerdings tatsächlich gefoltert worden sein, erscheint es fernliegend, dass er auf diesen Umstand nicht von sich aus hingewiesen hätte.
45 
Gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal sprechen auch seine Angaben zu dem weiteren Geschehen nach seiner angeblichen Freilassung. Davon, dass die Erpresser bereits im Juni 2008 bei ihm zu Hause vorbeigekommen seien, wie er es in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt hat, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht berichtet. Vielmehr verwies er darauf, dass die Erpresser seine bisherige Unterkunft am 20.07.2008, dem Tag des angeblichen Fristablaufs, aufgesucht hätten. Diese Angabe passt allerdings in keiner Weise zu den Ausführungen seiner Ehefrau in dem dem Bundesamt vorgelegten Brief vom 15.10.2008, wonach die Entführungsbande jetzt häufiger zu ihr nach Hause komme. Erst nach zahlreichen, eindringlichen Nachfragen, nicht zuletzt seines Prozessbevollmächtigten, gab der Kläger an, dass es auch nachfolgend - zuletzt im Jahr 2009 oder im Jahr 2010 - Probleme gegeben habe. In diesem Zusammenhang hat der Kläger auch einerseits angegeben, seine Ehefrau lasse sich durch ihren Bruder bei Besuchen der Erpresser verleugnen. Andererseits gab der Kläger an, es gebe Probleme, wenn die Erpresser seine Ehefrau sehen.
46 
Offenbleiben kann nach Vorstehendem, ob die Entführung und Erpressung überhaupt von flüchtlingsschutzrelevanter Bedeutung gewesen wären. In Betracht käme hier lediglich eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Der Kläger hat auf die Frage, weshalb er als Opfer der Entführung und Erpressung ausgewählt worden sei, geantwortet, dies sei geschehen, weil er wohlhabend gewesen sei. Diese Aussage ist zunächst erstaunlich, will der Kläger die - nach seiner Angabe in der mündlichen Verhandlung, die nicht mit der Angabe in der Anhörung beim Bundesamt übereinstimmt (damals: drei Millionen Rupien) - für die Organisation der Ausreise gezahlten zwei Millionen Rupien insbesondere durch den Verkauf von Goldschmuck seiner Frau und die Aufnahme eines Darlehens aufgebracht haben. Der Aussage lässt sich aber vor allem entnehmen, dass sich der Kläger zumindest im Wesentlichen als Opfer krimineller Machenschaften sah; eine Verbindung mit seiner tamilischen Volkszugehörigkeit oder gar seiner behaupteten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE war für den Senat nicht erkennbar.
47 
Eine staatliche Verfolgung hat der Kläger schon nicht als Grund für seine Ausreise behauptet. Nicht zuletzt da dem Kläger offensichtlich ohne Probleme ein Reiseausweis ausgestellt wurde und er legal und ungehindert das Land verlassen konnte, bestehen hierfür auch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die vom Kläger erst auf Nachfragen angeführten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE (Helfen beim Aufbauen und Dekorieren einer Bühne) waren, die Richtigkeit der Angaben unterstellt, allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Dass er konkret durch sie ins Visier der Sicherheitskräfte geraten sein könnte, hat er bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung gerade nicht vorgetragen. Es blieb insoweit bei der allgemein gehaltenen Behauptung, Armeeangehörige hätten die Veranstaltungen an den Großheldentagen überwacht.
48 
3. Auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung kommt nicht in Betracht.
49 
Tamilen waren zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im August 2008 keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt (dazu a). Sie sind es auch heute nicht (dazu b).
50 
a) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers und bezogen auf den Zeitpunkt seiner Ausreise im Wesentlichen wie im Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 09.11.2010 (A 4 S 703/10, juris) bezogen auf das Jahr 2007 dar. Dort heißt es (a.a.O. Rn. 46 ff.):
51 
Die Lage in Sri Lanka stellte sich 2007 nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
52 
In Sri Lanka lebten 2007 geschätzt 20,01 Millionen Menschen. Der Anteil der tamilischen Bevölkerung lag ungefähr bei 10 % (Fischer-Weltalmanach 2010, S. 474). Nach den Angaben des Ministeriums für Volkszählung und Statistik lebten 2006 im Großraum Colombo 2.251.274 Einwohner, davon waren 247.739 tamilische Volkszugehörige sri-lankischer Staatsangehörigkeit und 24.821 indische Tamilen (vgl. UK Home Office, Country of Origin Report Sri Lanka vom 15.11.2007, S. 122, Nr. 20.13).
53 
Die innenpolitische Lage Sri Lankas war von dem jahrzehntelangen ethnischen Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen bestimmt. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung [und] der tamilischen Rebellenorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) aus dem Februar 2002 war von Präsident Rajapakse im Januar 2008 offiziell aufgekündigt worden, nachdem es von beiden Seiten seit langem nicht mehr eingehalten worden war. Bereits ab November 2005 war es zu einer drastischen Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch die LTTE und die im Jahr zuvor von ihr abgespaltene, mit der Regierung kollaborierende Karuna-Gruppe unter „Oberst Karuna“ (Muralitharan Vinayagamurthi), einem ehemaligen Vertrauten des LTTE-Führers Prabahakaran, gekommen. Seit April 2006 hatte die Regierung versucht, die LTTE, die zu diesem Zeitpunkt noch den Norden und Osten des Landes kontrollierte, mit offensiven Maßnahmen zurückzudrängen. Ab Mitte 2006 war es dann zu großflächigen, längeren Kampfhandlungen gekommen. Unterstützt von den paramilitärischen Einheiten der Karuna-Gruppe, die sich als Vertretung der Ost-Tamilen verstand, konnten die Streitkräfte im Juli 2007 nach den vorhergehenden Rückzug der LTTE-Soldaten die letzten von der LTTE gehaltenen Stellungen im Osten Sri Lankas einnehmen (Lagebericht des AA vom 07.04.2009, Stand März 2009, S. 5).
54 
Eine systematische und direkte Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen Rasse, Nationalität oder politischer Überzeugung von Seiten der Regierung fand seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 nicht statt (Lageberichte des AA vom 26.06.2007, Stand Juni 2007, S. 6 und vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 7). Allerdings standen Tamilen im Generalverdacht, die LTTE zu unterstützen, und mussten mit staatlichen Repressionen rechnen. Sie wurden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt. Sie sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, Pkw-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richteten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des „Terrorism Prevention Act“ Ende 2006 - ein Notstandsgesetz, das Verhaftungen ohne Haftbefehl und eine Inhaftierung bis zu 18 Monaten erlaubt, wenn die Behörden insbesondere den Verdacht terroristischer Aktivitäten haben (vgl. SFH, Sri Lanka, Aktuelle Situation, Update vom 11.12.2008, S. 3) - war die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wurde, musste mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung hat kommen müssen (Lagebericht des AA vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 8). So wurden am 30. und 31.12.2005 im Rahmen der von Militär und Polizei in Colombo durchgeführten Operation „Strangers Night III.“ 920 Personen, die weit überwiegende Mehrheit Tamilen, verhaftet (Human Rights Watch, Return to War - Human Rights under Siege - August 2007, S. 74).
55 
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in seiner Stellungnahme zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka vom 01.02.2007, die eine Zusammenfassung und Teilübersetzung der „UNHCR Position on the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Sri Lanka (December 2006)“ enthält, unter anderem ausgeführt, dass von der sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage im besonderem Maße Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes betroffen seien. Aus der Stellungnahme ergibt sich, dass bei dem Verdacht, dass sie Verbindungen zur LTTE unterhalten, Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen Behörden oder mutmaßlich von der Regierung gestützte Paramilitärs drohten (S. 2). Für Tamilen aus Colombo bestand aufgrund der im April bzw. Dezember 2006 drastisch verschärften Sicherheitsbestimmungen ein erhöhtes Risiko, willkürlichen, missbräuchlichen Polizeimaßnahmen - insbesondere Sicherheitskontrollen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Hausdurchsuchungen oder Leibesvisitationen - unterworfen zu werden. Tamilen aus Colombo waren darüber hinaus besonders gefährdet, Opfer von Entführungen, Verschleppungen oder Tötungen zu werden. Zwischen dem 20.08.2006 und dem 02.09.2006 waren Presseberichten zufolge mehr als 25 Tamilen entführt worden, nur zwei Personen waren bis zum Dezember 2006 wieder freigekommen (S. 2 f.). Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der dauernden Bedrohung durch terroristische Attacken im Großraum Colombo waren teilweise für die gesamte tamilische Minderheit bedrohlich und stellten ihre Sicherheit in Frage. Extralegale Tötungen, die seit jeher Teil des Konflikts gewesen waren, wurden seit Dezember 2005 auch in signifikanter Zahl von Regierungsseite verübt. Viele Taten sind an gewöhnlichen Personen begangen worden, die kaum erkennbar in Verbindung zu dem Konflikt standen. Teilweise handelte es sich um Teile eines Musters, die LTTE anzugreifen, teilweise geschahen sie aus politischen Motiven. Sie konnten aber auch einen kriminellen Hintergrund haben (Asylsuchende aus Sri Lanka, Position der SFH vom 01.02.2007 S. 5).
56 
Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht vom 14.06.2007 (Sri Lanka’s Human Rights Crisis, Asia Report N. 135) unter anderem festgehalten, dass die Anzahl der Verschwundenen in den letzten achtzehn Monaten nur schwerlich mit Sicherheit festzustellen sei. Verschiedene verlässliche Quellen berichteten von mehr als 1.500 Betroffenen, wobei das Schicksal von mindestens 1.000 Personen unklar gewesen sei. Die höchste Anzahl von Betroffenen sei in den von der Regierung kontrollierten Bereichen Jaffnas festzustellen gewesen. Dort seien 731 Fälle registriert worden, in 512 Fällen gebe es noch keine Aufklärung. Im Großraum Colombo sei es zu mehr als 70 berichteten Fällen von Entführungen und des Verschwindenlassens gekommen. Die meisten der Betroffenen seien junge tamilische Volkszugehörige gewesen, die der Zusammenarbeit mit der LTTE verdächtigt worden seien. Auch eine Vielzahl von Personen ohne Verbindung zur LTTE seien Opfer dieses Verschwindenlassens geworden.
57 
Human Rights Watch (HRW) geht in seinem Bericht aus dem August 2007 (Return to War - Human Rights under Siege -) davon aus, dass Entführungen und Fälle des Verschwindenlassens seit August 2006 auch in Colombo zu einer weitverbreiteten Erscheinung geworden seien. Die Organisation gelangt auf der Grundlage von Gesprächen mit 26 Familien von verschwundenen Personen zu dieser Aussage (S. 53 f.). Landesweit geht HRW für den Zeitraum vom 14.09.2006 bis zum 25.02.2007 von 2.020 Fällen Entführter oder sonst verschwundener Personen aus. „Ungefähr 1.134 Personen“ seien lebend wieder aufgefunden worden, die anderen seien weiterhin vermisst (S. 7).
58 
Nach dem Country Report on Human Rights Practices zu Sri Lanka des U.S. Department of State 2007 vom 11.03.2008 waren extralegale Tötungen in Jaffna an der Tagesordnung. Zwischen dem 30.11.2007 und dem 02.12.2007 sind nach zwei Bombenangriffen der LTTE in und um Colombo beinahe 2.500 tamilische Volkszugehörige in der Hauptstadt und geschätzte 3.500 Tamilen im ganzen Land verhaftet worden. Die Inhaftierten, überwiegend männliche tamilische Zivilisten sollen allein aufgrund ihrer tamilischen Nachnamen verhaftet worden sein. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wurde bald wieder freigelassen. Zum Jahreswechsel waren nur noch zwölf von 372 im Boosa detention camp Inhaftierten in Gewahrsam.
59 
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich selbst dann, wenn alle Angaben zutreffen sollten, zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Ende November 2007 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde keine Volksgruppe gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht ohne weiteres auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen. Selbst wenn alle Übergriffe im Großraum Colombo zwischen November 2005 und Dezember 2007 dem sri-lankischen Staat zuzurechnen wären - tatsächlich sind dabei auch Übergriffe der LTTE und „rein kriminelle Übergriffe“ mit dem Ziel der Lösegelderpressung unter den registrierten Fällen - und alle Inhaftierungen - auch die von bloß kurzer Dauer von nicht mehr als drei Tagen - gezählt werden, ist das Verhältnis von 3.400 Verhaftungen zu mehr als 240.000 tamilischen Einwohnern angesichts des Zeitraums von zwei Jahren nicht geeignet, eine Regelvermutung der Gefährdung eines jeden Gruppenmitglieds zu rechtfertigen. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass 2.500 der Inhaftierten nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden sind und damit keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 RL 2004/83/EG erdulden mussten, ergibt sich eine Betroffenheit von 0,3 % der gesamten tamilischen Bevölkerung. Dieser - für die Bewertung des Standards der Achtung der Menschenrechte insoweit gleichwohl hohe - Prozentsatz der Betroffenen innerhalb eines Zweijahreszeitraums führt nicht zum Schluss auf die erforderliche aktuelle Gefahr der Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds.
60 
Zu einer anderen Beurteilung bezogen auf den Zeitpunkt August 2008 besteht kein Anlass. Auch der Kläger hat nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
61 
b) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers derzeit wie folgt dar:
62 
aa) Bezogen auf den Zeitpunkt November 2010 führte der erkennende Gerichtshof in seinem Urteil vom 09.11.2010 aus (a.a.O. Rn. 57 ff.):
63 
Am 19.05.2009 hat der sri-lankische Staatspräsident Mahinda Rajapakse in einer Parlamentsansprache den Sieg der Regierungstruppen über die tamilische Separatistenorganisation LTTE verkündet. Tags zuvor war nach den Angaben des Militärs bei einem der letzten Gefechte der LTTE-Anführer Velupillai Prabhakaran ums Leben gekommen, nachdem zuvor fast die gesamte militärische und politische Führung der LTTE umgekommen war. Der seit 1983 mit Unterbrechungen währende Bürgerkrieg war damit beendet (Lagebericht des AA vom 02.09.2009, Stand: August 2009, S. 6). Hunderttausende Menschen mussten während des Bürgerkriegs ihre Heimatorte im tamilischen Norden und Osten des Landes verlassen. Als Binnenvertriebene suchten sie Zuflucht in weniger gefährdeten Gebieten des Landes. Viele entschieden sich auch dafür, ins Ausland zu gehen. In der Ostprovinz konnten die Binnenvertriebenen inzwischen bis auf einige Ausnahmen in ihre Heimatgemeinden zurückkehren (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 8). Rund 300.000 Zivilpersonen waren in den letzten Monaten des Bürgerkriegs im von der LTTE gehaltenen, kontinuierlich schrumpfenden Gebiet eingeschlossen. Notgedrungen zogen sie mit den LTTE-Verbänden mit und waren in der zuletzt nur wenige Quadratkilometer ausmachenden Kampfzone im Nordwesten des Landes allen Schrecken dieser Kämpfe ausgesetzt. Nach deren Beendigung brachte sie die Armee in geschlossenen Lagern hauptsächlich in Vavuniya im nördlichen Vanni unter, zu denen nationale und internationale Hilfsorganisationen lange nur eingeschränkt Zugang hatten. Die Regierung begründete diese Lagerunterbringung mit der Notwendigkeit, sich unter den Binnenvertriebenen verbergende ehemalige LTTE-Kämpfer herauszufiltern, und der Unmöglichkeit, die Betroffenen in noch verminte Heimatorte zurückkehren zu lassen. Einigen wenigen wurde die Rücksiedlung im Juni 2009 gestattet. Im August 2009 begann dann sehr zögerlich ein Rücksiedlungsprozess, der im Oktober größeren Umfang annahm und sich ab Dezember wieder verlangsamte, da die Herkunftsorte der Verbliebenen (im Juni 2010 waren noch knapp 60.000 Personen in Lagern untergebracht) noch erheblich zerstört und vermint sind. Einem gesonderten Regime unterliegen die geschlossenen, so genannten „Rehabilitationslager“, in denen rund 8.000 ehemalige LTTE-Kämpfer (bzw. Personen, die insoweit verdächtigt werden) untergebracht sind. Zu diesen Lagern haben weder das IKRK noch Hilfsorganisationen Zugang. Die Antiterrorgesetze von 1979 (Prevention of Terrorism Act) haben weiter Bestand. Die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen insbesondere in Colombo, einschließlich der zahlreichen Kontrollpunkte von Polizei und Militär, werden aufrecht erhalten (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 9 f.).
64 
Zu den Insassen der „Rehabilitationslager“ hat Human Rights Watch festgestellt, dass zwar die meisten der Verdächtigten in den letzten Wochen der Kampfhandlungen und in der Zeit unmittelbar danach inhaftiert worden seien, dass aber auch neue Inhaftierungen, nämlich im Oktober 2009, erfolgt seien (Human Rights Watch, Legal Limbo - The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, Februar 2010, S. 6).
65 
In unterschiedlichen Bereichen kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen, die Anzeichen für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung aufweisen. Davon sind nicht nur Tamilen betroffen, sondern auch regierungskritische Singhalesen. So werden oppositionelle Parlamentsabgeordnete, die der Regierung gefährlich werden können, unter fadenscheinigen Vorwürfen verhört, verhaftet oder bedroht. Der Generalverdacht, dass jeder Tamile ein Anhänger, Unterstützer oder gar Mitglied der LTTE war und ist, wird im singhalesischen Teil der Gesellschaft von vielen geteilt, insbesondere bei den staatlichen Sicherheitskräften (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 10 f.).
66 
Für eine systematische Verfolgung von Tamilen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es keine Anhaltspunkte, sie müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien und Hausdurchsuchungen, schikanösen Behandlungen (Beleidigungen, langes Warten, exzessive Kontrolle von Fahrzeugen, Erpressung von Geldbeträgen) bei den zahlreichen Polizeikontrollen im Straßenverkehr und Verhaftungen richten sich vor allem gegen Tamilen, wobei aus dem Norden und Osten stammende Tamilen darunter noch in höherem Maße zu leiden haben. Durch Anwendung des Prevention of Terrorism Act ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder einer Anklageerhebung kommen muss. Die Situation hat sich seit Beendigung der Kampfhandlungen nicht verbessert (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 11).
67 
Ein Asylantrag im Ausland, der von vielen in Sri Lanka als legitimer Versuch angesehen wird, sich einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, begründet in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Sri Lanka niederlassen wollen, müssen indes einen Anfangsverdacht und entsprechendes Misstrauen bis zu Schikanen durch die Sicherheitsorgane gegenwärtigen. Mindestens ebenso stark steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Das Ende der Kampfhandlungen hat diesbezüglich nicht zu einer Entspannung geführt. Am 26.05.2010 wurde am Flughafen Colombo bei der Einreise eine in Deutschland ansässige Sri-Lankerin unter dem Verdacht der LTTE-Unterstützung festgenommen, die nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in Deutschland für die LTTE Gelder eingesammelt und im Frühjahr letzten Jahres Demonstrationen organisiert haben soll. Belastbaren Berichten anderer Botschaften zufolge gibt es Einzelfälle, in denen zurückgeführte Tamilen nach Ankunft in Colombo unter LTTE-Verdacht festgenommen wurden (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 24).
68 
Aus dem „Report of Information Gathering Visit to Colombo, Sri Lanka, 23. bis 29. August 2009“ vom 22.10.2009 des „U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate“ (FCO), für den sowohl staatliche sri-lankische Stellen als auch Nichtregierungsorganisationen befragt wurden, ergibt sich, dass unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit nicht freiwillig nach Sri Lanka zurückkehrende Personen dem Criminal Investigation Department zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und Kontrolle des Vorstrafenregisters überstellt werden. Die Befragung kann mehr als 24 Stunden dauern. Die Betroffenen werden erkennungsdienstlich behandelt. Abhängig vom Einzelfall ist eine Überstellung an den Geheimdienst (State Intelligence Service) oder das Terrorist Investigation Department zum Zwecke der Befragung denkbar. Jeder, der wegen eines Vergehens gesucht wird, muss mit seiner Verhaftung rechnen. Vorbestrafte oder Personen mit Verbindungen zur LTTE werden weitergehend befragt und gegebenenfalls in Gewahrsam genommen. Laut Nichtregierungsorganisationen würden Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes einer genaueren Überprüfung als andere unterzogen. Verschiedene Faktoren, nämlich ein offener Haftbefehl, Vorstrafen, Verbindungen zur LTTE, eine illegale Ausreise, Verbindungen zu Medien oder Nichtregierungsorganisationen und das Fehlen eines Ausweises (ID Card) oder anderer Personaldokumente, erhöhten das Risiko, Schwierigkeiten bei der Einreise zu bekommen, einschließlich einer möglichen Ingewahrsamnahme (S. 5). Hingegen konnte keine der befragte Quellen angeben, dass sichtbare Narben einen Einfluss auf die Behandlung bei der Einreise haben könnten. Im Falle, dass der Verdacht einer Verbindung zur LTTE bestünde, könnten solche Narben Anlass zu einer Befragung sein, jedoch würden diesbezüglich keine körperlichen Untersuchungen durchgeführt (S. 16).
69 
Überwiegend hätten die Befragten angegeben, dass die Anzahl der Razzien (cordon and search operations) in den letzten Monaten nicht zurückgegangen sei. Es gebe keine Informationen zu der Anzahl möglicher Festnahmen. Grundsätzlich seien junge männliche Tamilen, die aus dem Norden oder Osten des Landes stammten, im Zuge von Razzien einem besonderen Festnahmerisiko ausgesetzt. Die bereits genannten Faktoren erhöhten das Risiko. Tamilen ohne Beschäftigung oder „legitimen Aufenthaltsgrund“ würden ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit als verdächtig angesehen (S. 5).
70 
Nach ganz überwiegender Meinung der Befragten hat es - wenn überhaupt - seit Juni 2009 nur noch sehr wenige Entführungen / Fälle des Verschwindenlassens gegeben. Die Entführungen erfolgten demzufolge sowohl zur Lösegelderpressung als auch aus politischen Gründen. Die Nichtregierungsquellen stimmten weitgehend darin überein, dass die Sicherheitskräfte in den meisten Fällen in gewisser Weise beteiligt seien und die Polizei keine ernsthaften Ermittlungen durchführe (S. 5 f.). Bei den Straßenkontrollen im Großraum Colombo, die nach Angabe der meisten Befragten nicht nennenswert reduziert worden seien, würde es nur sehr selten zu Festnahmen kommen. Seit Juni 2009 seien keine bekannt geworden.
71 
Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.06.2010 und der (ältere) Bericht des U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate ergänzen sich. Jedenfalls die hier zitierten allgemeinen Feststellungen (S. 5 f.), die auf mindestens weit überwiegend übereinstimmenden Angaben der Befragten beruhen, sind geeignet, die insoweit knapper gehaltenen Aussagen der Lageberichte zu den Gefährdungen von Tamilen zu illustrieren. Eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen (im wehrfähigen Alter) lässt sich auf der Basis der wiedergegebenen Erkenntnisse nicht feststellen. Insbesondere angesichts des Umstands, dass Verhaftungen bei Razzien ebenso selten geworden sind wie an Straßenkontrollpunkten und Fälle des Verschwindenlassens ebenfalls kaum mehr vorkommen, lässt sich eine generelle staatliche oder staatlich tolerierte Verfolgung der Gruppe der Tamilen nicht feststellen. Anderes lässt sich auch nicht aus dem Fortbestehen der „rehabilitation camps“ schließen. Denn jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass nach deren Begründung noch Personen in einer für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller - jedenfalls der im wehrfähigen Alter befindlichen - Tamilen relevanten Größenordnung in diese Lager verbracht worden sind. Aus dem vom Kläger zitierten Bericht von Human Rights Watch, Legal Limbo, The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, ergibt sich unter Bezugnahme auf den „Indian Express“ vom 28. Oktober 2009, dass mindestens 300 LTTE Kader, die sich unter den Binnenvertriebenen versteckt hätten, verhaftet worden seien. Damit ist weder ein Bezug zu der Gruppe aller Tamilen oder jedenfalls derjenigen im wehrfähigen Alter aufgezeigt noch ergibt sich aus den berichteten Vorkommnissen, dass diese bis zum Tag der mündlichen Verhandlung gleichsam an der Tagesordnung gewesen wären.
72 
Die Einlassung des Klägers, aus dem zitierten Bericht von Human Rights Watch ergebe sich eine Zunahme der Fälle des Verschwindenlassens, vermag stichhaltige Indizien für eine Gruppenverfolgung aller (wehrfähigen) Tamilen nicht darzutun. Den dortigen Ausführungen im Unterkapitel „Concerns about Possible Enforced Disappearances“ sind vielmehr zunächst zwei Einzelfälle des Verschwindens nach Ende des Bürgerkriegs zu entnehmen. Darüber hinaus wird über eine Internierung von Dutzenden von Personen aus dem Lager „Menik Farm“ berichtet. Es wird weiter geschildert, dass das Schicksal der internierten Personen häufig - bis zum Tag des Berichts - unklar geblieben sei. Daraus lässt sich ein erhöhtes Risiko für solche Personen ableiten, die aus Sicht der Behörden im Verdacht stehen, mit der LTTE zusammengearbeitet haben, nicht jedoch eine Gruppenverfolgung aller (jungen männlichen) Tamilen. Der gegen alle Tamilen gerichtete so genannte „Generalverdacht“ führt offenkundig für sich genommen noch nicht regelmäßig zu Übergriffen der Sicherheitsbehörden. Vielmehr kommt es auf individuell gefahrerhöhende Umstände an, bei deren Vorliegen im Einzelfall eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen sein kann.
73 
Auch aus dem vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Gutachten des European Center for Constitutional and Human Rights „Study on Criminal Accoutability in Sri Lanka as of January 2009“ aus dem Juni 2010 lässt sich die von ihm behauptete Gruppenverfolgung nicht ableiten. Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der in den „welfare centers“ in Gewahrsam gehaltenen Personen von 280.000 (zwischen März 2008 und Juni 2009) bis in den Januar 2010 auf rund 80.000 abgenommen hat. Dem Bericht, der sich mit den Zuständen in den Lagern beschäftigt, ist nicht zu entnehmen, dass sri-lankische Staatsangehörige nach ihrer Wiedereinreise dazu gezwungen worden wären, in solchen Lagern zu leben. Weiter beschäftigt sich das Gutachten unter Zitierung des bereits erwähnten Berichts von Human Rights Watch aus dem Februar 2010 mit der Behandlung von der LTTE-Mitgliedschaft Verdächtigten. Auch diesen Ausführungen ist nichts zu einer anhaltenden Verhaftungswelle - wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung notwendig wäre - nach Beendigung des Bürgerkriegs und in den folgenden Monaten im Jahr 2009 zu entnehmen.
74 
Schließlich führt insoweit der Verweis des Klägers auf die Lageeinschätzung der International Crisis Group vom 17.02.2010, die sein Prozessbevollmächtigter im „Parallelverfahren“ (A 4 S 693/10) vorgelegt hat, nicht zum Erfolg seiner Klage. Dem Bericht ist zwar zu entnehmen, dass das Vorgehen der Regierung im Norden und Osten des Landes zur Verängstigung und Entfremdung der Minderheiten führe. Das aus dieser Behandlung aber ein systematisches Ausgrenzen der tamilischen Minderheit aus der staatlichen, übergreifenden Friedensordnung im Sinne einer Entrechtung abzuleiten wäre, ergibt sich weder aus diesem Bericht noch aus der Gesamtschau. Ebenso wenig lässt sich ein staatliches Verfolgungsprogramm hinsichtlich aller Tamilen oder auch nur der im wehrfähigen Alter befindlichen Gruppenmitglieder feststellen. Anderes kann möglicherweise für die im Zuge der Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen unmittelbar in den rehabilitation camps Inhaftierten oder die aus den Flüchtlingslagern „herausgefilterten“, in rehabilitation camps verbrachten Personen gelten. Jedoch ist ein solches systematisches Vorgehen gegenüber etwa in Colombo lebenden Tamilen nicht feststellbar.
75 
Die rechtliche Einschätzung zur fehlenden begründeten Furcht vor einer Gruppenverfolgung entspricht auch der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteile vom 08.07.2009 - 3 A 3295/07.A - und vom 24.08.2010 - 3 A 864/09.A -) und - der Sache nach - des UK Asylum and Immigration Tribunal (TK (Tamils - LP updated) Sri Lanka CG [2009]UKAIT 00049 RdNr. 73).
76 
bb) Erst recht ist die Annahme einer Gruppenverfolgung zum derzeitigen Zeitpunkt (Oktober 2016) nicht gerechtfertigt.
77 
(1) In Sri Lanka leben nach Auskunft des Auswärtigen Amts (Länderinformation, Stand: Februar 2015) 20,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Sri-Lanka-Tamilen beträgt 11,2 % (auch Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7); es ist mithin von etwa 2,3 Millionen Volkszugehörigen auszugehen. „Indian Tamils“ machen 4,2 % der Bevölkerung aus.
78 
Am 08.01.2015 wurde Maithripala Sirisena bei der Präsidentenwahl, bei der die Wahlbeteiligung bei 81,5 % lag, zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er setzte sich mit 51,28 % der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Rajapaksa durch, der 47,58 % erhielt. Am 17.08.2015 fanden Parlamentswahlen statt, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts frei und fair waren (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6). Die Tamilenpartei ITAK erhielt 4,62 % der Stimmen und damit 16 Mandate, sie stellt mit Rajavarothiam Sampanthan den Oppositionsführer (a.a.O.).
79 
Mit dem Amtsantritt Sirisenas am 09.01.2015 hat sich die politische Situation in Sri Lanka nach Einschätzung des Auswärtigen Amts (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5) erheblich zum Positiven verändert. Demokratie und Rechtsstaat seien gestärkt worden. Die Menschenrechte, insbesondere die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden wieder respektiert. Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition seien nicht mehr eingeschränkt (a.a.O. S. 7). Menschenrechtsorganisationen hätten größere Freiräume (a.a.O. S. 6). So genannte Verschwundenen-Fälle seien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht mehr bekannt geworden (a.a.O. S. 12).
80 
Das Auswärtige Amt merkt in seinem jüngsten Lagebericht aber auch an, dass insbesondere im Norden und Osten noch nicht alle Menschenrechtsverletzungen abgestellt seien (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Einzelne Menschenrechtsvertreter würden dort vom Sicherheitsapparat verfolgt und ihre Gesprächspartner würden gelegentlich noch von Sicherheitskräften ausgefragt (a.a.O. S. 6, auch S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte von Menschenrechtsverteidigern zu Überwachungen durch die Polizei und das Militär im Norden und Osten sowie Befragungen). Die Polizei wende mitunter noch immer unverhältnismäßigen Zwang an (a.a.O. S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Beschwerden über die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen). Als Beispiel nennt das Auswärtige Amt die Beendigung friedlicher Studentendemonstrationen mittels Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken (a.a.O. S. 7); es verweist zudem auf Angaben Internationaler Organisationen und Presseberichte, wonach Folter weiterhin gelegentlich zur Erpressung von Geständnissen angewandt wird (a.a.O. S. 11; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte über Folter und andere Misshandlungen). Auch sollen Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen sowie in Gefängnissen weiter vorkommen (a.a.O. S. 12).
81 
Amnesty International (Amnesty Report 2016, Sri Lanka) verweist darüber hinaus auf Berichte über ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam; Häftlinge würden häufig an Verletzungen sterben, die den Schluss zuließen, dass sie gefoltert und misshandelt worden seien.
82 
Nach Angaben des Auswärtigen Amts hat die neue Regierung zahlreiche Schritte unternommen, um die Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Land voranzubringen (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Sie suche aktiv den Dialog mit der tamilischen Diaspora (auch a.a.O. S. 10). Amnesty International berichtet zudem darüber (Amnesty Report 2015, Sri Lanka), dass im Jahr 2015 am Jahrestag der Beendigung des bewaffneten Konflikts öffentliche Gedenkfeiern von Tamilen im Wesentlichen erlaubt waren (vgl. auch Human Rights Watch, Sri Lanka After the Tigers, 19.02.2016, mit dem Hinweis, dass Gedenkfeiern für verstorbene Tamilen mittlerweile erlaubt seien), und fügt hinzu, dass über eine starke Polizeipräsenz bei derartigen Zusammenkünften berichtet worden sei (vgl. auch Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Insbesondere Human Rights Watch macht aber auch darauf aufmerksam, dass ein Erfolg versprechender Versöhnungsprozess, der unter anderem auch eine Aufarbeitung der beiderseitigen Kriegsverbrechen beinhaltet, noch nicht wirklich ins Werk gesetzt worden ist (vgl. etwa die Beiträge „Time to seize the Moment“ [25.05.2016] und „Unfinished Business in Sri Lanka“ [01.09.2016]).
83 
Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts gibt es gegenüber Tamilen im Norden und Osten seit dem Amtsantritt Sirisenas „keine direkten staatlichen Repressionen mehr“ (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7). In Sri Lanka gebe es keine diskriminierende Gesetzgebung, Verwaltungspraxis oder Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis (a.a.O. S. 8). Der von der Polizei angewendete unverhältnismäßige Zwang richte sich nicht gegen eine bestimmte Gruppe (a.a.O. S. 7). Während die Anwendung von Folter früher vor allem Tamilen betroffen habe, sollen mittlerweile Singhalesen in gleichem Maß betroffen sein (a.a.O. S. 11 unter Berufung auf Berichte von Human Rights Watch und lokale Menschenrechtsorganisationen; Human Rights Watch [Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016] spricht von „continued reports of the torture of detainees“ [fortgesetzten Berichten über die Folter von Inhaftierten]).
84 
Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass der infolge des langjährigen Bürgerkriegs umfassende Sicherheitsapparat nach Ende des Konflikts 2009 kaum reduziert wurde und insbesondere im Norden und Osten noch stark vertreten ist (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6, auch S. 7; vgl. auch Human Rights Watch, Unfinished Business in Sri Lanka, 01.09.2016). Es verweist zudem darauf, dass nach Angaben der sri-lankischen NGO Groundviews 2015 noch immer mindestens 181 von ehemals ca. 12.000 LTTE-Mitgliedern oder -Symphatisanten, die sich bei Kriegsende gestellt hätten, ohne Gerichtsurteil inhaftiert seien; bis November 2015 seien 38 davon gegen Kaution freigelassen worden (a.a.O. S. 12).
85 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 „Sri Lanka: Gefährdung bei Rückkehr und Zugang zu medizinischer Versorgung in Haft“ darauf hin (S. 3), dass Berichte der NGO Freedom from Torture und International Truth & Justice Project Sri Lanka vom Januar 2016 insgesamt 27 Fälle dokumentierten, in denen tamilische Personen durch sri-lankische Sicherheitskräfte gefoltert, willkürlich verhaftet oder entführt worden seien. Der jüngste in dem letztgenannten Bericht dokumentierte Fall (von insgesamt 20 Fällen) habe sich im Dezember 2015 zugetragen (vgl. a.a.O. S. 4). Während der Verhöre seien mehrere der Betroffenen beschuldigt worden, die LTTE wiederaufbauen zu wollen oder das Land in Unruhe zu bringen. 19 der Personen seien Opfer von Entführungen mittels weißer Lieferwagen geworden („White Van Abduction“). 16 der Personen hätten in der Vergangenheit eine Funktion der LTTE auf niedriger Stufe gehabt.
86 
Der Prevention of Terrorism Act (s. o. aa und a) ist weiterhin in Kraft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7 und 12; auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, und Human Rights Watch, UN Human Rights Council: High Commissioner’s Report on human rights of Rohingya Muslims and other minorities in Burma/Maanmar and on Sri Lanka, 30.06.2016). Das Auswärtige Amt führt aus, die Regierung gebe an, 181 Personen seien auf seiner Grundlage inhaftiert, wobei die Mehrheit tamilischer Herkunft sei, die Zivilgesellschaft gehe hingegen von rund 250 Personen aus (a.a.O. S. 7). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist darauf, dass verschiedene Schätzungen „sich auf bis über 200 Personen“ beliefen (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6). Amnesty International zitiert eine Erklärung des Oppositionsführers Sampanthan vor dem Parlament, dass noch 217 Personen auf der Grundlage der Bestimmungen des PTA inhaftiert seien (Amnesty Report 2016, Sri Lanka). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird er „weiterhin eingesetzt, um tamilische Personen zu verhaften, welche der angeblichen Verbindungen zur LTTE verdächtigt werden“ (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6; entsprechend Amnesty Report 2016, Sri Lanka; ferner Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Die Flüchtlingshilfe verweist auch auf eine sri-lankische Zeitung, die von Verhaftungen von Militärpersonal unter dem PTA berichtet hat.
87 
Rückkehrer müssen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich keine staatlichen Repressalien gegen sich fürchten, jedoch müssen sie sich nach Rückkehr Vernehmungen durch die Immigration, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department stellen; ob es zur Anwendung von Gewalt kommt, ist nicht bekannt (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 13). Mit solchen Vernehmungen ist insbesondere zu rechnen, wenn die rückkehrende Person keinen gültigen sri-lankischen Reisepass vorlegen kann; Fälle diskriminierender Behandlung solcher Personen (auch von Tamilen) sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (a.a.O. S. 14). Bei der Einreise mit gültigem sri-lankischem Reisepass würden die Einreiseformalitäten zumeist zügig erledigt; dies gelte auch für Zurückgeführte (a.a.O. S. 14).
88 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 aus (S. 1), dass es auch nach Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Verhaftungen von tamilischen Rückkehrenden kam. Die Verhaftungen schienen oft mit angeblichen Verbindungen zur LTTE zusammenzuhängen. Eine zuvor erfolgte illegale Ausreise könne bei der Rückkehr ebenfalls zu einer Verhaftung führen. Die Flüchtlingshilfe führt nach diesen einleitenden Bemerkungen unter Berufung auf verschiedene Quellen einzelne Fälle auf. So verweist sie zunächst auf einen Bericht der Zeitung Ceylon News vom 19.04.2016, wonach ein aus Mullaitivu stammender Tamile bei seiner Rückkehr aus Doha am 12.04.2016 durch das Terrorist Investigation Department am Flughafen aufgegriffen und anschließend sieben Stunden verhört worden sei (a.a.O. S. 1 f.). Anschließend sei er mit der Aufforderung freigelassen worden, am nächsten Morgen das TID-Büro in Colombo aufzusuchen. Am folgenden Tag sei er dort verhaftet worden. Die Flüchtlingshilfe spricht außerdem etwa den Fall eines tamilischen Journalisten an, der nach seiner Rückkehr nach Sri Lanka durch die sri-lankischen Behörden verhaftet worden sei (a.a.O. S. 2). Der Journalist und Aktivist sei im Jahr 2012 nach Australien geflohen und habe sich aufgrund der positiven Signale der aktuellen sri-lankischen Regierung für die Rückkehr entschieden. Er sei nach der Inhaftierung auf Kaution freigelassen worden. Ihm seien aber Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt worden und er müsse sich jeden Monat im berüchtigten vierten Stock des Hauptquartiers des CID in Colombo melden. Unter Berufung auf TamilNet führt die Flüchtlingshilfe auch aus, dass viele tamilische Rückkehrende aus dem Nahen Osten in der jüngsten Zeit durch den sri-lankischen Militärgeheimdienst verhaftet worden seien (a.a.O. S 2). Die Flüchtlingshilfe zitiert schließlich etwa auch aus einem Bericht der International Crisis Group, wonach weiterhin rückkehrende tamilische Personen unter Anwendung des Prevention auf Terror Act (PTA) wegen des Verdachts auf zurückliegende LTTE-Verbindungen verhaftet würden; viele würden in durch das Militär betriebene Rehabilitationsprogramme geschickt.
89 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe trägt in der Auskunft vom 22.04.2016 auch vor, dass das International Truth & Justice Project Sri Lanka im Januar 2016 zu dem Schluss gekommen sei, dass tamilische Personen, welche aus dem Ausland zurückkehrten, überwacht würden (a.a.O. S. 4). So gebe es weiterhin ein umfangreiches Netzwerk von tamilischen Informanten, welche Rückkehrende beobachteten. Das sichere Verlassen des Flughafens sei deswegen keine Garantie für die spätere Sicherheit. Die Flüchtlingshilfe gibt ferner die Einschätzung von International Truth & Justice Project wieder, dass es für tamilische Personen im Ausland noch nicht sicher sei, nach Sri Lanka zurückzukehren, wenn die betroffene Person in der Vergangenheit eine Verbindung zur LTTE aufweise (a.a.O. S. 5).
90 
(2) Diese Erkenntnisse lassen, selbst wenn sich alle Angaben zu flüchtlingsschutzrelevanten Menschenrechtsverletzungen als zutreffend erweisen sollten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Schluss auf eine Gruppenverfolgung von Tamilen, auch nicht vom männlichen Tamilen aus dem Norden, zu. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Auch die Zahl an Verhaftungen und Überwachungen von Tamilen sowie an ihnen gegenüber vorgenommene Handlungen, die als Folter einzustufen sind, lässt nicht annähernd auf die Gefahr schließen, dass (nahezu) jedes Gruppenmitglied mit solchen Maßnahmen zu rechnen hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht jede Verhaftung mit anschließendem Verhör schon eine Menschenrechtsverletzung darstellt.
91 
Der nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bestehenden, im Vergleich zu den Jahren 2008 und 2010 deutlich verbesserten Gesamtsituation der Tamilen in Sri Lanka hat der Kläger nichts entgegengehalten.
III.
92 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
93 
1. Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315; jüngst etwa Kammerbeschluss vom 09.03.2016 - 2 BvR 348/16 - juris Rn. 12). Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung (BVerfGE 80, 315). An gezielten Rechtsverletzungen fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfGE 80, 315, 335). Ob eine gezielte Verletzung von Rechten vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfGE 80, 315, 335).
94 
Das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG beruht auf dem Zufluchtgedanken, mithin auf dem Kausalzusammenhang Verfolgung - Flucht - Asyl (BVerfGE 80, 315, 344). Nach dem hierdurch geprägten normativen Leitbild des Grundrechts ist typischerweise asylberechtigt, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deswegen in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Atypisch, wenn auch häufig, ist der Fall des unverfolgt Eingereisten, der hier gleichwohl Asyl begehrte und dafür auf Umstände verweist, die erst während seines Hierseins entstanden sind oder deren erst künftiges Entstehen er besorgt (sog. Nachfluchttatbestände).
95 
Nach diesem normativen Leitbild des Asylgrundrechts gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfGE 80, 315, 344).
96 
Ergibt die rückschauende Betrachtung, dass der Asylsuchende vor landesweiter politischer Verfolgung geflohen ist, so kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter regelmäßig in Betracht. Ergibt sie eine lediglich regionale Verfolgungsgefahr, so bedarf es der weiteren Feststellung, dass der Asylsuchende landesweit in einer ausweglosen Lage war. Steht fest, dass Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates im beschriebenen Sinn unzumutbar war, so ist er gemäß Art. 16a Abs. 1 GG asylberechtigt, es sei denn, er kann in seinem eigenen Staat wieder Schutz finden. Daher muss sein Asylantrag Erfolg haben, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist; eine Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht geboten, wenn der Asylsuchende vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Gleiches gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische Fluchtalternative eröffnet.
97 
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (BVerfGE 80, 315, 345 f.). Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere unzumutbare Nachteile oder Gefahren.
98 
2. Der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten steht entgegen, dass nach Überzeugung des Senats die nach dem Vorbringen des Klägers fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe nicht der Wahrheit entspricht (s. o. II. 2.) und er zum Zeitpunkt der Ausreise nicht Mitglied einer verfolgten Gruppe war (s. o. II. 3. a) sowie er ein solches auch zum heutigen Zeitpunkt nicht ist (s. o. II. 3. b bb).
IV.
99 
Der Kläger hat weiterhin nicht den von ihm hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Plausible Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Sri Lanka ein ernsthafter Schaden i. S. v. § 4 Abs. 1 AsylG drohen könnte, bestehen nach dem Gesagten nicht.
V.
100 
Der Kläger hat schließlich auch nicht den weiter hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AsylG. Auch insoweit gilt, dass für den Senat kein Sachverhalt ersichtlich ist, der das Vorliegen der genannten Verbote zu begründen in der Lage wäre.
VI.
101 
Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen.
102 
1. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines Gutachtens eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht gerichtet ist, zielt der Antrag auf die Klärung einer Rechtsfrage, nicht aber auf eine dem (Sachverständigen-)Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Ermittlung der Rechtslage und die Anwendung der einschlägigen Vorschriften auf einen konkreten Fall ist ureigene Aufgabe der Rechtsprechung (vgl. § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 293 ZPO: s. a. Geimer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 293 Rn. 1, nicht zuletzt unter Hinweis auf den Grundsatz „iura novit curia“). Die Ermittlung der Rechtslage ist infolgedessen in aller Regel keine Tatsachenfeststellung. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der die Ermittlung ausländischen Rechts sowie der ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht der Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln ist (Urteil vom 19.07.2012 - 10 C 2.12 - NJW 2012, 3461 Rn. 16; kritisch dazu Geimer, a.a.O. Rn. 14). Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Auslegung und Anwendung auf seinen Fall der Kläger geklärt haben will, ist kein ausländisches Recht. Die EMRK gilt vielmehr in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307, 315); deutsche Gerichte haben sie wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfG, a.a.O. S. 317).
103 
b) Der Beweisantrag geht weiterhin von einer unzutreffenden Ausgangslage aus. Die Beklagte hat gegen das stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts das statthafte Rechtsmittel eingelegt; infolge des Suspensiveffekts (zunächst des Antrags auf Zulassung der Berufung, sodann der Berufung) war sie nicht verpflichtet, der ihr vom Verwaltungsgericht auferlegten Verpflichtung nachzukommen. Folglich hatte der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Rechtsstellung eines Asylberechtigten inne.
104 
c) Die Auffassung des Klägers, der Senat sei infolge der Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof daran gehindert, auf die Berufung der Beklagten das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern, teilt der Senat nicht. Er vermag weder dem vom Kläger ausdrücklich angesprochenen Art. 3 EMRK noch dem von ihm der Sache nach angesprochenen Art. 4 EMRK auch nur im Ansatz eine derartige Wirkung zu entnehmen. Dem Kläger ist zwar zuzugestehen, dass das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unangemessen lange gedauert haben dürfte (vgl. § 173 Satz 2 VwGO i. V. m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Rechtsfolge einer unangemessenen Verfahrensdauer - die der Kläger allerdings nicht mit einer Verzögerungsrüge (vgl. § 198 Abs. 3 GVG) beanstandet hat - ist indessen grundsätzlich eine angemessene Entschädigung in Geld. Dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer über das Fehlen materieller Anspruchsvoraussetzungen hinweghelfen könnte, ist gesetzlich nicht vorgesehen und es besteht aus Sicht des Senats auch kein Anlass für eine hierauf gerichtete - was ihre Zulässigkeit angeht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 - 1 BvR 918/00 - BVerfGE 128, 193), problematische - richterliche Rechtsfortbildung. Auch der Kläger nennt keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die auch nur einen Ansatz für seine Auffassung bieten könnte.
105 
2. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gerichtet ist, handelt es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag. Ein solcher liegt vor, wenn Behauptungen ins Blaue hinein aufgestellt werden (vgl. Senatsurteil vom 12.03.2015 - 10 S 1169/13 - juris Rn. 133). Hiervon ist auszugehen, wenn für den Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht (BVerwG, Beschluss vom 17.09.2014 - 8 B 15.14 - juris Rn. 10). So liegt es hier. Zum einen hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass er tatsächlich darauf vertraut hat, als Asylberechtigter anerkannt zu werden; das wäre schon deshalb veranlasst gewesen, weil der Kläger bereits mit der Stellung des Zulassungsantrags damit rechnen musste, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben würde. Zum anderen und vor allem gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger infolge der Zurückweisung der Berufung psychisch erkranken würde. Der Kläger hat nicht vorgetragen, geschweige denn - etwa mittels Vorlage eines ärztlichen Schreibens - untermauert, gegenwärtig an einer psychischen (Grund-)Erkrankung zu leiden, die sich im Fall einer Klageabweisung verschlechtern würde.
106 
b) Abgesehen davon ist der Beweisantrag auch aus dem Grund abzulehnen, dass die vom Kläger in den Raum gestellte „gravierende psychische Reaktion … auch im Sinne einer psychischen Erkrankung“ keine entscheidungserhebliche Tatsache ist. Eine eventuelle psychische Erkrankung könnte im Rahmen der vorliegenden Klage lediglich Bedeutung hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Bedeutung erlangen. Hierfür ist erforderlich, dass sich eine vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leben und Leib führt, d. h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach Rückkehr droht. Der Kläger stellt hier schon nicht eine Erkrankung unter Beweis, die bereits vorhanden ist, er behauptet vielmehr, im Fall der Abweisung seiner Klage zu erkranken. Hinzu kommt, dass von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht Schutz vor Abschiebung nicht bei Vorliegen jeglicher Erkrankung gewährt wird. Vielmehr schützt die Vorschrift nur vor einer erheblichen und alsbaldigen Verschlimmerung für den Fall einer Rückkehr. Darum geht es dem Kläger aber mit seinem Beweisantrag nicht.
VII.
107 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.
108 
Ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.

Gründe

 
22 
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Denn auf diese Möglichkeit war in der Ladung zum Termin hingewiesen worden (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
23 
Die nach Zulassung durch den 12. Senat des erkennenden Gerichtshofs statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Denn die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (I.) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (II.), keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (III.), keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (IV.) und keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots (V.). Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen (VI.).
I.
24 
Für die Beurteilung des Begehrens des Klägers ist auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG). Maßgeblich in rechtlicher Hinsicht ist deshalb das zuletzt durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31.07.2016 (BGBl I S. 1939) geänderte Asylgesetz.
25 
Die erstinstanzlich gestellten Klageanträge sind im Hinblick auf die aktuelle Rechtslage, insbesondere auf die seit 01.12.2013 geltenden §§ 3 ff. AsylG (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl I S. 3474), wie folgt zu verstehen und entsprechend in der mündlichen Verhandlung gestellt worden:
26 
Der auf die Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag ist weder durch die genannte noch durch sonstige Gesetzesnovellen berührt worden.
27 
Der auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG in der zum Zeitpunkt des Ergehens des verwaltungsgerichtlichen Urteils geltenden Fassung gerichtete erste Hilfsantrag ist nunmehr als Antrag auf die Verpflichtung zur Gewährung subsidiären Schutzes auszulegen. Denn in § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind die bisher in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbote zusammengefasst worden (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 25).
28 
Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG „höchsthilfsweise“ gestellte Hilfsantrag kann ohne Änderung weiterverfolgt werden; die Vorschriften sind nicht geändert worden.
II.
29 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG.
30 
1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9; so genannte Qualifikationsrichtlinie - QRL -) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 QRL) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 QRL) muss zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 24 a.E.).
32 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 QRL) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 QRL) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
33 
Der Charakter einer Verfolgungshandlung erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach § 3a AsylG (Art. 9 QRL) geschützten Rechtsguts selbst zielt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 26 m.w.N.).
34 
Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Prognosemaßstab ist der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 27 ff.). Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchstabe d QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 = NVwZ 2013, 936 Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
35 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL gelten können.
36 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
37 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (zur so genannten Gruppenverfolgung vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 30 ff.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religionszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
38 
Für die Gruppenverfolgung (wie auch für jede Individualverfolgung) gilt weiter, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die auch vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. § 3e AsylG, Art. 8 QRL).
39 
Diese ursprünglich zum Asylgrundrecht für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze können prinzipiell auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragen werden, wie sie durch § 3c Nr. 3 AsylG (vgl. Art. 6 Buchstabe c QRL) ausdrücklich als flüchtlingsrechtlich relevant geregelt ist.
40 
Ob Verfolgungshandlungen das Kriterium der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 und 2 AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3b AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Diese Maßstäbe haben auch bei der Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU Gültigkeit.
41 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 34 m.w.N.). Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die nach Art. 4 Abs. 4 QRL maßgebenden stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, können bei richtigem Verständnis der Norm letztlich keine anderen Gründe sein als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f QRL maßgebend sind. Dafür spricht, dass der EuGH diese Grundsätze in einen Kontext mit der „Wegfall der Umstände-Klausel“ gestellt hat. Nur wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründeten, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist, wird die Beweiskraft der Vorverfolgung entkräftet. Würden mit Blick auf ein bestimmtes Herkunftsland statusrechtliche Entscheidungen wegen veränderter Umstände aufgehoben, ist es gerechtfertigt, dem Vorverfolgten im Asylverfahren die Umstände, welche die geänderte Einschätzung der Verfolgungssituation als stichhaltige Gründe leiten, entgegenzuhalten. In diesem Fall bleibt ihm dann die Möglichkeit, unter Hinweis auf besondere, seine Person betreffende Umstände nach Maßgabe des allgemeinen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erneut eine ihn treffende Verfolgung geltend zu machen.
42 
2. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nicht aus individuellen Verfolgungsgründen zuzuerkennen. Der Senat konnte aufgrund des bisherigen Ablaufs des Asylverfahrens und insbesondere aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des in ihr von seiner Person gewonnenen Eindrucks nicht die erforderliche Überzeugung davon gewinnen, dass die nach seinem Vorbringen fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe der Wahrheit entspricht. Vielmehr spricht nach Auffassung des Senats vieles dafür, dass der Kläger den wahren Grund für seine Ausreise nach wie vor für sich behält.
43 
An der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen zunächst aus dem Grund ganz erhebliche Zweifel, dass er im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Einreise im September 2008 nicht miteinander in Einklang zu bringende Angaben zu den Gründen seiner Flucht gemacht hat. So gab er bei der Bundespolizei im Wesentlichen an, er habe schon seit zwei Jahren versucht, Sri Lanka zu verlassen, sei seit über zehn Jahren Mitglied der LTTE, habe lange Zeit das sri-lankische Militär mit Bargeld bestochen und müsse damit rechnen, vom Militär grundlos verhaftet zu werden. Von einer Entführung und Erpressung durch Mitglieder tamilischer regierungsnaher Organisationen war nicht im Ansatz die Rede. Es besteht für den Senat keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass der Kläger die in den Wortprotokollen über die Vernehmungen niedergelegten Angaben gemacht hat. Nicht zuletzt wurden die Vernehmungen, bei denen ein Dolmetscher für die tamilische Sprache eingebunden war, ausweislich von beigefügten Vermerken dem Kläger vorgelesen und von ihm genehmigt. Plausible Gründe dafür, dass die Vernehmungen unrichtig wiedergegeben worden sein könnten, hat der Kläger im Übrigen auch in der mündlichen Verhandlung nicht gemacht; er hat sich - darauf angesprochen - mehrmals darauf beschränkt zu bestreiten, die in den Protokollen festgehaltenen Angaben gemacht zu haben. Eine ganz andere Verfolgungsgeschichte hat der Kläger dann in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt: Grund für seine Ausreise sei gewesen, dass Leute ihn mitgenommen und von ihm Geld verlangt hätten; dann hätten sie ihn wieder gehen lassen. Auf Nachfragen des Anhörenden berichtete er unter anderem, die Entführung habe am 14.04.2008 stattgefunden, er sei sechs Tage in einem Haus festgehalten und ihm sei dann eine dreimonatige Zahlungsfrist gewährt worden.
44 
Die angebliche Entführung und Erpressung hat der Kläger dann auch in der mündlichen Verhandlung als Ereignis genannt, das bei ihm erst den Entschluss zur Flucht ins Ausland hat reifen lassen. Allerdings konnte er dem Senat nicht den Eindruck vermitteln, von etwas tatsächlich Erlebtem zu berichten; es spricht vielmehr viel dafür, dass der Kläger ein Schicksal, das andere Personen erlitten haben, auf sich projiziert hat. Auf die eingangs seiner Anhörung gestellte Frage nach dem Grund seiner Ausreise nannte der Kläger in einigen wenigen Sätzen lediglich Eckpunkte der angeblichen Entführung und Erpressung. Wesentlich ausführlicher, detailreicher und nach Einschätzung des Senats durchaus glaubhaft wurden dann erst die Schilderungen seines Reisewegs, auf die sich die Fragestellung indes überhaupt nicht erstreckte. Die gezielten Nachfragen brachten dann auch keine Ausführungen, die den Schluss zulassen könnten, dass sich das Geschehen tatsächlich so wie vom Kläger behauptet ereignet hat. In diesem Zusammenhang merkt der Senat an, dass ihm selbstverständlich bewusst ist, dass die Erinnerung an Ereignisse mit zunehmendem Zeitablauf nachlässt; allerdings wäre die vom Kläger behauptete Entführung und Erpressung ein so einschneidendes Ereignis gewesen, dass auch nach über acht Jahren zu erwarten gewesen wäre, dass der Kläger zumindest einige für die Richtigkeit seiner Angaben sprechende Details hätte schildern können. Das hat er indes nicht getan. Auf die gezielten Fragen antwortete er meist wortkarg. Einzelheiten zu dem Raum etwa, in dem er immerhin sechs Tage festgehalten worden sein will, konnte er mit Ausnahme solcher, die letztlich nur ein geringes Maß an Einfallsreichtum erfordern (angebliche Größe, weiße Wandfarbe, Licht an der Decke) nicht liefern. Angaben dazu, ob der Raum Fenster hatte, wie er möbliert war und dabei insbesondere, ob er eine als solche zu bezeichnende Schlafgelegenheit hatte, wie sie eigentlich zu erwarten gewesen wären, machte der Kläger nicht. Auf die Forderungen der Entführer angesprochen verwies der Kläger stets nur auf deren Verlangen von Geld. Mit welchen Nachteilen die Entführer für den Fall der Nichtzahlung gedroht haben, war dem Kläger keiner nähren Erwähnung wert. Blass blieben auch die Ausführungen zu der angeblichen Folter. Nachdem er zunächst lediglich die Behauptung von Folter in den Raum gestellt hatte, verwies er auf Nachfrage nur darauf, dass er geschlagen worden sei. Auf weitere Nachfrage gab er sodann an, er sei mit Stiefeln getreten und mit einem Holzknüppel geschlagen worden. Wie viele Personen ihn angeblich geschlagen und getreten haben, welche Körperstellen betroffen waren und ob und welche Verletzungen er infolge der Misshandlungen erlitten hat, blieb unerwähnt. Hinzu kommt, dass es sich insoweit um gesteigertes Vorbringen handelt, da der Kläger die Thematik „Folter“ erstmals vor dem Senat erwähnt hat. Auf entsprechenden Vorhalt hat er lediglich erklärt, er sei wohl bei seiner Anhörung nicht ausdrücklich danach gefragt worden. Sollte er allerdings tatsächlich gefoltert worden sein, erscheint es fernliegend, dass er auf diesen Umstand nicht von sich aus hingewiesen hätte.
45 
Gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal sprechen auch seine Angaben zu dem weiteren Geschehen nach seiner angeblichen Freilassung. Davon, dass die Erpresser bereits im Juni 2008 bei ihm zu Hause vorbeigekommen seien, wie er es in seiner Anhörung beim Bundesamt erzählt hat, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht berichtet. Vielmehr verwies er darauf, dass die Erpresser seine bisherige Unterkunft am 20.07.2008, dem Tag des angeblichen Fristablaufs, aufgesucht hätten. Diese Angabe passt allerdings in keiner Weise zu den Ausführungen seiner Ehefrau in dem dem Bundesamt vorgelegten Brief vom 15.10.2008, wonach die Entführungsbande jetzt häufiger zu ihr nach Hause komme. Erst nach zahlreichen, eindringlichen Nachfragen, nicht zuletzt seines Prozessbevollmächtigten, gab der Kläger an, dass es auch nachfolgend - zuletzt im Jahr 2009 oder im Jahr 2010 - Probleme gegeben habe. In diesem Zusammenhang hat der Kläger auch einerseits angegeben, seine Ehefrau lasse sich durch ihren Bruder bei Besuchen der Erpresser verleugnen. Andererseits gab der Kläger an, es gebe Probleme, wenn die Erpresser seine Ehefrau sehen.
46 
Offenbleiben kann nach Vorstehendem, ob die Entführung und Erpressung überhaupt von flüchtlingsschutzrelevanter Bedeutung gewesen wären. In Betracht käme hier lediglich eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Der Kläger hat auf die Frage, weshalb er als Opfer der Entführung und Erpressung ausgewählt worden sei, geantwortet, dies sei geschehen, weil er wohlhabend gewesen sei. Diese Aussage ist zunächst erstaunlich, will der Kläger die - nach seiner Angabe in der mündlichen Verhandlung, die nicht mit der Angabe in der Anhörung beim Bundesamt übereinstimmt (damals: drei Millionen Rupien) - für die Organisation der Ausreise gezahlten zwei Millionen Rupien insbesondere durch den Verkauf von Goldschmuck seiner Frau und die Aufnahme eines Darlehens aufgebracht haben. Der Aussage lässt sich aber vor allem entnehmen, dass sich der Kläger zumindest im Wesentlichen als Opfer krimineller Machenschaften sah; eine Verbindung mit seiner tamilischen Volkszugehörigkeit oder gar seiner behaupteten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE war für den Senat nicht erkennbar.
47 
Eine staatliche Verfolgung hat der Kläger schon nicht als Grund für seine Ausreise behauptet. Nicht zuletzt da dem Kläger offensichtlich ohne Probleme ein Reiseausweis ausgestellt wurde und er legal und ungehindert das Land verlassen konnte, bestehen hierfür auch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die vom Kläger erst auf Nachfragen angeführten Unterstützungstätigkeiten für die LTTE (Helfen beim Aufbauen und Dekorieren einer Bühne) waren, die Richtigkeit der Angaben unterstellt, allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Dass er konkret durch sie ins Visier der Sicherheitskräfte geraten sein könnte, hat er bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung gerade nicht vorgetragen. Es blieb insoweit bei der allgemein gehaltenen Behauptung, Armeeangehörige hätten die Veranstaltungen an den Großheldentagen überwacht.
48 
3. Auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung kommt nicht in Betracht.
49 
Tamilen waren zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im August 2008 keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt (dazu a). Sie sind es auch heute nicht (dazu b).
50 
a) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers und bezogen auf den Zeitpunkt seiner Ausreise im Wesentlichen wie im Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 09.11.2010 (A 4 S 703/10, juris) bezogen auf das Jahr 2007 dar. Dort heißt es (a.a.O. Rn. 46 ff.):
51 
Die Lage in Sri Lanka stellte sich 2007 nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
52 
In Sri Lanka lebten 2007 geschätzt 20,01 Millionen Menschen. Der Anteil der tamilischen Bevölkerung lag ungefähr bei 10 % (Fischer-Weltalmanach 2010, S. 474). Nach den Angaben des Ministeriums für Volkszählung und Statistik lebten 2006 im Großraum Colombo 2.251.274 Einwohner, davon waren 247.739 tamilische Volkszugehörige sri-lankischer Staatsangehörigkeit und 24.821 indische Tamilen (vgl. UK Home Office, Country of Origin Report Sri Lanka vom 15.11.2007, S. 122, Nr. 20.13).
53 
Die innenpolitische Lage Sri Lankas war von dem jahrzehntelangen ethnischen Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen bestimmt. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung [und] der tamilischen Rebellenorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) aus dem Februar 2002 war von Präsident Rajapakse im Januar 2008 offiziell aufgekündigt worden, nachdem es von beiden Seiten seit langem nicht mehr eingehalten worden war. Bereits ab November 2005 war es zu einer drastischen Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch die LTTE und die im Jahr zuvor von ihr abgespaltene, mit der Regierung kollaborierende Karuna-Gruppe unter „Oberst Karuna“ (Muralitharan Vinayagamurthi), einem ehemaligen Vertrauten des LTTE-Führers Prabahakaran, gekommen. Seit April 2006 hatte die Regierung versucht, die LTTE, die zu diesem Zeitpunkt noch den Norden und Osten des Landes kontrollierte, mit offensiven Maßnahmen zurückzudrängen. Ab Mitte 2006 war es dann zu großflächigen, längeren Kampfhandlungen gekommen. Unterstützt von den paramilitärischen Einheiten der Karuna-Gruppe, die sich als Vertretung der Ost-Tamilen verstand, konnten die Streitkräfte im Juli 2007 nach den vorhergehenden Rückzug der LTTE-Soldaten die letzten von der LTTE gehaltenen Stellungen im Osten Sri Lankas einnehmen (Lagebericht des AA vom 07.04.2009, Stand März 2009, S. 5).
54 
Eine systematische und direkte Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen Rasse, Nationalität oder politischer Überzeugung von Seiten der Regierung fand seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 nicht statt (Lageberichte des AA vom 26.06.2007, Stand Juni 2007, S. 6 und vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 7). Allerdings standen Tamilen im Generalverdacht, die LTTE zu unterstützen, und mussten mit staatlichen Repressionen rechnen. Sie wurden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt. Sie sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, Pkw-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richteten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des „Terrorism Prevention Act“ Ende 2006 - ein Notstandsgesetz, das Verhaftungen ohne Haftbefehl und eine Inhaftierung bis zu 18 Monaten erlaubt, wenn die Behörden insbesondere den Verdacht terroristischer Aktivitäten haben (vgl. SFH, Sri Lanka, Aktuelle Situation, Update vom 11.12.2008, S. 3) - war die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wurde, musste mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung hat kommen müssen (Lagebericht des AA vom 05.02.2008, Stand Februar 2008, S. 8). So wurden am 30. und 31.12.2005 im Rahmen der von Militär und Polizei in Colombo durchgeführten Operation „Strangers Night III.“ 920 Personen, die weit überwiegende Mehrheit Tamilen, verhaftet (Human Rights Watch, Return to War - Human Rights under Siege - August 2007, S. 74).
55 
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in seiner Stellungnahme zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka vom 01.02.2007, die eine Zusammenfassung und Teilübersetzung der „UNHCR Position on the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Sri Lanka (December 2006)“ enthält, unter anderem ausgeführt, dass von der sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage im besonderem Maße Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes betroffen seien. Aus der Stellungnahme ergibt sich, dass bei dem Verdacht, dass sie Verbindungen zur LTTE unterhalten, Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen Behörden oder mutmaßlich von der Regierung gestützte Paramilitärs drohten (S. 2). Für Tamilen aus Colombo bestand aufgrund der im April bzw. Dezember 2006 drastisch verschärften Sicherheitsbestimmungen ein erhöhtes Risiko, willkürlichen, missbräuchlichen Polizeimaßnahmen - insbesondere Sicherheitskontrollen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Hausdurchsuchungen oder Leibesvisitationen - unterworfen zu werden. Tamilen aus Colombo waren darüber hinaus besonders gefährdet, Opfer von Entführungen, Verschleppungen oder Tötungen zu werden. Zwischen dem 20.08.2006 und dem 02.09.2006 waren Presseberichten zufolge mehr als 25 Tamilen entführt worden, nur zwei Personen waren bis zum Dezember 2006 wieder freigekommen (S. 2 f.). Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der dauernden Bedrohung durch terroristische Attacken im Großraum Colombo waren teilweise für die gesamte tamilische Minderheit bedrohlich und stellten ihre Sicherheit in Frage. Extralegale Tötungen, die seit jeher Teil des Konflikts gewesen waren, wurden seit Dezember 2005 auch in signifikanter Zahl von Regierungsseite verübt. Viele Taten sind an gewöhnlichen Personen begangen worden, die kaum erkennbar in Verbindung zu dem Konflikt standen. Teilweise handelte es sich um Teile eines Musters, die LTTE anzugreifen, teilweise geschahen sie aus politischen Motiven. Sie konnten aber auch einen kriminellen Hintergrund haben (Asylsuchende aus Sri Lanka, Position der SFH vom 01.02.2007 S. 5).
56 
Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht vom 14.06.2007 (Sri Lanka’s Human Rights Crisis, Asia Report N. 135) unter anderem festgehalten, dass die Anzahl der Verschwundenen in den letzten achtzehn Monaten nur schwerlich mit Sicherheit festzustellen sei. Verschiedene verlässliche Quellen berichteten von mehr als 1.500 Betroffenen, wobei das Schicksal von mindestens 1.000 Personen unklar gewesen sei. Die höchste Anzahl von Betroffenen sei in den von der Regierung kontrollierten Bereichen Jaffnas festzustellen gewesen. Dort seien 731 Fälle registriert worden, in 512 Fällen gebe es noch keine Aufklärung. Im Großraum Colombo sei es zu mehr als 70 berichteten Fällen von Entführungen und des Verschwindenlassens gekommen. Die meisten der Betroffenen seien junge tamilische Volkszugehörige gewesen, die der Zusammenarbeit mit der LTTE verdächtigt worden seien. Auch eine Vielzahl von Personen ohne Verbindung zur LTTE seien Opfer dieses Verschwindenlassens geworden.
57 
Human Rights Watch (HRW) geht in seinem Bericht aus dem August 2007 (Return to War - Human Rights under Siege -) davon aus, dass Entführungen und Fälle des Verschwindenlassens seit August 2006 auch in Colombo zu einer weitverbreiteten Erscheinung geworden seien. Die Organisation gelangt auf der Grundlage von Gesprächen mit 26 Familien von verschwundenen Personen zu dieser Aussage (S. 53 f.). Landesweit geht HRW für den Zeitraum vom 14.09.2006 bis zum 25.02.2007 von 2.020 Fällen Entführter oder sonst verschwundener Personen aus. „Ungefähr 1.134 Personen“ seien lebend wieder aufgefunden worden, die anderen seien weiterhin vermisst (S. 7).
58 
Nach dem Country Report on Human Rights Practices zu Sri Lanka des U.S. Department of State 2007 vom 11.03.2008 waren extralegale Tötungen in Jaffna an der Tagesordnung. Zwischen dem 30.11.2007 und dem 02.12.2007 sind nach zwei Bombenangriffen der LTTE in und um Colombo beinahe 2.500 tamilische Volkszugehörige in der Hauptstadt und geschätzte 3.500 Tamilen im ganzen Land verhaftet worden. Die Inhaftierten, überwiegend männliche tamilische Zivilisten sollen allein aufgrund ihrer tamilischen Nachnamen verhaftet worden sein. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wurde bald wieder freigelassen. Zum Jahreswechsel waren nur noch zwölf von 372 im Boosa detention camp Inhaftierten in Gewahrsam.
59 
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich selbst dann, wenn alle Angaben zutreffen sollten, zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Ende November 2007 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde keine Volksgruppe gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht ohne weiteres auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen. Selbst wenn alle Übergriffe im Großraum Colombo zwischen November 2005 und Dezember 2007 dem sri-lankischen Staat zuzurechnen wären - tatsächlich sind dabei auch Übergriffe der LTTE und „rein kriminelle Übergriffe“ mit dem Ziel der Lösegelderpressung unter den registrierten Fällen - und alle Inhaftierungen - auch die von bloß kurzer Dauer von nicht mehr als drei Tagen - gezählt werden, ist das Verhältnis von 3.400 Verhaftungen zu mehr als 240.000 tamilischen Einwohnern angesichts des Zeitraums von zwei Jahren nicht geeignet, eine Regelvermutung der Gefährdung eines jeden Gruppenmitglieds zu rechtfertigen. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass 2.500 der Inhaftierten nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden sind und damit keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 RL 2004/83/EG erdulden mussten, ergibt sich eine Betroffenheit von 0,3 % der gesamten tamilischen Bevölkerung. Dieser - für die Bewertung des Standards der Achtung der Menschenrechte insoweit gleichwohl hohe - Prozentsatz der Betroffenen innerhalb eines Zweijahreszeitraums führt nicht zum Schluss auf die erforderliche aktuelle Gefahr der Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds.
60 
Zu einer anderen Beurteilung bezogen auf den Zeitpunkt August 2008 besteht kein Anlass. Auch der Kläger hat nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
61 
b) Die Lage in Sri Lanka stellt sich im Hinblick auf den Asylantrag des Klägers derzeit wie folgt dar:
62 
aa) Bezogen auf den Zeitpunkt November 2010 führte der erkennende Gerichtshof in seinem Urteil vom 09.11.2010 aus (a.a.O. Rn. 57 ff.):
63 
Am 19.05.2009 hat der sri-lankische Staatspräsident Mahinda Rajapakse in einer Parlamentsansprache den Sieg der Regierungstruppen über die tamilische Separatistenorganisation LTTE verkündet. Tags zuvor war nach den Angaben des Militärs bei einem der letzten Gefechte der LTTE-Anführer Velupillai Prabhakaran ums Leben gekommen, nachdem zuvor fast die gesamte militärische und politische Führung der LTTE umgekommen war. Der seit 1983 mit Unterbrechungen währende Bürgerkrieg war damit beendet (Lagebericht des AA vom 02.09.2009, Stand: August 2009, S. 6). Hunderttausende Menschen mussten während des Bürgerkriegs ihre Heimatorte im tamilischen Norden und Osten des Landes verlassen. Als Binnenvertriebene suchten sie Zuflucht in weniger gefährdeten Gebieten des Landes. Viele entschieden sich auch dafür, ins Ausland zu gehen. In der Ostprovinz konnten die Binnenvertriebenen inzwischen bis auf einige Ausnahmen in ihre Heimatgemeinden zurückkehren (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 8). Rund 300.000 Zivilpersonen waren in den letzten Monaten des Bürgerkriegs im von der LTTE gehaltenen, kontinuierlich schrumpfenden Gebiet eingeschlossen. Notgedrungen zogen sie mit den LTTE-Verbänden mit und waren in der zuletzt nur wenige Quadratkilometer ausmachenden Kampfzone im Nordwesten des Landes allen Schrecken dieser Kämpfe ausgesetzt. Nach deren Beendigung brachte sie die Armee in geschlossenen Lagern hauptsächlich in Vavuniya im nördlichen Vanni unter, zu denen nationale und internationale Hilfsorganisationen lange nur eingeschränkt Zugang hatten. Die Regierung begründete diese Lagerunterbringung mit der Notwendigkeit, sich unter den Binnenvertriebenen verbergende ehemalige LTTE-Kämpfer herauszufiltern, und der Unmöglichkeit, die Betroffenen in noch verminte Heimatorte zurückkehren zu lassen. Einigen wenigen wurde die Rücksiedlung im Juni 2009 gestattet. Im August 2009 begann dann sehr zögerlich ein Rücksiedlungsprozess, der im Oktober größeren Umfang annahm und sich ab Dezember wieder verlangsamte, da die Herkunftsorte der Verbliebenen (im Juni 2010 waren noch knapp 60.000 Personen in Lagern untergebracht) noch erheblich zerstört und vermint sind. Einem gesonderten Regime unterliegen die geschlossenen, so genannten „Rehabilitationslager“, in denen rund 8.000 ehemalige LTTE-Kämpfer (bzw. Personen, die insoweit verdächtigt werden) untergebracht sind. Zu diesen Lagern haben weder das IKRK noch Hilfsorganisationen Zugang. Die Antiterrorgesetze von 1979 (Prevention of Terrorism Act) haben weiter Bestand. Die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen insbesondere in Colombo, einschließlich der zahlreichen Kontrollpunkte von Polizei und Militär, werden aufrecht erhalten (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 9 f.).
64 
Zu den Insassen der „Rehabilitationslager“ hat Human Rights Watch festgestellt, dass zwar die meisten der Verdächtigten in den letzten Wochen der Kampfhandlungen und in der Zeit unmittelbar danach inhaftiert worden seien, dass aber auch neue Inhaftierungen, nämlich im Oktober 2009, erfolgt seien (Human Rights Watch, Legal Limbo - The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, Februar 2010, S. 6).
65 
In unterschiedlichen Bereichen kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen, die Anzeichen für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung aufweisen. Davon sind nicht nur Tamilen betroffen, sondern auch regierungskritische Singhalesen. So werden oppositionelle Parlamentsabgeordnete, die der Regierung gefährlich werden können, unter fadenscheinigen Vorwürfen verhört, verhaftet oder bedroht. Der Generalverdacht, dass jeder Tamile ein Anhänger, Unterstützer oder gar Mitglied der LTTE war und ist, wird im singhalesischen Teil der Gesellschaft von vielen geteilt, insbesondere bei den staatlichen Sicherheitskräften (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 10 f.).
66 
Für eine systematische Verfolgung von Tamilen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es keine Anhaltspunkte, sie müssen aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - jederzeit mit staatlichen Repressionen rechnen. Die ständigen Razzien und Hausdurchsuchungen, schikanösen Behandlungen (Beleidigungen, langes Warten, exzessive Kontrolle von Fahrzeugen, Erpressung von Geldbeträgen) bei den zahlreichen Polizeikontrollen im Straßenverkehr und Verhaftungen richten sich vor allem gegen Tamilen, wobei aus dem Norden und Osten stammende Tamilen darunter noch in höherem Maße zu leiden haben. Durch Anwendung des Prevention of Terrorism Act ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder einer Anklageerhebung kommen muss. Die Situation hat sich seit Beendigung der Kampfhandlungen nicht verbessert (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 11).
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Ein Asylantrag im Ausland, der von vielen in Sri Lanka als legitimer Versuch angesehen wird, sich einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, begründet in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Sri Lanka niederlassen wollen, müssen indes einen Anfangsverdacht und entsprechendes Misstrauen bis zu Schikanen durch die Sicherheitsorgane gegenwärtigen. Mindestens ebenso stark steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war. Das Ende der Kampfhandlungen hat diesbezüglich nicht zu einer Entspannung geführt. Am 26.05.2010 wurde am Flughafen Colombo bei der Einreise eine in Deutschland ansässige Sri-Lankerin unter dem Verdacht der LTTE-Unterstützung festgenommen, die nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in Deutschland für die LTTE Gelder eingesammelt und im Frühjahr letzten Jahres Demonstrationen organisiert haben soll. Belastbaren Berichten anderer Botschaften zufolge gibt es Einzelfälle, in denen zurückgeführte Tamilen nach Ankunft in Colombo unter LTTE-Verdacht festgenommen wurden (Lagebericht des AA vom 16.06.2010, Stand: Juni 2010, S. 24).
68 
Aus dem „Report of Information Gathering Visit to Colombo, Sri Lanka, 23. bis 29. August 2009“ vom 22.10.2009 des „U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate“ (FCO), für den sowohl staatliche sri-lankische Stellen als auch Nichtregierungsorganisationen befragt wurden, ergibt sich, dass unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit nicht freiwillig nach Sri Lanka zurückkehrende Personen dem Criminal Investigation Department zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und Kontrolle des Vorstrafenregisters überstellt werden. Die Befragung kann mehr als 24 Stunden dauern. Die Betroffenen werden erkennungsdienstlich behandelt. Abhängig vom Einzelfall ist eine Überstellung an den Geheimdienst (State Intelligence Service) oder das Terrorist Investigation Department zum Zwecke der Befragung denkbar. Jeder, der wegen eines Vergehens gesucht wird, muss mit seiner Verhaftung rechnen. Vorbestrafte oder Personen mit Verbindungen zur LTTE werden weitergehend befragt und gegebenenfalls in Gewahrsam genommen. Laut Nichtregierungsorganisationen würden Tamilen aus dem Norden und Osten des Landes einer genaueren Überprüfung als andere unterzogen. Verschiedene Faktoren, nämlich ein offener Haftbefehl, Vorstrafen, Verbindungen zur LTTE, eine illegale Ausreise, Verbindungen zu Medien oder Nichtregierungsorganisationen und das Fehlen eines Ausweises (ID Card) oder anderer Personaldokumente, erhöhten das Risiko, Schwierigkeiten bei der Einreise zu bekommen, einschließlich einer möglichen Ingewahrsamnahme (S. 5). Hingegen konnte keine der befragte Quellen angeben, dass sichtbare Narben einen Einfluss auf die Behandlung bei der Einreise haben könnten. Im Falle, dass der Verdacht einer Verbindung zur LTTE bestünde, könnten solche Narben Anlass zu einer Befragung sein, jedoch würden diesbezüglich keine körperlichen Untersuchungen durchgeführt (S. 16).
69 
Überwiegend hätten die Befragten angegeben, dass die Anzahl der Razzien (cordon and search operations) in den letzten Monaten nicht zurückgegangen sei. Es gebe keine Informationen zu der Anzahl möglicher Festnahmen. Grundsätzlich seien junge männliche Tamilen, die aus dem Norden oder Osten des Landes stammten, im Zuge von Razzien einem besonderen Festnahmerisiko ausgesetzt. Die bereits genannten Faktoren erhöhten das Risiko. Tamilen ohne Beschäftigung oder „legitimen Aufenthaltsgrund“ würden ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit als verdächtig angesehen (S. 5).
70 
Nach ganz überwiegender Meinung der Befragten hat es - wenn überhaupt - seit Juni 2009 nur noch sehr wenige Entführungen / Fälle des Verschwindenlassens gegeben. Die Entführungen erfolgten demzufolge sowohl zur Lösegelderpressung als auch aus politischen Gründen. Die Nichtregierungsquellen stimmten weitgehend darin überein, dass die Sicherheitskräfte in den meisten Fällen in gewisser Weise beteiligt seien und die Polizei keine ernsthaften Ermittlungen durchführe (S. 5 f.). Bei den Straßenkontrollen im Großraum Colombo, die nach Angabe der meisten Befragten nicht nennenswert reduziert worden seien, würde es nur sehr selten zu Festnahmen kommen. Seit Juni 2009 seien keine bekannt geworden.
71 
Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.06.2010 und der (ältere) Bericht des U.K. Foreign and Commonwealth Office Migration Directorate ergänzen sich. Jedenfalls die hier zitierten allgemeinen Feststellungen (S. 5 f.), die auf mindestens weit überwiegend übereinstimmenden Angaben der Befragten beruhen, sind geeignet, die insoweit knapper gehaltenen Aussagen der Lageberichte zu den Gefährdungen von Tamilen zu illustrieren. Eine Gruppenverfolgung der Gruppe der (jüngeren männlichen) Tamilen (im wehrfähigen Alter) lässt sich auf der Basis der wiedergegebenen Erkenntnisse nicht feststellen. Insbesondere angesichts des Umstands, dass Verhaftungen bei Razzien ebenso selten geworden sind wie an Straßenkontrollpunkten und Fälle des Verschwindenlassens ebenfalls kaum mehr vorkommen, lässt sich eine generelle staatliche oder staatlich tolerierte Verfolgung der Gruppe der Tamilen nicht feststellen. Anderes lässt sich auch nicht aus dem Fortbestehen der „rehabilitation camps“ schließen. Denn jedenfalls gibt es keine Hinweise darauf, dass nach deren Begründung noch Personen in einer für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller - jedenfalls der im wehrfähigen Alter befindlichen - Tamilen relevanten Größenordnung in diese Lager verbracht worden sind. Aus dem vom Kläger zitierten Bericht von Human Rights Watch, Legal Limbo, The Uncertain Fate of Detained LTTE Suspects in Sri Lanka, ergibt sich unter Bezugnahme auf den „Indian Express“ vom 28. Oktober 2009, dass mindestens 300 LTTE Kader, die sich unter den Binnenvertriebenen versteckt hätten, verhaftet worden seien. Damit ist weder ein Bezug zu der Gruppe aller Tamilen oder jedenfalls derjenigen im wehrfähigen Alter aufgezeigt noch ergibt sich aus den berichteten Vorkommnissen, dass diese bis zum Tag der mündlichen Verhandlung gleichsam an der Tagesordnung gewesen wären.
72 
Die Einlassung des Klägers, aus dem zitierten Bericht von Human Rights Watch ergebe sich eine Zunahme der Fälle des Verschwindenlassens, vermag stichhaltige Indizien für eine Gruppenverfolgung aller (wehrfähigen) Tamilen nicht darzutun. Den dortigen Ausführungen im Unterkapitel „Concerns about Possible Enforced Disappearances“ sind vielmehr zunächst zwei Einzelfälle des Verschwindens nach Ende des Bürgerkriegs zu entnehmen. Darüber hinaus wird über eine Internierung von Dutzenden von Personen aus dem Lager „Menik Farm“ berichtet. Es wird weiter geschildert, dass das Schicksal der internierten Personen häufig - bis zum Tag des Berichts - unklar geblieben sei. Daraus lässt sich ein erhöhtes Risiko für solche Personen ableiten, die aus Sicht der Behörden im Verdacht stehen, mit der LTTE zusammengearbeitet haben, nicht jedoch eine Gruppenverfolgung aller (jungen männlichen) Tamilen. Der gegen alle Tamilen gerichtete so genannte „Generalverdacht“ führt offenkundig für sich genommen noch nicht regelmäßig zu Übergriffen der Sicherheitsbehörden. Vielmehr kommt es auf individuell gefahrerhöhende Umstände an, bei deren Vorliegen im Einzelfall eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen sein kann.
73 
Auch aus dem vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Gutachten des European Center for Constitutional and Human Rights „Study on Criminal Accoutability in Sri Lanka as of January 2009“ aus dem Juni 2010 lässt sich die von ihm behauptete Gruppenverfolgung nicht ableiten. Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der in den „welfare centers“ in Gewahrsam gehaltenen Personen von 280.000 (zwischen März 2008 und Juni 2009) bis in den Januar 2010 auf rund 80.000 abgenommen hat. Dem Bericht, der sich mit den Zuständen in den Lagern beschäftigt, ist nicht zu entnehmen, dass sri-lankische Staatsangehörige nach ihrer Wiedereinreise dazu gezwungen worden wären, in solchen Lagern zu leben. Weiter beschäftigt sich das Gutachten unter Zitierung des bereits erwähnten Berichts von Human Rights Watch aus dem Februar 2010 mit der Behandlung von der LTTE-Mitgliedschaft Verdächtigten. Auch diesen Ausführungen ist nichts zu einer anhaltenden Verhaftungswelle - wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung notwendig wäre - nach Beendigung des Bürgerkriegs und in den folgenden Monaten im Jahr 2009 zu entnehmen.
74 
Schließlich führt insoweit der Verweis des Klägers auf die Lageeinschätzung der International Crisis Group vom 17.02.2010, die sein Prozessbevollmächtigter im „Parallelverfahren“ (A 4 S 693/10) vorgelegt hat, nicht zum Erfolg seiner Klage. Dem Bericht ist zwar zu entnehmen, dass das Vorgehen der Regierung im Norden und Osten des Landes zur Verängstigung und Entfremdung der Minderheiten führe. Das aus dieser Behandlung aber ein systematisches Ausgrenzen der tamilischen Minderheit aus der staatlichen, übergreifenden Friedensordnung im Sinne einer Entrechtung abzuleiten wäre, ergibt sich weder aus diesem Bericht noch aus der Gesamtschau. Ebenso wenig lässt sich ein staatliches Verfolgungsprogramm hinsichtlich aller Tamilen oder auch nur der im wehrfähigen Alter befindlichen Gruppenmitglieder feststellen. Anderes kann möglicherweise für die im Zuge der Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen unmittelbar in den rehabilitation camps Inhaftierten oder die aus den Flüchtlingslagern „herausgefilterten“, in rehabilitation camps verbrachten Personen gelten. Jedoch ist ein solches systematisches Vorgehen gegenüber etwa in Colombo lebenden Tamilen nicht feststellbar.
75 
Die rechtliche Einschätzung zur fehlenden begründeten Furcht vor einer Gruppenverfolgung entspricht auch der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteile vom 08.07.2009 - 3 A 3295/07.A - und vom 24.08.2010 - 3 A 864/09.A -) und - der Sache nach - des UK Asylum and Immigration Tribunal (TK (Tamils - LP updated) Sri Lanka CG [2009]UKAIT 00049 RdNr. 73).
76 
bb) Erst recht ist die Annahme einer Gruppenverfolgung zum derzeitigen Zeitpunkt (Oktober 2016) nicht gerechtfertigt.
77 
(1) In Sri Lanka leben nach Auskunft des Auswärtigen Amts (Länderinformation, Stand: Februar 2015) 20,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Sri-Lanka-Tamilen beträgt 11,2 % (auch Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7); es ist mithin von etwa 2,3 Millionen Volkszugehörigen auszugehen. „Indian Tamils“ machen 4,2 % der Bevölkerung aus.
78 
Am 08.01.2015 wurde Maithripala Sirisena bei der Präsidentenwahl, bei der die Wahlbeteiligung bei 81,5 % lag, zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er setzte sich mit 51,28 % der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Rajapaksa durch, der 47,58 % erhielt. Am 17.08.2015 fanden Parlamentswahlen statt, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts frei und fair waren (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6). Die Tamilenpartei ITAK erhielt 4,62 % der Stimmen und damit 16 Mandate, sie stellt mit Rajavarothiam Sampanthan den Oppositionsführer (a.a.O.).
79 
Mit dem Amtsantritt Sirisenas am 09.01.2015 hat sich die politische Situation in Sri Lanka nach Einschätzung des Auswärtigen Amts (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5) erheblich zum Positiven verändert. Demokratie und Rechtsstaat seien gestärkt worden. Die Menschenrechte, insbesondere die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden wieder respektiert. Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition seien nicht mehr eingeschränkt (a.a.O. S. 7). Menschenrechtsorganisationen hätten größere Freiräume (a.a.O. S. 6). So genannte Verschwundenen-Fälle seien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht mehr bekannt geworden (a.a.O. S. 12).
80 
Das Auswärtige Amt merkt in seinem jüngsten Lagebericht aber auch an, dass insbesondere im Norden und Osten noch nicht alle Menschenrechtsverletzungen abgestellt seien (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Einzelne Menschenrechtsvertreter würden dort vom Sicherheitsapparat verfolgt und ihre Gesprächspartner würden gelegentlich noch von Sicherheitskräften ausgefragt (a.a.O. S. 6, auch S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte von Menschenrechtsverteidigern zu Überwachungen durch die Polizei und das Militär im Norden und Osten sowie Befragungen). Die Polizei wende mitunter noch immer unverhältnismäßigen Zwang an (a.a.O. S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Beschwerden über die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen). Als Beispiel nennt das Auswärtige Amt die Beendigung friedlicher Studentendemonstrationen mittels Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken (a.a.O. S. 7); es verweist zudem auf Angaben Internationaler Organisationen und Presseberichte, wonach Folter weiterhin gelegentlich zur Erpressung von Geständnissen angewandt wird (a.a.O. S. 11; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte über Folter und andere Misshandlungen). Auch sollen Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen sowie in Gefängnissen weiter vorkommen (a.a.O. S. 12).
81 
Amnesty International (Amnesty Report 2016, Sri Lanka) verweist darüber hinaus auf Berichte über ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam; Häftlinge würden häufig an Verletzungen sterben, die den Schluss zuließen, dass sie gefoltert und misshandelt worden seien.
82 
Nach Angaben des Auswärtigen Amts hat die neue Regierung zahlreiche Schritte unternommen, um die Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Land voranzubringen (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Sie suche aktiv den Dialog mit der tamilischen Diaspora (auch a.a.O. S. 10). Amnesty International berichtet zudem darüber (Amnesty Report 2015, Sri Lanka), dass im Jahr 2015 am Jahrestag der Beendigung des bewaffneten Konflikts öffentliche Gedenkfeiern von Tamilen im Wesentlichen erlaubt waren (vgl. auch Human Rights Watch, Sri Lanka After the Tigers, 19.02.2016, mit dem Hinweis, dass Gedenkfeiern für verstorbene Tamilen mittlerweile erlaubt seien), und fügt hinzu, dass über eine starke Polizeipräsenz bei derartigen Zusammenkünften berichtet worden sei (vgl. auch Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Insbesondere Human Rights Watch macht aber auch darauf aufmerksam, dass ein Erfolg versprechender Versöhnungsprozess, der unter anderem auch eine Aufarbeitung der beiderseitigen Kriegsverbrechen beinhaltet, noch nicht wirklich ins Werk gesetzt worden ist (vgl. etwa die Beiträge „Time to seize the Moment“ [25.05.2016] und „Unfinished Business in Sri Lanka“ [01.09.2016]).
83 
Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts gibt es gegenüber Tamilen im Norden und Osten seit dem Amtsantritt Sirisenas „keine direkten staatlichen Repressionen mehr“ (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7). In Sri Lanka gebe es keine diskriminierende Gesetzgebung, Verwaltungspraxis oder Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis (a.a.O. S. 8). Der von der Polizei angewendete unverhältnismäßige Zwang richte sich nicht gegen eine bestimmte Gruppe (a.a.O. S. 7). Während die Anwendung von Folter früher vor allem Tamilen betroffen habe, sollen mittlerweile Singhalesen in gleichem Maß betroffen sein (a.a.O. S. 11 unter Berufung auf Berichte von Human Rights Watch und lokale Menschenrechtsorganisationen; Human Rights Watch [Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016] spricht von „continued reports of the torture of detainees“ [fortgesetzten Berichten über die Folter von Inhaftierten]).
84 
Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass der infolge des langjährigen Bürgerkriegs umfassende Sicherheitsapparat nach Ende des Konflikts 2009 kaum reduziert wurde und insbesondere im Norden und Osten noch stark vertreten ist (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6, auch S. 7; vgl. auch Human Rights Watch, Unfinished Business in Sri Lanka, 01.09.2016). Es verweist zudem darauf, dass nach Angaben der sri-lankischen NGO Groundviews 2015 noch immer mindestens 181 von ehemals ca. 12.000 LTTE-Mitgliedern oder -Symphatisanten, die sich bei Kriegsende gestellt hätten, ohne Gerichtsurteil inhaftiert seien; bis November 2015 seien 38 davon gegen Kaution freigelassen worden (a.a.O. S. 12).
85 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 „Sri Lanka: Gefährdung bei Rückkehr und Zugang zu medizinischer Versorgung in Haft“ darauf hin (S. 3), dass Berichte der NGO Freedom from Torture und International Truth & Justice Project Sri Lanka vom Januar 2016 insgesamt 27 Fälle dokumentierten, in denen tamilische Personen durch sri-lankische Sicherheitskräfte gefoltert, willkürlich verhaftet oder entführt worden seien. Der jüngste in dem letztgenannten Bericht dokumentierte Fall (von insgesamt 20 Fällen) habe sich im Dezember 2015 zugetragen (vgl. a.a.O. S. 4). Während der Verhöre seien mehrere der Betroffenen beschuldigt worden, die LTTE wiederaufbauen zu wollen oder das Land in Unruhe zu bringen. 19 der Personen seien Opfer von Entführungen mittels weißer Lieferwagen geworden („White Van Abduction“). 16 der Personen hätten in der Vergangenheit eine Funktion der LTTE auf niedriger Stufe gehabt.
86 
Der Prevention of Terrorism Act (s. o. aa und a) ist weiterhin in Kraft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7 und 12; auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, und Human Rights Watch, UN Human Rights Council: High Commissioner’s Report on human rights of Rohingya Muslims and other minorities in Burma/Maanmar and on Sri Lanka, 30.06.2016). Das Auswärtige Amt führt aus, die Regierung gebe an, 181 Personen seien auf seiner Grundlage inhaftiert, wobei die Mehrheit tamilischer Herkunft sei, die Zivilgesellschaft gehe hingegen von rund 250 Personen aus (a.a.O. S. 7). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist darauf, dass verschiedene Schätzungen „sich auf bis über 200 Personen“ beliefen (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6). Amnesty International zitiert eine Erklärung des Oppositionsführers Sampanthan vor dem Parlament, dass noch 217 Personen auf der Grundlage der Bestimmungen des PTA inhaftiert seien (Amnesty Report 2016, Sri Lanka). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird er „weiterhin eingesetzt, um tamilische Personen zu verhaften, welche der angeblichen Verbindungen zur LTTE verdächtigt werden“ (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6; entsprechend Amnesty Report 2016, Sri Lanka; ferner Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Die Flüchtlingshilfe verweist auch auf eine sri-lankische Zeitung, die von Verhaftungen von Militärpersonal unter dem PTA berichtet hat.
87 
Rückkehrer müssen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich keine staatlichen Repressalien gegen sich fürchten, jedoch müssen sie sich nach Rückkehr Vernehmungen durch die Immigration, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department stellen; ob es zur Anwendung von Gewalt kommt, ist nicht bekannt (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 13). Mit solchen Vernehmungen ist insbesondere zu rechnen, wenn die rückkehrende Person keinen gültigen sri-lankischen Reisepass vorlegen kann; Fälle diskriminierender Behandlung solcher Personen (auch von Tamilen) sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (a.a.O. S. 14). Bei der Einreise mit gültigem sri-lankischem Reisepass würden die Einreiseformalitäten zumeist zügig erledigt; dies gelte auch für Zurückgeführte (a.a.O. S. 14).
88 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 aus (S. 1), dass es auch nach Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Verhaftungen von tamilischen Rückkehrenden kam. Die Verhaftungen schienen oft mit angeblichen Verbindungen zur LTTE zusammenzuhängen. Eine zuvor erfolgte illegale Ausreise könne bei der Rückkehr ebenfalls zu einer Verhaftung führen. Die Flüchtlingshilfe führt nach diesen einleitenden Bemerkungen unter Berufung auf verschiedene Quellen einzelne Fälle auf. So verweist sie zunächst auf einen Bericht der Zeitung Ceylon News vom 19.04.2016, wonach ein aus Mullaitivu stammender Tamile bei seiner Rückkehr aus Doha am 12.04.2016 durch das Terrorist Investigation Department am Flughafen aufgegriffen und anschließend sieben Stunden verhört worden sei (a.a.O. S. 1 f.). Anschließend sei er mit der Aufforderung freigelassen worden, am nächsten Morgen das TID-Büro in Colombo aufzusuchen. Am folgenden Tag sei er dort verhaftet worden. Die Flüchtlingshilfe spricht außerdem etwa den Fall eines tamilischen Journalisten an, der nach seiner Rückkehr nach Sri Lanka durch die sri-lankischen Behörden verhaftet worden sei (a.a.O. S. 2). Der Journalist und Aktivist sei im Jahr 2012 nach Australien geflohen und habe sich aufgrund der positiven Signale der aktuellen sri-lankischen Regierung für die Rückkehr entschieden. Er sei nach der Inhaftierung auf Kaution freigelassen worden. Ihm seien aber Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt worden und er müsse sich jeden Monat im berüchtigten vierten Stock des Hauptquartiers des CID in Colombo melden. Unter Berufung auf TamilNet führt die Flüchtlingshilfe auch aus, dass viele tamilische Rückkehrende aus dem Nahen Osten in der jüngsten Zeit durch den sri-lankischen Militärgeheimdienst verhaftet worden seien (a.a.O. S 2). Die Flüchtlingshilfe zitiert schließlich etwa auch aus einem Bericht der International Crisis Group, wonach weiterhin rückkehrende tamilische Personen unter Anwendung des Prevention auf Terror Act (PTA) wegen des Verdachts auf zurückliegende LTTE-Verbindungen verhaftet würden; viele würden in durch das Militär betriebene Rehabilitationsprogramme geschickt.
89 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe trägt in der Auskunft vom 22.04.2016 auch vor, dass das International Truth & Justice Project Sri Lanka im Januar 2016 zu dem Schluss gekommen sei, dass tamilische Personen, welche aus dem Ausland zurückkehrten, überwacht würden (a.a.O. S. 4). So gebe es weiterhin ein umfangreiches Netzwerk von tamilischen Informanten, welche Rückkehrende beobachteten. Das sichere Verlassen des Flughafens sei deswegen keine Garantie für die spätere Sicherheit. Die Flüchtlingshilfe gibt ferner die Einschätzung von International Truth & Justice Project wieder, dass es für tamilische Personen im Ausland noch nicht sicher sei, nach Sri Lanka zurückzukehren, wenn die betroffene Person in der Vergangenheit eine Verbindung zur LTTE aufweise (a.a.O. S. 5).
90 
(2) Diese Erkenntnisse lassen, selbst wenn sich alle Angaben zu flüchtlingsschutzrelevanten Menschenrechtsverletzungen als zutreffend erweisen sollten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Schluss auf eine Gruppenverfolgung von Tamilen, auch nicht vom männlichen Tamilen aus dem Norden, zu. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Auch die Zahl an Verhaftungen und Überwachungen von Tamilen sowie an ihnen gegenüber vorgenommene Handlungen, die als Folter einzustufen sind, lässt nicht annähernd auf die Gefahr schließen, dass (nahezu) jedes Gruppenmitglied mit solchen Maßnahmen zu rechnen hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht jede Verhaftung mit anschließendem Verhör schon eine Menschenrechtsverletzung darstellt.
91 
Der nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bestehenden, im Vergleich zu den Jahren 2008 und 2010 deutlich verbesserten Gesamtsituation der Tamilen in Sri Lanka hat der Kläger nichts entgegengehalten.
III.
92 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
93 
1. Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315; jüngst etwa Kammerbeschluss vom 09.03.2016 - 2 BvR 348/16 - juris Rn. 12). Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung (BVerfGE 80, 315). An gezielten Rechtsverletzungen fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfGE 80, 315, 335). Ob eine gezielte Verletzung von Rechten vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfGE 80, 315, 335).
94 
Das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG beruht auf dem Zufluchtgedanken, mithin auf dem Kausalzusammenhang Verfolgung - Flucht - Asyl (BVerfGE 80, 315, 344). Nach dem hierdurch geprägten normativen Leitbild des Grundrechts ist typischerweise asylberechtigt, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deswegen in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Atypisch, wenn auch häufig, ist der Fall des unverfolgt Eingereisten, der hier gleichwohl Asyl begehrte und dafür auf Umstände verweist, die erst während seines Hierseins entstanden sind oder deren erst künftiges Entstehen er besorgt (sog. Nachfluchttatbestände).
95 
Nach diesem normativen Leitbild des Asylgrundrechts gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfGE 80, 315, 344).
96 
Ergibt die rückschauende Betrachtung, dass der Asylsuchende vor landesweiter politischer Verfolgung geflohen ist, so kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter regelmäßig in Betracht. Ergibt sie eine lediglich regionale Verfolgungsgefahr, so bedarf es der weiteren Feststellung, dass der Asylsuchende landesweit in einer ausweglosen Lage war. Steht fest, dass Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates im beschriebenen Sinn unzumutbar war, so ist er gemäß Art. 16a Abs. 1 GG asylberechtigt, es sei denn, er kann in seinem eigenen Staat wieder Schutz finden. Daher muss sein Asylantrag Erfolg haben, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist; eine Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht geboten, wenn der Asylsuchende vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Gleiches gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische Fluchtalternative eröffnet.
97 
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (BVerfGE 80, 315, 345 f.). Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere unzumutbare Nachteile oder Gefahren.
98 
2. Der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten steht entgegen, dass nach Überzeugung des Senats die nach dem Vorbringen des Klägers fluchtauslösende Entführung und Erpressung durch die EPDP oder die Karuna-Gruppe nicht der Wahrheit entspricht (s. o. II. 2.) und er zum Zeitpunkt der Ausreise nicht Mitglied einer verfolgten Gruppe war (s. o. II. 3. a) sowie er ein solches auch zum heutigen Zeitpunkt nicht ist (s. o. II. 3. b bb).
IV.
99 
Der Kläger hat weiterhin nicht den von ihm hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Plausible Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Sri Lanka ein ernsthafter Schaden i. S. v. § 4 Abs. 1 AsylG drohen könnte, bestehen nach dem Gesagten nicht.
V.
100 
Der Kläger hat schließlich auch nicht den weiter hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AsylG. Auch insoweit gilt, dass für den Senat kein Sachverhalt ersichtlich ist, der das Vorliegen der genannten Verbote zu begründen in der Lage wäre.
VI.
101 
Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag ist nicht zu entsprechen.
102 
1. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines Gutachtens eines sachverständigen Universitätsprofessors für Europäisches Recht gerichtet ist, zielt der Antrag auf die Klärung einer Rechtsfrage, nicht aber auf eine dem (Sachverständigen-)Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Ermittlung der Rechtslage und die Anwendung der einschlägigen Vorschriften auf einen konkreten Fall ist ureigene Aufgabe der Rechtsprechung (vgl. § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 293 ZPO: s. a. Geimer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 293 Rn. 1, nicht zuletzt unter Hinweis auf den Grundsatz „iura novit curia“). Die Ermittlung der Rechtslage ist infolgedessen in aller Regel keine Tatsachenfeststellung. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der die Ermittlung ausländischen Rechts sowie der ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht der Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln ist (Urteil vom 19.07.2012 - 10 C 2.12 - NJW 2012, 3461 Rn. 16; kritisch dazu Geimer, a.a.O. Rn. 14). Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Auslegung und Anwendung auf seinen Fall der Kläger geklärt haben will, ist kein ausländisches Recht. Die EMRK gilt vielmehr in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - BVerfGE 111, 307, 315); deutsche Gerichte haben sie wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfG, a.a.O. S. 317).
103 
b) Der Beweisantrag geht weiterhin von einer unzutreffenden Ausgangslage aus. Die Beklagte hat gegen das stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts das statthafte Rechtsmittel eingelegt; infolge des Suspensiveffekts (zunächst des Antrags auf Zulassung der Berufung, sodann der Berufung) war sie nicht verpflichtet, der ihr vom Verwaltungsgericht auferlegten Verpflichtung nachzukommen. Folglich hatte der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Rechtsstellung eines Asylberechtigten inne.
104 
c) Die Auffassung des Klägers, der Senat sei infolge der Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof daran gehindert, auf die Berufung der Beklagten das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern, teilt der Senat nicht. Er vermag weder dem vom Kläger ausdrücklich angesprochenen Art. 3 EMRK noch dem von ihm der Sache nach angesprochenen Art. 4 EMRK auch nur im Ansatz eine derartige Wirkung zu entnehmen. Dem Kläger ist zwar zuzugestehen, dass das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unangemessen lange gedauert haben dürfte (vgl. § 173 Satz 2 VwGO i. V. m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Rechtsfolge einer unangemessenen Verfahrensdauer - die der Kläger allerdings nicht mit einer Verzögerungsrüge (vgl. § 198 Abs. 3 GVG) beanstandet hat - ist indessen grundsätzlich eine angemessene Entschädigung in Geld. Dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer über das Fehlen materieller Anspruchsvoraussetzungen hinweghelfen könnte, ist gesetzlich nicht vorgesehen und es besteht aus Sicht des Senats auch kein Anlass für eine hierauf gerichtete - was ihre Zulässigkeit angeht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 - 1 BvR 918/00 - BVerfGE 128, 193), problematische - richterliche Rechtsfortbildung. Auch der Kläger nennt keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die auch nur einen Ansatz für seine Auffassung bieten könnte.
105 
2. a) Soweit der Antrag auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gerichtet ist, handelt es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag. Ein solcher liegt vor, wenn Behauptungen ins Blaue hinein aufgestellt werden (vgl. Senatsurteil vom 12.03.2015 - 10 S 1169/13 - juris Rn. 133). Hiervon ist auszugehen, wenn für den Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht (BVerwG, Beschluss vom 17.09.2014 - 8 B 15.14 - juris Rn. 10). So liegt es hier. Zum einen hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass er tatsächlich darauf vertraut hat, als Asylberechtigter anerkannt zu werden; das wäre schon deshalb veranlasst gewesen, weil der Kläger bereits mit der Stellung des Zulassungsantrags damit rechnen musste, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben würde. Zum anderen und vor allem gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger infolge der Zurückweisung der Berufung psychisch erkranken würde. Der Kläger hat nicht vorgetragen, geschweige denn - etwa mittels Vorlage eines ärztlichen Schreibens - untermauert, gegenwärtig an einer psychischen (Grund-)Erkrankung zu leiden, die sich im Fall einer Klageabweisung verschlechtern würde.
106 
b) Abgesehen davon ist der Beweisantrag auch aus dem Grund abzulehnen, dass die vom Kläger in den Raum gestellte „gravierende psychische Reaktion … auch im Sinne einer psychischen Erkrankung“ keine entscheidungserhebliche Tatsache ist. Eine eventuelle psychische Erkrankung könnte im Rahmen der vorliegenden Klage lediglich Bedeutung hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Bedeutung erlangen. Hierfür ist erforderlich, dass sich eine vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leben und Leib führt, d. h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach Rückkehr droht. Der Kläger stellt hier schon nicht eine Erkrankung unter Beweis, die bereits vorhanden ist, er behauptet vielmehr, im Fall der Abweisung seiner Klage zu erkranken. Hinzu kommt, dass von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht Schutz vor Abschiebung nicht bei Vorliegen jeglicher Erkrankung gewährt wird. Vielmehr schützt die Vorschrift nur vor einer erheblichen und alsbaldigen Verschlimmerung für den Fall einer Rückkehr. Darum geht es dem Kläger aber mit seinem Beweisantrag nicht.
VII.
107 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.
108 
Ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

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Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

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Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

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Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

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So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

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Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

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Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

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Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

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Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

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Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

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Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

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Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

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Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

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Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

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Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

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Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

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Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

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Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

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Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

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Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

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Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

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Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt.

(2) Er ist insbesondere verpflichtet,

1.
den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen;
2.
das Bundesamt unverzüglich zu unterrichten, wenn ihm ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist;
3.
den gesetzlichen und behördlichen Anordnungen, sich bei bestimmten Behörden oder Einrichtungen zu melden oder dort persönlich zu erscheinen, Folge zu leisten;
4.
seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
5.
alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
6.
im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
7.
die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden.

(3) Erforderliche Urkunden und sonstige Unterlagen nach Absatz 2 Nr. 5 sind insbesondere

1.
alle Urkunden und Unterlagen, die neben dem Pass oder Passersatz für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können,
2.
von anderen Staaten erteilte Visa, Aufenthaltstitel und sonstige Grenzübertrittspapiere,
3.
Flugscheine und sonstige Fahrausweise,
4.
Unterlagen über den Reiseweg vom Herkunftsland in das Bundesgebiet, die benutzten Beförderungsmittel und über den Aufenthalt in anderen Staaten nach der Ausreise aus dem Herkunftsland und vor der Einreise in das Bundesgebiet sowie
5.
alle sonstigen Urkunden und Unterlagen, auf die der Ausländer sich beruft oder die für die zu treffenden asyl- und ausländerrechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen einschließlich der Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sind.

(4) Die mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden können den Ausländer und Sachen, die von ihm mitgeführt werden, durchsuchen, wenn der Ausländer seinen Verpflichtungen nach Absatz 2 Nr. 4 und 5 nicht nachkommt sowie nicht gemäß Absatz 2 Nummer 6 auf Verlangen die Datenträger vorlegt, aushändigt oder überlässt und Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen oder Datenträger ist. Der Ausländer darf nur von einer Person gleichen Geschlechts durchsucht werden.

(5) Durch die Rücknahme des Asylantrags werden die Mitwirkungspflichten des Ausländers nicht beendet.

(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und darüber, ob bereits in anderen Staaten oder im Bundesgebiet ein Verfahren mit dem Ziel der Anerkennung als ausländischer Flüchtling, auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 oder ein Asylverfahren eingeleitet oder durchgeführt ist.

(2) Der Ausländer hat alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die einer Abschiebung oder einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen.

(3) Ein späteres Vorbringen des Ausländers kann unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes verzögert würde. Der Ausländer ist hierauf und auf § 36 Absatz 4 Satz 3 hinzuweisen.

(4) Bei einem Ausländer, der verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, soll die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Asylantragstellung erfolgen. Einer besonderen Ladung des Ausländers und seines Bevollmächtigten bedarf es nicht. Entsprechendes gilt, wenn dem Ausländer bei oder innerhalb einer Woche nach der Antragstellung der Termin für die Anhörung mitgeteilt wird. Kann die Anhörung nicht an demselben Tag stattfinden, sind der Ausländer und sein Bevollmächtigter von dem Anhörungstermin unverzüglich zu verständigen.

(5) Bei einem Ausländer, der nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, kann von der persönlichen Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht folgt. In diesem Falle ist dem Ausländer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme innerhalb eines Monats zu geben.

(6) Die Anhörung ist nicht öffentlich. An ihr können Personen, die sich als Vertreter des Bundes, eines Landes oder des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen ausweisen, teilnehmen. Der Ausländer kann sich bei der Anhörung von einem Bevollmächtigten oder Beistand im Sinne des § 14 des Verwaltungsverfahrensgesetzes begleiten lassen. Das Bundesamt kann die Anhörung auch dann durchführen, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand trotz einer mit angemessener Frist erfolgten Ladung nicht an ihr teilnimmt. Satz 4 gilt nicht, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand seine Nichtteilnahme vor Beginn der Anhörung genügend entschuldigt. Anderen Personen kann der Leiter des Bundesamtes oder die von ihm beauftragte Person die Anwesenheit gestatten.

(7) Die Anhörung kann in geeigneten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen.

(8) Über die Anhörung ist eine Niederschrift aufzunehmen, die die wesentlichen Angaben des Ausländers enthält. Dem Ausländer ist eine Kopie der Niederschrift auszuhändigen oder mit der Entscheidung des Bundesamtes zuzustellen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die ordnungsbehördliche Untersagungsverfügung der Stadt L. vom 23. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 2007 im Zeitraum bis zum 20. Februar 2010 rechtswidrig war. Mit dieser Verfügung wurde dem Kläger aufgegeben, die gewerbliche Vermittlung von Sportwetten an nicht in Rheinland-Pfalz konzessionierte Anbieter in L. einzustellen; gleichzeitig wurde ihm untersagt, das Gewerbe fortzuführen. Nach erfolglosem Eilverfahren hat der Kläger am 20. Februar 2010 seinen Geschäftsbetrieb aufgegeben und die zuvor erhobene Anfechtungsklage auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt. Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße hat der Klage stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

2

Die dagegen erhobene Beschwerde des Beklagten, die sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO beruft und Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügt, hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

3

1. Die Beschwerdebegründung legt keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dar (§ 132 Abs. 2 Nr. 1, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Sie formuliert keine bestimmte, höchstrichterlich noch ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme (vgl. zu diesen Kriterien Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).

4

a) Die zur Werbung für das Sportwettenangebot aufgeworfenen Fragen wären, soweit sie sich auf den Begriff der Werbung beziehen, im angestrebten Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das angegriffene Urteil stützt sich nicht auf eine einschränkende Begriffsdefinition, sondern auf eine strenge Konkretisierung der Grenzen, in denen Werbung für Sportwetten nach § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. zulässig war. Die Fragen zur Vereinbarkeit dieser Zulässigkeitsgrenzen mit Verfassungs- und Unionsrecht und die daran anknüpfenden Fragen zur Erheblichkeit, zur Definition und zur Feststellung struktureller Defizite beim Vollzug der werbebeschränkenden Regelungen können nicht zur Zulassung der Revision führen. Sie betreffen bei Beschwerdeeinlegung bereits auslaufendes und seit dem Inkrafttreten des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages (auch) in Rheinland-Pfalz zum 1. Juli 2012 ausgelaufenes Recht (vgl. Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und 4 des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages - ErsterGlüÄndStV - vom 15. Dezember 2011 i.V.m. § 1 Abs. 1 des rheinland-pfälzischen Landesglücksspielgesetzes - LGlüG - vom 22. Juni 2012 ), ohne dass Umstände dargelegt sind, deretwegen ihnen dennoch grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zukäme.

5

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Rechtsfragen, die sich auf ausgelaufenes Recht beziehen, trotz anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, da § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO eine richtungweisende Klärung für die Zukunft herbeiführen soll. Eine Revisionszulassung wegen solcher Fragen kommt deshalb nur ausnahmsweise in Betracht, wenn die Fragen sich zu den Nachfolgevorschriften offensichtlich in gleicher Weise stellen oder wenn ihre Beantwortung für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist. Beides ist im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde substantiiert darzulegen (Beschlüsse vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9 S. 11 ff., vom 17. Mai 2004 - BVerwG 1 B 176.03 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 29 S. 11 und vom 15. Dezember 2005 - BVerwG 6 B 70.05 - juris Rn. 6, je m.w.N.). Daran fehlt es hier.

6

Der Beschwerdebegründung ist nicht zu entnehmen, dass die Rechtsfragen zur Zulässigkeit von Werbemaßnahmen sich unter der Geltung des auch in Rheinland-Pfalz zum 1. Juli 2012 in Kraft getretenen § 5 GlüStV n.F. offensichtlich in gleicher Weise stellen wie zuvor. Die in § 5 Abs. 1 GlüStV a.F. normierten Grenzen zulässiger Werbung, insbesondere deren Beschränkung auf Information und Aufklärung, wurden in den Wortlaut des § 5 GlüStV nicht übernommen. Auch das ausdrückliche Verbot zum Glücksspiel gezielt anreizender oder ermunternder Werbung (§ 5 Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F.) fehlt. Nach Absatz 1 der Neufassung ist die Werbung lediglich an den Zielen des - geänderten - Glücksspielstaatsvertrages auszurichten; Absatz 3 Satz 2 ermächtigt dazu, ausnahmsweise auch die zuvor nach § 5 Abs. 3 GlüStV a.F. absolut verbotene Werbung im Fernsehen, im Internet und über Telekommunikationsanlagen zuzulassen. Unter diesen neuen, die Werbebeschränkungen lockernden Regelungen stellen sich die Auslegungsfragen zu den Grenzen zulässiger Werbung nach § 5 GlüStV n.F. jedenfalls nicht offensichtlich in gleicher Weise wie unter der Geltung des § 5 GlüStV a.F. Gleiches gilt für die Fragen zur Vereinbarkeit der früher geltenden Werbebeschränkungen mit Verfassungs- und Unionsrecht. Da das experimentell eingeführte Konzessionssystem nach § 10a Abs. 1 und 2 GlüStV n.F. den Marktzugang für Veranstalter weniger stark beschränkt als die frühere Monopolregelung, stellen insbesondere Fragen der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung - einschließlich der neu geregelten Werbebeschränkungen - sich nicht mehr offenkundig ebenso wie unter dem ausgelaufenen Recht. Die bloße Möglichkeit, dass sich ihre unveränderte Relevanz bei näherer Prüfung der neuen Rechtslage erweisen könnte, reicht nicht aus (Beschluss vom 15. Dezember 2005 a.a.O. m.w.N.).

7

Die zum strukturellen Vollzugsdefizit bezüglich der Werbebeschränkungen aufgeworfenen Fragen wären im angestrebten Revisionsverfahren nur entscheidungserheblich, soweit sie sich auf Verstöße gegen die Werbebeschränkungen nach § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. beziehen; insoweit betreffen auch sie ausgelaufenes Recht. Dass sie sich unter der neuen, die Werbung liberalisierenden Rechtslage offensichtlich in gleicher Weise stellen würden, ist nicht dargelegt.

8

Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich auch nicht, dass mindestens eine der zum ausgelaufenen Recht aufgeworfenen Fragen noch in einer nicht überschaubaren Vielzahl von Fällen in unabsehbarer Zukunft von Bedeutung wäre. Selbst wenn derzeit noch zahlreiche Fortsetzungsfeststellungsklagen betreffend § 5 GlüStV a.F. bei den Verwaltungsgerichten anhängig sein sollten, ist daraus noch nicht auf eine unübersehbare Zahl offener Fälle zu schließen.

9

b) Auf die unionsrechtliche Frage, ob die sektorübergreifende Kohärenzprüfung eine Folgenabschätzung erfordert, käme es im Revisionsverfahren nicht an. Das Berufungsgericht hat nicht auf eine Inkohärenz wegen des Erlasses oder der Anwendung von Regelungen in einem anderen Glücksspielsektor abgestellt, sondern allein auf den Verstoß gegen Werbebeschränkungen im monopolisierten Sektor der Sportwetten selbst. Die Frage, ob die Monopolregelung durch die Glücksspielpolitik im Bereich der Geldspielgeräte konterkariert werde und (auch) deshalb unverhältnismäßig sei, hat es ausdrücklich offen gelassen.

10

c) Die sinngemäß gestellte Frage, ob der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 - (BVerfGE 115, 276 <319>) übergangsweise bis zum 31. Dezember 2007 weiter anwendbare Monopolregelung trotz der unionsrechtlichen Anerkennung eines mitgliedstaatlichen Regelungsspielraums und trotz der Erforderlichkeit einer intertemporären Regelung (auch) für diese Übergangszeit für unanwendbar erklären durfte, wäre im Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das Berufungsgericht hat die Unanwendbarkeit der Monopolregelung für die Übergangszeit bis zum 1. Juli 2007 nicht allein mit unionsrechtlichen Erwägungen begründet, sondern unabhängig davon und selbstständig tragend auf die Erwägung gestützt, die verfassungswidrigen Vorschriften hätten nur bei Beachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Maßgaben übergangsweise weiter angewendet werden dürfen. Daran fehle es, weil das geforderte Mindestmaß an Konsistenz in Rheinland-Pfalz wegen fortgesetzter und systematischer Verstöße gegen die verfassungsrechtlich gebotenen Werbebeschränkungen nicht hergestellt worden sei. Gegen diese Annahmen hat der Beklagte keine wirksamen Rügen erhoben. Dazu kann für die Grundsatzrügen zu den Werbebeschränkungen auf die Ausführungen oben unter Rn. 4 ff. und für die Verfahrensrügen auf die Ausführungen unten zu Rn. 19 ff. verwiesen werden.

11

Davon abgesehen ist die Frage, ob der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten mit innerstaatlich bindender Wirkung auch für die bundesverfassungsgerichtlich zugestandene Übergangszeit bejaht werden durfte, auf der Grundlage der bisherigen unions- und bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ohne Weiteres zu bejahen. Als primärrechtliche Gewährleistungen binden die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten der Union im definierten persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich unmittelbar, und zwar auch außerhalb der bereits durch sekundäres Unionsrecht harmonisierten Regelungsbereiche. Ihr Anwendungsvorrang schließt eine Anwendung grundfreiheitswidriger Regelungen prinzipiell aus (EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-409/06 Winner Wetten - Slg. 2010, I-08015 Rn. 53 ff.). Eine übergangsweise Anwendung mitgliedstaatlicher, die Grundfreiheiten verletzender Vorschriften kommt daher nur in Betracht, soweit das Unionsrecht selbst eine solche Anwendung zulässt, etwa aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit, die der Gerichtshof im Fall des Sportwettenmonopols verneint hat (EuGH, Urteil vom 8. September 2010 a.a.O. Rn. 67, 69; zur Zulässigkeit einer staatsvertraglichen Übergangsregelung vgl. EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-46/08, Carmen Media Group - Slg. 2010, I-08149 Rn. 106 ff.). Diese Rechtsprechung hält sich im Rahmen seiner unionsrechtlichen Kompetenzen und ist auch nicht mit verfassungsrechtlichen Erwägungen in Zweifel zu ziehen. Der Vortrag des Beklagten zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV zeigt insoweit keine klärungsbedürftigen Fragen auf. Art. 5 EUV verbietet der Union, ihre Kompetenzen über den Kreis der ihr jeweils nach Art. 23 Abs. 1 GG übertragenen Hoheitsrechte hinaus auszudehnen. Die vertraglich begründete Rechtsprechungskompetenz des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV schließt die Befugnis ein, den Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten und die Voraussetzungen einer übergangsweisen Anwendung sie verletzender mitgliedstaatlicher Vorschriften zu konkretisieren. Dass der Anwendungsvorrang von den mitgliedstaatlichen Gerichten aller Instanzen zu beachten ist, ergibt sich aus der Bindung der Mitgliedstaaten an den Vertrag, der als supranationales Primärrecht keiner Transformation bedarf, und aus der Bindung der Gerichte an das geltende Recht, zu dem auch das Unionsrecht zählt. Art. 100 GG greift nicht ein, da weder die Verfassungsmäßigkeit der Norm noch das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in Frage steht. Eine unionsrechtswidrige und deshalb im konkreten Fall unanwendbare Norm wird wegen des Unionsrechtsverstoßes nicht für nichtig erklärt.

12

Verfassungsrechtliche Grundsatzfragen ließen sich an das unionsgerichtliche Verneinen einer übergangsweisen Anwendbarkeit der grundfreiheitswidrigen Monopolregelung nur knüpfen, wenn dargelegt würde, dass die Übertragung der ihr zugrunde liegenden Rechtsprechungskompetenz auf den Gerichtshof den integrationsfesten, die Identität der Verfassung prägenden Kernbereich von Hoheitsbefugnissen beeinträchtigte (vgl. BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 u.a. - BVerfGE 123, 267 <353 f.>) oder dass sich die Wahrnehmung dieser Kompetenz durch den Gerichtshof im konkreten Fall als eine hinreichend qualifizierte, nämlich offensichtliche und strukturell bedeutsame Missachtung der Kompetenzgrenzen darstellte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286 <301 ff.>). Das trägt der Beklagte nicht vor.

13

d) Seine Rüge, die Berufungsentscheidung verletze das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, formuliert keine klärungsbedürftige Rechtsfrage zu dessen Auslegung und übersieht, dass die Bindung an Recht und Gesetz die Bindung an das die Mitgliedstaaten verpflichtende Unionsrecht einschließt. Die gerichtliche Durchsetzung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten ist Teil des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven (Individual-)Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), steht also nicht im Widerspruch zur Aufgabe der Verwaltungsgerichte, den Schutz subjektiver Rechte zu gewähren. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip ergibt sich auch nicht daraus, dass bei einer Inkohärenz der Monopolregelung - wie der Beklagte meint - sämtliche Schutzschranken außer Kraft gesetzt würden. Vielmehr ist in der Rechtsprechung geklärt, dass in einem solchen Fall zwar die Monopolregelung nicht mehr anzuwenden ist, dies aber nicht zwangsläufig zur Unanwendbarkeit etwa des Erlaubnisvorbehalts führt. Er bleibt vielmehr anwendbar, wenn er nicht allein der Durchsetzung des Monopols, sondern darüber hinaus anderen Zwecken dient und insoweit verfassungs- und unionsrechtskonform ist (Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 273 Rn. 73, 77 ff.). Entgegen der Auffassung des Beklagten verleiht die Aufhebung eines rechtswidrigen Verbots dem Betroffenen auch keine Rechtsposition, die über den konkreten Rechtsgrund der Aufhebung hinausginge. Insbesondere ist die Behörde durch die Aufhebung des rechtswidrigen Verbots nicht gehindert, ein mit dem geltenden Recht zu vereinbarendes neues Verbot zu erlassen.

14

e) Die zur Ermessensreduzierung auf Null und zum intendierten Ermessen aufgeworfenen Fragen rechtfertigen ebenfalls nicht die Zulassung der Revision.

15

Aus der bisherigen Rechtsprechung ergibt sich, dass die Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 284 Abs. 1 StGB nicht genügt, das Verbotsermessen der Behörde zulasten des Betroffenen auf Null zu reduzieren. Unerlaubtes, d.h. formell rechtswidriges Veranstalten oder Vermitteln von Sportwetten allein verpflichtet die zuständige Behörde noch nicht zum Erlass einer Verbotsverfügung; vielmehr ist auch die materielle Erlaubnisfähigkeit zu berücksichtigen (Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 4.10 - NVwZ 2011, 1326 = ZfWG 2011, 341 je Rn. 55). Umstände, deretwegen dem Kläger die Erlaubnis aus anderen, nicht monopolakzessorischen Gründen hätte versagt werden müssen (vgl. dazu Urteil vom 24. November 2010 a.a.O. Rn. 73 ff.), hat das Oberverwaltungsgericht nicht festgestellt.

16

Ob die Untersagungsermächtigung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV a.F. ein intendiertes Ermessen einräumt, dessentwegen das Verbot einer allein formell rechtswidrigen Tätigkeit keiner weiteren Begründung bedarf, ist keine Frage revisiblen Rechts. Der Glücksspielstaatsvertrag alter Fassung galt aufgrund der Transformationsgesetze der Länder als irrevisibles Landesrecht; eine Revisibilitätsklausel wurde erst mit § 33 GlüStV zum 1. Juli 2012 eingefügt.

17

f) Auch die weiter aufgeworfene Frage nach der Zulässigkeit einer "Rückwirkung" einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung führt nicht zur Zulassung der Revision, da sie sich ohne Weiteres auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung beantworten lässt. Danach liegt in einer Änderung der Rechtsprechung aufgrund einer nachträglichen Klärung gemeinschaftsrechtlicher (jetzt: unionsrechtlicher) Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) keine Änderung der materiellen Rechtslage, der Rückwirkung zukommen könnte, sondern nur eine die bisherige Rechtsprechungslinie korrigierende Erkenntnis des bestehenden Rechts (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 1 C 15.08 - BVerwGE 135, 121 Rn. 21 = Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 55).

18

g) Soweit die Beschwerde Fragen zur Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aufwirft, genügt sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Aus welchen Gründen es dem Kläger trotz seiner prozessualen Dispositionsbefugnis verwehrt sein sollte, sein Fortsetzungsfeststellungsbegehren bei einem Dauerverwaltungsakt zeitlich einzugrenzen, wird nicht dargetan. Soweit der Beklagte die berufungsgerichtliche Präzisierung des Streitgegenstands in zeitlicher Hinsicht angreift, formuliert er keine Grundsatzfrage zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO oder zur Auslegung des Klagebegehrens nach § 88 VwGO. Seine Anregung, die Voraussetzungen des besonderen Feststellungsinteresses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO restriktiver zu konkretisieren, genügt ebenfalls nicht den Substantiierungsanforderungen, da sie sich nicht mit der bisherigen Rechtsprechung zum Präjudizinteresse auseinandersetzt und nicht darlegt, inwieweit diese klärungsbedürftige Fragen offen lässt oder aus Rechtsgründen einer grundsätzlichen Überprüfung bedürfte.

19

2. Das angegriffene Urteil beruht auch nicht auf den vom Beklagten gerügten Verfahrensmängeln.

20

a) Offen bleiben kann, ob die - nach Auffassung des Beklagten - unzutreffende Bestimmung des Erledigungszeitpunkts und die seines Erachtens ebenfalls unzutreffende Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses als Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO oder als materiellrechtlicher Mangel im Sinne des Revisionsrechts einzuordnen wären. Jedenfalls legt die Beschwerdebegründung nicht dar, dass die Berufungsentscheidung auf einem der beiden Mängel beruhte.

21

Ob der Kläger seinen Betrieb am 20. Februar 2010 endgültig aufgegeben hatte, ist für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage bezüglich des zuvor liegenden Zeitraums unerheblich, weil der Dauerverwaltungsakt sich jeweils für den gesamten zurückliegenden Zeitraum erledigt hat und insoweit - selbst ohne endgültige Geschäftsaufgabe - Gegenstand eines Fortsetzungsfeststellungsantrags sein kann.

22

Die Beschwerdebegründung zeigt auch nicht auf, dass das Berufungsurteil auf einer fehlerhaften Annahme eines besonderen Feststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO beruhen kann. Ob die Vorinstanz zu Recht die Möglichkeit des Bestehens eines Amtshaftungsanspruchs oder anderer Ansprüche nach revisiblem Recht bejaht hat, ist unerheblich. Sie hat ihre Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses unabhängig davon auf die selbstständig tragende Erwägung gestützt, die Geltendmachung verschuldensunabhängiger Haftungsansprüche nach § 68 Abs. 1 Satz 2 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes des Landes Rheinland-Pfalz (POG RP) sei nicht offensichtlich aussichtslos. Die berufungsgerichtliche Anwendung der irrevisiblen landesrechtlichen Haftungsregelung ist nach § 137 Abs. 1 VwGO auch im Revisionsverfahren zugrunde zu legen. Der Senat wäre daher auch an die Annahme der Vorinstanz gebunden, die Voraussetzungen der landesrechtlichen Staatshaftung seien jedenfalls nicht von vornherein unter jedem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zu verneinen. Die Einwände des Beklagten gegen die Annahme einer geschützten Rechtsposition und eines ersatzfähigen Schadens gehen daher fehl, soweit sie die Anwendung des irrevisiblen Landesrechts betreffen. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich auch keine im angestrebten Revisionsverfahren erhebliche Grundsatzfrage zu revisiblen Rechtsgrenzen der landesrechtlichen Regelung oder ihrer berufungsgerichtlichen Anwendung.

23

b) Das Oberverwaltungsgericht hat seine Pflicht zur Amtsaufklärung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt. Soweit der Beklagte die berufungsgerichtliche Würdigung der Werbemaßnahmen und des Verhaltens der Aufsichtsbehörden beanstandet, rügt er keine Versäumnisse gerichtlicher Tatsachenermittlung, sondern zum einen die strenge berufungsgerichtliche Konkretisierung der Werbebeschränkungen gemäß § 5 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F., die nicht mit der Verfahrensrüge angegriffen werden kann, und zum anderen die Beweiswürdigung der Vorinstanz (dazu sogleich Rn. 24). Dem Berufungsgericht musste sich auf der Grundlage seiner - für die Prüfung von Verfahrensfehlern maßgeblichen - materiellrechtlichen Rechtsauffassung ohne einen förmlichen Beweisantrag des Beklagten auch nicht aufdrängen, ein Sachverständigengutachten zum Einfluss von Werbemaßnahmen einzuholen. Da es unter Berufung auf die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung davon ausging, das Sachlichkeitsgebot des § 5 Abs. 1 GlüStV a.F. und das Anreizverbot des § 5 Abs. 2 Satz 1 GlüStV a.F. verböten bei unionsrechtskonformer Auslegung jede Werbung mit einer gemeinnützigen Verwendung der Mittel sowie jede Werbung mit Sonderauslosungen aus Anlass bestimmter hervorgehobener Sportereignisse, erübrigte sich eine sachverständige Begutachtung der tatsächlichen Wirkung solcher Werbemaßnahmen. Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe sich insoweit entgegen § 108 Abs. 2 VwGO eigene Sachkunde zur Beurteilung entscheidungserheblicher Tatsachen angemaßt, trifft danach ebenfalls nicht zu.

24

c) Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts verletzt auch nicht den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO). (Angebliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Eine Ausnahme kommt bei einer selektiven oder aktenwidrigen Beweiswürdigung, bei einem Verstoß gegen die Denkgesetze oder einer sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht. Diese Voraussetzungen legt die Beschwerde nicht dar. Zwar meint der Beklagte, das Berufungsgericht habe seine tatsächlichen Annahmen zum strukturellen Vollzugsdefizit auf unzulängliche, bruchstückhafte, nicht nachvollziehbar bewertete Einzelinformationen und Erklärungen gestützt sowie fehlerhaft das Fehlen eines Einwilligungsvorbehalts für Werbemaßnahmen trotz anhaltender Vollzugsprobleme angeführt. Damit legt er jedoch keinen Verfahrensmangel dar, sondern wendet sich lediglich gegen die gerichtliche Beweiswürdigung. Soweit die Lückenhaftigkeit der Feststellungen gerügt wird, kann auf die Ausführungen zur Aufklärungsrüge (oben unter Rn. 23) verwiesen werden. Dass die Würdigung der getroffenen Feststellungen denkfehlerhaft wäre, ist nicht schon mit dem Vorbringen dargetan, die gezogenen Schlussfolgerungen seien unwahrscheinlich oder fernliegend. Denkfehlerhaft ist die Beweiswürdigung nur, wenn ihre Schlussfolgerungen denklogisch schlechthin unmöglich sind (stRspr, z.B. Beschlüsse vom 6. März 2008 - BVerwG 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 S. 17 und vom 22. Mai 2008 - BVerwG 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65). Das legt die Beschwerdebegründung nicht dar.

25

d) Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht prozessordnungsgemäß nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gerügt. Soweit der Beklagte sinngemäß beanstandet, das Gericht habe die rechtlichen Maßstäbe und tatsächlichen Annahmen nicht ausreichend mit den Beteiligten erörtert, fehlt eine substantiierte Darlegung der Gründe, aus denen das angegriffene Urteil auf einer Gehörsverletzung beruhen kann. Da es sich in materiellrechtlicher Hinsicht an der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts orientiert, sind keine für die Beteiligten überraschenden Erwägungen erkennbar. Zum Erörterungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht legt der Beklagte nicht dar, dass er die Entscheidungserheblichkeit bestimmter Tatsachen nicht schon auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und des Verfahrensverlaufs hätte erkennen und - auch ohne richterlichen Hinweis - entsprechend hätte vortragen können. Er hat auch nicht substantiiert dargetan, welche Beweisanträge er zu - aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen - Tatsachen gestellt hätte, wenn die vermisste (weitere) Erörterung stattgefunden hätte, welches Ergebnis diese Beweisaufnahme erbracht und inwieweit sie eine andere Entscheidung in der Sache ermöglicht hätte.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2

1. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

3

Die Frage,

ob bei der Beurteilung des Tatbestandsmerkmals schwere nichtpolitische Straftat im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG eine strafrechtliche Verurteilung des Ausländers im Heimatstaat, welche unter Verstoß gegen die Garantie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zustande gekommen ist, herangezogen werden darf,

würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, dass der Kläger vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat (Versuch der Tötung eines Dritten am 8. Februar 1978) außerhalb des Bundesgebiets begangen habe, ausdrücklich nicht darauf gestützt, dass der Kläger wegen dieser Tat mit Urteil des türkischen 1. Militärgerichts in Ankara vom 22. Oktober 1991 verurteilt worden ist. Dies hat es damit begründet, dass Urteile der türkischen Militärgerichte während des Ausnahmezustandes grundsätzlich nicht rechtsstaatlichen Maßstäben genügten, so dass sich eine Übernahme der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Würdigung dieser Gerichte ohne eigene Prüfung verbiete.

4

Sollte die aufgeworfene Frage dahin zu verstehen sein, ob in einem solchen Urteil wiedergegebene Aussagen von Opfern oder Zeugen geeignet sind, schwerwiegende Gründe für die Annahme zu begründen, ein Schutzsuchender habe eine schwere nichtpolitische Straftat begangen, entzieht sie sich hingegen einer rechtsgrundsätzlichen Klärung, weil sie auf eine einzelfallbezogene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts im vorliegenden Fall beschränkt ist.

5

Aus dem Grundsatz der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) folgt im Übrigen, dass Tatsachen nicht allein deswegen als Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ausscheiden, weil sie in einem rechtsstaatlichen Maßstäben nicht genügenden Urteil dokumentiert sind. Vielmehr sind auch derartige Umstände der freien Beweiswürdigung zugänglich, müssen allerdings besonders sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie an dem rechtsstaatlichen Makel teilhaben, der einem solchen Urteil insgesamt anhaftet. Das erkennende Gericht muss sich daher erkennbar mit der Frage der Verwertbarkeit solcher Tatsachen auseinandersetzen. Diesem Erfordernis ist das Berufungsgericht gerecht geworden. Der von der Beschwerde sinngemäß aufgestellte Rechtssatz, der Tatbestand eines gegen wesentliche Grundsätze der Rechtsordnung verstoßenden Urteils müsse als "nicht geschehen" behandelt werden, folgt auch nicht aus der vom Kläger nur allgemein herangezogenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder Art. 6 EMRK selbst.

6

2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

7

2.1 Das Berufungsgericht hat durch die Heranziehung der Zeugenaussage aus dem türkischen Gerichtsurteil nicht den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 VwGO) verletzt.

8

Soweit die Beschwerde mit ihrem Vorbringen eine Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geltend macht (Beschwerdebegründung S. 4 ff.), greift sie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind aber nach ständiger Rechtsprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. etwa Beschluss vom 19. Oktober 1999 - BVerwG 9 B 407.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11 m.w.N.). Ein Verfahrensverstoß kann ausnahmsweise u.a. dann in Betracht kommen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. etwa Beschluss vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135> m.w.N.). Dass die angefochtene Entscheidung derartige Mängel aufweist, macht die Beschwerde zwar geltend, legt dies indes nicht in einer Weise dar, die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

9

Das Berufungsgericht setzt sich bei seiner Bewertung einer den Kläger belastenden Zeugenaussage in dem Verfahren vor dem türkischen Militärgericht mit dem Erklärungsversuch des Klägers, man habe dem Opfer vor der Gegenüberstellung gesagt, wer die Tat begangen habe, auseinander. Es hält diese Erklärung für widersprüchlich, da der Kläger außerdem angegeben habe, er habe bei der Gegenüberstellung auf der Militärstation weder Personen sehen noch verstehen können. Diese Bewertung verletzt Gesetze der Logik nicht und lässt auch im Übrigen keine Überschreitung der Grenzen richterlicher Tatsachen- und Beweiswürdigung erkennen. Der Kritik des Klägers liegt vielmehr - wie ausgeführt - eine unzutreffende Rechtsauffassung zu Grunde, aus der sich die geltend gemachten Mängel nicht ableiten lassen.

10

2.2 Bei dem angefochtenen Berufungsurteil handelt es sich auch nicht um eine unzulässige Überraschungsentscheidung; der vom Kläger gerügte Gehörsverstoß liegt nicht vor.

11

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt sich eine gerichtliche Entscheidung als unzulässige Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit unter Verletzung seiner ihm nach § 86 Abs. 3, § 104 Abs. 1, § 173 VwGO i.V.m. § 139 Abs. 2 ZPO obliegenden Hinweis- und Erörterungspflicht dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (z.B. Beschluss vom 19. Juni 1998 - BVerwG 6 B 70.97 - NVwZ-RR 1998, 759; Urteile vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235 und vom 14. März 1991 - BVerwG 10 C 10.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 43 jeweils m.w.N.). Hierfür ist nichts ersichtlich.

12

Die Frage, ob der Kläger nach § 3 Abs. 2 AsylVfG wegen einer schweren nichtpolitischen Straftat von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen ist, bildet die zentrale Begründung für den vorliegend angefochtenen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Spätestens mit der Zulassung der Berufung wegen nachträglicher Abweichung des angefochtenen Urteils vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juli 2011 musste es sich dem Kläger deshalb aufdrängen, dass es im Verfahren (auch) auf diese Frage ankommen würde, zumal sie bereits im erstinstanzlichen Verfahren erörtert worden war. Im Übrigen hat der Kläger im Berufungsverfahren zu dieser Frage vorgetragen, die ihm in der Türkei vorgeworfenen Straftaten bestritten und geltend gemacht, dass das Urteil des türkischen Militärgerichts aus Rechtsgründen nicht verwendet werden dürfe. Auch die weitere Rüge, es sei bis zur mündlichen Verhandlung nicht ansatzweise ersichtlich gewesen, dass das Gericht das Tatbestandsmerkmal der nichtpolitischen Straftat als erwiesen ansah, lässt unabhängig von der Richtigkeit dieser Behauptung nicht erkennen, dass dem Kläger unter Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG die Gelegenheit abgeschnitten worden ist, sich zu den tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Entscheidung zu äußern.

13

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zwischen 1965 und 1972 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Bei der am ... Februar 1957 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin, die als Erwerbsunfähige laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, sind seit dem 22. Mai 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G und B im Wesentlichen wegen einer seelischen Störung und posttraumatischen Belastungsstörung (Teil-GdB von 70) anerkannt (Bescheid vom 3. Juli 2007, Bl. 41 SG-Akte).
Am 10. Oktober 1976 begab sich die Klägerin erstmalig in die Psychologische Ambulanz. Der Oberarzt der Klinik Dr. K. diagnostizierte eine konversionsneurotische Symptomatik einer infantilen Persönlichkeit (vielfältiger Symptomkomplex, ausgelöst durch den ersten Geschlechtsverkehr). Eine stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik wurde empfohlen (Arztbericht vom 15. Oktober 1976, Bl. 43 f. Senatsakte). Von Februar 1978 bis Dezember 1979 wurde sie wegen einer Zwangsstörung mit depressiver Komponente und suicidalen Tendenzen, Angstzuständen und Rechenstörung verhaltenstherapeutisch behandelt (vgl. Befundbericht von Dipl.-Psych. M. vom 11. Juni 2011, Bl. 42 Senatsakte). Eine erste stationäre Behandlung fand vom 15. November 1983 bis 16. Februar 1984 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus W. - Funktionsbereich Psychotherapie - wegen einer Angstneurose mit Zwangsgedanken statt (vgl. Arztbriefe vom 29. November 1983 und 1. März 1984, Bl. 37 f. und 39 f. Senatsakte).
Ihre Ausbildung zur Friseurin führte die Klägerin vom 1. Januar 1973 bis 30. Juni 1975 durch, war anschließend im Juli 1975 und dann wieder vom 23. März bis 9. Oktober 1976 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen von einer fünfmonatigen Arbeitslosigkeit. Eine weitere Versicherungspflicht bestand vom 1. Mai 1977 bis 31. Januar 1979, vom 15. Juni 1980 bis 7. November 1982, im März 1983, von März 1984 bis Januar 1986 und schließlich vom 8. März bis 12. August 1986. Danach war die Klägerin arbeitslos (vgl. Versicherungsverlauf vom 20. August 2008, Bl. 35 f. Senatsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt die Klägerin nicht.
Mit 24 Jahren heiratete die Klägerin das erste Mal, die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden. Ihren zweiten Mann heiratete sie mit 29 Jahren, er erkrankte 1997 nach einer Reise nach Kenia an Aids (nur Bluttest, nicht ausgebrochen, Bl. 41 V-Akte), 1998 trennte sie sich von ihm (vgl. Abschlussbericht Fachklinik H. vom 19. Juni 1998, Bl. 28 V-Akte).
Am 19. September 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Hinweis auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater von frühester Kindheit an bis zu dessen Tod in ihrem 15. Lebensjahr. Sie leide an Depressionen, Angststörung, Tinnitus, Zwängen, Alpträumen, Dissoziationsstörungen, sexueller Störung und Schwierigkeiten mit der Sexualität im Allgemeinen als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte den behandelnden Psychotherapeuten sowie die Schwester und die Mutter der Klägerin schriftlich. Der Psychotherapeut H., bei dem die Klägerin seit 2002 in regelmäßiger ambulanter Betreuung steht, legte die Entlassungsberichte der Fachklinik H. (stationäre psychiatrische Behandlung vom 2. Februar bis 27. Mai 1998 und 21. Juni bis 2. August 2000) vor. Er berichtete, dass zunächst eine Zwangssymptomatik im Vordergrund der Behandlung gestanden habe. Erst im Verlauf der Therapie seit 1997 sei die verdrängte schwere Traumatisierung (psychogene Amnesie) mit dem Grundgefühl des hilflos Ausgeliefertseins und tiefer Selbstwertproblematik in den Vordergrund getreten. In dem beigefügten Erstantrag auf Gewährung einer Psychotherapie führte Psychotherapeutin H. aus, sie habe die Klägerin bereits von September 1992 bis zum Mai 1996 psychotherapeutisch behandelt.
Die Schwester der Klägerin, R. Q., gab an, ihre Schwester habe im Alter von 12 Jahren das erste Mal über Ängste und Zwänge berichtet, diese aber nicht als ausdrücklichen Missbrauch geschildert. Ihre Schwester habe gegen ihren Willen beim Vater liegen müssen. Es sei wie ein Ritual gewesen. Er habe an die Wand geklopft, sie habe aufstehen und ins Schlafzimmer gehen müssen. Manchmal sei ihr anzusehen gewesen, dass sie am liebsten nicht gegangen wäre. Dann habe die Mutter sie aufgefordert zu gehen. Sie sei lange beim Vater geblieben. Sie habe auch beobachtet, wie ihr Vater die Brüste ihrer Schwester in der Badewanne eingeseift habe. Damals müsse sie 13 bis 14 Jahre alt gewesen sein. Eines Tages habe ihre Schwester erzählt, sie wolle nicht mehr, dass der Vater zu ihr ins Bad komme, um die Brüste einzuseifen. Das habe sie auch dem Vater gesagt, worauf ein großer Streit in der Familie entstanden sei. Es sei das erste Mal gewesen, dass die Klägerin sich gegen den Willen des Vaters aufgelehnt habe. Ihr selbst sei es zwar nicht verboten gewesen, das Schlafzimmer zu betreten, sie habe aber gewusst, dass das nicht gut sei. Eines Tages habe sie gesehen, dass ihr Vater und ihre Schwester ineinander verkeilt auf dem Bett gelegen hätten. Die Mutter habe vor ihrem Mann Angst um ihr eigenes Leben gehabt, sie habe sich nicht gegen ihn stellen können.
Die Mutter, E. Q., teilte mit, bei ihren Eltern habe es solche Sachen nicht gegeben. Darum habe sie sich niemals vorstellen können, dass ihr Mann sich an ihrer Tochter vergangen habe. Sie habe dies nicht gewusst und sie habe sich nichts dabei gedacht, wenn er die Tochter allein mit ins Schlafzimmer genommen habe. Außerdem habe er die Tochter oft brutal geschlagen und beschimpft. Dass er ihr mit 15 Jahren den Busen eingeseift habe, habe sie mitbekommen. Ihre Tochter habe es ihr damals erzählt (Bl. 53 f.; 55 Verwaltungsakte).
10 
Nach Beiziehung der Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. November 2006 den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne nicht nachweisen, dass sie durch vorsätzliche, rechtswidrige und tätliche Handlungen geschädigt worden sei. Den Antrag habe sie mehr als 30 Jahre nach dem Tod des Vaters und den letzten Schädigungshandlungen gestellt. Zeugen für die Vorfälle gebe es nicht. Die Klägerin habe selbst eingeräumt, sie wisse nicht mehr, was „hinter der verschlossen Tür geschah“. Somit lägen ausschließlich die Angaben der Klägerin gegenüber den behandelnden Ärzten vor und ihr könne der Nachweis sexueller Schädigungen nicht gelingen.
11 
Die Klägerin legte hiergegen unter Beifügung eines Attests vom Facharzt H. Widerspruch ein. Dieser führte aus, es gebe auf Grund der Anamnese und der Lebensgeschichte der Klägerin keinen Zweifel daran, dass sie missbraucht worden sei. Es müsse eine Retraumatisierung befürchtet werden. Die Dokumente müssten dringend einem medizinischen Sachverständigen vorgelegt werden, einer Behörde fehle der medizinische Sachverstand.
12 
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, bei lange zurückliegenden Ereignissen sei erfahrungsgemäß die Sachverhaltsaufklärung schwierig, da oftmals nur wenige oder gar keine Beweise vorlägen. Ein strafrechtliches Verfahren gegen den Vater als mutmaßlichen Schädiger sei zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden, sodass es an zeitnahen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen fehle. Die Zeuginnen hätten nur bestätigen können, dass die Klägerin in das elterliche Schlafzimmer gerufen worden wäre, hätten indessen nicht gewusst, was sich dort konkret ereignet habe. Der sexuelle Missbrauch sei der Klägerin erst im Rahmen einer Therapie durch einen Traum bewusst geworden. Die Therapeutin habe eine psychogene Amnesie diagnostiziert. Nach alledem bestünden Zweifel daran, ob die Darstellungen tatsächlich auf erlittenen Missbrauchshandlungen beruhten.
13 
Mit ihrer hiergegen am 7. März 2007 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin, nunmehr anwaltlich vertreten, ausgeführt, dass die ambulanten und stationären Einrichtungen einen klaren Zusammenhang zwischen den gestellten Diagnosen und einem in der Kindheit stattgefundenen schädigenden Ereignis in Form des sexuellen Missbrauchs bestätigt hätten. Der Beklagte habe auch nicht beachtet, dass ihre Schwester den Missbrauch aus eigener Anschauung geschildert habe.
14 
Sie hat eine weitere schriftliche Aussage ihrer Schwester R. Q. vom 16. Januar 2008 vorgelegt: „Ich habe verschwiegen, was ich damals wirklich gesehen habe. In unserer Familie wurde immer geschwiegen. Der Schande wegen. Meine Mutter und ich hatten damals nicht den Mut, das zu verhindern, was geschehen ist. Immer wieder habe ich gesehen, wie meine Schwester vom Vater mit ins Badezimmer genommen wurde, gegen ihren Willen. Auch habe ich gesehen, wie ihre Brüste eingeseift wurden. Als ich einmal meine Schwester im Schlafzimmer weinen hörte, habe ich die Tür geöffnet. Da sah ich, wie der Penis meines Vaters in dem Mund meiner Schwester steckte. Ich war so gelähmt und konnte damals mit dieser Situation nicht umgehen.“ (Bl. 46 SG-Akte).
15 
E. Q. hat ebenfalls mit Schreiben vom 19. Januar 2008 ergänzend zu ihrer ersten schriftlichen Aussage vorgetragen, dass sie doch gewusst habe, dass ihr Mann ihre Tochter im Schlafzimmer sexuell missbrauche. Sie habe indessen die Augen zugemacht, weil sie sich vor ihrer Familie geschämt habe. Sie habe nicht gewollt, dass diese Schande an die Öffentlichkeit gelange. Nur einmal habe sie ihren Mann zur Rede gestellt. Der habe ihr gesagt: „Die Sachen, die ich mit dir nicht machen will, die mache ich mit E..“ (Bl. 48 SG-Akte).
16 
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der damals zuständige Richter die Klägerin angehört und ihre Schwester als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Angaben wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 5. Dezember 2008 (Bl. 63 ff. SG-Akte) verwiesen. Des Weiteren ist die Klägerin nervenärztlich begutachtet worden.
17 
Der Sachverständige, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie Dr. Sch. hat in seinem Gutachten vom 15. Juli 2010 ausgeführt, dass die Klägerin an einer komplexen posttraumatischen Belastungs-/Persönlichkeitsstörung sowie einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leide, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sinne der Alleinverursachung auf die Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückzuführen sei. Er habe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin bis zum Tode ihres Vaters im Frühjahr 1972 unter körperlicher Gewalt durch ihren Vater gelitten habe, auch wenn sie sich nicht, kaum oder nur eingeschränkt erinnern könne. Bei ihr liege eine sogenannte „psychogene Amnesie“ vor. Die erhebliche Störung der Sexualität sei ebenfalls auf den Missbrauch zurückführen. Den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) schätze er mit 80 ein, da es sich um schwere Störungen handle, die im Grenzbereich zwischen erheblichen mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten lägen.
18 
Gestützt hierauf hat das SG mit Urteil vom 10. Dezember 2010 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 anzuerkennen und ihr wegen dieser Folgen Versorgung aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zu gewähren. Die Klägerin sei seit ihrem 4. Lebensjahr (1961) bis zum Tod ihres Vaters in ihrem 15. Lebensjahr (1972) fortgesetzt sexuell missbraucht worden und zwar unabhängig von einem eventuellen Einvernehmen mit dem Kind oder gegen dessen Willen. Die Schwester der Klägerin habe glaubhaft geschildert, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit als „Lieblingskind“ des gemeinsamen Vaters von ihm beim Baden abgeseift worden sei und zu ihm in das Schlafzimmer habe gehen müssen, wenn dieser an die Wand geklopft habe. Außerdem habe sie eindrücklich eine konkrete Begebenheit von sexuellem Missbrauch wiedergeben können. Dass die Klägerin von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, habe auch die Mutter in ihrem Schreiben vom 19. Januar 2008 bestätigt. Sie habe berichtet, dass sie ihren Mann einmal zur Rede gestellt und dieser ihr gesagt habe, dass er die „Sachen“, die er mit seiner Frau nicht machen wolle, mit der Klägerin mache. Diese Einlassungen bestätigten den Vortrag der Klägerin glaubhaft. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Schwester im Verwaltungsverfahren keine konkreten sexuellen Übergriffe geschildert habe. Nachvollziehbar habe die Zeugin angegeben, dass sie aus Scham nichts Konkretes geschrieben habe, nun aber ihr Gewissen erleichtern wolle. Dies treffe auch auf die Auskunft der Mutter zu. Die vom Beklagten gerügten „Diskrepanzen“ in den Aussagen seien damit hinreichend aufgelöst. Auch die Ausführungen der Klägerin seien in sich schlüssig und glaubhaft. Es bestünden solide ausgeprägte so genannte Realkennzeichen, wie sie eine glaubhafte Aussage charakterisierten. Das zeige sich insbesondere bei der Darstellung von Details wie dem Klopfen gegen die Wand, dem Krankenhausaufenthalt der Mutter oder dem Urlaub in Thüringen, von dem die Klägerin schildere, dass sie dort jeweils keinen Übergriffen des Vaters ausgesetzt gewesen sei, was ihre Schwester bestätigt habe. Dass die Klägerin erst im Jahr 2006 einen Antrag gestellt habe, könne ihr nicht entgegen gehalten werden. Sie sei glaubhaft erst im Jahr 2006 durch die behandelnde Therapeutin auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin werde weiter durch das Gutachten von Dr. Sch. bestätigt. Dieser sei nach Auswertung verschiedener psychologischer Tests zu dem Ergebnis gelangt, dass er keinen vernünftigen Zweifel an den von der Klägerin geschilderten Fällen sexuellen Missbrauchs habe. Er habe die Klägerin zwar nicht im Einzelnen zu den realen Missbrauchsereignissen befragt. Inwieweit sich diese Vorgehensweise nicht vollständig mit denen in der Rechtsprechung anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an Aussagen von psychologischen Begutachtungen decke, könne jedoch dahin gestellt bleiben. Denn allein auf Grund der Zeugenaussagen sei das erkennende Gericht vom Wahrheitsgehalt des Klägervorbringens überzeugt und der Vollbeweis des schädigenden Ereignisses somit bereits erbracht. Der Sachverständige habe auch überzeugend dargelegt, dass die gesundheitliche Schädigung auf die nachgewiesenen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffe zurückgeführt werden könnten und mit einem GdS von 80 zu bewerten sei. Die von ihm diagnostizierten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft in hohem Maße. Sie bedürfe selbst zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben der Unterstützung durch Psychotherapeuten und befinde sich seit ihrem 18. Lebensjahr fast vollständig in ambulanter oder stationärer Behandlung. Deswegen handle es sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, der mit dem GdS von 80 ausreichend Rechnung getragen werde, welches sich auch mit den Feststellungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald im Bescheid vom 3. Juli 2007 decke. Die Klägerin erfülle auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 10 a Abs. 1 OEG. Das sei erforderlich, weil die Schädigung in der Zeit von 1961 bis 1972 und damit im Zeitraum vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschehen sei. Die Klägerin sei allein infolge dieser Schädigung des sexuellen Missbrauchs schwerbeschädigt mit einem GdS von mindestens 50. Zudem sei sie, da sie Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII beziehe, auch bedürftig und habe ihren Wohnsitz in Deutschland im Geltungsbereich des OEG.
19 
Gegen das am 20. Januar 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Februar 2011 mit der Begründung Berufung eingelegt, es sei nicht nachvollziehbar, warum das SG noch ein aussagepsychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Klägerin eingeholt habe, wenn es denn den Zeugenaussagen Glauben schenke. Das Gericht habe nicht ausreichend gewürdigt, warum die Zeugen zunächst keine konkreten Angaben gemacht hätten, obwohl sie bereits zuvor im Verwaltungsverfahren die Gelegenheit zur Schilderung konkreter Vorfälle gehabt hätten. Auch die selbst vorgetragene Erinnerungslosigkeit der Klägerin sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Das Gutachten genüge nicht wissenschaftlichen Anforderungen. Denn der Sachverständige hätte nach der sogenannten Null-Hypothese vorgehen, d. h. zunächst unterstellen müssen, dass die Aussage der Klägerin unwahr sei. Hierzu bestünde auch deswegen besonderer Anlass, weil die Klägerin selbst zeitnah den damals behandelnden Ärzten geschildert habe, dass sie an ihrem Vater sehr gehangen und auch während mehrerer stationärer Behandlungen keine Angaben über einen sexuellen Missbrauch durch den Vater gemacht habe. Damals hätten die Ärzte zunächst auch erhebliche narzisstische Anteile oder eine schizoide Symptomatik beschrieben. Insoweit müsse auch geprüft werden, ob die therapeutischen Sitzungen nicht suggestive Einflüsse verfolgt hätten. Bei der Schilderung des Einseifens der Brust müsse berücksichtigt werden, dass das Waschen im Bad in der Badewanne erfolgt sei und es deswegen an einer Sexualbezogenheit der Handlung fehle. Auch habe die Schwester als Zeugin zunächst keine sexuellen Handlungen im Schlafzimmer geschildert, denn weder Vater noch Klägerin seien nackt gewesen oder hätten sexuelle Handlungen durchgeführt. Dies habe sie erst im Nachhinein angegeben.
20 
Der Beklagte beantragt,
21 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 insoweit aufzuheben, als die Klägerin nicht auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet hat und die Klage insoweit abzuweisen,
22 
hilfsweise von Amts wegen ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin bei dem Institut für Gerichtspsychologie B. bei der Diplom Psychologin S. J. von J. einzuholen,
23 
hilfsweise die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zum BSG zuzulassen.
24 
Die Klägerin beantragt,
25 
die Berufung zurückzuweisen.
26 
Sie hat darauf hingewiesen, dass das SG keineswegs ein sogenanntes Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt habe, sondern der Auftrag an den Gutachter habe gelautet, die Angaben der Klägerin als wahr zu unterstellen. Deswegen finde die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nur bedingt Anwendung. Grundsätzlich sei es ureigene Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Parteien zu beurteilen.
27 
Die Klägerin hat dem Senat den Versicherungsverlauf der Klägerin, erstellt durch die Deutsche Rentenversicherung, sowie weitere ärztliche Befundberichte vorgelegt.
28 
Die Vorsitzende hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 30. August 2011 erörtert. Der daraufhin von dem Beklagten gestellte Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende wurde mit Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2011 zurückgewiesen.
29 
Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 noch einmal befragt und ihre Schwester R. Q. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten ihrer Angaben wird auf die Niederschrift verwiesen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf die Rechte aus dem Urteil vom 10.12.2010 insoweit verzichtet, als ein sexueller Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 geltend gemacht und soweit der Klägerin Versorgung zugesprochen wurde.
30 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtskaten erster und zweiter Instanz sowie die von dem Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Gründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 524/02
vom
27. März 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
25. März 2003 in der Sitzung am 27. März 2003, an denen teilgenommen haben
:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. Juli 2002 mit den Feststellungen aufgehoben , soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf dreier weiterer Vergewaltigungen und einer vorsätzlichen Körperverletzung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen die Verurteilung. Das Rechtsmittel ist begründet.

I.

1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte entschloß sich am 30. Juni 2000 nach einem heftigen Streit, sich endgültig von seiner Freundin, der Zeugin B. , zu trennen. Er forderte sie auf, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nachdem er selbst aus der Wohnung gegangen war und wieder zurückkehrte, fand er die Zeugin dort noch auf dem Bett liegend
vor. Er entschloß sich nun, mit ihr geschlechtlich zu verkehren. Dies entsprang nicht einem Wunsch nach Versöhnung, sondern war als Bestrafung gedacht. Als er begann, der Zeugin mit einer Hand die Hose herunterzuziehen, wehrte sich diese und sagte, daß sie nichts von ihm wolle. Der Angeklagte packte die Zeugin an den Füßen, drehte sie in die Bauchlage und führte sowohl den vaginalen als auch den analen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß an ihr durch, obwohl die Zeugin schrie und ihn aufforderte, damit aufzuhören. Die Ausführung des Verkehrs erfolgte "in roher Weise". Die Zeugin blutete im Genitalbereich und trug blutende Haarrisse in der Haut der Scheidenwand davon. Kurz darauf erklärte er der Zeugin, er werde ihre Sachen aus dem Fenster werfen, wenn sie nicht innerhalb von fünfzehn Minuten die Wohnung verließe. 2. Bei ihrer Beweisführung gegen den bestreitenden Angeklagten folgt die Strafkammer im wesentlichen der Aussage der Zeugin B. . Zwar hat der von ihr zugezogene aussagepsychologische Sachverständige W. ausgeführt, die Aussage der Zeugin könne aus aussagepsychologischer Sicht nicht als verläßlich angesehen werden. Die Kammer geht indessen dennoch von deren Glaubhaftigkeit aus und stellt dabei auf die sonstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme, namentlich außerhalb der Aussage liegende Beweisanzeichen ab. 3. Der Freispruch von den Vorwürfen dreier zeitlich vorgelagerter Vergewaltigungen zum Nachteil der Zeugin B. gründet im wesentlichen darin, daß die Strafkammer insoweit Zweifel an der uneingeschränkten Glaubhaftigkeit der entsprechenden Angaben der Zeugin B. nicht zu überwinden vermochte. Der aussagepsychologische Sachverständige W. ist davon ausgegangen, daß die Bekundungen der Zeugin B. zum Kerngeschehen zu wenig detailliert seien; zum Teil hat er auch Widersprüche in den verschie-
denen Aussagen der Zeugin aufgezeigt. Er hat auch insoweit die sog. "Null- hypothese" für nicht widerlegt gehalten (vgl. BGHSt 45, 164, 167/168). Die Kammer hält schließlich für möglich, daß die Zeugin Gewaltanwendung des Angeklagten, die in der Beziehung nicht unüblich war, mit den Sexualakten vermengt oder verknüpft habe; möglicherweise sei dies unbewußt geschehen.

II.

Die der Verurteilung des Angeklagten (Fall 4 der Anklage) zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Obgleich sie sehr ausführlich ist, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken. 1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indessen dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muß insbesondere auch erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Aus den Urteilsgründen muß sich zudem ergeben , daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30; BGH
NStZ 2000, 48). Schließlich hängt der dem Tatgericht abzuverlangende Begründungsaufwand von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Beschluß vom 26. Februar 2003 - 5 StR 39/03; siehe zur Situation "Aussage gegen Aussage" BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257). Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muß er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, daß der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewußt falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257). 2. Diesen Maßstäben wird die Würdigung der Strafkammer nicht vollends gerecht. Freilich war die Beweissituation im vorliegenden Fall ungewöhnlich schwierig. Es stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Allein aufgrund der Analyse der Bekundungen der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin B. konnten sowohl die Strafkammer als auch der mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung zunächst beauftragte Sachverständige W. , dem die Kammer trotz eines methodenkritischen weiteren Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S. gefolgt ist, die Angaben der Zeugin nicht als zuverlässig bewerten. Diese waren nämlich zum Kerngeschehen und insbesondere zur Gewaltanwendung nicht hinreichend detailliert. Das war der wesentliche Grund für die Freisprüche von den zeitlich vorgelagerten Vorwürfen. Zu der konfliktreichen Beziehung der Zeugin zum Angeklagten kamen weitere für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung bedeutsame Umstände hinzu: Es gab konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Motivs für eine bewußte Falschbelastung. Die Zeugin war, insbesondere durch Angehörige, zu der Strafanzeige gedrängt worden; sie hatte überdies ihren Vater - möglicherweise zu Unrecht - bezichtigt , sie früher sexuell mißbraucht zu haben. Die psychiatrische Sachverständige hat ihr hysteroide Persönlichkeitszüge attestiert. Aus alldem ergeben sich hier besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung.

a) Die Strafkammer hätte bei der Beweiswürdigung zum Fall 4 der Anklage (Verurteilung) im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen auch diejenigen Umstände erkennbar in die Bewertung mit einbeziehen müssen , welche sie mit bewogen haben, den Angeklagten von den weiteren Vergewaltigungsvorwürfen freizusprechen. Dieses Erfordernis ergab sich hier auch daraus, daß die Kammer in jenen Fällen eine Vermengung von anderweitiger Gewaltanwendung des Angeklagten mit Sexualakten durch die Zeugin B. für möglich gehalten hat. Sie hat dabei nicht hinreichend verdeutlicht, ob die Zeugin verschiedene Sachverhalte etwa auch bewußt verknüpft haben könnte. In den mit Freispruch entschiedenen Fällen hat der aussagepsychologische Sachverständige W. teils die erforderlichen Realkennzeichen und die nötige Aussagekonstanz vermißt, des weiteren teilweise auch Widersprüche hervorgehoben. Insoweit ist ihm die Strafkammer gefolgt. Sie hat darüber hinaus zum Fall 1 der Anklage ausgeführt, die von der Zeugin B. beschriebenen Ohrfeigen könnten plausibel auch ihrem vorangegangenen Streit mit dem Angeklagten zugeordnet werden und wären "einer gedanklichen Übertragung auf die Durchführung der Sexualakte zugänglich" (UA S. 98). In der Beweiswürdigung zum Fall 2 der Anklage hebt die Strafkammer hervor, sie könne die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Schläge im Verlaufe eines Eifersuchtsstreites erfolgten und die anschließenden Geschlechtsakte von der Zeugin widerwillig und ohne für den Angeklagten erkennbaren Widerstand vollzogen worden seien, die Zeugin schließlich die Schläge - "auch eventuell unbewußt" - mit den Sexualakten verknüpft habe (UA S. 106). Im Fall 3 der Anklage begründet die Strafkammer den Freispruch unter anderem ähnlich damit, sie könne nicht ausschließen, daß die Zeugin B. frühere sexuelle Vorgänge mit dem Bruder des Angeklagten und dessen Freund, mit denen sie einvernehmlich und zu dritt sexuellen Verkehr hatte, "mit erkennbaren Verdrän-
gungstendenzen erinnert" und "möglicherweise unbewußt" mit ihren Erinnerungen zu dem Vorfall mit dem Angeklagten "vermengt" habe (UA S. 150). Diese Formulierungen lassen offen, ob die Zeugin etwa gar bewußt eine Verknüpfung anderweitiger Gewaltanwendung mit dem Geschlechts- bzw. Analverkehr vorgenommen hat ("eventuell unbewußt", "möglicherweise unbewußt" ). Wäre dem so, hätte das Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum Fall 4 der Anklage, in dem der Angeklagte verurteilt worden ist. Deshalb hätte das Landgericht diese Frage beantworten und gegebenenfalls in die Gesamtwürdigung aller Beweise einbeziehen müssen (vgl. dazu BGH NStZ 2000, 551, 552). Der Senat hat erwogen, ob die in Rede stehenden Wendungen sinngemäß dahin verstanden werden können, daß die Strafkammer allein von einer unbewußten Verknüpfung von Sachverhalten ausgegangen ist, also nur diese für möglich gehalten hat und eine bewußte Vermengung ausschließen wollte. Wegen des Zusammenhangs mit den nachfolgend aufgeführten Mängeln der Beweiswürdigung vermag er dies jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit anzunehmen.
b) Die Strafkammer hat - da konkrete Umstände dazu Anlaß gaben - zu Recht geprüft, ob die Zeugin B. ein Motiv hatte, den Angeklagten zu Unrecht zu belasten ("Rachehypothese"). Ihre Erwägungen lassen jedoch besorgen , daß sie von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem so nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist. aa) Die Kammer führt im Zusammenhang mit der Würdigung der Aussage der Zeugin B. zum Fall 4 der Anklage aus, sie habe sich nicht von einer Rachsucht der Zeugin als möglichem Motiv einer Falschaussage überzeugen können (UA S. 78). Dieser Ansatz ist nicht tragfähig. Es kam vielmehr - anders gewendet - darauf an, ob Rache als Motiv für eine Falschbezichtigung des An-
geklagten ausgeschlossen oder jedenfalls für wenig wahrscheinlich erachtet werden konnte. bb) Darüber hinaus läßt die in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendung, ein Rachemotiv sei generell keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage (UA S. 79 unten) befürchten, die Strafkammer könne von einem so nicht bestehenden allgemeingültigen Erfahrungssatz ausgegangen sein und sich über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggesetzt haben. Rache kann - je nach Lage des Einzelfalles - ein Beweggrund für eine unwahre Anschuldigung sein. Richtig ist allerdings, daß ein Vergewaltigungsopfer auch in berechtigtem Zorn auf den Vergewaltiger mittels wahrer Aussage dessen Bestrafung erstreben kann. Insofern kann Rache als Motiv für eine Beschuldigung durchaus ambivalent sein. Aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen läßt sich deswegen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage schließen (BGHSt 45, 164, 175). In der Aussagepsychologie ist anerkannt, daß die "Rachehypothese" im Rahmen der Begutachtung bei der sog. Motivationsanalyse als mögliche Quelle einer fehlerhaften Aussage bei konkreten Anhaltspunkten - wie sie hier vorliegen - als naheliegende Möglichkeit mit zu bedenken ist (vgl. BGHSt 45, 164, 173). Rachetendenzen, die etwa auch nur zu Übertreibungen führen, kommen seit jeher vor und können immer wieder beobachtet werden (siehe nur Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 97). Dessen ungeachtet ist gleichermaßen bekannt, daß häufig zu Unrecht ein Rachemotiv vermutet wird (ders. aaO). Rachegefühle müssen indes nicht zu einer unwahren Aussage oder zu Übertreibungen führen; sie können auch bei einer wahren Aussage vorhanden sein, aber von der Aussageperson beherrscht werden.
Für die Begutachtung ist eine Analyse der Aussagemotivation erforderlich sowohl für den Fall, daß die Aussage subjektiv (nach der Vorstellung des Zeugen) wahr ist, als auch für den Fall, daß sie bewußt falsch ist (vgl. Greuel/ Offe u.a., Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 173; siehe auch Bender /Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. 1, 2. Aufl. Rdn. 204). In diesem Zusammenhang kommt dem sog. Gleichgewichtsmerkmal besonderes Gewicht zu: Verzichtet der Zeuge auf solche Mehrbelastungen, die ihm möglich wären und dann nicht widerlegt werden könnten, und weisen seine Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht dies gegen eine falsche Belastung (vgl. Bender/Nack, aaO Rdn. 279). Der Tatrichter ist bei konkreten Anhaltspunkten für Rache als Motiv einer Falschbelastung gehalten, diese naheliegende Möglichkeit zu prüfen. Er ist dabei freilich nicht an die strikten methodischen Vorgaben gebunden, die für den aussagepsychologischen Sachverständigen und seine hypothesengeleitete Begutachtung als Standard gelten (vgl. BGHSt 45, 164). Für ihn gilt der Grundsatz freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Mitbestimmend hierfür sind indes die in der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Anforderungen, daß insbesondere seine Beweiswürdigung auch insoweit je nach der Beweislage im übrigen erschöpfend zu sein hat; sie darf nicht lückenhaft sein und erörterungsbedürftige Möglichkeiten unerwogen lassen. Sie darf schließlich anerkannten Erfahrungssätzen der Aussagepsychologie nicht widerstreiten. Zieht der Tatrichter allerdings einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu , so gilt dasselbe wie für die Würdigung aller Sachverständigengutachten: Will er dem Gutachten folgen, so muß er in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben. Einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgrün-
den bedarf es regelmäßig nicht (BGHSt 45, 164, 182). Folgt der Tatrichter dem Gutachten nicht, so muß er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Auffassung begründen. Lehnt er ein Gutachten ab und folgt einem anderen, etwa im Blick auf die Beweisergebnisse im übrigen, so muß er auch hierfür die Gründe angeben (vgl. nur BGHSt 34, 29, 31; BGH NStZ 2000, 550; 2001, 45; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 267 Rdn. 13 m.w.N.). Das Landgericht hat sich zwar ausführlich mit den gutachtlichen Äußerungen der beiden aussagepsychologischen und der psychiatrischen Sachverständigen auseinandergesetzt. Der von ihm aufgestellte Grundsatz, ein Rachemotiv sei „generell“ keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage, besteht indessen so nicht. Die Strafkammer hat überdies zwar einige auffällige Gesichtspunkte angeführt, derentwegen sie sich überzeugt sieht, daß die Zeugin B. keine rachegeleitete Falschaussage getätigt habe. Das geschieht aber nicht im Rahmen der gebotenen umfassenden Bewertung, insbesondere - bei zum Teil gegenläufigen Sachverständigenbewertungen - nicht im Hinblick auf das sog. Gleichgewichtsmerkmal. Diese Erwägungen vermögen im Blick auf die vorangestellten maßstäblichen Wendungen (keine "Überzeugung" von einem Rachemotiv, das zudem "generell keine taugliche Hypothese" für eine Falschaussage sei) mithin nicht die Besorgnis auszuräumen, die Strafkammer könne von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen sein.
c) Die Strafkammer prüft zu Recht, ob die Zeugin B. , nachdem sie aus ihrer Familie zur Strafanzeige gedrängt wurde, tatsächlich stattgefundene nicht einverständliche sexuelle Handlungen als - worauf es entscheidend ankommt - durch Gewalt erzwungen geschildert hat. Diese Möglichkeit widerlegt
die Strafkammer insbesondere mit zwei Kurzmitteilungen (SMS-Short Message Service), die die Zeugin B. mittels Mobiltelefon im Zusammenhang mit der Tat im Fall 4 an ihre Freundin M. versandt habe. Das wäre tragfähig, wenn die Strafkammer näher dargelegt hätte, daß die zweite - aufgrund ihres Inhalts beweiskräftige - Nachricht tatsächlich im Zusammenhang mit der Tat übermittelt wurde. Daran fehlt es aber. Die Strafkammer würdigt eine Abweichung zwischen den Angaben der Zeugin B. und der Zeugin M. hierzu nicht ausdrücklich. M. hat bekundet, sie habe von der Zeugin B. zwei SMS-Kurzmitteilungen auf ihrem Mobiltelefon erhalten: Die erste mit dem Text "Hilfe"; die zweite mit dem Hinweis, vergewaltigt worden zu sein. Die Zeugin B. hat sich nicht an diese zweite Kurzmitteilung erinnern können (UA S. 56 ff.). Das erscheint bei einem außergewöhnlichen Ereignis wie dem hier in Rede stehenden eher ungewöhnlich. Da die Strafkammer sich bei ihrer Beweisführung aber auch auf die zweite Kurzmitteilung stützt (UA S. 60), hätte sie sich auch mit dem Nichterinnern der Zeugin B. in seiner Bedeutung für die Beweiswürdigung auseinandersetzen müssen.
d) Ähnlich verhält es sich mit der Bedeutung einer etwaigen Falschbezichtigung des Vaters der Zeugin durch diese: Die Zeugin hatte u.a. gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Bi. eingeräumt, ihren Vater früher zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs zu ihrem Nachteil beschuldigt zu haben. Solche Vorwürfe gegen ihren Vater hatte sie unter anderem gegenüber einer Freundin, gegenüber der Ehefrau des Zahnarztes, bei dem sie tätig war, und bei ihrer Nervenärztin erhoben. Die Strafkammer hat sich außerstande gesehen , davon auszugehen, daß die Zeugin ihren Vater "bewußt wahrheitswidrig" des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt habe: Diese Frage müsse offenblei-
ben. Hypothetisch müsse erwogen werden, daß der Mißbrauch zutreffend sei und die Zeugin sich nicht mehr in der Lage sehe, dies zu offenbaren (UA S. 74). Diese Würdigung läßt für sich gesehen besorgen, daß die Strafkammer die Frage einer bewußt wahrheitswidrigen Bezichtigung des Vaters in ihrer Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin im abgeurteilten Fall 4 der Anklage nicht hinreichend bedacht hat. Selbst wenn die Strafkammer meinte dahinstellen zu sollen, ob die Bezichtigung zutraf oder nicht, hätte sie im Rahmen einer Gesamtschau auch auf die Bedeutung dieses Vorgangs für die Beweiswürdigung im Fall 4 der Anklage eingehen müssen. Dabei hätte sie, wenn sie den anderweitigen Vorwurf der Zeugin gegen ihren Vater nicht meinte klären zu können, auch dessen Unwahrheit in Betracht ziehen und diese Möglichkeit in eine Gesamtbewertung der Beweislage einstellen müssen. Denn daraus hätten sich Zweifel an der Richtigkeit der Aussage im Fall 4 der Anklage ergeben können.
3. Auf diesen rechtserheblichen Erörterungsmängeln kann das angefochtene Urteil beruhen. Der Senat sieht sich angesichts der Besonderheiten des Falles und der ersichtlich schwierigen Beweissituation nicht in der Lage, diese Mängel auch bei verständiger Lesart der betroffenen Urteilsstellen und der Betrachtung des gesamten Urteilszusammenhanges teils lediglich als Fassungsmängel , teils als weniger bedeutsame Einzelheiten zu begreifen und für nicht durchgreifend zu erachten. Zwar standen der Strafkammer im Fall 4 der Anklage gewichtige Beweisanzeichen außerhalb der Aussage der Zeugin zur Verfügung, insbesondere der von der Gynäkologin zeitnah diagnostizierte achtförmige Blutschaum um Anus und Scheide, deren Verursachung bei einem
in der vorausgegangenen Nacht möglicherweise stattgefundenen einvernehmlichen Verkehr eher fernliegend erscheint. Der Senat vermag jedoch angesichts der übrigen substantiellen Bedenken gegen die Aussage der Zeugin, insbesondere der Detailarmut der Schilderung zum Kerngeschehen, nicht sicher auszuschließen, daß die Bewertung im Ergebnis hätte anders ausfallen können , wenn der Tatrichter die genannten Gesichtspunkte ausdrücklich in eine abschließende Würdigung aller Umstände mit einbezogen hätte und von einem zutreffenden Ansatz zur Prüfung der Motivationslage der Zeugin für eine etwaige Falschaussage ausgegangen wäre. Das gilt zumal auch im Blick darauf, daß die neben den aussagepsychologischen Sachverständigen hinzugezogene psychiatrische Sachverständige Dr. Bi. - wenngleich wohl auf die Erstaussage der Zeugin bezogen - ausgeführt hat, die Aussage "müsse nicht falsch" sein; nur lasse sich schwer trennen, inwieweit sie auf Erlebtem oder Nichterlebtem beruhe. Die Aussagen der Zeugin seien in Belastungssituationen nicht zuverlässig.
Nach allem muß die Sache zum Fall 4 der Anklage neu verhandelt und entschieden werden. Der neue Tatrichter wird naheliegender Weise wieder den Rat eines forensisch hocherfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen in Anspruch nehmen. Die im freisprechenden - und rechtskräftigen - Teil des Ersturteils enthaltenen Feststellungen sind für ihn nicht bindend (§ 358 Abs. 1 StPO; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.). RiBGH Dr. Boetticher ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Nack Nack Schluckebier Kolz Hebenstreit

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zwischen 1965 und 1972 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Bei der am ... Februar 1957 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin, die als Erwerbsunfähige laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, sind seit dem 22. Mai 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G und B im Wesentlichen wegen einer seelischen Störung und posttraumatischen Belastungsstörung (Teil-GdB von 70) anerkannt (Bescheid vom 3. Juli 2007, Bl. 41 SG-Akte).
Am 10. Oktober 1976 begab sich die Klägerin erstmalig in die Psychologische Ambulanz. Der Oberarzt der Klinik Dr. K. diagnostizierte eine konversionsneurotische Symptomatik einer infantilen Persönlichkeit (vielfältiger Symptomkomplex, ausgelöst durch den ersten Geschlechtsverkehr). Eine stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik wurde empfohlen (Arztbericht vom 15. Oktober 1976, Bl. 43 f. Senatsakte). Von Februar 1978 bis Dezember 1979 wurde sie wegen einer Zwangsstörung mit depressiver Komponente und suicidalen Tendenzen, Angstzuständen und Rechenstörung verhaltenstherapeutisch behandelt (vgl. Befundbericht von Dipl.-Psych. M. vom 11. Juni 2011, Bl. 42 Senatsakte). Eine erste stationäre Behandlung fand vom 15. November 1983 bis 16. Februar 1984 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus W. - Funktionsbereich Psychotherapie - wegen einer Angstneurose mit Zwangsgedanken statt (vgl. Arztbriefe vom 29. November 1983 und 1. März 1984, Bl. 37 f. und 39 f. Senatsakte).
Ihre Ausbildung zur Friseurin führte die Klägerin vom 1. Januar 1973 bis 30. Juni 1975 durch, war anschließend im Juli 1975 und dann wieder vom 23. März bis 9. Oktober 1976 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen von einer fünfmonatigen Arbeitslosigkeit. Eine weitere Versicherungspflicht bestand vom 1. Mai 1977 bis 31. Januar 1979, vom 15. Juni 1980 bis 7. November 1982, im März 1983, von März 1984 bis Januar 1986 und schließlich vom 8. März bis 12. August 1986. Danach war die Klägerin arbeitslos (vgl. Versicherungsverlauf vom 20. August 2008, Bl. 35 f. Senatsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt die Klägerin nicht.
Mit 24 Jahren heiratete die Klägerin das erste Mal, die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden. Ihren zweiten Mann heiratete sie mit 29 Jahren, er erkrankte 1997 nach einer Reise nach Kenia an Aids (nur Bluttest, nicht ausgebrochen, Bl. 41 V-Akte), 1998 trennte sie sich von ihm (vgl. Abschlussbericht Fachklinik H. vom 19. Juni 1998, Bl. 28 V-Akte).
Am 19. September 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Hinweis auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater von frühester Kindheit an bis zu dessen Tod in ihrem 15. Lebensjahr. Sie leide an Depressionen, Angststörung, Tinnitus, Zwängen, Alpträumen, Dissoziationsstörungen, sexueller Störung und Schwierigkeiten mit der Sexualität im Allgemeinen als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte den behandelnden Psychotherapeuten sowie die Schwester und die Mutter der Klägerin schriftlich. Der Psychotherapeut H., bei dem die Klägerin seit 2002 in regelmäßiger ambulanter Betreuung steht, legte die Entlassungsberichte der Fachklinik H. (stationäre psychiatrische Behandlung vom 2. Februar bis 27. Mai 1998 und 21. Juni bis 2. August 2000) vor. Er berichtete, dass zunächst eine Zwangssymptomatik im Vordergrund der Behandlung gestanden habe. Erst im Verlauf der Therapie seit 1997 sei die verdrängte schwere Traumatisierung (psychogene Amnesie) mit dem Grundgefühl des hilflos Ausgeliefertseins und tiefer Selbstwertproblematik in den Vordergrund getreten. In dem beigefügten Erstantrag auf Gewährung einer Psychotherapie führte Psychotherapeutin H. aus, sie habe die Klägerin bereits von September 1992 bis zum Mai 1996 psychotherapeutisch behandelt.
Die Schwester der Klägerin, R. Q., gab an, ihre Schwester habe im Alter von 12 Jahren das erste Mal über Ängste und Zwänge berichtet, diese aber nicht als ausdrücklichen Missbrauch geschildert. Ihre Schwester habe gegen ihren Willen beim Vater liegen müssen. Es sei wie ein Ritual gewesen. Er habe an die Wand geklopft, sie habe aufstehen und ins Schlafzimmer gehen müssen. Manchmal sei ihr anzusehen gewesen, dass sie am liebsten nicht gegangen wäre. Dann habe die Mutter sie aufgefordert zu gehen. Sie sei lange beim Vater geblieben. Sie habe auch beobachtet, wie ihr Vater die Brüste ihrer Schwester in der Badewanne eingeseift habe. Damals müsse sie 13 bis 14 Jahre alt gewesen sein. Eines Tages habe ihre Schwester erzählt, sie wolle nicht mehr, dass der Vater zu ihr ins Bad komme, um die Brüste einzuseifen. Das habe sie auch dem Vater gesagt, worauf ein großer Streit in der Familie entstanden sei. Es sei das erste Mal gewesen, dass die Klägerin sich gegen den Willen des Vaters aufgelehnt habe. Ihr selbst sei es zwar nicht verboten gewesen, das Schlafzimmer zu betreten, sie habe aber gewusst, dass das nicht gut sei. Eines Tages habe sie gesehen, dass ihr Vater und ihre Schwester ineinander verkeilt auf dem Bett gelegen hätten. Die Mutter habe vor ihrem Mann Angst um ihr eigenes Leben gehabt, sie habe sich nicht gegen ihn stellen können.
Die Mutter, E. Q., teilte mit, bei ihren Eltern habe es solche Sachen nicht gegeben. Darum habe sie sich niemals vorstellen können, dass ihr Mann sich an ihrer Tochter vergangen habe. Sie habe dies nicht gewusst und sie habe sich nichts dabei gedacht, wenn er die Tochter allein mit ins Schlafzimmer genommen habe. Außerdem habe er die Tochter oft brutal geschlagen und beschimpft. Dass er ihr mit 15 Jahren den Busen eingeseift habe, habe sie mitbekommen. Ihre Tochter habe es ihr damals erzählt (Bl. 53 f.; 55 Verwaltungsakte).
10 
Nach Beiziehung der Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. November 2006 den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne nicht nachweisen, dass sie durch vorsätzliche, rechtswidrige und tätliche Handlungen geschädigt worden sei. Den Antrag habe sie mehr als 30 Jahre nach dem Tod des Vaters und den letzten Schädigungshandlungen gestellt. Zeugen für die Vorfälle gebe es nicht. Die Klägerin habe selbst eingeräumt, sie wisse nicht mehr, was „hinter der verschlossen Tür geschah“. Somit lägen ausschließlich die Angaben der Klägerin gegenüber den behandelnden Ärzten vor und ihr könne der Nachweis sexueller Schädigungen nicht gelingen.
11 
Die Klägerin legte hiergegen unter Beifügung eines Attests vom Facharzt H. Widerspruch ein. Dieser führte aus, es gebe auf Grund der Anamnese und der Lebensgeschichte der Klägerin keinen Zweifel daran, dass sie missbraucht worden sei. Es müsse eine Retraumatisierung befürchtet werden. Die Dokumente müssten dringend einem medizinischen Sachverständigen vorgelegt werden, einer Behörde fehle der medizinische Sachverstand.
12 
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, bei lange zurückliegenden Ereignissen sei erfahrungsgemäß die Sachverhaltsaufklärung schwierig, da oftmals nur wenige oder gar keine Beweise vorlägen. Ein strafrechtliches Verfahren gegen den Vater als mutmaßlichen Schädiger sei zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden, sodass es an zeitnahen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen fehle. Die Zeuginnen hätten nur bestätigen können, dass die Klägerin in das elterliche Schlafzimmer gerufen worden wäre, hätten indessen nicht gewusst, was sich dort konkret ereignet habe. Der sexuelle Missbrauch sei der Klägerin erst im Rahmen einer Therapie durch einen Traum bewusst geworden. Die Therapeutin habe eine psychogene Amnesie diagnostiziert. Nach alledem bestünden Zweifel daran, ob die Darstellungen tatsächlich auf erlittenen Missbrauchshandlungen beruhten.
13 
Mit ihrer hiergegen am 7. März 2007 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin, nunmehr anwaltlich vertreten, ausgeführt, dass die ambulanten und stationären Einrichtungen einen klaren Zusammenhang zwischen den gestellten Diagnosen und einem in der Kindheit stattgefundenen schädigenden Ereignis in Form des sexuellen Missbrauchs bestätigt hätten. Der Beklagte habe auch nicht beachtet, dass ihre Schwester den Missbrauch aus eigener Anschauung geschildert habe.
14 
Sie hat eine weitere schriftliche Aussage ihrer Schwester R. Q. vom 16. Januar 2008 vorgelegt: „Ich habe verschwiegen, was ich damals wirklich gesehen habe. In unserer Familie wurde immer geschwiegen. Der Schande wegen. Meine Mutter und ich hatten damals nicht den Mut, das zu verhindern, was geschehen ist. Immer wieder habe ich gesehen, wie meine Schwester vom Vater mit ins Badezimmer genommen wurde, gegen ihren Willen. Auch habe ich gesehen, wie ihre Brüste eingeseift wurden. Als ich einmal meine Schwester im Schlafzimmer weinen hörte, habe ich die Tür geöffnet. Da sah ich, wie der Penis meines Vaters in dem Mund meiner Schwester steckte. Ich war so gelähmt und konnte damals mit dieser Situation nicht umgehen.“ (Bl. 46 SG-Akte).
15 
E. Q. hat ebenfalls mit Schreiben vom 19. Januar 2008 ergänzend zu ihrer ersten schriftlichen Aussage vorgetragen, dass sie doch gewusst habe, dass ihr Mann ihre Tochter im Schlafzimmer sexuell missbrauche. Sie habe indessen die Augen zugemacht, weil sie sich vor ihrer Familie geschämt habe. Sie habe nicht gewollt, dass diese Schande an die Öffentlichkeit gelange. Nur einmal habe sie ihren Mann zur Rede gestellt. Der habe ihr gesagt: „Die Sachen, die ich mit dir nicht machen will, die mache ich mit E..“ (Bl. 48 SG-Akte).
16 
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der damals zuständige Richter die Klägerin angehört und ihre Schwester als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Angaben wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 5. Dezember 2008 (Bl. 63 ff. SG-Akte) verwiesen. Des Weiteren ist die Klägerin nervenärztlich begutachtet worden.
17 
Der Sachverständige, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie Dr. Sch. hat in seinem Gutachten vom 15. Juli 2010 ausgeführt, dass die Klägerin an einer komplexen posttraumatischen Belastungs-/Persönlichkeitsstörung sowie einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leide, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sinne der Alleinverursachung auf die Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückzuführen sei. Er habe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin bis zum Tode ihres Vaters im Frühjahr 1972 unter körperlicher Gewalt durch ihren Vater gelitten habe, auch wenn sie sich nicht, kaum oder nur eingeschränkt erinnern könne. Bei ihr liege eine sogenannte „psychogene Amnesie“ vor. Die erhebliche Störung der Sexualität sei ebenfalls auf den Missbrauch zurückführen. Den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) schätze er mit 80 ein, da es sich um schwere Störungen handle, die im Grenzbereich zwischen erheblichen mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten lägen.
18 
Gestützt hierauf hat das SG mit Urteil vom 10. Dezember 2010 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 anzuerkennen und ihr wegen dieser Folgen Versorgung aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zu gewähren. Die Klägerin sei seit ihrem 4. Lebensjahr (1961) bis zum Tod ihres Vaters in ihrem 15. Lebensjahr (1972) fortgesetzt sexuell missbraucht worden und zwar unabhängig von einem eventuellen Einvernehmen mit dem Kind oder gegen dessen Willen. Die Schwester der Klägerin habe glaubhaft geschildert, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit als „Lieblingskind“ des gemeinsamen Vaters von ihm beim Baden abgeseift worden sei und zu ihm in das Schlafzimmer habe gehen müssen, wenn dieser an die Wand geklopft habe. Außerdem habe sie eindrücklich eine konkrete Begebenheit von sexuellem Missbrauch wiedergeben können. Dass die Klägerin von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, habe auch die Mutter in ihrem Schreiben vom 19. Januar 2008 bestätigt. Sie habe berichtet, dass sie ihren Mann einmal zur Rede gestellt und dieser ihr gesagt habe, dass er die „Sachen“, die er mit seiner Frau nicht machen wolle, mit der Klägerin mache. Diese Einlassungen bestätigten den Vortrag der Klägerin glaubhaft. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Schwester im Verwaltungsverfahren keine konkreten sexuellen Übergriffe geschildert habe. Nachvollziehbar habe die Zeugin angegeben, dass sie aus Scham nichts Konkretes geschrieben habe, nun aber ihr Gewissen erleichtern wolle. Dies treffe auch auf die Auskunft der Mutter zu. Die vom Beklagten gerügten „Diskrepanzen“ in den Aussagen seien damit hinreichend aufgelöst. Auch die Ausführungen der Klägerin seien in sich schlüssig und glaubhaft. Es bestünden solide ausgeprägte so genannte Realkennzeichen, wie sie eine glaubhafte Aussage charakterisierten. Das zeige sich insbesondere bei der Darstellung von Details wie dem Klopfen gegen die Wand, dem Krankenhausaufenthalt der Mutter oder dem Urlaub in Thüringen, von dem die Klägerin schildere, dass sie dort jeweils keinen Übergriffen des Vaters ausgesetzt gewesen sei, was ihre Schwester bestätigt habe. Dass die Klägerin erst im Jahr 2006 einen Antrag gestellt habe, könne ihr nicht entgegen gehalten werden. Sie sei glaubhaft erst im Jahr 2006 durch die behandelnde Therapeutin auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin werde weiter durch das Gutachten von Dr. Sch. bestätigt. Dieser sei nach Auswertung verschiedener psychologischer Tests zu dem Ergebnis gelangt, dass er keinen vernünftigen Zweifel an den von der Klägerin geschilderten Fällen sexuellen Missbrauchs habe. Er habe die Klägerin zwar nicht im Einzelnen zu den realen Missbrauchsereignissen befragt. Inwieweit sich diese Vorgehensweise nicht vollständig mit denen in der Rechtsprechung anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an Aussagen von psychologischen Begutachtungen decke, könne jedoch dahin gestellt bleiben. Denn allein auf Grund der Zeugenaussagen sei das erkennende Gericht vom Wahrheitsgehalt des Klägervorbringens überzeugt und der Vollbeweis des schädigenden Ereignisses somit bereits erbracht. Der Sachverständige habe auch überzeugend dargelegt, dass die gesundheitliche Schädigung auf die nachgewiesenen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffe zurückgeführt werden könnten und mit einem GdS von 80 zu bewerten sei. Die von ihm diagnostizierten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft in hohem Maße. Sie bedürfe selbst zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben der Unterstützung durch Psychotherapeuten und befinde sich seit ihrem 18. Lebensjahr fast vollständig in ambulanter oder stationärer Behandlung. Deswegen handle es sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, der mit dem GdS von 80 ausreichend Rechnung getragen werde, welches sich auch mit den Feststellungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald im Bescheid vom 3. Juli 2007 decke. Die Klägerin erfülle auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 10 a Abs. 1 OEG. Das sei erforderlich, weil die Schädigung in der Zeit von 1961 bis 1972 und damit im Zeitraum vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschehen sei. Die Klägerin sei allein infolge dieser Schädigung des sexuellen Missbrauchs schwerbeschädigt mit einem GdS von mindestens 50. Zudem sei sie, da sie Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII beziehe, auch bedürftig und habe ihren Wohnsitz in Deutschland im Geltungsbereich des OEG.
19 
Gegen das am 20. Januar 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Februar 2011 mit der Begründung Berufung eingelegt, es sei nicht nachvollziehbar, warum das SG noch ein aussagepsychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Klägerin eingeholt habe, wenn es denn den Zeugenaussagen Glauben schenke. Das Gericht habe nicht ausreichend gewürdigt, warum die Zeugen zunächst keine konkreten Angaben gemacht hätten, obwohl sie bereits zuvor im Verwaltungsverfahren die Gelegenheit zur Schilderung konkreter Vorfälle gehabt hätten. Auch die selbst vorgetragene Erinnerungslosigkeit der Klägerin sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Das Gutachten genüge nicht wissenschaftlichen Anforderungen. Denn der Sachverständige hätte nach der sogenannten Null-Hypothese vorgehen, d. h. zunächst unterstellen müssen, dass die Aussage der Klägerin unwahr sei. Hierzu bestünde auch deswegen besonderer Anlass, weil die Klägerin selbst zeitnah den damals behandelnden Ärzten geschildert habe, dass sie an ihrem Vater sehr gehangen und auch während mehrerer stationärer Behandlungen keine Angaben über einen sexuellen Missbrauch durch den Vater gemacht habe. Damals hätten die Ärzte zunächst auch erhebliche narzisstische Anteile oder eine schizoide Symptomatik beschrieben. Insoweit müsse auch geprüft werden, ob die therapeutischen Sitzungen nicht suggestive Einflüsse verfolgt hätten. Bei der Schilderung des Einseifens der Brust müsse berücksichtigt werden, dass das Waschen im Bad in der Badewanne erfolgt sei und es deswegen an einer Sexualbezogenheit der Handlung fehle. Auch habe die Schwester als Zeugin zunächst keine sexuellen Handlungen im Schlafzimmer geschildert, denn weder Vater noch Klägerin seien nackt gewesen oder hätten sexuelle Handlungen durchgeführt. Dies habe sie erst im Nachhinein angegeben.
20 
Der Beklagte beantragt,
21 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 insoweit aufzuheben, als die Klägerin nicht auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet hat und die Klage insoweit abzuweisen,
22 
hilfsweise von Amts wegen ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin bei dem Institut für Gerichtspsychologie B. bei der Diplom Psychologin S. J. von J. einzuholen,
23 
hilfsweise die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zum BSG zuzulassen.
24 
Die Klägerin beantragt,
25 
die Berufung zurückzuweisen.
26 
Sie hat darauf hingewiesen, dass das SG keineswegs ein sogenanntes Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt habe, sondern der Auftrag an den Gutachter habe gelautet, die Angaben der Klägerin als wahr zu unterstellen. Deswegen finde die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nur bedingt Anwendung. Grundsätzlich sei es ureigene Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Parteien zu beurteilen.
27 
Die Klägerin hat dem Senat den Versicherungsverlauf der Klägerin, erstellt durch die Deutsche Rentenversicherung, sowie weitere ärztliche Befundberichte vorgelegt.
28 
Die Vorsitzende hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 30. August 2011 erörtert. Der daraufhin von dem Beklagten gestellte Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende wurde mit Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2011 zurückgewiesen.
29 
Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 noch einmal befragt und ihre Schwester R. Q. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten ihrer Angaben wird auf die Niederschrift verwiesen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf die Rechte aus dem Urteil vom 10.12.2010 insoweit verzichtet, als ein sexueller Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 geltend gemacht und soweit der Klägerin Versorgung zugesprochen wurde.
30 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtskaten erster und zweiter Instanz sowie die von dem Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
39 
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
44 
Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
45 
Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
46 
Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Gründe

 
31 
Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung einer seelischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung als Folge von vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffen ihres Vaters in der Zeit von 1965 bis 1972 bejaht und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8. Februar 2007 deshalb aufgehoben. Soweit im angefochtenen Urteil ein Missbrauch auch für die Zeit von 1961 bis 1964 festgestellt und der Klägerin wegen der Folgen Versorgung aus dem OEG ab dem 1. September 2006 nach einem GdS von 80 zuerkannt worden ist, hat die Klägerin auf die Rechte aus dem Urteil verzichtet.
32 
Streitbefangen ist, nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat insoweit auf die Rechte aus dem angefochtenen Urteil verzichtet hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG die gerichtliche Feststellung des Vorliegens vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Denn nachdem der Beklagte die Gewährung von Leistungen insgesamt mit der Begründung abgelehnt hat, ein solcher Angriff liege nicht vor, ist vorliegend in Ermangelung einer vom Beklagten getroffenen Verwaltungsentscheidung über konkrete Entschädigungsleistungen ein gerichtlicher Leistungsausspruch auf Gewährung von (unbenannten) Versorgungsleistungen nicht zulässig (vgl. zur Verneinung eines Versicherungsfalls durch den Unfallversicherungsträger im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165). Vielmehr ist zunächst die in Rede stehende und vom Beklagten verneinte Voraussetzung möglicher Leistungsansprüche im Wege der Feststellungsklage zu klären. Einem auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichteten Leistungs- oder Verpflichtungsantrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005, a. a. O., Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2).
33 
Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 1 OEG.
34 
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, denn sie wurde auch zur Überzeugung des Senats Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, da sie während des Zeitraums von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht wurde. Das hat das SG ausführlich begründet und überzeugend dargelegt. Der Senat nimmt daher ergänzend auf die Entscheidungsgründe des sorgfältig begründeten Urteils nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
35 
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
36 
Der Senat geht bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette von folgenden Erwägungen aus (vgl. zum Folgenden auch BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R - SGb 2011, 329):
37 
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 Strafgesetzbuch - StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Soweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, zeichnet sich der tätliche Angriff abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus (vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93 - SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 bzw SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zum sexuellen Missbrauch an Kindern). Gewalttat im Sinne des OEG kann daher auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes sein.
38 
Dabei müssen die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R - SozR 3-3900 § 15 Nr. 3 m.w.N; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b).
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat, insbesondere der Zeugenvernehmung ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin von 1965 bis 1972 von ihrem Vater in der elterlichen Wohnung sexuell missbraucht worden ist. Keiner Entscheidung bedurfte, ob auch für die Zeit von 1961 bis 1964 entsprechende Missbrauchshandlungen nachgewiesen sind, nachdem die Klägerin insoweit auf ihre Rechte aus dem stattgebenden Urteil des SG verzichtet hat. Wie bereits das SG stützt sich der Senat auf die glaubhaften Angaben der Zeugin Q. sowie ihre schriftlichen Aussagen, die schriftlichen Angaben ihrer Mutter und die Einlassungen der Klägerin. Ob der Sachverständige Dr. Sch. bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Klägerin den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) entsprochen hat, kommt es daher nicht an.
40 
Da der Senat seine Überzeugung anhand der Zeugenaussage wie des Akteninhalts getroffen hat, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der klägerischen Angaben durch einen medizinischen Sachverständigen von der sogenannten Nullhypothese (BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) ausgegangen werden muss, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren ist, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist und weitere Hypothesen gebildet werden, in denen Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage zu prüfen sind (so aber Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.06.2005 - L 15 VG 13/02 - zit. nach Juris). Der Senat weist indessen darauf hin, dass aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese im sozialgerichtlichen Verfahren bestehen. Denn während im OEG der Grundsatz des § 15 KOVVfG, also eine Beweiserleichterung für das Opfer gilt, geht das strafgerichtliche Verfahren von der Unschuldsvermutung des Täters (in dubio pro reo) aus. Deswegen ist es auch aufgrund der Besonderheiten des Strafrechts gerechtfertigt, als Arbeitshypothese des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens von der Unschuld des Täters auszugehen. Des Weiteren gestaltet sich die Gutachtenserstattung in beiden Verfahrensordnungen wesentlich anders; während im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverständige sein Gutachten allein aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung der klägerischen Partei erstattet, ist der Sachverständige im Strafprozess während der kompletten Strafverhandlung anwesend, kann also ganz andere Momente - hier insbesondere den Eindruck vom Täter, aber auch von Tatzeugen - in die Begutachtung einfließen lassen, deren Ergebnis er erst am Ende der Hauptverhandlung dem erkennenden Gericht übermittelt.
41 
Der Senat konnte vorliegend entscheiden, ohne die von dem Beklagten beantragten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin R. Q. sowie der Klägerin einzuholen. Denn die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (BGHSt 45, 182). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens kann nur geboten sein, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (st.Rspr.; BGH, Beschluss vom 25.04.2006 - 1 StR 579/05 und BGH, Beschluss vom 22.06.2000 - 5 StR 209/00; zuletzt Saarländisches OLG, Urteil vom 13.07.2011 - 1 U 32/08 - jeweils zit. nach Juris). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weder weisen die Aussagepersonen solche Besonderheiten auf, diese sind von dem Beklagten trotz dem ausdrücklichen Hinweis auf die Rechtsprechung auch nicht aufgezeigt worden, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern kann im Kern durch die Beobachtungen einer Zeugin gestützt werden.
42 
Als aufgrund der Zeugenaussage nachgewiesene sexuelle Handlungen im Sinne eines Missbrauchs der Klägerin nimmt der Senat das Waschen der weiblichen Brust sowie die Vorgänge im elterlichen Schlafzimmer mit der beobachteten oralen Befriedigung an. Dabei muss nicht im Einzelnen jeder sexuelle Missbrauch in zeitlicher Hinsicht weiter konkretisiert werden, was gerade bei Sexualdelikten deliktstypisch im Nachhinein nicht mehr möglich ist (so auch LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.07.2011 - 26 Sa 1269/10 - zit. nach Juris).
43 
Der Senat hält die Aussagen der Zeugin Q. für glaubhaft. Die Konstanzanalyse ihrer Aussage ergibt, dass die dem Vater vorgeworfenen Handlungen im Kern übereinstimmend dargestellt werden. Die Aussage erweist sich somit über die beiden Vernehmungen beim SG und LSG hinweg als konstant. Die kriterienorientierte Analyse der getätigten Aussage weist im Ergebnis deutliche Kennzeichen einer erlebnisbezogenen Darstellung auf, so z.B. die Schilderung des verdunkelten Zimmers und der Schlafgewohnheiten der unter beengten Verhältnissen lebenden Familie. Es finden sich in ihrer Aussage zudem Einzelheiten, wie der genaue Ablauf des Waschens der Brust ihrer Schwester, der Klägerin, ein Sachverhalt, der nicht nur von ihrer Mutter bestätigt wurde, sondern im Falle einer bewussten Falschbeschuldigung eher unwahrscheinlich ist. Sie hat sich nicht als suggestibel erwiesen und generell keinen besonderen Belastungseifer gezeigt, so nur den einen Vorfall oraler Befriedigung geschildert und auf wiederholte Nachfrage angegeben, dass sie nicht wusste, was ihr Vater so lange im Zimmer mit der Klägerin macht. Ihre Scham über das Erlebte hat sie dem Senat authentisch zu vermitteln vermocht. Die Zeugin hat auch keine Persönlichkeitsauffälligkeiten (etwa im Sinne histrionischer, geltungsbedürftiger Bestrebungen) gezeigt.
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Die Zeugin hat glaubhaft bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium, nämlich schriftlich am 16. Oktober 2006 geschildert, dass sie selbst gesehen hat, wie ihr Vater der Klägerin gegen ihren Willen die Brüste eingeseift und mit ihr bei dem „mittäglichen Schlafritual“ regelrecht verkeilt im Bett gelegen ist. Letztere Haltung lässt bereits ohne die konkrete Schilderung sexueller Handlungen Rückschlüsse auf sexuellen Missbrauch zu, denn bei einem reinen Mittagsschlaf liegen die Körper, schon um in Ruhe zu kommen, nebeneinander. Sie hat diese Angaben als Zeugin beim SG und in der Senatsverhandlung bestätigt. Insofern ist unbeachtlich, dass sie zunächst schriftlich angegeben hat, dass die Klägerin ihr nichts von einem Missbrauch erzählt hat, denn sie kannte ihn bereits aus eigener Anschauung. Dieser Umstand macht aber die Aussage der Klägerin, sie habe unter einer Amnesie gelitten, d.h. ihre Wahrnehmung habe an der Schlafzimmertür geendet, umso glaubhafter. Denn das erklärt, warum die Klägerin zunächst weder ihren Angehörigen - bis auf die Vorfalle mit dem Einseifen der Brust, die aber bereits von den anderen beobachtet wurden - wie den damals behandelnden Ärzten keine Missbrauchserlebnisse geschildert hat und auch nicht konnte.
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Dass der Beklagte darin keine sexuelle Handlung sehen will, weil das Einseifen in der Badewanne geschehen ist und der Vater im Bett angezogen war, ist aus Sicht des Senats lebensfremd. Denn die Zeugin hat nicht nur bestätigt, dass die Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Klägerin geschehen sind. Der Beklagte hat auch unbeachtet gelassen, dass solche Handlungen vielleicht noch bei einem Kleinkind normal sein können, nicht aber bei einer Heranwachsenden mit sich entwickelnden Brüsten und Geschlechtsreife. Wenn es sich bei dieser Familie um eine normale Waschung oder den normalen Mittagsschlaf gehandelt hätte, so hätte der Vater auch das andere Kind, nämlich die Zeugin waschen und mit ins Bett nehmen müssen. Das hat aber die Zeugin auf Nachfrage ausdrücklich verneint. Die sexuelle Motivation des Vaters wird schließlich eindrucksvoll durch die schriftliche Einlassung der Mutter bestätigt, die, als sie ihren Mann zur Rede gestellt hat, sich von diesem sagen lassen musste, dass er mit seiner Tochter, der Klägerin, die Sachen machen kann, die er mit seiner Ehefrau nicht machen will.
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Dass die konkrete Begebenheit, dass die Klägerin den Penis ihres Vaters in den Mund nehmen musste, von der Zeugin erst während des gerichtlichen Verfahrens geschildert worden ist, macht ihre Angaben auch aus Sicht des Senats nicht insgesamt unglaubwürdig. Denn die Zeugin hat das Geschehen nicht nur so detailgetreu geschildert, dass sie den Vorgang selbst erlebt haben muss. Sie hat auch ein nachvollziehbares Motiv für ihre späte Aussage geschildert, nämlich die anfängliche Scham zum einen über die familiären Vorgänge überhaupt, dann aber die Schuldgefühle, darüber geschwiegen und damit den Missbrauch erst möglich gemacht zu haben. Diese Motivation erklärt auch hinlänglich die angeblichen Diskrepanzen in den Aussagen der Familienangehörigen.
47 
Die durch die beiden Zeuginnen, nämlich die Mutter und die Schwester, beschriebenen einzelnen Handlungen bestätigten die Angaben der Klägerin über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater insgesamt. Der Missbrauch ging naturgemäß mit einer engen Vater-Tochter-Beziehung einher (so auch Fachklinik H., Entlassungsbericht vom 19.06.1998, Bl. 32 V-Akte), was die Angaben aus Sicht des Senats deswegen aber nicht - wie der Beklagte meint - unglaubhaft macht. Vielmehr handelt es sich zur Überzeugung des Senats um das geradezu typische Umfeld, in dem Gewalt und sexuelle Übergriffe auf Kinder geschehen. Die Klägerin erinnert nunmehr auch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters (Entlassungsbericht Fachklinik H., Bl. 29 V-Akte). So hat sie dem SG glaubhaft geschildert, dass sie, während sie zwischen den Beinen ihres Vaters lag, sein Glied nicht nur anfassen, sondern in den Mund nehmen musste. Dabei hat er ihren Kopf in beide Hände genommen und ihn dahin geführt, wo er ihn haben wollte. Hingegen ist ein Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen, die Klägerin kann einen solchen auch nicht erinnern. Der Umstand, dass die Klägerin solche Einzelheiten schildern kann und dabei genau abgrenzt, was sie nicht mehr weiß, belegt die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Denn Aussagekonstanz und die fehlende Motivation, zu Unrecht zu belasten, sind gerade Kriterien für die Bewertung einer Aussage.
48 
Der fortgesetzte Missbrauch hat dann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung wie einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung geführt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von Dr. Sch., dessen Diagnostik in Übereinstimmung mit den Befunden der behandelnden Ärzte steht.
49 
Der Senat orientiert sich bei der Prüfung, welche gesundheitlichen Schäden Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, an der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) 2008 getretenen Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).
50 
Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist (VG Teil A Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (VG Teil C Nr. 1 b Satz 1).
51 
Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende Vorgang (dazu siehe oben), die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung (VG Teil C Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG Teil C Nr. 2 b Satz 1 Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG Teil C Nr. 2 c Halbsatz 1). Zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung muss eine nicht unterbrochene Kausalkette bestehen, die mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den ärztlichen Erfahrungen im Einklang steht. Dabei sind Brückensymptome oft notwendige Bindeglieder. Fehlen Brückensymptome, so ist die Zusammenhangsfrage besonders sorgfältig zu prüfen und die Stellungnahme anhand eindeutiger objektiver Befunde überzeugend wissenschaftlich zu begründen (VG Teil C Nr. 2 d Sätze 1 bis 3).
52 
Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VG Teil C Nr. 3 a Sätze 1 und 2). Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese (VG Teil C Nr. 3 b Satz 1). Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist (VG Teil C Nr. 3 d Sätze 1 und 2).
53 
Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze ist der Senat ebenso wie das SG zu dem Ergebnis gelangt, dass die seelische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung Folge der vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffe ihres Vaters in der Zeit von 1961 bis 1972 ist.
54 
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Folge eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (so BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung oder andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt, berücksichtigt der Senat die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme - 10. Revision - (ICD 10) und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen - Textrevision - (DSM-IV-TR).
55 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 43.1 beziehungsweise DSM-IV-TR 309.81.
56 
Typische Merkmale im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind danach das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 40/05 R - a.a.O.).
57 
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die erforderliche Belastung katastrophalen Ausmaßes in dem jahrelangen fortgesetzten sexuellen Missbrauch bereits als kleines Kind zu sehen, der bei der Klägerin zu einer erheblichen Störung ihrer Sexualität und letztlich dazu geführt hat, dass sie nicht nur andauernder Medikation und ärztlicher Hilfe bedarf, sondern weder in Beziehungen noch im Berufsleben Fuß fassen konnte. Dr. Sch. hat in diesem Zusammenhang ein ausgeprägtes Misstrauen bis hin zur Vermeidung sozialer Kontakte aufgrund der traumatischen Beziehungserfahrungen beschrieben. Sie leidet an einer gestörten Affektregulation bei Suizidalität, Risikoverhalten und fremdaggressiven Verhalten, so dass das Krankheitsbild deswegen diagnostisch genau von der Borderline-Störung abgegrenzt werden kann. Auch die früher diskutierte Schizophrenie oder affektive Psychose mit den typischen Symptomen haben sich, wie Dr. Sch. herausgearbeitet hat, im jahrzehntelangen Verlauf nicht bestätigen lassen. Auch insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl. Dabei war für den Senat auch von maßgebender Bedeutung, dass die Klägerin schon in sehr frühem Alter erstmals psychisch auffällig wurde, nämlich bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Freund. Der Senat entnimmt das dem Arztbericht vom 15. Oktober 1976, in dem die Klägerin als infantil („wie eine Schülerin“) geschildert wird, die beim Thema Geschlechtsverkehr rot wird, aufspringt und weinend das Zimmer verlässt, was in der damaligen Zeit und bei dem Lebensalter der Klägerin höchst ungewöhnlich war und deswegen auch zu der Therapieempfehlung in einer Psychosomatischen Klinik geführt hat. Dass damals und in der Folgezeit die Fehldiagnose einer konversationsneurotischen Symptomatik gestellt wurde, ist aus Sicht des Senats hinlänglich durch den Psychotherapeuten H. erklärt worden. Die Richtigkeit seiner Einschätzung wird aus Sicht des Senats dadurch belegt, dass die Klägerin auch noch bei dem Sachverständigen Dr. Sch. ihre körperlichen und psychischen Beschwerden in keiner Weise demonstrativ verdeutlichte, es an jeglichem „zweckgerichteten Verhalten“ fehlen ließ, sondern sich bemühte einen die Situation beherrschenden Eindruck zu hinterlassen, was aber deutlich als Schutz- und Abwehrmechanismus zu erkennen war.
58 
Dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Alleinverursachung auf die beschriebenen Gewaltvorfälle in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kam, hat der Sachverständige Dr. Sch. auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beklagte bemängelt hat, dass er sich mit Alternativursachen nicht ausreichend auseinander gesetzt hat, so übersieht der Beklagte bereits, dass die Klägerin andere ähnlich traumatisierende Erfahrungen in ihren beiden Ehen nicht gehabt und demzufolge auch niemals geschildert hat. Vielmehr ist die Aidserkrankung bei ihrem zweiten Mann nicht ausgebrochen, sie kann auch heute noch täglich telefonischen Umgang mit ihm pflegen. Außerdem war die Klägerin bereits psychisch vor ihren Ehen auffällig, die Otosklerose ist erst weit nach der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert worden.
59 
Bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung nach ICD-10 F 62.0. Eine entsprechende Kodierung im DSM-IV-TR ist nicht erfolgt. In DSM-IV-TR sind diverse Arten von Persönlichkeitsstörungen, allerdings nicht eine solche nach Extrembelastung, definiert. In DSM-IV-TR 301.9 ist die „nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung“ beschrieben. Hierzu wird ausgeführt, es sei auch die Vergabe einer spezifischen Diagnose nach ICD-10 F 61 oder 62 zu erwägen (Saß, Wittchen, Zaudig, Houben; Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, S. 35 und 265).
60 
Der Senat hat in Auswertung des Sachverständigengutachtens auch keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vorliegt.
61 
Die Berufung war daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht. Hierbei fiel die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, auf die die Klägerin in der Senatsverhandlung verzichtet hat, kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass der Senat von einer Kostenquotelung abgesehen hat.
62 
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

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Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

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Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

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Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

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Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

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Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

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Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

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Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

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Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

(1) § 75 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes gilt nicht für Entscheidungen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur nach § 27d Absatz 1, 1a und 4 und Entscheidungen der Baugenehmigungsbehörden auf Grund des Baurechts.

(2) Wird der Plan nicht innerhalb von fünf Jahren nach Rechtskraft durchgeführt, so können die vom Plan betroffenen Grundstückseigentümer verlangen, dass der Unternehmer ihre Grundstücke und Rechte insoweit erwirbt, als nach § 28 die Enteignung zulässig ist. Kommt keine Einigung zustande, so können sie die Durchführung des Enteignungsverfahrens bei der Enteignungsbehörde beantragen. Im Übrigen gilt § 28.

(3) Wird mit der Durchführung des Plans nicht innerhalb von zehn Jahren nach Eintritt der Unanfechtbarkeit begonnen, so tritt er außer Kraft, es sei denn, er wird vorher auf Antrag des Trägers des Vorhabens von der Planfeststellungsbehörde um höchstens fünf Jahre verlängert.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

Tenor

Der Planfeststellungsbeschluss für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld“ des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10. Juni 2014 in Gestalt von dessen Änderungsplanfeststellungsbeschluss (1. Planänderung) vom 27. Januar 2016 wird aufgehoben.

Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte mit Ausnahme ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten, die sie selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin - eine staatliche Hochschule des Landes - wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe für den Neubau der „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" („Universitätslinie“ - Jahnstraße, Kirschnerstraße, Hofmeisterweg, Tiergartenstraße und Straße Im Neuenheimer Feld).
Unter dem 03.12.2010 beantragte die beigeladene Vorhabenträgerin beim Regierungspräsidium Karlsruhe die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens und den Erlass eines Planfeststellungsbeschlusses für die „Universitätslinie Straßenbahn Neuenheimer Feld“. Beabsichtigt ist der Bau einer 2,5 km langen, zweigleisigen Straßenbahntrasse durch das Gebiet des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 mit fünf Haltestellen. Sie soll an das außerhalb des Bebauungsplangebiets bestehende, in der Berliner Straße verlaufende Straßenbahngleis nördlich der Haltestelle „Jahnstraße“ anschließen und nach Westen in die in Ost-West-Richtung verlaufende Kirschnerstraße abbiegen. Dort soll sie parallel zur Fahrbahn bis in Höhe des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ, Im Neuenheimer Feld 280) verlaufen. Nach Durchfahrung einer Grünfläche vor dem Gästehaus der Universität soll die Trasse in Randlage des Botanischen Gartens verlaufen, sodann vorbei am Zoologischen Garten und an der Kinderklinik. Dann soll sie Richtung Osten in die Straße Im Neuenheimer Feld abbiegen, deren Verlauf sie in südlicher Randlage - am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (INF 460) und der Kopfklinik (INF 400) vorbei - folgen soll. Danach soll sie in Nordlage schwenken und - vorbei an der Pädagogischen Hochschule (INF 560 - 562), dem Max-Planck-Institut (INF 535), dem Rechenzentrum (INF 293), dem Physikalisch-Chemischen-Institut (INF 253) und dem Institut für Geowissenschaften (Mineralogisches Institut, INF 236) - wieder außerhalb des Bebauungsplangebiets die Berliner Straße erreichen, wo sie an das bestehende Straßenbahnnetz anschließen soll.
Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ vom 28.07.1960 setzt u. a. ein (Sonder-)Gebiet „Universität“ mit einer „Bauvorbehaltsfläche“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung fest. Auf dieser Fläche sind - innerhalb der festgesetzten Baugrenze - sämtliche bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen.
Nachdem ihr bestätigt worden war, dass aufgrund der überlassenen Unterlagen das Anhörungsverfahren eingeleitet werden könne, reichte die Beigeladene ihre Planunterlagen bei der Stadt Heidelberg als zuständiger Anhörungsbehörde ein und beantragte die Durchführung des Anhörungsverfahrens.
Mit Schreiben vom 27.04.2011 bat die Anhörungsbehörde die betroffenen Eigentümer, Verbände und Träger öffentlicher Belange, bis einschließlich 30.06. bzw. 29.07.2011 zu dem Planvorhaben umfassend Stellung zu nehmen. Am 04.05.2011 gab sie die Auslegung der Planunterlagen vom 16.05. bis 16.06.2011 öffentlich bekannt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass jeder, dessen Belange durch die Planung berührt würden, bis einschließlich 30.06.2011 schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stadt Heidelberg Einwendungen gegen den Plan erheben oder sich zu den Umweltauswirkungen des Vorhabens äußern könne.
Die Antragsunterlagen lagen vom 16.05. bis 16.06.2011 bei der Stadt Heidelberg öffentlich aus.
Mit - offenbar noch am gleichen Tage per Kurierpost bei der Stadt Heidelberg eingegangenem - Anwaltsschreiben vom 29.06.2011 erhob die Klägerin Einwendungen gegen das Planvorhaben.
Am 20. und 21.03.2012 führte die Anhörungsbehörde den am 29.02.2012 öffentlich bekannt gemachten Erörterungstermin durch.
Aufgrund vorgebrachter Einwendungen und Stellungnahmen änderte die Beigeladene den eingereichten Plan. Die Anhörungsbehörde führte ergänzende Anhörungen durch, indem sie den von der Planänderung Betroffenen bzw. berührten Stellen jeweils Gelegenheit gab, zu den Planänderungen bis zum 06.12.2012 Stellung zu nehmen. Von einer erneuten Beteiligung der Öffentlichkeit wurde abgesehen.
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Die Klägerin hielt mit Schreiben vom 06.12.2012 ihre bisherigen Einwendungen aufrecht und erhob darüber hinaus weitere Einwendungen.
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Am 28.02.2013 übersandte die Anhörungsbehörde die bis dahin angefallenen Verfahrensunterlagen dem Regierungspräsidium Karlsruhe zur weiteren Veranlassung. Diesen waren ein Protokoll über den Erörterungstermin sowie der unter dem 07.02.2013 erstellte Anhörungsbericht beigefügt.
12 
In der Folge gab die Anhörungsbehörde den hiervon Betroffenen noch Gelegenheit, zu der von der Beigeladenen beabsichtigten Änderung des Grunderwerbsplans sowie des Grunderwerbsverzeichnisses Stellung zu nehmen.
13 
Mit Beschluss vom 10.06.2014 stellte das Regierungspräsidium Karlsruhe den Plan für den Neubau der „Straßenbahn Im Neuenheimer Feld" („Universitätslinie“ - Jahnstraße, Kirschnerstraße, Hofmeisterweg, Tiergartenstraße und Straße Im Neuenheimer Feld) fest (A. I., S. 21). Unter A. III. (S. 30 ff.) fügte die Planfeststellungsbehörde zahlreiche Nebenbestimmungen bei und unter A. IV. (S. 50 ff.) nahm sie zahlreiche Zusagen der Beigeladenen in den Planfeststellungsbeschluss auf. Die vorgebrachten Einwendungen - auch die der Klägerin - wies sie zurück, soweit ihnen nicht Rechnung getragen oder entsprochen wurde (vgl. A. VI., S. 65, 448 ff.). Eine Ausfertigung des Planfeststellungsbeschlusses lag vom 03.07. bis zum 17.07.2014 zur Einsichtnahme aus.
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Bei ihrer abschließenden Gesamtbetrachtung (S. 533 ff.) kam die Planfeststellungsbehörde zum Ergebnis, dass die mit dem Vorhaben verfolgten Ziele erreicht werden könnten. Nach der Gesamtabwägung aller durch das Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange werde dem Antrag des Vorhabenträgers zum Bau der Straßenbahn nach Maßgabe der getroffenen Entscheidungen, Nebenbestimmungen und Zusagen entsprochen. Durch das Vorhaben würden weder öffentliche noch private Belange in einer Weise beeinträchtigt, dass das Interesse an der Umsetzung des Vorhabens insgesamt zurücktreten müsste. Den mit dem Vorhaben verfolgten Zielen komme gegenüber den entgegenstehenden öffentlichen und privaten Belangen das größere Gewicht zu. Den gegen das Vorhaben sprechenden Belangen sei in großem Umfang durch Zusagen und Nebenbestimmungen Rechnung getragen. Es biete sich gegenüber der beantragten Trassenführung (Variante A2) keine Alternative an, mit der die dargestellten Ziele unter geringerer Inanspruchnahme entgegenstehender Belange erreicht werden könnten. Bei der Betrachtung von Alternativen sei die Planfeststellungsbehörde zur Überzeugung gelangt, dass sich die Antragsvariante aus verkehrlicher Sicht aufdränge, insbesondere weil sie den bisherigen Buslinienverlauf durch das Neuenheimer Feld aufgreife, sich im Sinne einer Bündelungsfunktion an die bestehenden Erschließungsstraßen anlehne, damit hinsichtlich der Erschließungsbereiche, aber insbesondere auch hinsichtlich der Taktfrequenz und der Umsteigebeziehungen günstige Auswirkungen auf die zentralen Bereiche des Neuenheimer Feldes habe und zusätzliche Richtungsänderungen mit engen Kurvenradien und negativen Auswirkungen auf Fahrkomfort und -geschwindigkeit vermeide. Mögliche Vorteile anderer Alternativen überwögen demgegenüber die Vorteile des beantragten und planfestgestellten Neubaus nicht in einer Weise, dass sich diese Alternativen „als - eindeutig - vorzugswürdig“ erwiesen. Dabei werde nicht verkannt, dass durch das Vorhaben auch negative Auswirkungen auf private und auch öffentliche Interessen entstünden. Im Bereich von Erschütterungen seien insbesondere in der Betriebsphase Auswirkungen auf die Umgebung, insbesondere auf erschütterungsempfindliche Geräte nicht ganz auszuschließen. Durch entsprechende Vorkehrungen der Vorhabenträgerin würden mögliche Beeinträchtigungen jedoch im Bereich des Zumutbaren verbleiben. Durch elektromagnetische Phänomene könnten sich zwar beim Betrieb der Straßenbahn nicht unerhebliche Auswirkungen auf gegenwärtig vorhandene und zukünftig noch zu beschaffende (hoch)empfindliche Geräte von im Planungsbereich angesiedelten Einrichtungen ergeben. Durch umfangreiche (Schutz)Maßnahmen, die sich insbesondere auf die Ausgestaltung der Trasse, die Fahrzeugart, die Gerätestandorte und/oder -abschirmungen bezögen, blieben diese Auswirkungen jedoch verträglich und zumutbar.
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Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 30.06.2014 zugestellten Planfeststellungsbeschluss hat die Klägerin am 30.07.2014 Klage zum erkennenden Gerichtshof erhoben. Zur Begründung trägt sie am 10.09.2014 im Wesentlichen vor: Die historisch gewachsene hocheffiziente Campusstruktur dürfe nicht durch verkehrstechnische Veränderungen in ihrem Bestand, ihrer Funktion, ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Entwicklungsmöglichkeiten gefährdet werden. Der Planfeststellungsbeschluss greife tief in ihre Belange, vor allem ihre Funktions-, Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit ein und beeinträchtige diese nachhaltig. Sie sei klagebefugt, da sie als Dauernutzungsberechtigte Grundstücke und Baulichkeiten im Universitätsareal nutze, welche von dem Vorhaben unmittelbar in Anspruch genommen und durch Immissionen unzumutbar beeinträchtigt würden. Insofern werde sie in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Forschungsfreiheit und in ihrem subjektiv öffentlichen Recht verletzt, von unzumutbaren Lärm- und Erschütterungswirkungen verschont zu bleiben. Durch letztere sowie betriebsbedingte elektromagnetische Felder werde die Funktionsfähigkeit ihrer empfindlichen Forschungseinrichtungen und -geräte unzumutbar gestört. Zuverlässige und geeignete Schutzmaßnahmen stünden noch nicht zur Verfügung. Darüber hinaus werde sie in ihrem subjektiven Recht auf fehlerfreie Abwägung verletzt. Dadurch, dass die Planfeststellungsbehörde ihre Belange nicht ordnungsgemäß ermittelt und abgewogen habe, habe sie sich bei der Variantenprüfung zu Unrecht für die Variante A2 entschieden. Diese sei auch mit den strikten und auch sie schützenden städtebaulichen Vorgaben im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet in Heidelberg“ vom 28.07.1960 und in den diesen Bebauungsplan flankierenden Verträgen nicht vereinbar. Denn danach sei das Universitätsgebiet von Anlagen des öffentlichen Verkehrs gerade freizuhalten.
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Ihre Klage sei auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss sei rechtswidrig. und verletze sie dadurch in ihren Rechten. Es stelle bereits einen Rechtsmangel dar, dass die Planfeststellungsbehörde ohne eigene fachliche Prüfung durchgängig den Vorstellungen des Beigeladenen gefolgt sei. Auch habe sie verkannt, dass die fachplanungsrechtlichen Grundsätze im Lichte des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auszulegen und anzuwenden seien. Der Planfeststellungsbeschluss greife substantiell in ihre Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ein. An der Straße Im Neuenheimer Feld befänden sich Einrichtungen mit - höchst - empfindlichen Geräten. Der Staat müsse sicherstellen, dass das Grundrecht freier wissenschaftlicher Bestätigung möglichst unangetastet bleibe. Insofern enthalte Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auch eine objektive, wertentscheidende Grundsatznorm. Störungen und Behinderungen der universitären Einrichtungen und Veranstaltungen müssten ausgeschlossen werden. Der Planfeststellungsbeschluss beachte nicht hinreichend, dass Wissenschaft und Forschung durch eine starke Entwicklungsoffenheit geprägt seien. Insofern müssten auch künftige und ungewisse Entwicklungsmöglichketen berücksichtigt werden. Die Entscheidung zugunsten der Variante A2 und damit gegen die sich aufdrängende Variante A1 sei abwägungsfehlerhaft. Ihren Belangen komme indes in dem durch den Bebauungsplan geprägten Universitätsgebiet überragende Bedeutung zu. Dieses Plangebiet solle von äußeren störenden Einflüssen, insbesondere von öffentlichem Verkehr verschont bleiben. Die innere Erschließung solle durch nicht festgestellte Privatstraßen erfolgen. Die „nördliche Haupterschließungsstraße“ (Straße Im Neuenheimer Feld) habe auch nur bis zum Ausbau des „Klausenpfads“ zur Verfügung stehen sollen. Dem entsprechend sei letzterer im Flächennutzungsplan als Haupterschließungsstraße, die Straße Im Neuenheimer Feld hingegen als innere Erschließungsstraße dargestellt gewesen. Darüber hinaus werde die festgestellte Planung auch dem Trennungsgrundsatz und dem fachplanungsrechtlichen Abwägungsgebot nicht gerecht. Denn die konkret geplante Variante A2 führe unmittelbar an Universitätsgebäuden mit hochspezialisierten Geräten vorbei, die gegenüber Schwingungen und elektromagnetischen Feldern hochempfindlich seien. Auch lägen an dieser Straße die letzten Entwicklungsflächen der Universität, denen überragende Bedeutung zukomme. Hier müssten ausreichende störungsfreie Flächen vorgehalten und potentielle Entwicklungsmöglichkeiten einbezogen werden. Dynamische elektromagnetische Felder könnten ohnehin nicht kompensiert werden. Besonders empfindlich sei eine für das Institut für Geowissenschaften (INF 236) beantragte und inzwischen auch aufgestellte Ionensonde. Da Verbesserungen und Schutzmaßnahmen an der Emissionsquelle nicht den erforderlichen hohen Schutz gewährleisteten, sei das Vorhaben nur bei einer Trassenführung über den „Klausenpfad“ (Variante A1) mit den universitären Belangen in Einklang zu bringen. Entgegen den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss seien die beiden Varianten A2 und A1 unter dem Gesichtspunkt „Erschütterungen/EMV“ keineswegs gleichwertig. Dies gelte bereits im Hinblick auf das vorhandene Rasterelektronenmikroskop, aber auch auf neu aufzustellende Geräte in den Gebäuden der Physikalischen Chemie (INF 253) und der Geowissenschaften (INF 234). Insofern seien Schutzmaßnahmen ungleich teurer als bei der Variante A1. Auch ein stromloser bzw. stromarmer Betrieb änderte nichts daran, dass die verbleibenden Immissionen eine ungeschmälerte Entwicklung in Trassennähe beeinträchtigten. Hinzukomme, dass die elektromagnetischen Wirkungen der Variante A1 lediglich „hochgerechnet“ und damit überschätzt worden seien. Tatsächlich gebe es in den an die Trasse der Variante A1 angrenzenden Gebäuden des „Technologieparks“ keine gegenüber elektromagnetischen Wirkungen hochempfindlichen Geräte. Auch sei die Zerschneidungswirkung für den Campus unberücksichtigt geblieben. Auch eine höhere Attraktivität der Variante A2 bestehe nicht. So bringe die geplante Haltestelle „Geowissenschaften“, sofern für sie überhaupt ein konkreter Bedarf bestehen sollte, im Vergleich zur bestehenden Haltestelle „Technologiepark“ an der Berliner Straße keine deutliche verkehrliche Verbesserung. Weitere Haltestellen seien bis zur „Kopfklinik“ ohnehin nicht vorgesehen. Die bauzeitlichen Immissionen seien bei der Variante A2 eindeutig stärker. Für mobilitätseingeschränkte Nutzer werde die Erschließung keineswegs verbessert. Auch sei die Wirksamkeit der Schutzvorkehrungen nicht hinreichend gesichert. Zusätzliche Belastungen könnten allenfalls dann, wenn auch nur ansatzweise, bewältigt werden, wenn die bestehenden Belastungen durch den motorisierten Individualverkehr reduziert würden, wovon jedoch derzeit nicht ausgegangen werden könne. Ihre Belange seien insbesondere hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit nicht ausreichend gewürdigt worden. Insoweit sei jedenfalls ein - der natürlichen Schwankung des Erdmagnetfeldes entsprechender - Grenzwert von 50 nT ab Gleismitte einzuhalten. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erfordere der störungsfreie Betrieb der derzeit und künftig eingesetzten Elektronenmikroskope allerdings die Einhaltung eines Grenzwerts von 20 nT. Um störungsfreies Arbeiten zu gewährleisten, seien im Gebäude INF 229 unlängst teure bauliche Maßnahmen ergriffen worden, die nun entwertet würden. Der von Prof. Dr. V. prognostizierten magnetischen Gleichfeldänderung liege die unzutreffende Annahme einer Stromstärke von nur 1000 A anstatt 2400 A zugrunde. Die zu erwartenden Belastungen überstiegen mehrfach die Schwelle des Zumutbaren und könnten durch passive Schutzmaßnahmen an den Geräten nicht wirksam kompensiert werden. Dass die vom Gutachter der Beigeladenen vorgeschlagenen Maßnahmen - magnetfeldkompensierte Trassenführung, Reduktion des Betriebsstroms und Verwendung aktiver Magnetfeldkompensationsanlagen - bei Einhaltung der jeweiligen Gerätespezifikationen Beeinträchtigungen verhinderten, sei fraglich. Eine Zunahme äußerer Einflüsse führe auch jenseits der in den jeweiligen Spezifikationen enthaltenen Angaben zu einer negativen Beeinflussung. Magnetfeldänderungen führten generell zu einer Verschlechterung der Standortbedingungen. Die Einhaltung der dargestellten Grenzwerte durch Schutzmaßnahmen sei mit Prognoseunsicherheiten behaftet, zumal eine magnetfeldkompensierte Trassenführung noch nicht dem Stand der Technik entspreche. Aktive Kompensationsanlagen, die zudem die Nutzbarkeit der Geräte und Räume einschränkten, seien nur bedingt geeignet. Bei inhomogenen Magnetfeldern und bei großen zu schützenden Bereichen seien sie ohnehin kaum wirksam. Derartige Einschränkungen seien in einem wissenschaftlichen Betrieb jedoch nicht hinnehmbar, zumal der Betrieb solcher Anlagen einen erhöhten organisatorischen Aufwand und eine erhöhte Aufmerksamkeit bedinge. Im Gutachten von Prof. Dr. V. vom 31.03.2011 werde auch nicht die künftige Nutzungseinschränkung aller Gebäude für magnetfeldempfindliche Geräte erörtert. Auch müsse eine Weiterentwicklung des Baubestands und der hochsensiblen Geräte berücksichtigt werden. Ein störungsfreier Forschungsbetrieb sei freilich auch infolge der prognostizierten Erschütterungswirkungen nicht mehr gewährleistet. So führe die Trasse der planfestgestellten Variante A2 an Gebäuden (INF 234-236, INF 253, INF 293) vorbei, in denen (höchst) schwingungsempfindliche Geräte betrieben würden. Die „Schwingungstechnische Untersuchung“ vom 25.10.2010 sei ohnehin veraltet. Abweichungen ergäben sich vor allem durch die am 31.05.2011 beantragte und inzwischen im Gebäude INF 235 aufgestellte Ionensonde. Bereits ergriffene Schutzmaßnahmen würden entwertet. Das Gutachten der I.B.U. vom 25.10.2010 gehe zu Unrecht davon aus, dass deutlich oberhalb der Gerätespezifikation liegende Einzelmesswerte künftig auch von der Straßenbahn erreicht werden dürften. Frühere, durch Lkw und Busse hervorgerufene Einzelereignisse könnten nicht mit einem regelmäßigen Straßenbahnverkehr gleichgesetzt werden. Die auf massive Bodenunebenheiten zurückzuführende untragbare Situation dürfe nicht als Maßstab für künftige Schwingungen der Straßenbahn herangezogen werden. Zur Vermeidung erheblicher Nutzungseinschränkungen dürften vom Straßenbahnbetrieb keine relevanten Erschütterungen mehr ausgehen. Auch mit einem hochwertigen Schwingungsschutz am Gleis (z. B. einem Masse-Feder-System) sei die Einhaltung der geforderten Grenzwerte nicht sicher zu gewährleisten. Dessen konkrete Realisierbarkeit und Wirksamkeit lasse sich nicht hinreichend sicher prognostizieren. Nur bei Einhaltung eines Sicherheitsabstands von 125 m ließen sich die Erschütterungen in den Gebäuden INF 253 und 234-236 sowie auf den letzten Entwicklungsflächen der Universität auf das erforderliche Maß (Nano-D-Linie) begrenzen. Dies sei nur bei der Variante A1 möglich. Dem Gutachten von Dr. H. vom 22.09.2013 zufolge würden die Erschütterungen an den Standorten der Rasterelektronenmikroskope derart erhöht, dass der für ihre Funktionsfähigkeit maßgebliche Nano-D-Grenzwert erstmals überschritten werde. Die erheblichen Auswirkungen während der Bauzeit seien nicht in den Blick genommen worden. Insoweit zeichneten sich schon jetzt erhebliche Probleme bei der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Forschungsbetriebs ab. Eine fachgerechte Prognose der zu erwartenden Beeinträchtigungen sei nicht erstellt worden. Die Trasse im Bereich des Hofmeisterwegs müsse unbedingt geändert und nach Süden verschoben werden. Ein Flächenverlust von 1.500 m2 sei beim Botanischen Garten wegen der Entwertung seiner Funktionalität und seines Charakters als universitäre Forschungs- und Lehreinrichtung nicht hinnehmbar. Insofern sei eine Trassenverschiebung nach Süden über die Flächen des nicht mehr benötigten Gebäudes INF 154 eindeutig vorzugswürdig.
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Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten: Die Klägerin sei schon nicht klagebefugt, da sie als staatliche Einrichtung einen unzulässigen Insichprozess führe bzw. für den nicht klagebefugten Landesbetrieb „Vermögen und Bau Baden-Württemberg“ eine verdeckte Prozessstandschaft übernehme. Nutzungsrechte im Sinne einer subjektiven Rechtsposition stünden ihr nicht zu. In die grundrechtliche Garantie der Einrichtung wissenschaftlicher Hochschulen oder das Recht eines einzelnen Wissenschaftlers werde nicht eingegriffen. Sonstige Rechte, in denen sie als „nichtstaatliche“ Einrichtung verletzt sein könnte, seien nicht ersichtlich. Die Klage sei auch unbegründet. Insoweit werde auf die Erwägungen im Planfeststellungsbeschluss verwiesen.
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Die Beigeladene hat ausgeführt: Es fehle bereits an der erforderlichen Klagebefugnis. Eine subjektive Rechtsverletzung ergebe sich auch nicht aus Art. 5 Abs. 3 GG, der keine Bestandsgarantie und keinen Anspruch auf ungehinderte räumliche Entwicklung begründe. Im Übrigen bleibe der Wissenschaftsbetrieb nicht zuletzt wegen des umfangreichen Schutzkonzepts in seiner bisherigen Qualität erhalten. Die mit dem Vorhaben verbundenen Immissionen würden durch zahlreiche Maßnahmen auf ein verträgliches und zumutbares Maß reduziert. Insbesondere komme es zu keinen unzumutbaren Beeinträchtigungen störungsempfindlicher Forschungseinrichtungen und -geräte. Durch umfangreiche Maßnahmen an der Störquelle werde deren Funktionsfähigkeit gewährleistet. Der angegriffene Beschluss enthalte auch zahlreiche Wirksamkeitsnachweise. Auch aus dem Bebauungsplan und den städtebaulichen Verträgen könne die Klägerin keine subjektiven Rechte herleiten. Die Klage sei auch unbegründet. Die Einwendungen der Klägerin seien ausführlich, sorgfältig und zutreffend abgearbeitet worden. Der Beklagte habe eine eigene Prüfung erheblichen Umfangs vorgenommen. Er habe zu nahezu allen Themenkreisen Fragen aufgeworfen und sie - die Beigeladene - um Stellungnahme gebeten. Auch seien in den Nebenbestimmungen weitergehende Auflagen erteilt worden. Die Planunterlagen seien im Anhörungsverfahren unter Beteiligung von Fachbehörden geprüft worden. Das planfestgestellte Schutzkonzept gewährleiste wissenschaftliche Tätigkeit und Forschung in höchster Qualität. Im Übrigen habe auch die Klägerin dafür zu sorgen, dass künftig aufzustellende Geräte störungsfrei betrieben werden könnten. Sie habe ohnehin keinen Anspruch auf die Nutzung bestimmter Flächen. Auch künftigen Entwicklungen sei - etwa durch die vorgesehene elastische Schienenlagerung und eine technisch flexibel ausgelegte Fahrleitung - ausreichend Rechnung getragen. Der Betrieb extrem hochsensibler Technik sei aufgrund der Wechselwirkung mit der Umgebung im städtischen Bereich generell problematisch. Die Klägerin habe den vorbelasteten Standort selbst gewählt. Seit Abschluss der städtebaulichen Verträge zwischen dem Beklagten und der Stadt Heidelberg finde im Einvernehmen mit der Klägerin durchgängig öffentlicher Busverkehr statt. Entlang der Straße Im Neuenheimer Feld würden keine Geräte mit einer Empfindlichkeit von 20 nT verwendet. Aktive Kompensationsanlagen könnten externe Störungen durchaus hinreichend reduzieren. Auch werde die Strecke in einer kompensierten Form gebaut und es werde auf ihr in sensiblen Abschnitten stromreduziert gefahren. Durch eine Kombination dieser Maßnahmen könne der Wert von 50 nT ab einem Abstand von ca. 50 m eingehalten werden. Aktive Kompensationsmaßnahmen funktionierten auch bei Elektronenmikroskopen. Die schwingungstechnische Untersuchung habe gezeigt, dass die prognostizierten Erschütterungen an den Gerätestandorten ohnehin unterhalb der Vorbelastung lägen. Durch Nebenbestimmungen und Zusagen werde auch der Baulärm auf ein Mindestmaß reduziert. Auch im Übrigen werde den Anforderungen an die Verhinderung bauzeitlicher Beeinträchtigungen entsprochen.
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Auf Antrag der Klägerin hat der Senat mit Beschluss vom 18.12.2014 - 5 S 1444/14 - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
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Anschließend hat der Beklagte seinen „Vortrag zur bauplanungsrechtlichen Bewertung des planfestgestellten Trassenverlaufs ergänzt“: Es handle sich um ein Vorhaben von überörtlicher Bedeutung. Eine solche komme einer Straßenbahn zu, die ein Gebiet in einem Oberzentrum erschließe, in dem sich ausschließlich oder überwiegend infrastrukturelle Einrichtungen befänden, die zentralörtliche und insoweit überörtliche Bedeutung besäßen. Straßenbahnen seien auch zunehmend Teil eines überörtlichen Verkehrsverbundes. Sollte § 38 BauGB nicht anwendbar sein, wären gleichwohl keine subjektiven Rechte der Klägerin verletzt. Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ sei nichtig, da er nicht den Anforderungen des württemberg-badischen Aufbaugesetzes (AufbauG) entspreche. Denn er enthalte keine hinreichend konkretisierte Planungsentscheidung. Er setze letztlich nur ein 70 ha großes Baufenster fest. Das württemberg-badische Aufbaugesetz habe die Möglichkeit eines einfachen Bebauungsplans nicht vorgesehen. Dies erhelle auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG. Die wenigsten der dort aufgeführten Mindestfestsetzungen seien hier getroffen worden. Obwohl der Bebauungsplan eine öffentliche Einrichtung vorsehe, setze er keine öffentlichen Straßen fest. Unerheblich sei die Absicht des Satzungsgebers, das Gelände von öffentlichem Verkehr freizuhalten. Bei Anwendung von § 34 BauGB scheide eine Rechtsverletzung der Klägerin aus.
21 
Die Beigeladene hat sich diesem Vortrag des Beklagten angeschlossen und noch dargelegt: Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für eine am 04.08.2015 ausdrücklich beantragte Befreiung vom Bebauungsplan vor. Die Grundzüge der Planung seien nicht berührt, da die Straßenbahn gebietsverträglich sei. Dem Satzungsgeber sei es seinerzeit nur um den öffentlichen Individualverkehr gegangen. Auch in den städtebaulichen Verträgen finde sich kein Hinweis, dass bei dem für die Tiergartenstraße vorgesehenen Ersatz („Nordtrasse“) vom Bebauungsplan abgewichen würde. Offenbar sei man davon ausgegangen, dass dieser einer öffentlichen Verkehrserschließung des Universitätsgebiets nicht entgegenstehe. Daran ändere nichts, dass die „Nordtrasse“ nur vorübergehend habe genutzt werden sollen. Die Klägerin könne sich zur Abwehr nachteiliger Wirkungen nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen. Der Beklagte könne der Klägerin Grundstücke nur so zur Verfügung stellen, wie ihm dies nach Ausgleich aller Belange möglich sei. Der Beklagte habe sich keineswegs auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt. Denn er habe ihr - der Beigeladenen - eine Vielzahl von Auflagen erteilt. Auch dürfe die Planfeststellungsbehörde die Planunterlagen nachvollziehend abwägen und sich zu eigen machen. Begründungsdefizite rechtfertigten noch nicht den Schluss auf Abwägungsfehler. Das Neuenheimer Feld sei durch die in der Berliner Straße verkehrende Straßenbahn und den Individualverkehr ohnehin schon heute stark vorbelastet.
22 
Die Klägerin hat erwidert: Der Beklagte könne die fehlerhafte Gewichtung der bauplanungsrechtlichen Situation mit seinem weiteren Sachvortrag nicht heilen. Die Festsetzungen des Bebauungsplans seien zwingend zu beachten gewesen; § 38 BauGB sei nicht anwendbar. Der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ sei wirksam. Die in § 8 Abs. 2 AufbauG aufgeführten Festsetzungen seien nur insoweit, als sie vom Plangeber getroffen würden, in die Lagepläne aufzunehmen. In der Auslegung des Beklagten wäre die Vorschrift überdies verfassungswidrig, da sie das kommunale Selbstverwaltungsrecht verletzte. Auf die Festsetzung öffentlicher Straßen und Wege sei bewusst verzichtet worden, um die Flexibilität der Nutzungsvariation der Bauvorbehaltsfläche zu erhöhen. Die Erschließung sei gleichwohl über die Frankfurter Straße in ausreichendem Umfang gesichert gewesen. Die Planfeststellungsbehörde habe nachteilige Auswirkungen auf die Einrichtungen der Universität schon nicht ermittelt, sodass sie auch nicht beurteilt werden könnten.
23 
Bereits am 21.04.2015 hatte die Beigeladene beim Regierungspräsidium Karlsruhe - in Anknüpfung an mit der Klägerin geführte Einigungsgespräche - verschiedene Planänderungen beantragt, und zwar im Bereich des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Hofmeisterwegs entlang des Botanischen Gartens (u. a. Verschiebung der Bahntrasse um 6,5 m nach Süden) sowie im Bereich der Straße Im Neuenheimer Feld (flächig gelagertes Masse-Federsystem von Station 1+657 bis 1+888, punktförmig gelagertes Masse-Feder-System von Station 1+913 bis 2+093, Änderung des Mastabstandes auf max. 30 m von Station 2+160 bis 2+413, stromloser Bereich Fahrleitung von Station 2+160 bis 2+439, Entfallen der Kompensationsleitungen unterhalb der Gleistrasse) - 1. Planänderung.
24 
Unter dem 07.05.2015 bat die Stadt Heidelberg als Anhörungsbehörde die Träger öffentlicher Belange und Verbände, zur 1. Planänderung umfassend Stellung zu nehmen. Der geänderte Plan wurde vom 20.05. bis 22.06.2015 öffentlich ausgelegt, wobei bis einschließlich 06.07.2015 Einwendungen erhoben werden konnten. Darauf war mit öffentlicher Bekanntmachung vom 13.05.2015 hingewiesen worden.
25 
Mit Schreiben vom 06.07.2015 hielt die Klägerin ihre Einwendungen aufrecht. Die 1. Planänderung sei nicht geeignet, ihre Bedenken auszuräumen und die Fehler des Planfeststellungsbeschlusses zu beheben. Die erschütterungstechnischen Maßnahmen seien nach wie vor unzureichend. Trotz des vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts komme es zu unzumutbaren elektromagnetischen Auswirkungen auf vorhandene und künftig anzuschaffende Geräte. Auch der Botanische Garten werde weiterhin beeinträchtigt.
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Am 11.08.2015 führte die Anhörungsbehörde den bereits am 13.05.2015 öffentlich bekannt gemachten Erörterungstermin durch.
27 
Mit Änderungsplanfeststellungsbeschluss vom 27.01.2016 stellte das Regierungspräsidium Karlsruhe die 1. Planänderung fest. Dabei änderte es im Hinblick auf die erweiterte Zusage der Beigeladenen, dass im Bereich des Deutschen Krebsforschungsinstitutes vor der geplanten Radiologie II nun jedenfalls ca. 200 m stromlos gefahren werde, auch verschiedene Nebenbestimmungen. Die Einwendungen der Klägerin wurden, soweit sie sich nicht erledigt hatten, zurückgewiesen (ÄPFB, S. 14 u. S. 48 ). Im Rahmen ihrer rechtlichen Würdigung wies die Planfeststellungsbehörde unter B. III 2. (S. 27) darauf hin, dass es bei den Festsetzungen und Begründungen des Ausgangs-Planfeststellungsbeschlusses verbleibe, soweit sich nicht gerade durch die beantragten Planänderungen eine modifizierte Bewertung ergebe und soweit nicht die Ausführungen im Ausgangs-Planfeststellungs-beschluss - klarstellend - vertieft würden (auch S. 55). Insofern nahm sie unter B. III. 3 (S. 53) im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ das „Gesamtgefüge nochmals in den Blick“ und hielt unter Nr. 3.1.3 (S. 69) „vorsorglich“ nunmehr ausdrücklich fest, „dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen und vom dort eröffneten Ermessen zugunsten der Beigeladenen Gebrauch gemacht werde“.
28 
Am 15.02.2016 hat die Klägerin den Änderungsplanfeststellungsbeschluss in ihre Klage einbezogen. Hierzu hat sie am 01.03.2016 noch vorgetragen: Die sie in ihren Rechten verletzenden Mängel seien derart schwerwiegend, dass sie zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses führen müssten. Im Zuge der 1. Planänderung sei eine ordnungsgemäße Vorprüfung des Einzelfalls unterblieben, ob eine erneute Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen sei. Eine Untersuchung und Bewertung der Folgen des Abrisses des Gebäudes INF 154 habe nicht stattgefunden. Die 1. Planänderung hätte auch nicht nach § 76 Abs. 1 LVwVfG zugelassen werden dürfen. Mängel in zentralen Punkten könnten weder in einem Planänderungs- noch in einem ergänzenden Verfahren behoben werden. Auch werde das Planungsziel, die Verkehrsanbindung und damit die Attraktivität des Wissenschaftsbetriebs zu erhöhen, konterkariert. Mit den festgestellten Planänderungen sei sie keineswegs klaglos gestellt worden. Auch wende der Beklagte weiterhin einen falschen Prüfungsmaßstab an. An der Fehlerhaftigkeit der Variantenprüfung habe sich nichts geändert. Mangels Teilbarkeit sei auch der sie betreffende Trassenbereich rechtswidrig.
29 
Die Klägerin beantragt - sachdienlich gefasst -,
30 
den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 (1. Planänderung) aufzuheben,
31 
hilfsweise dessen Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit festzustellen,
32 
höchsthilfsweise ihn um folgende weitere Schutzauflagen und -maßnahmen zu ergänzen, dass
33 
- im Streckenbereich zwischen Station 1+895 und 2+412 (Länge 517 m) für die Schienenlagerung ein punktförmig gelagertes Masse-Feder-System (pMFS) mit einer so niedrig wie möglichen Abstimmungsfrequenz vorzusehen ist,
34 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte Erschütterungswirkungen trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Vorgaben der DIN 4150-2 und der DIN 4150-3 nicht eingehalten werden und/oder die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder künftig von ihr angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird,
35 
- die gesamte Straßenbahnstrecke oberleitungsfrei und stromlos zu betreiben ist,
36 
- für die gesamte Straßenbahnstrecke eine Kompensationsleitung mit einem Mastabstand von 30 m sowie eine Kompensation an bereits vorhandenen und künftig angeschafften Geräten oder ein Mastabstand von 20 m mit Strombegrenzung vorzusehen ist,
37 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte elektromagnetische Felder trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder von ihr künftig angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird,
38 
- der Klägerin eine Entschädigung in Geld zu leisten ist, wenn durch bau- oder betriebsbedingte sonstige Immissionen oder Behinderungen trotz durchgeführter Schutzmaßnahmen die Funktionsfähigkeit bereits vorhandener oder von ihr künftig angeschaffter Einrichtungen und Forschungsgeräte beeinträchtigt wird.
39 
- die Festsetzung weiterer Schutzmaßnahmen zur Vermeidung nachteiliger Wirkungen auf Rechte der Klägerin vorbehalten wird,
40 
- auf der gesamten Straßenbahnstrecke nur in Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf.
41 
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
42 
die Klage abzuweisen.
43 
Der Beklagte hält die Klägerin nach wie vor nicht für klagebefugt. Deren Interesse an der Nutzung bestimmter Standorte sei nicht schutzwürdig. Denn mit entsprechenden Planungen und Entwicklungen habe sie rechnen müssen. Eigentumsrechte und Standortfragen würden durch den „Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg" und das Universitätsbauamt Heidelberg bestimmt. Tatsächlich verkehrten auch seit Jahrzehnten Buslinien, deren Frequenz mit zunehmender Bebauung erhöht worden sei. Die Busse hätten vergleichbare elektromagnetische Auswirkungen. Sei die Klägerin hinsichtlich konkreter Forschungsstandorte vom Land Baden-Württemberg abhängig, könne sie sich auf kein verfestigtes Nutzungsrecht berufen. Die Planfeststellungsbehörde habe die von der Beigeladenen aufgrund ihrer Gestaltungsfreiheit getroffene Planungsentscheidung abwägend nachvollzogen. Zu diesem Zwecke seien im Planfeststellungsverfahren detaillierte und differenzierte Fachgutachten erstellt worden. Bei den elektromagnetischen Emissionen sei eine worst-case-Betrachtung erfolgt, indem im Zweifel der für die Klägerin günstigere Wert angesetzt worden sei. Die Qualität der Fachgutachten sei von der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt worden. Unabhängig davon seien deren Einwendungen geprüft worden. Die Planung sei durch eine Vielzahl von Nebenbestimmungen und Zusagen ergänzt worden. Dadurch seien auch denkbare, absehbare Entwicklungen und Standortverschiebungen geschützt. Die 50-nT-Linie beruhe auf von der Klägerin selbst genannten Werten. Werde jener Wert eingehalten, sei die elektromagnetische Wirkung nach Aussage des Gutachters V. und den größten Herstellern unproblematisch. Damit komme es zu keinen unzumutbaren Wirkungen. Die nachgefragte Geräteliste sei von der Klägerin erst nach Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses ergänzt worden. Dass „nicht überall“ Gerätschaften aufgestellt werden könnten, sei aufgrund der Vorbelastung schon bisher der Fall gewesen. Die „Ausfallquote“ dürfte sich eher verringern. Die Variante „Klausenpfad“ (A1) weise eine schlechtere Erschließung auf, da von Norden kommend jede zweite Straßenbahn in den „Klausenpfad“ abbiegen würde. Aus Süden kommend ermöglichte nur jede zweite Bahn eine Verbindung zum Technologiepark. Von einer Haltestelle „Tennisplatz“ könne nicht ohne Weiteres in das innere Neuenheimer Feld gelangt werden. Zudem verlängerte sich die Fahrzeit, wodurch sich auch die Taktung verschlechterte. Die schlechtere Erschließung sei auch nicht aus Gründen des Geräteschutzes in Kauf zu nehmen, da auch der Technologiepark sensible Nutzungen aufweise. Dort müsse technisch bedingt noch näher an den Gebäuden vorbeigefahren werden, was ähnliche Auswirkungen wie im Neuenheimer Feld hervorriefe. Schließlich werde die 2,5 km lange Trasse auf 680 m stromlos betrieben. Die entsprechenden Abschnitte vor dem MPI und dem DKFZ wiesen auch keine Stromkabel zur Versorgung stromhaltiger Abschnitte auf. Bei der Auslegung des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ müsse auch der Bebauungsplan „Im Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 berücksichtigt werden. 1952 habe es gesamtplanerische - auch verkehrliche - Überlegungen gegeben, die sich auch auf den Bereich westlich der Frankfurter (heute: Berliner) Straße bezogen hätten. Wäre vollkommene Verkehrsfreiheit beabsichtigt gewesen, wären die seinerzeit bestehenden Straßen und Fluchten - ebenso wie die damals im Plangebiet "Neues Universitätsgebiet" noch vorhandene OEG-Güterbahn - als aufzuhebende Straßen- und Baufluchten festzusetzen gewesen. Verkehrliche Überlegungen zu Querstraßenanschlüssen zum westlich gelegenen Universitätsgebiet hätten sich auch noch im Erläuterungsbericht vom 01.10.1955 gefunden.
44 
Die Beigeladene hat noch darauf hingewiesen, dass auf den Privatstraßen im Neuenheimer Feld seit Jahrzehnten öffentlicher Verkehr stattfinde. Insofern stünden dem Vorhaben weder der Bebauungsplan noch die städtebaulichen Verträge entgegen. Auch aus dem "Heidelberger Konzept" von 1994 ergebe sich, dass die innere Erschließung des Neuenheimer Feldes durch öffentlichen Personennahverkehr erfolge. Der Klägerin stehe ohnehin kein Vollüberprüfungsanspruch zu, da ihr die Gebäude lediglich vom Land bereitgestellt worden seien. Ihre Belange seien durch ein umfangreiches Schutzkonzept - teilweise überobligatorisch - berücksichtigt worden. Bezogen auf die 1. Planänderung liege kein Verfahrensverstoß vor. Eine etwa erforderliche Befreiung vom Bebauungsplan sei bereits vom Planfeststellungsbeschluss umfasst gewesen. In den das Vorhaben unterstützenden Gemeinderatsbeschlüssen sei „inzident“ eine Befreiung zu sehen. Mit einem Ausbau des bestehenden Busangebots ließen sich die verkehrlichen Ziele nicht erreichen. Die eingesetzten Busse stießen bereits an ihre Kapazitätsgrenze; die Nachfrage nehme im Prognosezeitraum weiterhin zu. Der entscheidende Unterschied zwischen den Varianten A1 und A2 liege in der geringeren Taktfrequenz der Anbindung der Haltestelle „Geowissenschaften“. Die Variante A1 sei nicht schonender zu realisieren, da im Technologiepark nach dem Bebauungsplan „Langgewann II“ auch Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen zulässig seien. Auch erhöhten sich so die elektromagnetischen Auswirkungen auf die Kopfklinik. Die Beeinträchtigungen beim Physikalisch-Chemischen Institut (PCI) und beim Institut für Geowissenschaften seien gleich gering. Bei den Erschütterungen sei entscheidend, dass die Vorbelastung nicht zu Lasten der Klägerin wesentlich erhöht werde. Aufgrund der vorgesehenen hochelastischen Schienenlagerung sei gesichert, dass die Erschütterungsimmissionen unter der Vorbelastung blieben. Im Übrigen seien die von der Klägerin geforderten Nano-D-Werte teilweise schon jetzt nicht eingehalten. Die elektromagnetische Betroffenheit des PCI und des Instituts für Geowissenschaften werde durch den mit der 1. Planänderung vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitt nochmals verringert. Eine aktive Kompensation sei nicht mehr notwendig. Bereits im ursprünglichen Fachgutachten, dem eine worst-case-Betrachtung zugrunde liege, sei festgestellt worden, dass die Messgeräte weiter betrieben werden könnten.
45 
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der zur Sache gehörenden - auch im vorläufigen Rechtschutzverfahren angefallenen - Gerichtsakten verwiesen. Diese waren ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung wie die das Planfeststellungsverfahren – einschließlich der Planänderung - betreffenden Verwaltungsakten und die vorgelegten Bebauungsplanakten, auf die ebenfalls Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe

 
46 
Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig (I.) und begründet (II.). Über die (höchst-)hilfsweise gestellten Klageanträge ist daher nicht zu entscheiden.
I.
47 
Die Klage ist, soweit sie auf eine Aufhebung des - geänderten - Planfeststellungsbeschlusses gerichtet ist, als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig.
48 
1. Der erkennende Gerichtshof ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO erstinstanzlich zuständig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die ein Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung der Strecken von Straßenbahnen betreffen.
49 
2. Die Klage ist am letzten Tage der mit (Individual-)Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses am 30.06.2014 in Lauf gesetzten einmonatigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG) und damit rechtzeitig erhoben worden. Bei der Einbeziehung des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses war diese Frist nicht zu beachten, da die verbleibenden Regelungsbestandteile des ursprünglichen Planfeststellungsbeschlusses und die durch den Änderungsbeschluss hinzutretenden Regelungsbestandteile inhaltlich unteilbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 31.07 -, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 15).
50 
3. Die Klägerin ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO); insbesondere steht nicht etwa ein unzulässiger „In-sich-Prozess“ in Rede. Die Klägerin macht als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Grundrechtsfähigkeit nach Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. 16.01.1963 - 1 BvR 316/60 - BVerfGE 15, 256 <261 f.>, juris Rn. 22) ungeachtet dessen, dass sie zugleich eine staatliche Einrichtung des Landes ist (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 LHG), jedenfalls hinreichend geltend, in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eines eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt zu sein (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG). Denn ihr Interesse, dass ihre im Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans "Neues Universitätsgebiet" gelegenen Forschungseinrichtungen und Erweiterungsflächen keinen nachteiligen Wirkungen des planfestgestellte Vorhabens - wie Erschütterungen und elektromagnetischen Feldern - ausgesetzt werden, die ihrer Betätigung auf dem Gebiete der Forschung abträglich wären, stellt einen solchen Belang dar. Dies folgt letztlich aus dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, das den öffentlichen Einrichtungen, die Wissenschafts- und/oder Forschungszwecken dienen, unmittelbar zugeordnet ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.03.1992 - 1 BvR 454/91 u. a. -, BVerfGE 85, 360, juris Rn. 78; auch § 3 Abs. 1 Satz 1 LHG). Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist nicht nur bei (unmittelbaren) Eingriffen in organisatorische Strukturen, sondern auch dann berührt, wenn, was hier in Betracht kommt, die geschützte Betätigung (mittelbar) faktisch behindert wird. Denn die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schließt das Einstehen des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft und Forschung und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet den Staat, sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen (vgl. BVerfG, Urt. v. 29.05.1973 - 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 -, BVerfGE 35, 79 <114>; Urt. v. 10.03.1992, a.a.O.). Dass die Klägerin nicht auch Eigentümerin der für ihre Forschungstätigkeit benötigten Dienstgebäude, -räume und -grundstücke ist, diese ihr vielmehr vom Land Baden-Württemberg lediglich im Wege der Zuweisung bereit gestellt wurden bzw. werden (vgl. VwV Liegenschaften v. 28.12.2011 - Az.: 4-3322.0/23 -, GABl. 2012, 6 ff.), ändert nichts. Dies verdeutlicht nur, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keinen Bestandsschutz vermittelt. Der Klägerin geht es jedoch nicht um Bestandsschutz, sondern um Funktionsschutz ihrer fortbestehenden Einrichtungen (vgl. Bethge, in Sachs, GG 7. A. 2014, Art. 5 Rn. 216). Dabei ist zu beachten, dass Forschung aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit auf Langfristigkeit und Stetigkeit angelegt ist (vgl. Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. IV 2011, § 100 Rn. 41).
51 
Ob die Klägerin tatsächlich (noch) in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt wird oder dies aufgrund umfangreicher Schutzmaßnahmen und planfestgestellter Änderungen (inzwischen) ausgeschlossen sein könnte, ist keine Frage der Klagebefugnis, sondern der Begründetheit (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
52 
4. Einer vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG; vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG, § 70 LVwVfG).
II.
53 
Der Anfechtungsantrag ist auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten. Er verstößt gegen § 30 Abs. 1 oder jedenfalls Abs. 3 BauGB i.V.m. dem Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 und gegen das Abwägungsgebot nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG. Da diese erheblichen, die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellenden Mängel bei der Abwägung weder durch Planergänzung noch durch ein ergänzendes verfahren behoben werden können, ist der Planfeststellungsbeschluss insgesamt aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 Satz 2 PBefG).
54 
Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss in seiner geänderten Gestalt sind §§ 28 und 29 PBefG i.V.m. §§ 72 ff. LVwVfG, insbesondere § 76 Abs. 1 LVwVfG. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit darauf beschränkt, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat, ob in sie an Belangen eingestellt worden ist, was nach Lage der Dinge einzustellen war, ob die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange richtig erkannt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht. Das Abwägungsgebot wird nicht dadurch verletzt, dass die Planfeststellungsbehörde bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurücksetzung eines anderen entscheidet. Nach § 29 Abs. 8 PBefG sind Mängel der Abwägung der von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind; erhebliche Mängel bei der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können; die §§ 45 und 46 VwVfG und die entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen bleiben unberührt.
55 
1. Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt dem Vorhaben allerdings nicht schon die erforderliche Planrechtfertigung. Insofern kann offen bleiben, ob sich die Klägerin als nicht mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung, sondern nur mittelbar in ihrer Forschungsfreiheit Betroffene überhaupt auf ein Fehlen der Planrechtfertigung etwa deshalb berufen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.11.2006 - 4 A 2001.06 -, BVerwGE 127, 95), weil dieses Erfordernis eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116).
56 
Das Erfordernis der Planrechtfertigung ist bereits dann erfüllt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben gemessen an den Zielsetzungen des jeweiligen Fachplanungsgesetzes - hier des Personenbeförderungsgesetzes - ein Bedarf besteht, die geplante Maßnahme unter diesem Blickwinkel also erforderlich bzw. vernünftigerweise geboten ist. Dies ist hier aufgrund der mit dem Vorhaben verfolgten Zielsetzung, den öffentlichen Personennahverkehr im Neuenheimer Feld zu verbessern (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.04.2005 - 9 A 56.04 -, BVerwGE 123, 286; Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13), der Fall. Denn das Personenbeförderungsgesetz verfolgt insbesondere das Ziel einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs im Orts- oder Nachbarschaftsbereich (vgl. §§ 4 Abs. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 PBefG; auch § 13 Abs. 2 Nr. 3 PBefG; hierzu OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319 m.w.N.; HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360). Dass ein konkreter Bedarf einer Straßenbahnverbindung ins Neuenheimer Feld im Erläuterungsbericht auch nicht ansatzweise durch nachvollziehbare Angaben belegt wird (a.a.O., S. 14), ist zwar im Rahmen der Abwägung von Bedeutung, stellt aber nicht schon die Planrechtfertigung in Frage; denn von einem "offensichtlichen planerischen Missgriff" (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.10.2014 – 9 B 29.14 -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 237) kann aus diesem Grund noch nicht gesprochen werden.
57 
Zweifel am Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung bestehen auch nicht deshalb, weil das Vorhaben nicht realisierbar wäre. Die Planrechtfertigung bestünde unter diesem Gesichtspunkt nur dann nicht, wenn die Verwirklichung des Vorhabens bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses auszuschließen war, weil sie nicht beabsichtigt oder objektiv ausgeschlossen war (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.07.2010 - 7 VR 4.10 -, NVwZ 2010, 533 m.N.).
58 
Allein der Umstand, dass ein Vorhaben wegen ihm derzeit entgegenstehender, im Wege der Abwägung nicht überwindbarer zwingender Rechtsvorschriften nicht zugelassen werden kann, lässt die Planrechtfertigung allerdings noch nicht entfallen. Insofern ist die Planrechtfertigung nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bebauungsplan "Neues Universitätsgebiet" derzeit einer Zulassung des Vorhabens entgegensteht (dazu unter 2.), zumal dieser aufgehoben oder geändert werden könnte. Dass das Vorhaben in seiner geänderten Gestalt wegen der mit dem Abriss des Gebäudes INF 154 „im Vorfeld“ verbundenen Wirkungen nicht realisierbar wäre, ist nicht zu erkennen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die für die (zur Entwässerung der Gleisanlage) vorgesehene Abwasserversickerung noch erforderliche wasserrechtliche Erlaubnis oder Bewilligung nicht noch - entsprechend den unionsrechtlichen Anforderungen an die Gewässerverträglichkeit - erteilt werden könnte. Abgesehen davon könnte das anfallende Abwasser auch anderweit beseitigt werden.
59 
Dass das Vorhaben bislang möglicherweise nicht derart in das GVFG-Bundesprogramm 2013 bis 2017 aufgenommen ist, dass eine Finanzierung mit GVFG-Mittel zu erwarten ist, stellt die Planrechtfertigung ebenso wenig in Frage (vgl. HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360; OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319). Denn die Finanzierung eines planfestgestellten Vorhabens ist im Rahmen der Planrechtfertigung nur von Bedeutung, wenn sie von vornherein ausgeschlossen erscheint und damit die Realisierung des Vorhabens eindeutig nicht möglich ist (vgl. Senatsurt., Urt. v. 06.04.2006 – 5 S 847/05 –, UPR 2006, 454; Urt. v. 02.11.2004 – 5 S 1063/04 –, UPR 2005, 118) bzw. dem Vorhaben „unüberwindliche“ finanzielle Schranken entgegenstehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.11.2013 - 9 A 14.12 -, BVerwGE 148, 373). Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein.
60 
Die erforderliche Planrechtfertigung lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit auch nicht mit der Erwägung verneinen, die Verwirklichung des planfestgestellten Vorhabens sei von den für die Durchführung maßgeblich Verantwortlichen in Wahrheit gar nicht mehr beabsichtigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1989 - 4 C 41.88 -, BVerwGE 84, 123). Ausweislich eines Vermerks für die Regierungspräsidentin vom 24.04.2015 (vgl. /41 der Verfahrensakten betreffend die 1. Planänderung) hatte sich der Leiter des Amts für Verkehrsmanagement der Stadt Heidelberg, die immerhin mittelbar mit 27,8 % Gesellschaftsanteilen und unmittelbar mit 25% Stimmanteilen an der Beigeladenen beteiligt ist, allerdings dahin geäußert, dass Oberbürgermeister W. das Verfahren nur weiterbetreibe, um später sagen zu können, dass die Kläger ihnen die Straßenbahn „kaputt gemacht“ hätten. Insofern war nach dem Vermerk auch bei der Planfeststellungsbehörde der Eindruck entstanden, dass vor allem die Stadt Heidelberg nicht mehr an einer Realisierung der Straßenbahn interessiert sei, sondern man die Suche nach einem „Sündenbock“ aufgenommen habe. Zwar beurteilt sich die Frage nach dem Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung für das Vorhaben gerade in seiner geänderten Gestalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.2009 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 69) nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses. Die Beigeladene hat jene Äußerungen jedoch inzwischen relativiert und erklärt, dass sie - und auch die Stadt Heidelberg als ihre Gesellschafterin - nach wie vor an dem Vorhaben festgehalten hätten. Auch der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel mehr geäußert.
61 
2. Die Zulassung des Planvorhabens im Neuenheimer Feld ist jedoch rechtswidrig und verletzt dadurch die Klägerin in ihren Rechten, weil sie zwingenden, auch nicht durch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB überwindbaren Festsetzungen des rechtswirksamen Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 widerspricht (vgl. § 30 BauGB), die auch dem Schutz der Klägerin dienen.
62 
a) Die planfestgestellte Straßenbahntrasse durchschneidet nicht nur die im Bebauungsplan festgesetzte „Bauvorbehaltsfläche“ für die Universität (vgl. § 8 Abs. 2c AufbauG), sondern verläuft innerhalb der Baugrenzen (vgl. § 8 Abs. 2e AufbauG) für die dort allein zulässigen baulichen Anlagen, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. B. a) Art der Nutzung). Ö f f e n t l i c h e Verkehrsanlagen sind innerhalb dieser Grenzen nicht vorgesehen. Solche sind im Bebauungsplan vielmehr bewusst nicht festgesetzt worden, um das Gebiet, das einem Sondergebiet nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BauNVO entspricht („Hochschulgebiet“), künftig - mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte - in sich geschlossen und vom öffentlichen Verkehr frei zu halten (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 15.10.2004 - 5 S 2586/03 -, BRS 67 Nr. 87); die Tiergartenstraße sollte aus diesem Grunde als öffentlicher Weg eingezogen werden. Insoweit sollte auch eine abschließende Regelung getroffen werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998 - 8 S 315/98 -, BRS 60 Nr. 140). Daran ändert nichts, dass sich der Erläuterungsbericht verschiedentlich zur verkehrlichen Erschließung verhält, denn insoweit sollten gerade keine bzw. noch keine Regelungen getroffen werden. Die angesprochenen Verkehrsflächen sollten nach den Vorstellungen des Plangebers zudem außerhalb der Baugrenze vorgesehen werden bzw. - wie die damals noch vorhandene OEG-Güterlinie - dorthin verlegt werden. Aus Rücksicht auf eine künftige Außenerschließung blieben die Baugrenzen auch hinter der Bauvorbehaltsflächengrenze zurück. Dass es, worauf der Beklagte erstmals im Schriftsatz vom 31.03.2016 hingewiesen hat, bei der Aufstellung älterer Bebauungspläne für die angrenzenden Gebiete - etwa des Bebauungsplans „Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 - noch planerische Überlegungen zu einer öffentlichen Erschließung auch von Teilen des Gebiets westlich der Frankfurter (bzw. Berliner) Straße gegeben hat, ist für die Auslegung des später aufgestellten Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ nicht von Bedeutung. Denn weder der Erläuterungsbericht noch der Bebauungsplan selbst knüpft an diese Vorstellungen an. Insbesondere findet sich darin kein „Querstraßenanschluss“ zur Tiergartenstraße mehr, wie er im Bebauungsplan vom 19.05.1956 noch als „geplant, aber nicht festzustellen“ eingetragen war.
63 
Anders als die Planfeststellungsbehörde meint, stellt das planfestgestellte Vorhaben auch keine nach dem Bebauungsplan zulässige „öffentliche Versorgungsanlage“ dar. Damit sind ersichtlich nur der Versorgung des Gebiets dienende Nebenanlagen gemeint (vgl. § 14 Abs. 2 BauNVO).
64 
b) Der entsprechend § 173 Abs. 3 BBauGB 1960 übergeleitete Bebauungsplan ist, jedenfalls was die hier in Rede stehende(n) Festsetzunge(en) angeht, entgegen der Auffassung der Planfeststellungsbehörde, die sich insoweit zudem möglicherweise eine ihr nicht zustehende Normverwerfungskompetenz angemaßt hat (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ. Urt. v. 09.09.2015 - 3 S 276/15 VBlBW 2016, 27 -), wirksam; er ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
65 
aa) Anhaltspunkte dafür, dass bei der Aufstellung des Plans das Verfahren nach dem Badischen Ortsstraßengesetz (OStG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 30.10.1936 (GVBl S. 179), 19.06.1937 (GVBl S. 245) nicht eingehalten worden wäre (vgl. § 9 AufbauG), sind nicht ersichtlich. Der Planentwurf vom 28.07.1960 war vom Gemeinderat (vgl. § 3 Abs. 1 OStG) der Stadt Heidelberg am 27.04.1961 beschlossen und vom Regierungspräsidium Nordbaden als zuständiger Aufsichtsbehörde (vgl. § 10 AufbauG) genehmigt worden. Er war mit seiner endgültigen Feststellung nach § 3 Abs. 6 OStG wirksam und am 13.10.1961 verkündet worden; der Ausfertigungsvermerk findet sich auf der Gemeinderatsvorlage vom 22.02.1961, auf der auch die Beschlussfassung vom 27.04.1961 dokumentiert ist.
66 
Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Bebauungsplan den nach der Übergangsvorschrift des § 174 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbaugesetzes (BBauG) vom 23.06.1960 weiterhin maßgeblichen Vorschriften des § 8 des württembergisch-badischen Aufbaugesetzes vom 18.08.1948 (RegBl S. 127), 16.05.1949 (RegBl S. 87) widerspräche. Die vom Beklagten als Beleg für seine gegenteilige Auffassung aufgestellten Rechtsbehauptungen treffen nicht zu. Das württembergisch-badische Aufbaugesetz erforderte keineswegs eine hinreichend konkretisierte Planung, in der a l l e in § 8 Abs. 1 Satz 2 AufbauG angesprochenen Gesichtspunkte der städtebaulichen Entwicklung zu regeln waren, was die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplans ausgeschlossen hätte. So sah § 7 Abs. 1 AufbauG - insoweit mit § 1 Abs. 3 BauGB vergleichbar - vor, dass die Gemeinden n a c h B e d ü r f n i s Bebauungspläne aufzustellen haben, w e n n die Entwicklung dies e r f o r d e r t. § 8 Abs. 1 AufbauG sah auch - vergleichbar mit § 1 Abs. 5 und 6 BauGB - nur die B e r ü c k s i c h t i g u n g verschiedener Bedürfnisse vor. Auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG folgt nichts anderes. Dass die Bebauungspläne die dort aufgeführten Festsetzungen in Lageplänen enthalten mussten, kann nur so verstanden werden, dass diese, so sie nach § 7 Abs. 1 AufbauG erforderlich waren, auch in den Lageplänen darzustellen waren (vgl. auch den Ersten Durchführungserlass zum Aufbaugesetz v. 05.02.1949 Nr. 6672/IV zu § 8 Abs. 2); dies ist hier erfolgt. Die gegenteilige Auslegung des Beklagten, die entgegen seiner Ansicht auch nicht durch das von ihm insoweit in Bezug genommenen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19.06.1959 - II 170/58 - gestützt wird, führte zu dem absurden Ergebnis, dass ein Bebauungsplan ungeachtet dessen, dass er zur Gewährleistung des Wiederaufbaus (vgl. § 1 Abs. 1 AufbauG) dringend erforderlich war, nicht hätte aufgestellt werden können, wenn für einzelne Festsetzungen (etwa nach § 8 Abs. 2f AufbauG) überhaupt kein Bedarf bestand. Von einem „Äquivalent zur Planzeichenverordnung“ kann allerdings nicht gesprochen werden. Denn die für die Darstellung zu verwendenden Planzeichen ergaben sich nach wie vor aus dem Runderlass des Ministeriums des Innern vom 06.07.1939 Nr. 56552 (BaVBl S. 787, vgl. hierzu den Ersten Durchführungserlass, a.a.O., zu §§ 7-11 a.E.). Nach alledem kann dahinstehen, ob es sich um einen einfachen Bebauungsplan i.S. des § 30 Abs. 3 BauGB handelt; allein daraus, dass er keine positiven Festsetzungen zu öffentlichen Verkehrsflächen enthält, dürfte sich letzteres aufgrund der beabsichtigten abschließenden Regelung freilich noch nicht ergeben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998, a.a.O.). Öffentliche Verkehrsflächen waren auch nicht deshalb erforderlich, weil - wie der Beklagte meint - öffentliche Einrichtungen ausschließlich durch öffentliche und nicht durch - tatsächlich öffentlichen Verkehr zulassende - Privatstraßen erschlossen werden könnten. Vielmehr kann die Binnenerschließung zu öffentlichen Zwecken gewidmeter Flächen durchaus durch Privatstraßen erfolgen, wenn diese - wie hier - ihrerseits an öffentliche Straßen angeschlossen sind (Außenerschließung). Sollte die „wenig benutzte“ Güterlinie der OEG - wie die Beigeladene geltend macht - bei Erlass des Bebauungsplans noch betrieben worden sein, führte dies zwar, da der Bebauungsplan deren Bestand unberührt ließ, zu einem gewissen Nutzungskonflikt. Dieser sollte und konnte jedoch durch eine spätere Aufhebung oder Verlegung gelöst werden, da die OEG dem nicht entgegengetreten war, sondern lediglich beanstandet hatte, dass nicht bereits der Bebauungsplan dies vorsah (/169 der Bebauungsplanakten). Insofern kann darin auch kein Verstoß gegen das Konfliktbewältigungsgebot und damit auch nicht gegen das allgemeine Gebot gerechter Abwägung gesehen werden, was eine Überleitung des Bebauungsplans ausgeschlossen hätte (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.10.1972 - IV C 14.71 -, BVerwGE 41, 67).
67 
bb) Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind auch nicht inzwischen dadurch funktionslos geworden, dass auf den vom Land Baden-Württemberg im Zuge der mit der Stadt Heidelberg in den Jahren 1969/70 geschlossenen städtebaulichen Verträge im Universitätsgebiet hergestellten Privatstraßen tatsächlich öffentlicher Verkehr stattfindet und die sog. Nordtrasse (heute Straße Im Neuenheimer Feld) seitdem - weil der Kurpfalzring bislang nicht ausgebaut worden ist - nach wie vor für den öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Die Nordtrasse ist für den öffentlichen Durchgangsverkehr von vornherein nur bis zur Fertigstellung des im Generalverkehrsplan 1969 vorgesehenen Ausbaus des Kurpfalzrings (Klausenpfad) gewidmet worden; nach dessen Fertigstellung soll sie von der Stadt entschädigungslos entwidmet werden (vgl. die dem Vertrag v. 06.11.1969 anliegende, vom Land gewählte Alternative A, Anl. 3 zum Antragsschriftsatz der Klägerin v. 30.03.2014 - 5 S 1444/14 -). Auch wenn damit eine vollständige Verwirklichung des mit dem Bebauungsplan verfolgten Ziels, das Gebiet insbesondere von Durchgangsverkehr frei zu halten, derzeit teilweise - nämlich im Bereich der vorhandenen Trasse der Straße Im Neuenheimer Feld - auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheinen mag, ist der Bebauungsplan doch nach wie vor geeignet, die Herstellung weiterer Verkehrsflächen, zumal für ein schienengebundenes öffentliches Verkehrsmittel zu verhindern, die das Gebiet weiter zerschneiden und die Möglichkeiten der Klägerin, das Gebiet nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, weiter beschneiden würden. Damit würde letztlich die seinerzeit beabsichtigte „Geschlossenheit“ des festgesetzten Universitätsgebiets konterkariert.
68 
c) Auch eine Befreiung von den dem Vorhaben entgegenstehenden Festsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB kommt nicht in Betracht und konnte daher auch nicht - wie nunmehr ausdrücklich geschehen - rechtmäßig im Planfeststellungsbeschluss erteilt werden, sollte sich die Konzentrationswirkung überhaupt auf eine solche Entscheidung erstrecken. Denn durch das Vorhaben werden bereits die „Grundzüge der Planung“ berührt. Ob diese berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39). Dies ist hier der Fall, da das Planvorhaben dem Grundkonzept, das Gebiet in sich geschlossen und vom - gebietsunverträglichen - öffentlichen (Durchgangs-) Verkehr weitgehend frei zu halten, ungeachtet der bereits Jahrzehnte andauernden Widmung der Straße Im Neuenheimer Feld für den öffentlichen Straßenverkehr diametral zuwiderläuft. Anders als in dem Falle, der dem Senatsurteil vom 15.10.2004 (a.a.O.) zugrunde lag, geht es nicht nur darum, dass das Vorhaben die Bauvorbehaltsfläche innerhalb der Baugrenze für die Universität um die Fläche für eine Straßenbahntrasse vermindert. Darüber hinaus kann aufgrund der defizitären Ermittlung und Bewertung der gegenläufigen Belange - auch derjenigen der Klägerin - derzeit auch nicht vom Vorliegen der übrigen Befreiungsvoraussetzungen (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, § 31 Abs. 2 BauGB a.E.) ausgegangen werden.
69 
d) Das planfestgestellte Vorhaben kann entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen auch nicht das sog. Fachplanungsprivileg nach § 38 BauGB für sich in Anspruch nehmen. Für die Zuerkennung des grundsätzlichen Vorrangs der Fachplanung gegenüber der Planungshoheit der Gemeinde ist nach der Neufassung der Vorschrift durch das Bau- und Raumordnungsgesetz vom 18.08.1997 (BGBl S. 2081) nicht mehr auf die voraussichtliche planerische Kraft der im Einzelfall betroffenen Gemeinde, sondern auf die überörtlichen Bezüge des Vorhabens abzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000 - 11 VR 5.00 -, UPR 2001, 33). Solche sind bei dem Bau von Straßenbahnen - anders als etwa bei Vorhaben nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.10.2000 - 11 VR 12.00 -, Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 51) und dem Bundesfernstraßengesetz allerdings nicht schon durch die durch das Fachplanungsgesetz - hier das Personenbeförderungsgesetz - begründete nicht-gemeindliche, überörtliche Planungszuständigkeit indiziert, mögen sie auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Denn Straßenbahnen sind - in Abgrenzung zu Eisenbahnen - definitionsgemäß nur solche Schienenbahnen, die ausschließlich oder überwiegend der Beförderung von Personen im O r t s- oder Nachbarschaftsbereich dienen (vgl. § 4 Abs. 1 PBefG; § 8 Abs. 1 PBefG, § 2 Abs. 5 AEG). Dienen sie wie hier der Beförderung von Personen im O r t s verkehr und wird nur das Gebiet einer Gemeinde berührt, kommt dem Vorhaben typischerweise keine überörtliche Bedeutung zu (vgl. Senatsurt. v. 15.10.2004, a.a.O.; Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB , § 38 Rn. 37, 152). Daran ändert auch der vom Beklagten und der Beigeladenen angeführte Umstand nichts, dass der Personennahverkehr überwiegend - wie auch hier - in Verkehrsverbünden organisiert ist (vgl. Runkel, a.a.O., § 38 Rn. 152), denn daraus folgt noch nicht die „Einbettung“ eines konkreten Straßenbahnvorhabens in ein überörtliches Verkehrsnetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000, a.a.O.). Denn allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Verkehrsverbund kommt noch nicht jeder Teilstrecke die gleiche, gegebenenfalls überörtliche Bedeutung in diesem Verkehrsnetz zu. Warum es sich deshalb anders verhalten sollte, weil mit der planfestgestellten Straßenbahn auch Einrichtungen von überörtlicher Bedeutung - insbesondere die im Neuenheimer Feld liegenden Universitätskliniken - erschlossen werden sollen, ist nicht zu erkennen. Der Beklagte und die Beigeladene übersehen, dass es um die überörtliche Bedeutung des Planvorhabens und nicht der von ihm erschlossenen öffentlichen Einrichtungen geht. Insofern kann die überörtliche Bedeutung auch nicht schon daraus hergeleitet werden, dass die „Universitätslinie“ Teil einer Straßenbahnverbindung vom bzw. zum Heidelberger Hauptbahnhof ist. Nach ihrer Argumentation käme letztlich jedem noch so unbedeutenden Straßenbahnvorhaben in einem Oberzentrum überörtliche oder gar überregionale Bedeutung zu, was letztlich die Anwendbarkeit des Personenbeförderungsgesetzes in einem solchen Fall in Frage stellte.
70 
e) Auf die Nichtbeachtung jener Festsetzungen des Bebauungsplans kann sich auch die Klägerin ungeachtet dessen berufen, dass nicht sie, sondern das Land Baden-Württemberg Eigentümer der für Zwecke der Universität genutzten Grundstücke ist. Denn die Festsetzung der Bauvorbehaltsfläche des Sondergebiets „Universität“ diente ersichtlich den Interessen und damit auch dem Schutz der Klägerin (vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO 11. A. 2008, § 11 Rn. 3). Dies lässt sich ohne weiteres dem beigefügten Erläuterungsbericht vom 28.07.1960 entnehmen. Danach entsprachen die in der Heidelberger Altstadt und im Bergheimer Viertel gelegenen Universitätsgebäude der Naturwissenschaften und der Medizin nicht mehr dem damaligen Stand der technischen Entwicklung und behinderten dadurch Forschung und Lehre. Zur Schaffung neuer, ausreichend bemessener Anlagen musste daher auf entsprechend große Flächen außerhalb des bebauten Stadtgebiets, und zwar auf das größere Gelände am rechten Neckarufer zurückgegriffen werden, das bereits der Wirtschaftsplan von 1935 als Universitätsviertel ausgewiesen hatte. Die dortigen Ansatzpunkte und Ausdehnungsmöglichkeiten ließen es zu, diesen Teil der Universität als geschlossene Anlage mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte zu schaffen. Zur Bereitstellung des erforderlichen Geländes wurde eine Widmung des zukünftigen Universitätsbereichs einschließlich aller Folgeeinrichtungen als Bauvorbehaltsfläche für die Zwecke der Universität als dringend erforderlich angesehen.
71 
Der Annahme eines ihr durch diese Festsetzung vermittelten subjektiv-rechtlichen Drittschutzes steht auch nicht entgegen, dass bauplanerische Festsetzungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) grundsätzlich grundstücks- und nicht personenbezogen sind (Repräsentationsprinzip; vgl. hierzu etwa Mager/Fischer, VBlBW 2015, 313 ff.). Denn bei der Aufstellung von Bebauungsplänen sind bzw. waren auch sonstige Belange zu berücksichtigen (vgl. § 1 Abs. 6 BauGB, insbes. § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB: „Belange des Bildungswesens“; § 8 Abs. 1 AufbauG: „kulturelle Bedürfnisse“), sodass es dem Plangeber - insbesondere kraft Bundesrechts (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 14.06.1968 - IV. C 44.66 -, BRS 20 Nr. 174) - nicht verwehrt ist, durch bestimmte, im Hinblick auf solche Belange getroffene Festsetzungen auch sonstigen Nutzungsberechtigten von Grundstücken wehrfähige Nachbarrechte im Ortsrecht zuzuerkennen (vgl. Battis/Krautzberger/ Löhr, BauGB 10. A. 2007 , § 31 Rn. 95 m.w.N.; Schlichter, NVwZ 1983, 641 <646>). Einer solchen Auslegung steht hier auch nicht entgegen, dass „lediglich“ ein entsprechend § 173 Abs. 3 BBauG übergeleiteter Bebauungsplan in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13.94 -,BVerwGE 101, 364).
72 
3. Unabhängig davon leidet der Planfeststellungsbeschluss - auch in seiner geänderten Gestalt - noch an beachtlichen Abwägungsmängeln (vgl.§ 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG) zum Nachteil der Klägerin. Denn die Planfeststellungsbehörde hat den schutzwürdigen Belang der Klägerin, von abträglichen Wirkungen des Vorhabens auf die derzeitige und künftige Forschungstätigkeit ihrer Einrichtungen verschont zu bleiben, in der Abwägung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG fehlerhaft behandelt. Denn sie hat sich entgegen ihres gesetzlichen Auftrags ohne eigene Feststellung und Bewertung der insoweit wesentlichen Tatsachen auf eine bloße Evidenzkontrolle der von der Beigeladenen vorgelegten Planung beschränkt (a). Daran hat auch der Änderungsplanfeststellungsbeschluss, insbesondere die darin angestellte „Gesamtbetrachtung“, nichts zu ändern vermocht. Mangels hinreichender eigener Feststellungen und Bewertungen der insoweit für die Abwägung wesentlichen Tatsachen durch die Planfeststellungsbehörde ist die Abwägungserheblichkeit der Belange der Klägerin auch nicht nachträglich entfallen (b). Eine weitere gerichtliche Erforschung des Sachverhalts ist insoweit - entgegen der Ansicht des Beklagten und der Beigeladenen - nicht geboten (c).
73 
a) Der Planfeststellungsbeschluss leidet bereits an einem kompletten Abwägungsausfall oder doch einem umfassenden Abwägungsdefizit, weil die Planfeststellungsbehörde sich entgegen ihrer Planungsaufgabe nach dem Personenbeförderungsgesetz, die Planung des Vorhabenträgers einer sachgerechten - wenn auch teilweise nur nachvollziehenden - eigenen Abwägung zu unterziehen, bewusst auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle beschränkt hat.
74 
Insofern erweisen sich nicht nur die Entscheidung zugunsten der planfestgestellten Variante A2 - und damit gegen die von der Klägerin favorisierten Varianten, insbesondere die Variante A1 („Klausenpfad“) -, sondern auch die konkrete Trassenführung und -gestaltung und das zum Schutz der Einrichtungen der Klägerin vorgesehene Schutzkonzept als abwägungsfehlerhaft. Diese Mängel sind, da sie sich ohne weiteres aus dem Planfeststellungsbeschluss ergeben, offensichtlich und schon deshalb auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, weil bei einer fehlerfreien Abwägung eine Entscheidung zugunsten der Variante A1 nicht nur konkret in Betracht kam (vgl. auch die undatierte Pressemitteilung www.uni-heidelberg.depresse/news/08/pm280415 -9str.html - der Stadt Heidelberg über eine zunächst gefundene Einigung auf einen Trassenverlauf über den Klausenpfad; § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG), sondern sich, wenn man den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss folgt, sogar als vorzugswürdig aufdrängte. Darauf, ob die vorgesehenen Schutzmaßnahmen zumindest gewährleisteten, dass die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze zum Nachteil der Klägerin nicht überschritten wird (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG), kommt es nicht mehr an, da die Abwägung es damit nicht bewenden lassen durfte.
75 
Die Planfeststellungsbehörde begründet ihre Entscheidung zugunsten der beantragten Variante A2 im Planfeststellungsbeschluss vom 10.06.2014, soweit sich darin hierzu überhaupt eigenständige Erwägungen der Behörde finden, zusammenfassend damit (S. 335 f.), dass sich bei der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Alternativlösungen im Ergebnis keine Alternative als „ e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r d i g“ bzw. die Antragsvariante „aus verkehrlicher Sicht“ aufgedrängt habe. Auch wenn bei der Trasse A1 deutlich weniger Einrichtungen den von dem Vorhaben ausgehenden Wirkungen ausgesetzt wären, sei dies nicht der allein ausschlaggebende Gesichtspunkt gewesen. Aufgrund der konkreten Zielsetzungen des Vorhabenträgers und der vorgesehenen Schutzmaßnahmen „d r ä n g e s i c h i h r n i c h t a u f“, dass die Vorteile der Variante A1 die Vorteile des beantragten Neubaus „in einer Weise“ überwögen, dass sie sich als „e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r- d i g“ erweise.
76 
Bereits aus diesen Ausführungen erhellt, dass die Planfeststellungsbehörde - auch bei Berücksichtigung ihrer weiteren Ausführungen zu den einzelnen Planungsalternativen - ihre gesetzliche Planungsaufgabe gänzlich verfehlt hat. Ob sie sich ohnehin an die vom Heidelberger Gemeinderat im November 2005 beschlossene Alternativen-Entscheidung („Maßnahmenbeschluss“) gebunden gefühlt hat, mag dahinstehen.
77 
Die von der Planfeststellungsbehörde mehrfach gebrauchte Wendung, dass sich eine andere Alternative „nicht als eindeutig vorzugswürdig aufgedrängt“ habe, vermag eine nachvollziehbare Begründung einer - in eigener Verantwortung für die Planung abwägungsfehlerfrei zu treffenden - Auswahlentscheidung von vornherein nicht zu ersetzen, da damit nur ein für die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle einer behördlichen Variantenentscheidung geltender Prüfungsmaßstab in Bezug genommen wird (vgl. Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011 - 7 MS 72/11 -). Die Prüfung, ob eine Auswahlentscheidung nach diesem Maßstab Bestand haben wird, obliegt nicht der Planfeststellungsbehörde, sondern dem erkennenden Verwaltungsgerichtshof. Die hierbei geltenden Einschränkungen der Kontrolle sind auch nur gerechtfertigt, weil eine demokratisch legitimierte Planfeststellungsbehörde zuvor die rechtliche Verantwortung für die Planung übernommen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1994, a.a.O., Rn. 21; BayVGH, Urt. v. 24.05.2011 - 22 A 10.40049 -, UPR 2011, 449). Dies ist umso mehr erforderlich, als einem Planfeststellungsbeschluss enteignungsrechtliche Vorwirkung zukommt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 -). Dies gilt erst recht, wenn der Vorhabenträger - wie die Beigeladene - privatrechtlich organisiert ist.
78 
Eine eigene Planungsentscheidung hat der Beklagte aufgrund seines fehlerhaften Ansatzes auch in der Sache nicht getroffen, denn er hat die Planunterlagen der Beigeladenen nicht, wie dies eigentlich erforderlich gewesen wäre, einer e i g e n s t ä n d i g e n rechtlichen Prüfung unterzogen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, Buchholz 406.400 § 19 BNatschG 2002 Nr. 7, juris Rn. 85). Einer solchen Prüfung war der Beklagte auch nicht deshalb enthoben, weil eine zur Planfeststellung vorgelegte Planung - aufgrund der Antragsbindung bzw. des Vorhabenbezugs - teilweise nur nachvollziehend abgewogen werden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, Urt. v. 24.11.1994 - 7 C 25.93 -, BVerwGE 97, 143, juris Rn. 20 u.21; Urt. v. 17.01.1986 - 4 C 6.84, 4 C 7.84 -, BVerwGE 72, 365; Senatsurt. v. 13.04.2000 - 5 S 1136/98 - u. v. 10.11.2011 - 5 S 2436/10 -; Steinberg/Wickel/Müller, a.a.O., S. 191 Rn. 1; Wickel in: HK-VerwR § 72 Rn. 31, 33 f.; krit. zu diesem Begriff Lieber, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 74 Rn. 34; Vallendar/Wurster, in Beck’scher AEG Komm., 2. A. 2014, § 18 Rn. 140). Insbesondere folgt aus dem Begriff „nachvollziehend“ nicht, dass die Planung für die Planfeststellungsbehörde etwa nur „nachvollzieh b a r“ sein müsste.
79 
Beim Abwägungsgebot im Fachplanungsrecht ist unter „nachvollziehender Abwägung“ - entgegen der offenbar vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung (vgl. Urt. v. 27.11.2012 - 22 A 09.40034 -; Urt. v. 13.10.2015 - 22 A 14.40037 - im Anschluss an Vallendar, in: Beck’scher AEG Komm. 2006, § 18 Rn. 119) - auch nicht eine Abwägung zu verstehen, wie sie im Rahmen einer gebundenen Vorhabenzulassung (vgl. zum Bauplanungsrecht BVerwG, Urt. v. 24.10.2013 - 7 C 36.11 -, BVerwGE 148, 155), im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung oder bei der Frage der „Beeinträchtigung“ des Wohls der Allgemeinheit i. S. des § 31 WHG anzunehmen ist und hier einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren Vorgang der Rechtsanwendung meint (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.2014 - 4 B 47.13 -, BRS 82 Nr. 109). Insofern geht auch der Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss (S. 54) auf das Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 29.03.2013 - 3 S 284/11 - (juris Rn. 125) fehl. Auch eine solche „nachvollziehende Abwägung“ hat die Planfeststellungsbehörde freilich nicht vorgenommen, weil sie selbst nicht „nachvollziehend“ abgewogen, sondern die Planung der Vorhabenträgerin lediglich als „nachvollzieh b a r“ und p l a u s i b e l angesehen hat.
80 
Eine sachgerechte - zumindest „nachvollziehende“ - Abwägung der verschiedenen Varianten war ihr aufgrund der unzureichenden Planunterlagen allerdings auch nicht möglich. Denn der im Erläuterungsbericht enthaltene „Vergleich der Varianten“ (a.a.O., S. 15 ff.) besteht im Wesentlichen nur aus einer zusammenfassenden Darstellung des Entscheidungsprozesses im Heidelberger Gemeinderat von 1992 bis zum „Maßnahmenbeschluss“ im November 2005, mit dem dieser sich für die Variante A2 entschieden hatte.
81 
Zwar unterliegt auch die Überprüfung der Variantenauswahl durch die Planfeststellungsbehörde aufgrund der Antragsbindung gewissen Einschränkungen. Dies gilt aber nur für die eigentliche (endgültige) planerische Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Alternativen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 39.07 -,BVerwGE 133, 239). Dies entbindet die Planfeststellungsbehörde jedoch nicht von ihrer Pflicht, zuvor alle ernsthaft in Betracht kommenden Planungsalternativen auch selbst ernsthaft in Betracht zu ziehen und zu prüfen, und zwar - entgegen der Auffassung des Beklagten - unabhängig davon, ob sie sich ihr „aufdrängten“ oder nicht (vgl. Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. A. 2012, § 3 Rn. 183 f.). Ihre Pflicht zur Ermittlung, Bewertung und Gewichtung einzelner Belange im Rahmen der Variantenprüfung ist damit für die Planfeststellungsbehörde in keiner Weise zurückgenommen (vgl. BVerwG, Gerichtsbesch. v. 21.09.2010 - 7 A 7.10 -, juris, Rn. 17 unter 2.d; Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075/04 -, BVerwGE 125, 116, juris Rn. 98; Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011, a.a.O.). Erst bei der eigentlichen (endgültigen) Auswahlentscheidung ist sie - im Hinblick auf die planerische Gestaltungsfreiheit des Vorhabenträgers - auf die Prüfung beschränkt, ob dessen Erwägungen vertretbar und damit geeignet sind, die (endgültige) Variantenwahl zu rechtfertigen u n d ob - und ggf. aus welchen Gründen - sie sich diese zu eigen machen will (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009, a.a.O.). Nach dem auch für sie geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 LVwVfG; hierzu BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, a.a.O.; Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 8. A., 2014 § 74 Rn. 8) hat die Planfeststellungsbehörde jedoch zuvor die eine sachgerechte Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange erst ermöglichenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen (und zu bewerten) und hierzu erforderlichenfalls auch noch weitere eigene Ermittlungen anzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.1992 - 4 B 1.92 u. a., -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89; Beschl. v. 02.04.2009 - 7 VR 1.09 -; Urt. v. 24.03.2011, a.a.O.).
82 
Diesen Anforderungen des Abwägungsgebots entspricht die von der Planfeststellungsbehörde getroffene Entscheidung aufgrund ihres verfehlten Ansatzes in keiner Weise.
83 
So begnügte sich die Planfeststellungsbehörde - jedenfalls ganz überwiegend - damit, den gegen die Antragsvariante vorgebrachten, durchaus substantiierten Einwendungen - auch der Klägerin - jeweils die gegenteilige Sicht der Beigeladenen gegenüberzustellen, um im Anschluss daran - ohne eigenständige Begründung - auszuführen, dass die Annahmen der Einwender und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „nicht geteilt“ würden, dass sie „sich die Ausführungen des Vorhabenträgers zu eigen mache“, sie „keine b e - l a s t b a r e n Anhaltspunkte bzw. Erkenntnisse“ dafür habe, dass sich dessen Ausgangsüberlegungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „(e i n d e u t i g) unzutreffend oder fehlgewichtet“ darstellen könnten und daher „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ bzw. „nicht zu beanstanden“ seien. Diese im Beschluss ständig wiederkehrenden Wendungen erweisen, dass sich die Planfeststellungsbehörde von vornherein - jedenfalls ganz überwiegend - auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle jeglicher von der Vorhabenträgerin der Planung zugrunde gelegten Annahmen beschränkt hat und dass sie - nach einer ebenfalls nur eingeschränkten Prüfung - auch deren tatsächliche und rechtliche Bewertungen und Gewichtungen der Einzelbelange - auch derjenigen der Klägerin - übernommen hat. Ein solches Vorgehen ist mit der Aufgabe einer Planfeststellungsbehörde, der ungeachtet des Vorhabenbezugs ein Planungsermessen eingeräumt ist und die insofern eine eigenständige, wenn auch teils nur nachvollziehende abwägende Entscheidung zu treffen hat, schlechterdings nicht vereinbar.
84 
Zwar trifft es zu, wie die Beigeladene einwendet, dass allein ein etwaiger Begründungsmangel noch nicht den Schluss auf einen Abwägungsmangel rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011, a.a.O., Rn. 84). Hier liegt jedoch nicht nur ein bloßer formeller Mangel in der Dokumentation oder Begründung vor, sondern ein im Planfeststellungsbeschluss an zahllosen Stellen dokumentierter grundlegender materieller Abwägungsmangel. Den aufgezeigten Formulierungen - wie „nicht e i n d e u t i g unzutreffend oder fehlgewichtet“, „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ kommt auch keineswegs nur eine - letztlich unerhebliche - „semantische“ Bedeutung zu, wie der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf einen dem Verfasser des Planfeststellungsbeschlusses eigenen Stil geltend gemacht hat.
85 
Da auch die Entscheidungen über die der Beigeladenen erteilten „Schutzauflagen“ von dem vorbezeichneten Mangel betroffen sind, lässt sich auch aus deren Beifügung nicht auf eine eigene Abwägung schließen, zumal die Schutzauflagen zu einem großen Teil ohnehin nicht von der Planfeststellungsbehörde, sondern von der Anhörungsbehörde, mithin der Stadt Heidelberg formuliert worden sind, die gleichzeitig Gesellschafterin der Vorhabenträgerin ist.
86 
Der von der Planfeststellungsbehörde gewählte Ansatz einer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung wird bereits auf der Ebene der Ermittlung, Bewertung und Gewichtung der für die Trassenwahl besonders bedeutsamen Auswirkungen des Vorhabens deutlich. Dies gilt insbesondere für die von dem Vorhaben ausgehenden Erschütterungen und elektromagnetischen Felder, gegen die sich die Klägerin wegen ihrer von diesen Wirkungen betroffenen Forschungseinrichtungen bzw. dort eingesetzter hochempfindlicher Geräte - vor allem an der Straße Im Neuenheimer Feld, aber auch im Botanischen Garten - hauptsächlich wendet. Gleiches gilt für die weiteren Auswirkungen des Vorhabens, insbesondere für die mit ihm verbundenen Zerschneidungswirkungen bzw. Einschränkungen hinsichtlich einer bedarfsgerechten Nutzung der Bauvorbehaltsfläche durch die Klägerin.
87 
Hinsichtlich der für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Beurteilung der Immissionswirkungen hat die Planfeststellungsbehörde dabei zunächst auf ihre Ausführungen unter Abschnitt B. III. 2.3 „Zwingendes Recht“ verwiesen (S. 326 ff.), wo stereotyp den Einwendungen - auch denen der Klägerin - („… wird geltend macht, …“) jeweils die gegenteilige Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. ihrer Gutachter gegenübergestellt wird („Der Vorhabenträger hat dazu ausgeführt, …“), um dies jeweils mit der Wendung abzuschließen, dass sie „keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte“ dafür habe, dass sich die gutachterlichen Einschätzungen, Annahmen und Schlussfolgerungen „im Ergebnis als unzutreffend“ oder „u n v e r t r e t b a r“ (!) darstellten bzw. die Überlegungen, Ansätze und Schlussfolgerungen des Fachgutachters „in einer Weise erschüttert“ würden, dass sich daraus ein „z w i n g e n d e r“ weitergehender Handlungsbedarf ergäbe.
88 
Vor diesem Hintergrund entbehrt auch das von der Planfeststellungsbehörde gezogene Fazit jeder tatsächlichen Grundlage, dass die Erschütterungswirkungen der Zulassung des Vorhabens „nicht zwingend“ entgegenstünden und dass mit den von der Vorhabenträgerin aufgrund umfangreicher fachgutachterlicher Expertisen vorgesehenen Schutzmaßnahmen den berechtigten Belangen der betroffenen Einrichtungen im Hinblick auf eine elektro-magnetische Verträglichkeit „angemessen Rechnung“ getragen werde.
89 
Diese Ausführungen lassen darüber hinaus erkennen, dass es der Planfeststellungsbehörde ohnehin nur darauf ankam, zwingendes Recht, und zwar die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG) einzuhalten, sie jedoch darüber hinaus für eine sachgerechte Abwägung mit dem Interesse der Klägerin, von weiteren - gerade auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen - nachteiligen Einwirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, tatsächlich nicht offen war. Dies zeigt auch der Umstand, dass sie es dahinstehen ließ, ob bei einer Trassenführung über den von der Klägerin favorisierten „Klausenpfad“ (Variante A1) deutlich weniger empfindliche Einrichtungen betroffen wären, und es nicht für aufklärungsbedürftig ansah, ob in dem dort gelegenen „Technologiepark“ überhaupt in vergleichbaren Entfernungen ebenso empfindliche Nutzungen stattfinden.
90 
Ohne entsprechende „belastbare“ Feststellungen erweist sich die von der Planfeststellungsbehörde wiedergegebene Sichtweise der Vorhabenträgerin, wonach beide Varianten hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit und der Erschütterungen „nahezu vergleichbar“ seien, keineswegs als „nachvollziehbar und plausibel“, sondern als nicht „vertretbar“.
91 
Dies gilt umso mehr, als die Planfeststellungsbehörde auch die bauplanungsrechtliche Situation - und die sie konkretisierenden städtebaulichen Verträge - nicht mit dem ihr zukommenden Gewicht zu Gunsten der Belange der Klägerin berücksichtigt hat, indem sie selbst hier - wiederum ohne erkennbar eigenständige Prüfung - die unzutreffende, rechtliche Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. des Rechtsamts der Stadt Heidelberg zugrunde gelegt hat. Die bestehende bauplanungsrechtliche Situation wäre indes bei der Abwägung nicht nur als wesentlicher städtebaulicher Belang, sondern auch als schutzwürdiges Interesse der betroffenen Einrichtungen an der Beibehaltung des bestehenden Zustandes (vgl. Senatsurt. v. 06.05.2011 - 5 S 1670/09 -, VBlBW 2012, 108) mit besonderem - grundrechtlichen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) - Gewicht zu berücksichtigen gewesen (vgl. Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13). Dies hätte auch dann gegolten, wenn sich die Beigeladene auf das Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB n.F. hätte berufen können. Selbst wenn der Bebauungsplan unwirksam wäre, hätte das Vorliegen eines seit den 1960iger Jahren tatsächlich vorhandenen Universitätsgebiets zugunsten der Klägerin angemessen berücksichtigt werden müssen.
92 
In städtebaulicher Hinsicht hat die Planfeststellungsbehörde zudem übersehen, dass der von ihr in den Vordergrund gerückte „Technologiepark“ jedenfalls ganz überwiegend im Geltungsbereich des „Bebauungsplans Handschuhsheim Langgewann II - Technologiepark Heidelberg“ vom 16.03.2000 liegt. Dieser erklärt aber nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Geschäfts-, Büro und Verwaltungsgebäude für zulässig. Zwar sollen dabei auch Forschungseinrichtungen, daneben aber auch Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen zulässig sein. Bei den danach zulässigen Nutzungsarten kann von einer vergleichbaren Schutzwürdigkeit wie im angrenzenden „Universitätsgebiet“ nicht die Rede sein. Denn auf der durch den Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung festgesetzten Bauvorbehaltsfläche sind lediglich bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. b) der Besonderen Bauvorschriften).
93 
Schließlich belegt der Hinweis der Planfeststellungsbehörde auf das Fehlen einer - von der Klägerin gar nicht geltend gemachten - Bestandsgarantie und den im Neuenheimer Feld weiterhin möglichen Wissenschaftsbetrieb, dass die Planfeststellungsbehörde das Gewicht des durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG besonders geschützten Belangs der Klägerin unterschätzt hat, ihre Forschungseinrichtungen von möglicherweise die Forschung beeinträchtigenden Auswirkungen des Vorhabens soweit als möglich zu verschonen. Diese unzutreffende Gewichtung kommt auch in den Bemerkungen des Vertreters der Planfeststellungsbehörde in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck, die Universität werde schon „nicht untergehen“, wenn die Straßenbahn durchs Neuenheimer Feld fahre. Zu Recht weist die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der Forschungsfreiheit aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten noch mehr als beim Eigentum auch mögliche künftige Nutzungen - auch auf den „Erweiterungsflächen“ der Universität - in den Blick zu nehmen waren. Der Umstand, dass solche Nutzungen noch nicht unmittelbar angestanden haben oder dass deren Realisierung aufgrund der bereits erreichten Bebauungsdichte möglicherweise zunächst den Abriss anderer Gebäude bedingte, mag für die Gewichtung dieses Belangs von Bedeutung sein, stellt indessen - nicht zuletzt im Hinblick auf den Prognosehorizont - dessen Abwägungserheblichkeit nicht in Frage. Anderes gilt auch nicht deshalb, weil die Klägerin nicht Eigentümerin jener „Erweiterungsflächen“ ist. Denn auch diese Flächen liegen im festgesetzten „Universitätsgebiet“ und sind nach dem nach wie vor wirksamen Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ grundsätzlich für die universitären Zwecke der Klägerin nutzbar. Insofern leidet die Entscheidung jedenfalls an einer Abwägungsfehlgewichtung, wenn nicht gar an einer Abwägungsdisproportionalität.
94 
Die Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss lassen auch nicht annähernd erkennen, dass insbesondere die von der Klägerin als vorzugswürdiger angesehene Variante A1 derartige Abstriche an den verkehrlichen Zielsetzungen der Vorhabenträgerin bedingt hätte, dass sie ungeachtet der betroffenen gegenläufigen Interessen, insbesondere des Interesses der Klägerin, von nachteiligen Auswirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, und ungeachtet des von der Planfeststellungsbehörde zu beachtenden Trennungsgrundsatzes (vgl. § 50 Satz 2 BImSchG) jedenfalls nicht hinzunehmen wären. Entgegen der Behauptung des Beklagten-Vertreters in der mündlichen Verhandlung war der Variante A2 gegenüber der Variante A1, der die Planfeststellungsbehörde durchaus auch gewisse Vorteile attestiert hat, lediglich aufgrund überwiegender Vorteile der Vorzug gegeben worden (a.a.O., S. 336). Solches ließe sich auch nicht bereits mit den angeführten Nachteilen hinsichtlich der Erschließungswirkung begründen (a.a.O., S. 335), zumal sich die Planfeststellungsbehörde im Hinblick auf das jeweilige Fahrgastaufkommen auf die Wendung zurückgezogen hat (S. 321), dass es sich aus ihrer Sicht „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ sei, wenn sich d e m V o r h a b e n t r ä g e r, der als Verkehrsunternehmer das stärkste Interesse habe, ein möglichst hohes Fahrgastpotential auszuschöpfen, die Beibehaltung einer bestehenden Linienführung a u f d r ä n g e (sic!). Entsprechende Abstriche wären hier indes umso eher gerechtfertigt gewesen, je gewichtiger die gegenläufigen Belange sind, insbesondere je einschneidender sich die nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens bei der Variante A2 auf die weitere Funktionsfähigkeit der derzeit und künftig betroffenen Forschungseinrichtungen der Klägerin erweisen. Über diese hätte sich die Planfeststellungsbehörde jedoch zunächst selbst Gewissheit verschaffen müssen, auch wenn dies für sie bzw. die hierzu zunächst berufene Anhörungsbehörde mit einem größeren Aufwand verbunden gewesen wäre. Dies gilt umso mehr, als der Erläuterungsbericht der Vorhabenträgerin einen besonderen Bedarf einer Straßenbahnverbindung anstatt einer Busverbindung ins Neuenheimer Feld zwar behauptet, jedoch auch nicht annähernd nachvollziehbar belegt hat. Inwiefern dies unbeachtlich sein sollte, weil die Stadt Heidelberg inzwischen eine - Ende 2011 fertiggestellte - aktuellere Verkehrsprognose in Auftrag gegeben habe (S. 129), erschließt sich nicht.
95 
All diese, sich bereits bei der Variantenentscheidung manifestierenden Mängel, die letztlich auf den falschen Prüfungsmaßstab der Planfeststellungsbehörde zurückzuführen sind, setzen sich bei der Entscheidung über die konkrete Trassenführung- und -gestaltung sowie bei der Entscheidung über das dabei vorzusehende Schutzkonzept (einschließlich der verfügten Nebenbestimmungen) fort. Denn auch hier hat sich die Planfeststellungsbehörde jedenfalls ganz überwiegend auf eine reine Evidenz- und Plausibilitätskontrolle zurückgezogen, ob insbesondere durch die von der Anhörungsbehörde vorgeschlagenen Nebenbestimmungen die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle eingehalten werden wird oder nicht. Ob wenigstens dies hinsichtlich der besonders kritischen Erschütterungswirkungen und elektromagnetischen Wirkungen sowie der weiteren, von der Klägerin beanstandeten Auswirkungen des Vorhabens tatsächlich gewährleistet sein könnte, bedarf - wie ausgeführt - vor dem Hintergrund der aufgezeigten grundlegenden Abwägungsmängel keiner Prüfung mehr.
96 
b) Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss sind auch unter Berücksichtigung der mit ihm festgestellten Planänderungen - insbesondere bei Berücksichtigung des im Bereich des Max-Planck-Instituts und der besonders betroffenen Institute der Klägerin vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts - nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundenen weiteren Abwägungsmängel zu beheben. Dies gilt ungeachtet dessen, dass einzelne, für die Abwägung erhebliche Umstände - etwa die derzeitige konkrete Betroffenheit bestimmter Geräte bzw. Gerätestandorte - aktuell nachermittelt wurden.
97 
Mit der anlässlich der 1. Planänderung von Amts wegen vorgenommenen „Gesamtbetrachtung“ wurde die bisher im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt. Das war ohne Weiteres zulässig (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG; § 114 Satz 2 VwGO). Insofern hätten sogar neue Erwägungen nachgeschoben werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.1991 - 7 B 65.91 -, Buchholz 451.22 AbfG Nr. 44). Da nur von „klarstellenden und vertiefenden“ Ausführungen die Rede ist und die Planfeststellungsbehörde Mängel der ursprünglich getroffenen Entscheidung gerade in Abrede gestellt hat, können die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allerdings nur so verstanden werden, dass lediglich die im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt, nicht jedoch eine neue Abwägungsentscheidung getroffen werden sollte (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. 20.12.1991 - 4 C 25.90 -, Buchholz 316 § 76 VwVfG Nr. 4). Auch der Sache nach wurde eine solche nicht getroffen. Abgesehen von der nunmehr ausdrücklich erteilten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB wurde die bereits getroffene Abwägungsentscheidung vielmehr nur im Hinblick auf den zwischenzeitlich ergangenen Senatsbeschluss vom 18.12.2014 „überprüft“ und - teilweise - weiter begründet, um sie im Ergebnis zu rechtfertigen und unberührt zu lassen. Allein diesem Zweck dienten auch die „Aktualisierung“ der Gerätestandorte und die Einholung weiterer Gutachten, mit denen lediglich die bisherigen Gutachten zu den Auswirkungen des Vorhabens ergänzt wurden. Wurden damit aber bestimmte Probleme nicht - zum Zwecke einer erneuten Abwägung - einer Neubewertung unterzogen, ist für die gerichtliche Kontrolle insoweit auch nicht auf den Zeitpunkt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 -, BVerwGE136, 291). Dass mit dem Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses tatsächlich keine Fehlerbehebung entsprechend § 75 Abs. 1a LVwVfG beabsichtigt war, haben die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung schließlich ausdrücklich bestätigt.
98 
Soweit die Planfeststellungsbehörde ihre Variantenentscheidung „ergänzend“ damit zu rechtfertigen versucht hat, dass die Variante A1 tatsächlich frühzeitig hätte ausgeschieden werden können, da sie schon nicht ernsthaft in Betracht gekommen sei, weil sie offensichtlich „am Bedarf vorbeifahre“ (vgl. S. 95 f.), ist dies jedenfalls aufgrund der im Änderungsplanfeststellungsbeschluss gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar. Denn die planfestgestellte Variante sieht zwischen der Haltestelle „Geowissenschaften“, deren Erschließungswirkung - auch nach der vom Planfeststellungsbeschluss für plausibel gehaltenen Sicht der Vorhabenträgerin (vgl. PFB, S. 319 f.) - mit derjenigen der in der Berliner Straße vorhandenen Haltestelle „Technologiepark“ fast vergleichbar ist, bis zur Haltestelle „Kopfklinik“ gar keine weiteren Haltestellen entlang der Straße Im Neuenheimer Feld vor. Soweit der Beklagte und die Beigeladene im gerichtlichen Verfahren nun maßgeblich darauf abgehoben haben, dass der Einzugsbereich beider Haltestellen bei der Variante A1 nur mit einem geringeren Takt bedient werden könnte, mag dies eventuell auf einen abwägungserheblichen Nachteil dieser Variante führen. Daraus folgt aber nicht, dass diese Variante deshalb schon nicht „zielkonform“ und ungeachtet der mit der Antragsvariante verbundenen Auswirkungen - insbesondere auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin - nicht weiter in den Blick zu nehmen gewesen wäre. Soweit der Vertreter des Beklagten dies in der mündlichen Verhandlung mit im (geänderten) Planfeststellungsbeschluss nicht erwähnten Nachteilen - etwa einer notwendigen „Verlegung eines Hubschrauberlandeplatzes“ - zu belegen versucht hat, mag dieser Gesichtspunkt, sollte er zutreffen, gegebenenfalls im Rahmen einer neuen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen sein.
99 
Auch der Hinweis, dass bei der Variante A1 - allerdings in nicht kompensierter Form - ebenfalls mit Immissionswirkungen in den „Kernbereich“ des Neuenheimer Felds hinein zu rechnen wäre, lässt nicht erkennen, warum diese Variante nicht gleichwohl vorzugswürdiger sein könnte. Denn ungeachtet auch dann zu erwartender Immissionswirkungen verliefe sie doch in deutlich größerem Abstand zu den besonders schutzbedürftigen Einrichtungen und „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, was die Wirksamkeit auch bei der Alternativtrasse vorzusehender Schutzmaßnahmen erhöhte. Soweit die Planfeststellungsbehörde wiederum auf den „Technologiepark“ verweist, lassen ihre Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen, inwiefern sich aus dem „nochmals abgefragten Gerätebestand“ ergeben sollte, dass gleichermaßen empfindliche Geräte tatsächlich in vergleichbarer Entfernung zu den Gleisen eingesetzt würden. Abgesehen davon bliebe wiederum unberücksichtigt, dass dem Sondergebiet „Technologiepark“ eben eine geringere Schutzwürdigkeit als dem im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ als Bauvorbehaltsfläche für die Klägerin ausgewiesenen Sondergebiet „Universität“ zukommt.
100 
Die planänderungsbedingten Verbesserungen hinsichtlich der elektromagnetischen Wirkungen im Bereich der besonders empfindlichen Institute der Klägerin - Realisierung eines stromlosen Abschnitts von Station 2+160 bis 2+439 bei Vergrößerung des Mastabstands und Entfallen der Kompensationsleitungen -, waren für sich genommen noch nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundene Abwägungsfehleinschätzung zu beheben. Abgesehen davon, dass diese Verbesserungen an den anderen Wirkungen des Planvorhabens - insbesondere den Erschütterungs- und Zerschneidungswirkungen - nichts änderten, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nach wie vor nicht erkennen, von welchen für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen und Bewertungen die Planfeststellungsbehörde - nicht deren Gutachter - nunmehr ausgegangen ist. Nach wie vor fehlt es an einer für die gerichtliche Kontrolle nachvollziehbaren und fachlich nachprüfbaren Auseinandersetzung mit den elektromagnetischen Auswirkungen (und Erschütterungen) auf den derzeitigen u n d künftigen Forschungsbetrieb. Auch hat die Planfeststellungsbehörde weiterhin davon abgesehen, in Ermangelung gesetzlicher Regelungen selbst festzulegen, wo s i e jeweils die Zumutbarkeitsgrenze ziehen will, jenseits derer sie „lediglich“ noch abzuwägen hat (a.a.O., S. 60; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschl. v. 02.10.2014 - 7 A 14.12 -, NuR 2014, 785).
101 
Die Planfeststellungsbehörde hat sich auch im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht die eingeholten einschlägigen Fachgutachten zur elektromagnetischen Verträglichkeit zu Eigen gemacht. Vielmehr werden deren Ergebnisse im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allenfalls (teilweise) referiert und als Arbeitshypothese unterstellt („Geht man, wie es der V o r h a b e n - t r ä g e r vorsorglich getan hat, von diesem Wert aus…; bei einem u n t e r - s t e l l t e n Grenzwert von 50 nT …, a.a.O., S. 50; „nach dem aktuellen fachlichen K e n n t n i s s t a n d d e s v o r h a b e n t r ä g e r i s c h e n Gutachters“, a.a.O., S. 76). Daran ändern auch die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Einflussgrenzen EMV“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter Nr. I.1.2 des verfügenden Teils nichts. Der Umstand, dass die Planfeststellungsbehörde ein ihr bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses vorliegendes Gutachten von Prof. Dr. V. nunmehr pauschal für überzeugend und „nachvollziehbar“ bezeichnet (a.a.O., S. 79), vermag daran ebenso wenig etwas zu ändern, zumal zahlreiche Einwendungen gegen die elektromagnetische Verträglichkeit im Planfeststellungsbeschluss noch lediglich mit der Begründung zurückgewiesen worden waren, dass "keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte bestünden, dass sich die Aussagen des Gutachters der Vorhabenträgerin als u n v e r t r e t b a r (sic!) darstellen könnten (vgl. insbes. S. 249 ff.). Inwieweit und aus welchen Gründen die Planfeststellungsbehörde nunmehr eine eigene Überzeugung erlangt haben will, obwohl es gerade bei den bisherigen Begründungen verbleiben sollte, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen.
102 
Soweit der Beklagte maßgeblich darauf verweist, dass bereits der Einflussbereich der Straßenbahn in der Berliner Straße einen Großteil des östlichen Neuenheimer Felds überdecke und weitere Störungen - zumal bei den vorgesehenen Schutzvorkehrungen - keine neue Qualität erreichten, lässt sich solches - mangels Feststellung entsprechender Tatsachen und Bewertungen durch die Planfeststellungsbehörde - anhand ihrer „vertieften“ Begründung nicht nachvollziehen. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, warum bei einer solchen Vorbelastung jede weitere Verschlechterung der Umgebungsbedingungen - auch auf den angrenzenden „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, die nach dem Bebauungsplan ebenfalls für universitäre Zwecke nutzbar sind - abwägungsfehlerfrei sein sollte. Ohne ausreichende Tatsachenfeststellungen zu den damit einhergehenden Schwierigkeiten kann die Klägerin auch nicht abwägungsfehlerfrei auf (aktive) Kompensationsmaßnahmen verwiesen werden. Hinzukommt, dass auch nach Auffassung der Planfeststellungsbehörde im unmittelbar an die Trasse angrenzenden Bereich noch eine Einzelfallbetrachtung erforderlich würde. Auch unterstellt die Planfeststellungsbehörde ohne nähere Begründung, dass die von der vorhandenen Straßenbahnstrecke in der Berliner Straße ausgehenden Beeinträchtigungen ungeachtet der Festsetzungen im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ im bisherigen Ausmaß hinzunehmen sind. Nicht nachvollziehbar sind auch ihre Ausführungen zur künftigen Überlagerung elektromagnetischer Wirkungen (a.a.O., S. 78). Es liegt auf der Hand, dass es ungeachtet dessen, ob von einer Überlagerung "im klassischen Sinne" ausgegangen werden und dies im Einzelfall auch einmal zu geringeren Belastungen führen kann, durchaus auch eine Überlagerung i. S. einer Verstärkung bereits bestehender elektromagnetischer Felder mit weiteren einschränkenden Wirkungen auf empfindliche Geräte möglich ist. Dennoch hat die Planfeststellungsbehörde dies gar nicht in Betracht gezogen. Darauf, ob hierbei dem von der Klägerin in Auftrag gegebenen Gutachten der M.-BBM GmbH (Dr. Ing. G.) Aussagekraft beizumessen war, kommt es nicht mehr entscheidend an. Letztlich belegt auch der Hinweis der Planfeststellungsbehörde (a.a.O., S. 49 f.), ein anderes Gutachten des Fachbüros M.-BBM zu einem ganz anderen Vorhaben - nämlich zur „Mainzelbahn“ in Würzburg - herangezogen zu haben, weil ein in Bezug genommenes Gutachten dieses Fachbüros (noch) nicht zur Verfügung gestellt worden sei, dass nach wie vor gar keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den entsprechenden Belangen der Klägerin vorgenommen wurde.
103 
Ohne eine n a c h v o l l z i e h b a r e Feststellung und Bewertung der derzeitigen und künftigen elektromagnetischen Auswirkungen des Vorhabens kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass von dem geänderten Planvorhaben insoweit auch deshalb keine - abwägungserheblichen - Beeinträchtigungen (mehr) ausgingen, weil es nicht zuletzt aufgrund der gegebenen Vorbelastung zu keinen Verschlechterungen mehr kommen könne.
104 
Nichts anderes gilt für die von der Klägerin beanstandeten Erschütterungswirkungen. Auch hier fehlt es nach wie vor an einer nachvollziehbaren fachlichen Auseinandersetzung mit den von der Klägerin geltend gemachten zusätzlichen nachteiligen Auswirkungen auf ihren derzeitigen und künftigen Forschungsbetrieb. Der aus sich heraus nicht nachvollziehbare Hinweis, aus den vorliegenden Gutachten ergebe sich, „dass die Vorbelastung bereits teilweise über den Grenzwerten liegt“, vermag eine solche jedenfalls nicht zu ersetzen, zumal sich in dem im Änderungsplanfeststellungsbeschluss in Bezug genommenen (a.a.O., S. 48, 82) Ausgangsplanfeststellungsbeschluss keine entsprechenden Feststellungen finden. Auch in diesem Zusammenhang genügten die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Standorte erschütterungsempfindlicher Geräte“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter I.1.2 des verfügenden Teils nicht. Weiterhin als bloße Behauptung stellt sich dar, dass es aufgrund der bereits vorhandenen Vorbelastung durch den motorisierten Individualverkehr, welche schon heute situationsbedingt Schutzmaßnahmen erfordert haben mag, bei den vorgesehenen schwingungstechnischen Systemen zu keinen weiteren negativen Erschütterungswirkungen mehr käme (a.a.O., S. 83) bzw. diese jedenfalls auf ein auch für Forschungszwecke zumutbares Maß minimiert würden (a.a.O, S. 86), zumal künftig allenfalls Busse entfallen dürften. Vorgesehen ist im Bereich der besonders empfindlichen Forschungseinrichtungen der Klägerin auch nur eine hochelastische Schienenlagerung und kein punktförmig oder flächig gelagertes Messe-Feder-System. Anderes mag hinsichtlich der Erschütterungswirkungen für die Gewächshäuser des Botanischen Gartens der Klägerin gelten, da sich für diese aufgrund der festgestellten Planänderungen nunmehr tatsächliche Verbesserungen ergaben, da die Trasse von diesen nunmehr weiter entfernt geführt wird. Soweit der Beklagte noch auf die Vorbelastung durch Baustellen mit Baukränen verweist, geht dies schon deshalb fehl, weil solche am jeweiligen Standort nur vorübergehend betrieben werden und insofern nicht die Zumutbarkeit und Abwägungserheblichkeit der von einer dauerhaften Straßenbahntrasse künftig regelmäßig ausgehenden Erschütterungswirkungen herabsetzen bzw. entfallen lassen.
105 
Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss erweisen überdies, dass - unabhängig von dem grundlegenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizit hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens - die besondere Bedeutung des festgesetzten (Sonder-)Gebiets „Universität“ gerade für die grundrechtlich geschützten Forschungstätigkeit der Klägerin trotz gegenteiliger Behauptungen mit der Folge einer Abwägungsfehleinschätzung nicht angemessen berücksichtigt wurde. Dies erhellt nicht zuletzt aus dem Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss, dass auch auf dem Universitätsgelände damit zu rechnen sei, dass andere Emittenten vorhanden seien oder hinzukämen und daher von vornherein nicht erwartet werden könne, dass keine elektromagnetischen Felder vorhanden seien oder hinzukämen (S. 51). Auch wenn die in den Universitätskliniken praktizierte „Verknüpfung von Forschung und angewandter Medizin“ eine gewisse Toleranz gegenüber alltäglichen Störquellen bedingen mag (S. 81), führt dies jedenfalls nicht dazu, dass die Auswirkungen des Planvorhabens nicht mehr abwägungserheblich wären. Inwiefern es schließlich ungeachtet dessen, dass die Variante „Mittellage“ verworfen wurde, vorhabenbedingt zu einer erheblichen Verminderung des bisherigen Aufkommens an Individual- und Omnibusverkehr und damit verbundener Störungen käme (S. 82), wird im Änderungsplanfeststellungsbeschluss auch nicht annähernd nachvollziehbar aufgezeigt.
106 
c) Den in der mündlichen Verhandlung gestellten unbedingten Beweisanträgen ist - ganz überwiegend mangels Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen - nicht nachzugehen.
107 
Der Beklagte und die Beigeladene übersehen mit ihren Beweisangeboten bereits, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Planfeststellungsbehörde ist, die für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten. Insofern kann ein von der Planfeststellungsbehörde zu verantwortendes grundlegendes Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, an dem die „Abwägung“ im angegriffenen Planfeststellungsbeschluss leidet, insbesondere nicht durch gerichtlichen Sachverständigenbeweis ausgeglichen und damit gleichsam „geheilt“ werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.1988 - 4 C 32.86, 4 C 33.86 -, Buchholz 407.56 NStrG Nr. 2; Urt. v. 22.10.1987 - 7 C 4.85 -, BVerwGE 78, 177; Senatsurt. v. 15.11.1994 - 5 S 1602/93 -, ESVGH 45, 109). Demzufolge brauchte den auf eine solche Beweiserhebung gerichteten Anträgen des Beklagten und der Beigeladenen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachgegangen zu werden. Sie zielen auf die erstmalige Klärung von Sachverhalten, die zwar für eine sachgerechte Abwägung der Planfeststellungsbehörde von Bedeutung gewesen sind, von dieser jedoch - aufgrund ihres falschen Prüfungsmaßstabs - so bislang gar nicht festgestellt und ihrer Entscheidung daher auch nicht zugrunde gelegt worden sind. Dass damit teilweise einzelne Annahmen der Gutachter der Vorhabenträgerin - durch „Sachverständigenkontrollgutachten“ - verifiziert werden sollen, ändert nichts. Denn diese Annahmen hat sich die Planfeststellungsbehörde aufgrund ihrer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung nicht zu eigen gemacht.
108 
Im Übrigen sind die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit die Beweisanträge nicht schon auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet sind, auch deshalb nicht entscheidungserheblich, weil entsprechende Beweisergebnisse an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten. Insbesondere verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens auf schutzwürdige Belange der Klägerin. Tatsächlich ist die Planfeststellungsbehörde auch nur einer möglichen Beeinflussung vorhandener Geräte an ihren derzeitigen Standorten - bei Unterstellung bestimmter, von der Klägerin freilich teilweise in Frage gestellter Grenzwerte - nachgegangen. Zukünftige Entwicklungen konkret zu berücksichtigen, hielt sie demgegenüber für unmöglich, da die künftig anzuschaffenden Geräte ja nicht bekannt seien (a.a.O., S. 49). Dennoch ging sie ohne weiteres und ohne dies ansatzweise zu begründen davon aus, dass der Klägerin noch genügend Entwicklungsflächen verblieben (a.a.O., S. 49). Dabei wären gerade die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer Fortführung der bisher ausgeübten Forschungstätigkeit infolge neuer (noch empfindlicherer) Gerätegenerationen und damit möglicherweise einhergehender höherer Anforderungen an den Aufstellort bei der Planung einer Straßenbahntrasse durch das Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ zu berücksichtigen gewesen. Denn ohne Berücksichtigung künftiger - wenn auch noch nicht konkret absehbarer - technischer Entwicklungen ist Forschung kaum vorstellbar. Davon, dass die oben festgestellten Abwägungsfehler unbeachtlich geworden wären, weil die Belange der Klägerin tatsächlich nicht (mehr) abwägungserheblich gewesen wären, kann danach nicht die Rede sein.
109 
Dazu, dass die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit sie nicht schon ohne jede tatsächliche Grundlage behauptet worden sind, an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten und insofern nicht entscheidungserheblich waren, bleibt hinsichtlich der einzelnen Beweisanträge noch das Folgende auszuführen:
110 
Soweit der Beklagte durch Einnahme eines Augenscheins eine „erhebliche Bautätigkeit“ innerhalb des Neuenheimer Felds festgestellt wissen will (Nr. 1), ist nicht ersichtlich, inwiefern damit verbundene - typischerweise vorübergehende - Beeinträchtigungen - dazu führten, dass der Belang der Klägerin, von d a u e r h a f t e n nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens verschont zu bleiben, nicht mehr abwägungserheblich gewesen wäre, sodass letztere von der Planfeststellungsbehörde nicht mehr näher zu ermitteln und zu bewerten gewesen wären.
111 
Inwiefern die ebenfalls durch eine Inaugenscheinnahme unter Beweis gestellte „erhebliche Beeinträchtigung des Verkehrsflusses in „Stoßzeiten“ (Nr. 2) die unterbliebene, jedoch gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit einer aktuellen V e r k e h r s p r o g n o s e durch die Planfeststellungsbehörde erübrigte, ist ebenso wenig zu erkennen.
112 
Auch die vom Beklagte beantragten „Sachverständigenkontrollgutachten“ über die fachliche und sachliche Richtigkeit „der“ Gutachten von Prof. Dr. V. und von Dr. Lenz beantragt hat Nr. 3 u. 16) machten die unterbliebene, indes gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den sachverständigen Annahmen der Gutachter durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
113 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache beantragt hat, dass die im Neuenheimer Feld eingesetzten Busse elektromagnetische Auswirkungen bis zu 200 nT erzeugen könnten (Nr. 3), erübrigten solche nicht eine genaue Ermittlung und Bewertung der für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde.
114 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten über die von den im Neuenheimer Feld eingesetzten Kräne ausgehenden elektromagnetischen Auswirkungen beantragt hat (Nr. 5), welches erweisen solle, dass diese kritischer als eine vorbeifahrende Straßenbahn seien, machten auch solche - vorübergehende - Auswirkungen eine genaue Ermittlung und Bewertung der d a u e r h a f t e n für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
115 
Ähnlich verhält es sich, soweit der Beklagte durch Zeugenbeweis geklärt wissen will, dass „tagtäglich elektromagnetisch und erschütterungstechnisch sensible Geräte neben Straßenbahnen aufgestellt und betrieben“ würden (Nr. 7), bestimmte optische Geräte eines Herstellers auch bei einer regulären Straßenbahn im Abstand von 5 Metern unter aktiver Kompensation funktionsfähig seien (Nr. 8) und bestimmte Geräte eines anderen Herstellers im Abstand von 40 m zu einer regulären Straßenbahn betrieben werden könnten (Nr. 11). Denn der Umstand, dass ganz bestimmte Forschungsgeräte, zu denen die Zeugen Angaben machen könnten, irgendwo in bestimmten Abständen zur Straßenbahn tatsächlich aufgestellt und - irgendwie, nach ganz bestimmten Maßgaben - betrieben werden können, änderte nichts daran, dass eine sachgerechte, auch künftige Entwicklungen berücksichtigende Abwägung die Ermittlung voraussetzte, inwieweit sich die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin nutzbaren Flächen durch die von dem Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen künftig verschlechtern werden.
116 
Letztlich dasselbe gilt für die vom Beklagten unter Zeugenbeweis gestellte Tatsache (Nr. 12), dass eine passive Kompensation insbesondere bei Elektronenmikroskopen möglich und wirkungsvoll sei und aktive mit passiven Schutzmaßnahmen kombinierbar seien. Denn für eine sachgerechte Abwägung der Belange der Klägerin genügte nicht die Klärung, ob Schutzmaßnahmen - mit welchem Aufwand auch immer - möglich sind, vielmehr setzte eine solche Ermittlungen voraus, inwieweit sich die Forschungsbedingungen auf den dafür nach dem Bebauungsplan vorgesehenen Flächen verschlechterten. Hierbei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin aufgezeigten Grenzen und nicht ohne weiteres hinzunehmenden abwägungserheblichen Nachteilen solcher Schutzmaßnahmen auseinanderzusetzen.
117 
Für die Beweisanträge der Beigeladenen gilt letztlich nichts anderes:
118 
Soweit die Beigeladene durch Sachverständigengutachten geklärt wissen will, dass durch das planfestgestellte Vorhaben außerhalb der im Lageplan festgestellten roten und grünen Bereiche keine magnetischen Felder mit einer Feldstärke über 50 nT erzeugt würden (Nr. 1), würde dies die unterbliebene, jedoch gebotene Auseinandersetzung mit den entsprechenden - im Planfeststellungsbeschluss lediglich referierten - Annahmen des Gutachters und den von der Klägerin geltend gemachten weitergehenden Anforderungen - teilweise 20 nT - nicht erübrigen.
119 
Soweit sie durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt hat (Nr. 2 u. 3), dass innerhalb der grün dargestellten Bereiche EMV-empfindliche Geräte mit aktiver Kompensation nach einer Einzelfallprüfung und auch in den roten Bereichen nach einer Einzelfallprüfung aufgestellt werden könnten, ist ihr entgegenzuhalten, dass es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf ankam, ob Geräte derzeit - mit welchem Aufwand auch immer - in Trassennähe aufgestellt werden können, sondern inwieweit sich durch das Vorhaben die Bedingungen für die Spitzenforschung auf den hierfür vorgesehenen Flächen verschlechterten. Dabei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin geltend gemachten - abwägungserheblichen - Unzuträglichkeiten auseinanderzusetzen gehabt.
120 
Ähnlich verhält es sich bei dem von ihr beantragten Sachverständigen- bzw. Zeugenbeweis, mit dem sie unter Beweis gestellt hat, dass die Klägerin in den im Lageplan rot, grün und blau dargestellten Bereichen bereits heute EMV-empfindliche Geräte betreibe (Nr. 4). Auch hier kam es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf an, ob derzeit in diesen Bereichen störungsempfindliche Geräte aufgestellt sind und - irgendwie - betrieben werden, sondern darauf, inwieweit sich durch die vom Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin insgesamt nutzbaren Flächen künftig verschlechtern werden. Auch hier verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin.
121 
Soweit die Beigeladene die Einholung amtlicher Auskünfte beim Universitätsbauamt und beim Baurechtsamt der Stadt Heidelberg zum Beweis der Tatsache beantragt hat (Nr. 5), dass keine konkreten Planungen der Klägerin für den Einsatz solcher Geräte im Einwirkungsbereich des Vorhabens vorlägen, welche auch bei aktiver Kompensation nicht betrieben werden könnten, ist ihr bereits entgegenzuhalten, dass es für die Aufstellung von Geräten nicht ohne weiteres eines baurechtlichen Verfahrens bedarf. Schließlich war eine etwaige Verschlechterung der künftigen Standortbedingungen unabhängig davon abwägungserheblich, ob die Klägerin bereits konkrete Planungen für den Einsatz weiterer empfindlicher Geräte verfolgt hat.
122 
Soweit die Beigeladene noch unter Sachverständigenbeweis gestellt hat, dass es für die erschütterungsempfindlichen Geräte - auch hinsichtlich der Nano-D-Anforderungen - planbedingt zu keiner Verschlechterung komme (Nr. 6), kam es tatsächlich nicht nur auf eine Verschlechterung für die bereits derzeit betriebenen Geräte an. Soweit darüber hinaus unter Beweis gestellt wird, es werde noch nicht einmal die bestehende Vorbelastung erhöht, ist dies auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet. Denn für ihre Behauptung fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.07.2010 - 4 BN 25.10 -). Denn konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich für alle für eine Aufstellung solcher Geräte in Betracht kommenden Flächen die (zu berücksichtigende) Vorbelastung planbedingt nicht erhöhte, liegen nicht vor; solche lassen sich insbesondere auch dem Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht entnehmen.
123 
4. Nach alldem liegen nach wie vor offensichtliche Mängel der Abwägung vor, die - wie ausgeführt - bereits auf die Variantenwahl und damit jedenfalls auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind und auch nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden könnten (vgl. § 29 Abs. 8 PBefG).
124 
Im ergänzenden Verfahren heilbar sind alle Fehler bei der Abwägung, bei denen die Möglichkeit besteht, dass die Planfeststellungsbehörde nach erneuter Abwägung an der getroffenen Entscheidung festhält und hierzu im Rahmen ihres planerischen Ermessens auch berechtigt ist, bei denen sie also nicht von vornherein darauf verwiesen ist, den Planfeststellungsbeschluss aufzuheben oder zu ändern. Hierzu können auch Mängel bei der Variantenprüfung oder Fehler gehören, die darauf beruhen, dass die planende Behörde durch Abwägung nicht überwindbare Schranken des strikten Rechts verletzt hat. Im ergänzenden Verfahren nicht behoben werden können dagegen Mängel bei der Abwägung, die von solcher Art und Schwere sind, dass sie die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008 - 9 B 28.08 -, Buchholz 406.25 § 50 BImSchG Nr. 6; Urt. v. 01.04.2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <283 f.>; Urt. v. 17.05.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254 <268> u. v. 12.12.1996 - 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358 <365>). Die Unzulässigkeit eines ergänzenden Verfahrens hängt danach zwar nicht allein von der "Bedeutung und großen Zahl fehlgewichteter Belange" ab. Vielmehr muss von vornherein ausgeschlossen sein, dass die Planfeststellungsbehörde diese Mängel unter Aufrechterhaltung ihres Planfeststellungsbeschlusses beheben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008, a.a.O.).
125 
Dies ist hier der Fall. Denn der Planfeststellungsbeschluss leidet an schwerwiegenden Abwägungsmängeln, die schon aufgrund der bei der Variantenprüfung unterlaufenen Fehler und des nahezu vollständigen Abwägungsausfalls oder doch umfassenden Abwägungsdefizits die Planung als Ganzes in Frage stellen. Hinzukommt, dass der Planung einer Straßenbahn durch das (Sonder-)Gebiet „Universität“ derzeit ohnehin der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg entgegensteht, woran sich bei realistischer Betrachtung auch in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Zwar wird die Anwendung des § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass die Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren von zusätzlichen Entscheidungen anderer Organe abhinge (vgl. BVerwG, Urt. 24.11.2010 - 9 A 13.09 -,BVerwGE 138, 226 zur Anpassung eines Flächennutzungsplans; Urt. v. 01.04.2004, a.a.O.). Dies kann freilich nicht gelten, wenn zunächst in einem umfangreichen und zeitaufwändigen Verfahren ein dem Vorhaben entgegenstehender Bebauungsplan in seinen Grundzügen geändert werden müsste, dessen Einleitung und Ergebnis sich auch nicht entfernt absehen lässt. Doch selbst dann, wenn eine Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren auch in einem solchen Fall möglich wäre, käme hier eine Planerhaltung nicht mehr in Betracht. Denn die Planung einer Straßenbahn durch ein (jedenfalls vorhandenes) Universitätsgebiet setzte im Hinblick auf die von dem Vorhaben ausgehenden, einer weiteren Forschungstätigkeit abträglichen Auswirkungen eine sorgfältige Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Belang der Forschungsfreiheit der Universität voraus, die hier - nicht zuletzt aufgrund eines falschen Prüfungsmaßstabs und eines dadurch bedingten nahezu umfassenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizits - nunmehr bezogen auf eine neue Sach- und Rechtslage - erstmals getroffen werden müsste. Zu diesem Zwecke müsste der Planfeststellungsbeschluss zumindest in seinem Begründungsteil gänzlich neugefasst werden, sodass von einer „Aufrechterhaltung“ der ursprünglichen Entscheidung selbst dann nicht mehr gesprochen werden könnte, wenn letzten Endes wieder dieselbe Variante planfestgestellt würde. Hinzukommt, dass die Planunterlagen bislang weder eine nachvollziehbare Variantenuntersuchung noch eine nachvollziehbare Bedarfsprognose enthalten. Ohne entsprechende nachvollziehbare - und aktualisierte - Planunterlagen ist eine sachgerechte Abwägungsentscheidung jedoch nicht möglich. Insofern müsste das Planfeststellungsverfahren zumindest ab dem Anhörungsverfahren wiederholt werden. Sinn und Zweck der Planerhaltungsvorschriften ist jedoch die Vermeidung eines erneuten, umfangreichen und zeitaufwändigen Planfeststellungsverfahrens (vgl. Deutsch, in Mann/Senne-kamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 75 Rn. 121). Dies ist jedoch von vornherein nicht erreichbar, wenn nicht nur punktuelle Nachbesserungen einer ansonsten intakten Gesamtplanung in Rede stehen, sondern - nach einem umfangreichen und zeitaufwendigen Bebauungsplanverfahren - erstmals umfassend neu abzuwägen ist. Die in einem solchen Fall gebotene umfassende Ergebnisoffenheit lässt sich auch nur in einem neuen Planfeststellungsverfahren gewährleisten (vgl. hierzu Deutsch, a.a.O., § 75 Rn. 123).
126 
Ist damit der - auch nicht hinsichtlich einzelner Streckenabschnitte teilbare - Planfeststellungsbeschluss bereits nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 PBefG in vollem Umfang aufzuheben, kann dahinstehen, ob sich auch aus § 4 Abs. 3 u. 1 UmwRG ein Aufhebungsanspruch ergäbe.
127 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 u. 3, 159 Satz 1 VwGO. Der Senat sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, sie für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
128 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
129 
Beschluss vom 10. Mai 2016
130 
Der Streitwert wird endgültig auf 60.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 34.2.2 u. 34.3 des Streitwertkatalogs 2013; hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 18.12.2014 - 5 S 1444/14 -).
131 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
46 
Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig (I.) und begründet (II.). Über die (höchst-)hilfsweise gestellten Klageanträge ist daher nicht zu entscheiden.
I.
47 
Die Klage ist, soweit sie auf eine Aufhebung des - geänderten - Planfeststellungsbeschlusses gerichtet ist, als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig.
48 
1. Der erkennende Gerichtshof ist nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO erstinstanzlich zuständig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die ein Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung der Strecken von Straßenbahnen betreffen.
49 
2. Die Klage ist am letzten Tage der mit (Individual-)Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses am 30.06.2014 in Lauf gesetzten einmonatigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG) und damit rechtzeitig erhoben worden. Bei der Einbeziehung des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses war diese Frist nicht zu beachten, da die verbleibenden Regelungsbestandteile des ursprünglichen Planfeststellungsbeschlusses und die durch den Änderungsbeschluss hinzutretenden Regelungsbestandteile inhaltlich unteilbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 31.07 -, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 15).
50 
3. Die Klägerin ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO); insbesondere steht nicht etwa ein unzulässiger „In-sich-Prozess“ in Rede. Die Klägerin macht als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Grundrechtsfähigkeit nach Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. 16.01.1963 - 1 BvR 316/60 - BVerfGE 15, 256 <261 f.>, juris Rn. 22) ungeachtet dessen, dass sie zugleich eine staatliche Einrichtung des Landes ist (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 LHG), jedenfalls hinreichend geltend, in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eines eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt zu sein (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG). Denn ihr Interesse, dass ihre im Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans "Neues Universitätsgebiet" gelegenen Forschungseinrichtungen und Erweiterungsflächen keinen nachteiligen Wirkungen des planfestgestellte Vorhabens - wie Erschütterungen und elektromagnetischen Feldern - ausgesetzt werden, die ihrer Betätigung auf dem Gebiete der Forschung abträglich wären, stellt einen solchen Belang dar. Dies folgt letztlich aus dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, das den öffentlichen Einrichtungen, die Wissenschafts- und/oder Forschungszwecken dienen, unmittelbar zugeordnet ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.03.1992 - 1 BvR 454/91 u. a. -, BVerfGE 85, 360, juris Rn. 78; auch § 3 Abs. 1 Satz 1 LHG). Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist nicht nur bei (unmittelbaren) Eingriffen in organisatorische Strukturen, sondern auch dann berührt, wenn, was hier in Betracht kommt, die geschützte Betätigung (mittelbar) faktisch behindert wird. Denn die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schließt das Einstehen des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft und Forschung und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet den Staat, sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen (vgl. BVerfG, Urt. v. 29.05.1973 - 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72 -, BVerfGE 35, 79 <114>; Urt. v. 10.03.1992, a.a.O.). Dass die Klägerin nicht auch Eigentümerin der für ihre Forschungstätigkeit benötigten Dienstgebäude, -räume und -grundstücke ist, diese ihr vielmehr vom Land Baden-Württemberg lediglich im Wege der Zuweisung bereit gestellt wurden bzw. werden (vgl. VwV Liegenschaften v. 28.12.2011 - Az.: 4-3322.0/23 -, GABl. 2012, 6 ff.), ändert nichts. Dies verdeutlicht nur, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keinen Bestandsschutz vermittelt. Der Klägerin geht es jedoch nicht um Bestandsschutz, sondern um Funktionsschutz ihrer fortbestehenden Einrichtungen (vgl. Bethge, in Sachs, GG 7. A. 2014, Art. 5 Rn. 216). Dabei ist zu beachten, dass Forschung aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit auf Langfristigkeit und Stetigkeit angelegt ist (vgl. Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. IV 2011, § 100 Rn. 41).
51 
Ob die Klägerin tatsächlich (noch) in ihrem Recht auf gerechte Abwägung eigenen schutzwürdigen Belangs verletzt wird oder dies aufgrund umfangreicher Schutzmaßnahmen und planfestgestellter Änderungen (inzwischen) ausgeschlossen sein könnte, ist keine Frage der Klagebefugnis, sondern der Begründetheit (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
52 
4. Einer vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 29 Abs. 6 Satz 1 PBefG; vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG, § 70 LVwVfG).
II.
53 
Der Anfechtungsantrag ist auch begründet. Der Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 10.06.2014 in der Gestalt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 27.01.2016 für die „Straßenbahn im Neuenheimer Feld" ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten. Er verstößt gegen § 30 Abs. 1 oder jedenfalls Abs. 3 BauGB i.V.m. dem Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 und gegen das Abwägungsgebot nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG. Da diese erheblichen, die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellenden Mängel bei der Abwägung weder durch Planergänzung noch durch ein ergänzendes verfahren behoben werden können, ist der Planfeststellungsbeschluss insgesamt aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 Satz 2 PBefG).
54 
Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss in seiner geänderten Gestalt sind §§ 28 und 29 PBefG i.V.m. §§ 72 ff. LVwVfG, insbesondere § 76 Abs. 1 LVwVfG. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit darauf beschränkt, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat, ob in sie an Belangen eingestellt worden ist, was nach Lage der Dinge einzustellen war, ob die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange richtig erkannt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht. Das Abwägungsgebot wird nicht dadurch verletzt, dass die Planfeststellungsbehörde bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurücksetzung eines anderen entscheidet. Nach § 29 Abs. 8 PBefG sind Mängel der Abwägung der von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind; erhebliche Mängel bei der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können; die §§ 45 und 46 VwVfG und die entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen bleiben unberührt.
55 
1. Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt dem Vorhaben allerdings nicht schon die erforderliche Planrechtfertigung. Insofern kann offen bleiben, ob sich die Klägerin als nicht mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung, sondern nur mittelbar in ihrer Forschungsfreiheit Betroffene überhaupt auf ein Fehlen der Planrechtfertigung etwa deshalb berufen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.11.2006 - 4 A 2001.06 -, BVerwGE 127, 95), weil dieses Erfordernis eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116).
56 
Das Erfordernis der Planrechtfertigung ist bereits dann erfüllt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben gemessen an den Zielsetzungen des jeweiligen Fachplanungsgesetzes - hier des Personenbeförderungsgesetzes - ein Bedarf besteht, die geplante Maßnahme unter diesem Blickwinkel also erforderlich bzw. vernünftigerweise geboten ist. Dies ist hier aufgrund der mit dem Vorhaben verfolgten Zielsetzung, den öffentlichen Personennahverkehr im Neuenheimer Feld zu verbessern (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.04.2005 - 9 A 56.04 -, BVerwGE 123, 286; Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13), der Fall. Denn das Personenbeförderungsgesetz verfolgt insbesondere das Ziel einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs im Orts- oder Nachbarschaftsbereich (vgl. §§ 4 Abs. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 PBefG; auch § 13 Abs. 2 Nr. 3 PBefG; hierzu OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319 m.w.N.; HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360). Dass ein konkreter Bedarf einer Straßenbahnverbindung ins Neuenheimer Feld im Erläuterungsbericht auch nicht ansatzweise durch nachvollziehbare Angaben belegt wird (a.a.O., S. 14), ist zwar im Rahmen der Abwägung von Bedeutung, stellt aber nicht schon die Planrechtfertigung in Frage; denn von einem "offensichtlichen planerischen Missgriff" (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.10.2014 – 9 B 29.14 -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 237) kann aus diesem Grund noch nicht gesprochen werden.
57 
Zweifel am Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung bestehen auch nicht deshalb, weil das Vorhaben nicht realisierbar wäre. Die Planrechtfertigung bestünde unter diesem Gesichtspunkt nur dann nicht, wenn die Verwirklichung des Vorhabens bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses auszuschließen war, weil sie nicht beabsichtigt oder objektiv ausgeschlossen war (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.07.2010 - 7 VR 4.10 -, NVwZ 2010, 533 m.N.).
58 
Allein der Umstand, dass ein Vorhaben wegen ihm derzeit entgegenstehender, im Wege der Abwägung nicht überwindbarer zwingender Rechtsvorschriften nicht zugelassen werden kann, lässt die Planrechtfertigung allerdings noch nicht entfallen. Insofern ist die Planrechtfertigung nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bebauungsplan "Neues Universitätsgebiet" derzeit einer Zulassung des Vorhabens entgegensteht (dazu unter 2.), zumal dieser aufgehoben oder geändert werden könnte. Dass das Vorhaben in seiner geänderten Gestalt wegen der mit dem Abriss des Gebäudes INF 154 „im Vorfeld“ verbundenen Wirkungen nicht realisierbar wäre, ist nicht zu erkennen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die für die (zur Entwässerung der Gleisanlage) vorgesehene Abwasserversickerung noch erforderliche wasserrechtliche Erlaubnis oder Bewilligung nicht noch - entsprechend den unionsrechtlichen Anforderungen an die Gewässerverträglichkeit - erteilt werden könnte. Abgesehen davon könnte das anfallende Abwasser auch anderweit beseitigt werden.
59 
Dass das Vorhaben bislang möglicherweise nicht derart in das GVFG-Bundesprogramm 2013 bis 2017 aufgenommen ist, dass eine Finanzierung mit GVFG-Mittel zu erwarten ist, stellt die Planrechtfertigung ebenso wenig in Frage (vgl. HessVGH, Urt. v. 18.03.2008 - 2 C 1092/06.T -, UPR 2008, 360; OVG Bremen, Urt. v. 18.02.2010 - 1 D 599/08 -,UPR 2010, 319). Denn die Finanzierung eines planfestgestellten Vorhabens ist im Rahmen der Planrechtfertigung nur von Bedeutung, wenn sie von vornherein ausgeschlossen erscheint und damit die Realisierung des Vorhabens eindeutig nicht möglich ist (vgl. Senatsurt., Urt. v. 06.04.2006 – 5 S 847/05 –, UPR 2006, 454; Urt. v. 02.11.2004 – 5 S 1063/04 –, UPR 2005, 118) bzw. dem Vorhaben „unüberwindliche“ finanzielle Schranken entgegenstehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.11.2013 - 9 A 14.12 -, BVerwGE 148, 373). Davon kann hier jedoch nicht die Rede sein.
60 
Die erforderliche Planrechtfertigung lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit auch nicht mit der Erwägung verneinen, die Verwirklichung des planfestgestellten Vorhabens sei von den für die Durchführung maßgeblich Verantwortlichen in Wahrheit gar nicht mehr beabsichtigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1989 - 4 C 41.88 -, BVerwGE 84, 123). Ausweislich eines Vermerks für die Regierungspräsidentin vom 24.04.2015 (vgl. /41 der Verfahrensakten betreffend die 1. Planänderung) hatte sich der Leiter des Amts für Verkehrsmanagement der Stadt Heidelberg, die immerhin mittelbar mit 27,8 % Gesellschaftsanteilen und unmittelbar mit 25% Stimmanteilen an der Beigeladenen beteiligt ist, allerdings dahin geäußert, dass Oberbürgermeister W. das Verfahren nur weiterbetreibe, um später sagen zu können, dass die Kläger ihnen die Straßenbahn „kaputt gemacht“ hätten. Insofern war nach dem Vermerk auch bei der Planfeststellungsbehörde der Eindruck entstanden, dass vor allem die Stadt Heidelberg nicht mehr an einer Realisierung der Straßenbahn interessiert sei, sondern man die Suche nach einem „Sündenbock“ aufgenommen habe. Zwar beurteilt sich die Frage nach dem Vorliegen der erforderlichen Planrechtfertigung für das Vorhaben gerade in seiner geänderten Gestalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.2009 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 69) nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses. Die Beigeladene hat jene Äußerungen jedoch inzwischen relativiert und erklärt, dass sie - und auch die Stadt Heidelberg als ihre Gesellschafterin - nach wie vor an dem Vorhaben festgehalten hätten. Auch der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel mehr geäußert.
61 
2. Die Zulassung des Planvorhabens im Neuenheimer Feld ist jedoch rechtswidrig und verletzt dadurch die Klägerin in ihren Rechten, weil sie zwingenden, auch nicht durch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB überwindbaren Festsetzungen des rechtswirksamen Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg vom 28.07.1960 widerspricht (vgl. § 30 BauGB), die auch dem Schutz der Klägerin dienen.
62 
a) Die planfestgestellte Straßenbahntrasse durchschneidet nicht nur die im Bebauungsplan festgesetzte „Bauvorbehaltsfläche“ für die Universität (vgl. § 8 Abs. 2c AufbauG), sondern verläuft innerhalb der Baugrenzen (vgl. § 8 Abs. 2e AufbauG) für die dort allein zulässigen baulichen Anlagen, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. B. a) Art der Nutzung). Ö f f e n t l i c h e Verkehrsanlagen sind innerhalb dieser Grenzen nicht vorgesehen. Solche sind im Bebauungsplan vielmehr bewusst nicht festgesetzt worden, um das Gebiet, das einem Sondergebiet nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BauNVO entspricht („Hochschulgebiet“), künftig - mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte - in sich geschlossen und vom öffentlichen Verkehr frei zu halten (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 15.10.2004 - 5 S 2586/03 -, BRS 67 Nr. 87); die Tiergartenstraße sollte aus diesem Grunde als öffentlicher Weg eingezogen werden. Insoweit sollte auch eine abschließende Regelung getroffen werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998 - 8 S 315/98 -, BRS 60 Nr. 140). Daran ändert nichts, dass sich der Erläuterungsbericht verschiedentlich zur verkehrlichen Erschließung verhält, denn insoweit sollten gerade keine bzw. noch keine Regelungen getroffen werden. Die angesprochenen Verkehrsflächen sollten nach den Vorstellungen des Plangebers zudem außerhalb der Baugrenze vorgesehen werden bzw. - wie die damals noch vorhandene OEG-Güterlinie - dorthin verlegt werden. Aus Rücksicht auf eine künftige Außenerschließung blieben die Baugrenzen auch hinter der Bauvorbehaltsflächengrenze zurück. Dass es, worauf der Beklagte erstmals im Schriftsatz vom 31.03.2016 hingewiesen hat, bei der Aufstellung älterer Bebauungspläne für die angrenzenden Gebiete - etwa des Bebauungsplans „Neuenheimer Feld - Frankfurter Straße“ vom 19.05.1956 - noch planerische Überlegungen zu einer öffentlichen Erschließung auch von Teilen des Gebiets westlich der Frankfurter (bzw. Berliner) Straße gegeben hat, ist für die Auslegung des später aufgestellten Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ nicht von Bedeutung. Denn weder der Erläuterungsbericht noch der Bebauungsplan selbst knüpft an diese Vorstellungen an. Insbesondere findet sich darin kein „Querstraßenanschluss“ zur Tiergartenstraße mehr, wie er im Bebauungsplan vom 19.05.1956 noch als „geplant, aber nicht festzustellen“ eingetragen war.
63 
Anders als die Planfeststellungsbehörde meint, stellt das planfestgestellte Vorhaben auch keine nach dem Bebauungsplan zulässige „öffentliche Versorgungsanlage“ dar. Damit sind ersichtlich nur der Versorgung des Gebiets dienende Nebenanlagen gemeint (vgl. § 14 Abs. 2 BauNVO).
64 
b) Der entsprechend § 173 Abs. 3 BBauGB 1960 übergeleitete Bebauungsplan ist, jedenfalls was die hier in Rede stehende(n) Festsetzunge(en) angeht, entgegen der Auffassung der Planfeststellungsbehörde, die sich insoweit zudem möglicherweise eine ihr nicht zustehende Normverwerfungskompetenz angemaßt hat (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ. Urt. v. 09.09.2015 - 3 S 276/15 VBlBW 2016, 27 -), wirksam; er ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
65 
aa) Anhaltspunkte dafür, dass bei der Aufstellung des Plans das Verfahren nach dem Badischen Ortsstraßengesetz (OStG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 30.10.1936 (GVBl S. 179), 19.06.1937 (GVBl S. 245) nicht eingehalten worden wäre (vgl. § 9 AufbauG), sind nicht ersichtlich. Der Planentwurf vom 28.07.1960 war vom Gemeinderat (vgl. § 3 Abs. 1 OStG) der Stadt Heidelberg am 27.04.1961 beschlossen und vom Regierungspräsidium Nordbaden als zuständiger Aufsichtsbehörde (vgl. § 10 AufbauG) genehmigt worden. Er war mit seiner endgültigen Feststellung nach § 3 Abs. 6 OStG wirksam und am 13.10.1961 verkündet worden; der Ausfertigungsvermerk findet sich auf der Gemeinderatsvorlage vom 22.02.1961, auf der auch die Beschlussfassung vom 27.04.1961 dokumentiert ist.
66 
Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Bebauungsplan den nach der Übergangsvorschrift des § 174 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbaugesetzes (BBauG) vom 23.06.1960 weiterhin maßgeblichen Vorschriften des § 8 des württembergisch-badischen Aufbaugesetzes vom 18.08.1948 (RegBl S. 127), 16.05.1949 (RegBl S. 87) widerspräche. Die vom Beklagten als Beleg für seine gegenteilige Auffassung aufgestellten Rechtsbehauptungen treffen nicht zu. Das württembergisch-badische Aufbaugesetz erforderte keineswegs eine hinreichend konkretisierte Planung, in der a l l e in § 8 Abs. 1 Satz 2 AufbauG angesprochenen Gesichtspunkte der städtebaulichen Entwicklung zu regeln waren, was die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplans ausgeschlossen hätte. So sah § 7 Abs. 1 AufbauG - insoweit mit § 1 Abs. 3 BauGB vergleichbar - vor, dass die Gemeinden n a c h B e d ü r f n i s Bebauungspläne aufzustellen haben, w e n n die Entwicklung dies e r f o r d e r t. § 8 Abs. 1 AufbauG sah auch - vergleichbar mit § 1 Abs. 5 und 6 BauGB - nur die B e r ü c k s i c h t i g u n g verschiedener Bedürfnisse vor. Auch aus § 8 Abs. 2 AufbauG folgt nichts anderes. Dass die Bebauungspläne die dort aufgeführten Festsetzungen in Lageplänen enthalten mussten, kann nur so verstanden werden, dass diese, so sie nach § 7 Abs. 1 AufbauG erforderlich waren, auch in den Lageplänen darzustellen waren (vgl. auch den Ersten Durchführungserlass zum Aufbaugesetz v. 05.02.1949 Nr. 6672/IV zu § 8 Abs. 2); dies ist hier erfolgt. Die gegenteilige Auslegung des Beklagten, die entgegen seiner Ansicht auch nicht durch das von ihm insoweit in Bezug genommenen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19.06.1959 - II 170/58 - gestützt wird, führte zu dem absurden Ergebnis, dass ein Bebauungsplan ungeachtet dessen, dass er zur Gewährleistung des Wiederaufbaus (vgl. § 1 Abs. 1 AufbauG) dringend erforderlich war, nicht hätte aufgestellt werden können, wenn für einzelne Festsetzungen (etwa nach § 8 Abs. 2f AufbauG) überhaupt kein Bedarf bestand. Von einem „Äquivalent zur Planzeichenverordnung“ kann allerdings nicht gesprochen werden. Denn die für die Darstellung zu verwendenden Planzeichen ergaben sich nach wie vor aus dem Runderlass des Ministeriums des Innern vom 06.07.1939 Nr. 56552 (BaVBl S. 787, vgl. hierzu den Ersten Durchführungserlass, a.a.O., zu §§ 7-11 a.E.). Nach alledem kann dahinstehen, ob es sich um einen einfachen Bebauungsplan i.S. des § 30 Abs. 3 BauGB handelt; allein daraus, dass er keine positiven Festsetzungen zu öffentlichen Verkehrsflächen enthält, dürfte sich letzteres aufgrund der beabsichtigten abschließenden Regelung freilich noch nicht ergeben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.03.1998, a.a.O.). Öffentliche Verkehrsflächen waren auch nicht deshalb erforderlich, weil - wie der Beklagte meint - öffentliche Einrichtungen ausschließlich durch öffentliche und nicht durch - tatsächlich öffentlichen Verkehr zulassende - Privatstraßen erschlossen werden könnten. Vielmehr kann die Binnenerschließung zu öffentlichen Zwecken gewidmeter Flächen durchaus durch Privatstraßen erfolgen, wenn diese - wie hier - ihrerseits an öffentliche Straßen angeschlossen sind (Außenerschließung). Sollte die „wenig benutzte“ Güterlinie der OEG - wie die Beigeladene geltend macht - bei Erlass des Bebauungsplans noch betrieben worden sein, führte dies zwar, da der Bebauungsplan deren Bestand unberührt ließ, zu einem gewissen Nutzungskonflikt. Dieser sollte und konnte jedoch durch eine spätere Aufhebung oder Verlegung gelöst werden, da die OEG dem nicht entgegengetreten war, sondern lediglich beanstandet hatte, dass nicht bereits der Bebauungsplan dies vorsah (/169 der Bebauungsplanakten). Insofern kann darin auch kein Verstoß gegen das Konfliktbewältigungsgebot und damit auch nicht gegen das allgemeine Gebot gerechter Abwägung gesehen werden, was eine Überleitung des Bebauungsplans ausgeschlossen hätte (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.10.1972 - IV C 14.71 -, BVerwGE 41, 67).
67 
bb) Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind auch nicht inzwischen dadurch funktionslos geworden, dass auf den vom Land Baden-Württemberg im Zuge der mit der Stadt Heidelberg in den Jahren 1969/70 geschlossenen städtebaulichen Verträge im Universitätsgebiet hergestellten Privatstraßen tatsächlich öffentlicher Verkehr stattfindet und die sog. Nordtrasse (heute Straße Im Neuenheimer Feld) seitdem - weil der Kurpfalzring bislang nicht ausgebaut worden ist - nach wie vor für den öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Die Nordtrasse ist für den öffentlichen Durchgangsverkehr von vornherein nur bis zur Fertigstellung des im Generalverkehrsplan 1969 vorgesehenen Ausbaus des Kurpfalzrings (Klausenpfad) gewidmet worden; nach dessen Fertigstellung soll sie von der Stadt entschädigungslos entwidmet werden (vgl. die dem Vertrag v. 06.11.1969 anliegende, vom Land gewählte Alternative A, Anl. 3 zum Antragsschriftsatz der Klägerin v. 30.03.2014 - 5 S 1444/14 -). Auch wenn damit eine vollständige Verwirklichung des mit dem Bebauungsplan verfolgten Ziels, das Gebiet insbesondere von Durchgangsverkehr frei zu halten, derzeit teilweise - nämlich im Bereich der vorhandenen Trasse der Straße Im Neuenheimer Feld - auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheinen mag, ist der Bebauungsplan doch nach wie vor geeignet, die Herstellung weiterer Verkehrsflächen, zumal für ein schienengebundenes öffentliches Verkehrsmittel zu verhindern, die das Gebiet weiter zerschneiden und die Möglichkeiten der Klägerin, das Gebiet nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, weiter beschneiden würden. Damit würde letztlich die seinerzeit beabsichtigte „Geschlossenheit“ des festgesetzten Universitätsgebiets konterkariert.
68 
c) Auch eine Befreiung von den dem Vorhaben entgegenstehenden Festsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB kommt nicht in Betracht und konnte daher auch nicht - wie nunmehr ausdrücklich geschehen - rechtmäßig im Planfeststellungsbeschluss erteilt werden, sollte sich die Konzentrationswirkung überhaupt auf eine solche Entscheidung erstrecken. Denn durch das Vorhaben werden bereits die „Grundzüge der Planung“ berührt. Ob diese berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.1999 - 4 B 5.99 -, Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39). Dies ist hier der Fall, da das Planvorhaben dem Grundkonzept, das Gebiet in sich geschlossen und vom - gebietsunverträglichen - öffentlichen (Durchgangs-) Verkehr weitgehend frei zu halten, ungeachtet der bereits Jahrzehnte andauernden Widmung der Straße Im Neuenheimer Feld für den öffentlichen Straßenverkehr diametral zuwiderläuft. Anders als in dem Falle, der dem Senatsurteil vom 15.10.2004 (a.a.O.) zugrunde lag, geht es nicht nur darum, dass das Vorhaben die Bauvorbehaltsfläche innerhalb der Baugrenze für die Universität um die Fläche für eine Straßenbahntrasse vermindert. Darüber hinaus kann aufgrund der defizitären Ermittlung und Bewertung der gegenläufigen Belange - auch derjenigen der Klägerin - derzeit auch nicht vom Vorliegen der übrigen Befreiungsvoraussetzungen (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, § 31 Abs. 2 BauGB a.E.) ausgegangen werden.
69 
d) Das planfestgestellte Vorhaben kann entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen auch nicht das sog. Fachplanungsprivileg nach § 38 BauGB für sich in Anspruch nehmen. Für die Zuerkennung des grundsätzlichen Vorrangs der Fachplanung gegenüber der Planungshoheit der Gemeinde ist nach der Neufassung der Vorschrift durch das Bau- und Raumordnungsgesetz vom 18.08.1997 (BGBl S. 2081) nicht mehr auf die voraussichtliche planerische Kraft der im Einzelfall betroffenen Gemeinde, sondern auf die überörtlichen Bezüge des Vorhabens abzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000 - 11 VR 5.00 -, UPR 2001, 33). Solche sind bei dem Bau von Straßenbahnen - anders als etwa bei Vorhaben nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.10.2000 - 11 VR 12.00 -, Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 51) und dem Bundesfernstraßengesetz allerdings nicht schon durch die durch das Fachplanungsgesetz - hier das Personenbeförderungsgesetz - begründete nicht-gemeindliche, überörtliche Planungszuständigkeit indiziert, mögen sie auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Denn Straßenbahnen sind - in Abgrenzung zu Eisenbahnen - definitionsgemäß nur solche Schienenbahnen, die ausschließlich oder überwiegend der Beförderung von Personen im O r t s- oder Nachbarschaftsbereich dienen (vgl. § 4 Abs. 1 PBefG; § 8 Abs. 1 PBefG, § 2 Abs. 5 AEG). Dienen sie wie hier der Beförderung von Personen im O r t s verkehr und wird nur das Gebiet einer Gemeinde berührt, kommt dem Vorhaben typischerweise keine überörtliche Bedeutung zu (vgl. Senatsurt. v. 15.10.2004, a.a.O.; Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB , § 38 Rn. 37, 152). Daran ändert auch der vom Beklagten und der Beigeladenen angeführte Umstand nichts, dass der Personennahverkehr überwiegend - wie auch hier - in Verkehrsverbünden organisiert ist (vgl. Runkel, a.a.O., § 38 Rn. 152), denn daraus folgt noch nicht die „Einbettung“ eines konkreten Straßenbahnvorhabens in ein überörtliches Verkehrsnetz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2000, a.a.O.). Denn allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Verkehrsverbund kommt noch nicht jeder Teilstrecke die gleiche, gegebenenfalls überörtliche Bedeutung in diesem Verkehrsnetz zu. Warum es sich deshalb anders verhalten sollte, weil mit der planfestgestellten Straßenbahn auch Einrichtungen von überörtlicher Bedeutung - insbesondere die im Neuenheimer Feld liegenden Universitätskliniken - erschlossen werden sollen, ist nicht zu erkennen. Der Beklagte und die Beigeladene übersehen, dass es um die überörtliche Bedeutung des Planvorhabens und nicht der von ihm erschlossenen öffentlichen Einrichtungen geht. Insofern kann die überörtliche Bedeutung auch nicht schon daraus hergeleitet werden, dass die „Universitätslinie“ Teil einer Straßenbahnverbindung vom bzw. zum Heidelberger Hauptbahnhof ist. Nach ihrer Argumentation käme letztlich jedem noch so unbedeutenden Straßenbahnvorhaben in einem Oberzentrum überörtliche oder gar überregionale Bedeutung zu, was letztlich die Anwendbarkeit des Personenbeförderungsgesetzes in einem solchen Fall in Frage stellte.
70 
e) Auf die Nichtbeachtung jener Festsetzungen des Bebauungsplans kann sich auch die Klägerin ungeachtet dessen berufen, dass nicht sie, sondern das Land Baden-Württemberg Eigentümer der für Zwecke der Universität genutzten Grundstücke ist. Denn die Festsetzung der Bauvorbehaltsfläche des Sondergebiets „Universität“ diente ersichtlich den Interessen und damit auch dem Schutz der Klägerin (vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO 11. A. 2008, § 11 Rn. 3). Dies lässt sich ohne weiteres dem beigefügten Erläuterungsbericht vom 28.07.1960 entnehmen. Danach entsprachen die in der Heidelberger Altstadt und im Bergheimer Viertel gelegenen Universitätsgebäude der Naturwissenschaften und der Medizin nicht mehr dem damaligen Stand der technischen Entwicklung und behinderten dadurch Forschung und Lehre. Zur Schaffung neuer, ausreichend bemessener Anlagen musste daher auf entsprechend große Flächen außerhalb des bebauten Stadtgebiets, und zwar auf das größere Gelände am rechten Neckarufer zurückgegriffen werden, das bereits der Wirtschaftsplan von 1935 als Universitätsviertel ausgewiesen hatte. Die dortigen Ansatzpunkte und Ausdehnungsmöglichkeiten ließen es zu, diesen Teil der Universität als geschlossene Anlage mit allen Vorzügen der Konzentration als vorbildliche Bildungsstätte zu schaffen. Zur Bereitstellung des erforderlichen Geländes wurde eine Widmung des zukünftigen Universitätsbereichs einschließlich aller Folgeeinrichtungen als Bauvorbehaltsfläche für die Zwecke der Universität als dringend erforderlich angesehen.
71 
Der Annahme eines ihr durch diese Festsetzung vermittelten subjektiv-rechtlichen Drittschutzes steht auch nicht entgegen, dass bauplanerische Festsetzungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) grundsätzlich grundstücks- und nicht personenbezogen sind (Repräsentationsprinzip; vgl. hierzu etwa Mager/Fischer, VBlBW 2015, 313 ff.). Denn bei der Aufstellung von Bebauungsplänen sind bzw. waren auch sonstige Belange zu berücksichtigen (vgl. § 1 Abs. 6 BauGB, insbes. § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB: „Belange des Bildungswesens“; § 8 Abs. 1 AufbauG: „kulturelle Bedürfnisse“), sodass es dem Plangeber - insbesondere kraft Bundesrechts (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 14.06.1968 - IV. C 44.66 -, BRS 20 Nr. 174) - nicht verwehrt ist, durch bestimmte, im Hinblick auf solche Belange getroffene Festsetzungen auch sonstigen Nutzungsberechtigten von Grundstücken wehrfähige Nachbarrechte im Ortsrecht zuzuerkennen (vgl. Battis/Krautzberger/ Löhr, BauGB 10. A. 2007 , § 31 Rn. 95 m.w.N.; Schlichter, NVwZ 1983, 641 <646>). Einer solchen Auslegung steht hier auch nicht entgegen, dass „lediglich“ ein entsprechend § 173 Abs. 3 BBauG übergeleiteter Bebauungsplan in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13.94 -,BVerwGE 101, 364).
72 
3. Unabhängig davon leidet der Planfeststellungsbeschluss - auch in seiner geänderten Gestalt - noch an beachtlichen Abwägungsmängeln (vgl.§ 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG) zum Nachteil der Klägerin. Denn die Planfeststellungsbehörde hat den schutzwürdigen Belang der Klägerin, von abträglichen Wirkungen des Vorhabens auf die derzeitige und künftige Forschungstätigkeit ihrer Einrichtungen verschont zu bleiben, in der Abwägung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 PBefG fehlerhaft behandelt. Denn sie hat sich entgegen ihres gesetzlichen Auftrags ohne eigene Feststellung und Bewertung der insoweit wesentlichen Tatsachen auf eine bloße Evidenzkontrolle der von der Beigeladenen vorgelegten Planung beschränkt (a). Daran hat auch der Änderungsplanfeststellungsbeschluss, insbesondere die darin angestellte „Gesamtbetrachtung“, nichts zu ändern vermocht. Mangels hinreichender eigener Feststellungen und Bewertungen der insoweit für die Abwägung wesentlichen Tatsachen durch die Planfeststellungsbehörde ist die Abwägungserheblichkeit der Belange der Klägerin auch nicht nachträglich entfallen (b). Eine weitere gerichtliche Erforschung des Sachverhalts ist insoweit - entgegen der Ansicht des Beklagten und der Beigeladenen - nicht geboten (c).
73 
a) Der Planfeststellungsbeschluss leidet bereits an einem kompletten Abwägungsausfall oder doch einem umfassenden Abwägungsdefizit, weil die Planfeststellungsbehörde sich entgegen ihrer Planungsaufgabe nach dem Personenbeförderungsgesetz, die Planung des Vorhabenträgers einer sachgerechten - wenn auch teilweise nur nachvollziehenden - eigenen Abwägung zu unterziehen, bewusst auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle beschränkt hat.
74 
Insofern erweisen sich nicht nur die Entscheidung zugunsten der planfestgestellten Variante A2 - und damit gegen die von der Klägerin favorisierten Varianten, insbesondere die Variante A1 („Klausenpfad“) -, sondern auch die konkrete Trassenführung und -gestaltung und das zum Schutz der Einrichtungen der Klägerin vorgesehene Schutzkonzept als abwägungsfehlerhaft. Diese Mängel sind, da sie sich ohne weiteres aus dem Planfeststellungsbeschluss ergeben, offensichtlich und schon deshalb auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, weil bei einer fehlerfreien Abwägung eine Entscheidung zugunsten der Variante A1 nicht nur konkret in Betracht kam (vgl. auch die undatierte Pressemitteilung www.uni-heidelberg.depresse/news/08/pm280415 -9str.html - der Stadt Heidelberg über eine zunächst gefundene Einigung auf einen Trassenverlauf über den Klausenpfad; § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG), sondern sich, wenn man den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss folgt, sogar als vorzugswürdig aufdrängte. Darauf, ob die vorgesehenen Schutzmaßnahmen zumindest gewährleisteten, dass die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze zum Nachteil der Klägerin nicht überschritten wird (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG), kommt es nicht mehr an, da die Abwägung es damit nicht bewenden lassen durfte.
75 
Die Planfeststellungsbehörde begründet ihre Entscheidung zugunsten der beantragten Variante A2 im Planfeststellungsbeschluss vom 10.06.2014, soweit sich darin hierzu überhaupt eigenständige Erwägungen der Behörde finden, zusammenfassend damit (S. 335 f.), dass sich bei der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Alternativlösungen im Ergebnis keine Alternative als „ e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r d i g“ bzw. die Antragsvariante „aus verkehrlicher Sicht“ aufgedrängt habe. Auch wenn bei der Trasse A1 deutlich weniger Einrichtungen den von dem Vorhaben ausgehenden Wirkungen ausgesetzt wären, sei dies nicht der allein ausschlaggebende Gesichtspunkt gewesen. Aufgrund der konkreten Zielsetzungen des Vorhabenträgers und der vorgesehenen Schutzmaßnahmen „d r ä n g e s i c h i h r n i c h t a u f“, dass die Vorteile der Variante A1 die Vorteile des beantragten Neubaus „in einer Weise“ überwögen, dass sie sich als „e i n d e u t i g v o r z u g s w ü r- d i g“ erweise.
76 
Bereits aus diesen Ausführungen erhellt, dass die Planfeststellungsbehörde - auch bei Berücksichtigung ihrer weiteren Ausführungen zu den einzelnen Planungsalternativen - ihre gesetzliche Planungsaufgabe gänzlich verfehlt hat. Ob sie sich ohnehin an die vom Heidelberger Gemeinderat im November 2005 beschlossene Alternativen-Entscheidung („Maßnahmenbeschluss“) gebunden gefühlt hat, mag dahinstehen.
77 
Die von der Planfeststellungsbehörde mehrfach gebrauchte Wendung, dass sich eine andere Alternative „nicht als eindeutig vorzugswürdig aufgedrängt“ habe, vermag eine nachvollziehbare Begründung einer - in eigener Verantwortung für die Planung abwägungsfehlerfrei zu treffenden - Auswahlentscheidung von vornherein nicht zu ersetzen, da damit nur ein für die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle einer behördlichen Variantenentscheidung geltender Prüfungsmaßstab in Bezug genommen wird (vgl. Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011 - 7 MS 72/11 -). Die Prüfung, ob eine Auswahlentscheidung nach diesem Maßstab Bestand haben wird, obliegt nicht der Planfeststellungsbehörde, sondern dem erkennenden Verwaltungsgerichtshof. Die hierbei geltenden Einschränkungen der Kontrolle sind auch nur gerechtfertigt, weil eine demokratisch legitimierte Planfeststellungsbehörde zuvor die rechtliche Verantwortung für die Planung übernommen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1994, a.a.O., Rn. 21; BayVGH, Urt. v. 24.05.2011 - 22 A 10.40049 -, UPR 2011, 449). Dies ist umso mehr erforderlich, als einem Planfeststellungsbeschluss enteignungsrechtliche Vorwirkung zukommt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 -). Dies gilt erst recht, wenn der Vorhabenträger - wie die Beigeladene - privatrechtlich organisiert ist.
78 
Eine eigene Planungsentscheidung hat der Beklagte aufgrund seines fehlerhaften Ansatzes auch in der Sache nicht getroffen, denn er hat die Planunterlagen der Beigeladenen nicht, wie dies eigentlich erforderlich gewesen wäre, einer e i g e n s t ä n d i g e n rechtlichen Prüfung unterzogen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, Buchholz 406.400 § 19 BNatschG 2002 Nr. 7, juris Rn. 85). Einer solchen Prüfung war der Beklagte auch nicht deshalb enthoben, weil eine zur Planfeststellung vorgelegte Planung - aufgrund der Antragsbindung bzw. des Vorhabenbezugs - teilweise nur nachvollziehend abgewogen werden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, Urt. v. 24.11.1994 - 7 C 25.93 -, BVerwGE 97, 143, juris Rn. 20 u.21; Urt. v. 17.01.1986 - 4 C 6.84, 4 C 7.84 -, BVerwGE 72, 365; Senatsurt. v. 13.04.2000 - 5 S 1136/98 - u. v. 10.11.2011 - 5 S 2436/10 -; Steinberg/Wickel/Müller, a.a.O., S. 191 Rn. 1; Wickel in: HK-VerwR § 72 Rn. 31, 33 f.; krit. zu diesem Begriff Lieber, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 74 Rn. 34; Vallendar/Wurster, in Beck’scher AEG Komm., 2. A. 2014, § 18 Rn. 140). Insbesondere folgt aus dem Begriff „nachvollziehend“ nicht, dass die Planung für die Planfeststellungsbehörde etwa nur „nachvollzieh b a r“ sein müsste.
79 
Beim Abwägungsgebot im Fachplanungsrecht ist unter „nachvollziehender Abwägung“ - entgegen der offenbar vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung (vgl. Urt. v. 27.11.2012 - 22 A 09.40034 -; Urt. v. 13.10.2015 - 22 A 14.40037 - im Anschluss an Vallendar, in: Beck’scher AEG Komm. 2006, § 18 Rn. 119) - auch nicht eine Abwägung zu verstehen, wie sie im Rahmen einer gebundenen Vorhabenzulassung (vgl. zum Bauplanungsrecht BVerwG, Urt. v. 24.10.2013 - 7 C 36.11 -, BVerwGE 148, 155), im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung oder bei der Frage der „Beeinträchtigung“ des Wohls der Allgemeinheit i. S. des § 31 WHG anzunehmen ist und hier einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren Vorgang der Rechtsanwendung meint (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.2014 - 4 B 47.13 -, BRS 82 Nr. 109). Insofern geht auch der Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss (S. 54) auf das Urteil des erkennenden Gerichtshofs vom 29.03.2013 - 3 S 284/11 - (juris Rn. 125) fehl. Auch eine solche „nachvollziehende Abwägung“ hat die Planfeststellungsbehörde freilich nicht vorgenommen, weil sie selbst nicht „nachvollziehend“ abgewogen, sondern die Planung der Vorhabenträgerin lediglich als „nachvollzieh b a r“ und p l a u s i b e l angesehen hat.
80 
Eine sachgerechte - zumindest „nachvollziehende“ - Abwägung der verschiedenen Varianten war ihr aufgrund der unzureichenden Planunterlagen allerdings auch nicht möglich. Denn der im Erläuterungsbericht enthaltene „Vergleich der Varianten“ (a.a.O., S. 15 ff.) besteht im Wesentlichen nur aus einer zusammenfassenden Darstellung des Entscheidungsprozesses im Heidelberger Gemeinderat von 1992 bis zum „Maßnahmenbeschluss“ im November 2005, mit dem dieser sich für die Variante A2 entschieden hatte.
81 
Zwar unterliegt auch die Überprüfung der Variantenauswahl durch die Planfeststellungsbehörde aufgrund der Antragsbindung gewissen Einschränkungen. Dies gilt aber nur für die eigentliche (endgültige) planerische Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Alternativen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009 - 9 A 39.07 -,BVerwGE 133, 239). Dies entbindet die Planfeststellungsbehörde jedoch nicht von ihrer Pflicht, zuvor alle ernsthaft in Betracht kommenden Planungsalternativen auch selbst ernsthaft in Betracht zu ziehen und zu prüfen, und zwar - entgegen der Auffassung des Beklagten - unabhängig davon, ob sie sich ihr „aufdrängten“ oder nicht (vgl. Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. A. 2012, § 3 Rn. 183 f.). Ihre Pflicht zur Ermittlung, Bewertung und Gewichtung einzelner Belange im Rahmen der Variantenprüfung ist damit für die Planfeststellungsbehörde in keiner Weise zurückgenommen (vgl. BVerwG, Gerichtsbesch. v. 21.09.2010 - 7 A 7.10 -, juris, Rn. 17 unter 2.d; Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075/04 -, BVerwGE 125, 116, juris Rn. 98; Nieders. OVG, Beschl. v. 29.06.2011, a.a.O.). Erst bei der eigentlichen (endgültigen) Auswahlentscheidung ist sie - im Hinblick auf die planerische Gestaltungsfreiheit des Vorhabenträgers - auf die Prüfung beschränkt, ob dessen Erwägungen vertretbar und damit geeignet sind, die (endgültige) Variantenwahl zu rechtfertigen u n d ob - und ggf. aus welchen Gründen - sie sich diese zu eigen machen will (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.03.2009, a.a.O.). Nach dem auch für sie geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 LVwVfG; hierzu BVerwG, Urt. v. 24.03.2011 - 7 A 3.10 -, a.a.O.; Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 8. A., 2014 § 74 Rn. 8) hat die Planfeststellungsbehörde jedoch zuvor die eine sachgerechte Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange erst ermöglichenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen (und zu bewerten) und hierzu erforderlichenfalls auch noch weitere eigene Ermittlungen anzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.06.1992 - 4 B 1.92 u. a., -, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89; Beschl. v. 02.04.2009 - 7 VR 1.09 -; Urt. v. 24.03.2011, a.a.O.).
82 
Diesen Anforderungen des Abwägungsgebots entspricht die von der Planfeststellungsbehörde getroffene Entscheidung aufgrund ihres verfehlten Ansatzes in keiner Weise.
83 
So begnügte sich die Planfeststellungsbehörde - jedenfalls ganz überwiegend - damit, den gegen die Antragsvariante vorgebrachten, durchaus substantiierten Einwendungen - auch der Klägerin - jeweils die gegenteilige Sicht der Beigeladenen gegenüberzustellen, um im Anschluss daran - ohne eigenständige Begründung - auszuführen, dass die Annahmen der Einwender und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „nicht geteilt“ würden, dass sie „sich die Ausführungen des Vorhabenträgers zu eigen mache“, sie „keine b e - l a s t b a r e n Anhaltspunkte bzw. Erkenntnisse“ dafür habe, dass sich dessen Ausgangsüberlegungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „(e i n d e u t i g) unzutreffend oder fehlgewichtet“ darstellen könnten und daher „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ bzw. „nicht zu beanstanden“ seien. Diese im Beschluss ständig wiederkehrenden Wendungen erweisen, dass sich die Planfeststellungsbehörde von vornherein - jedenfalls ganz überwiegend - auf eine bloße Evidenz- bzw. Plausibilitätskontrolle jeglicher von der Vorhabenträgerin der Planung zugrunde gelegten Annahmen beschränkt hat und dass sie - nach einer ebenfalls nur eingeschränkten Prüfung - auch deren tatsächliche und rechtliche Bewertungen und Gewichtungen der Einzelbelange - auch derjenigen der Klägerin - übernommen hat. Ein solches Vorgehen ist mit der Aufgabe einer Planfeststellungsbehörde, der ungeachtet des Vorhabenbezugs ein Planungsermessen eingeräumt ist und die insofern eine eigenständige, wenn auch teils nur nachvollziehende abwägende Entscheidung zu treffen hat, schlechterdings nicht vereinbar.
84 
Zwar trifft es zu, wie die Beigeladene einwendet, dass allein ein etwaiger Begründungsmangel noch nicht den Schluss auf einen Abwägungsmangel rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.2011, a.a.O., Rn. 84). Hier liegt jedoch nicht nur ein bloßer formeller Mangel in der Dokumentation oder Begründung vor, sondern ein im Planfeststellungsbeschluss an zahllosen Stellen dokumentierter grundlegender materieller Abwägungsmangel. Den aufgezeigten Formulierungen - wie „nicht e i n d e u t i g unzutreffend oder fehlgewichtet“, „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ kommt auch keineswegs nur eine - letztlich unerhebliche - „semantische“ Bedeutung zu, wie der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf einen dem Verfasser des Planfeststellungsbeschlusses eigenen Stil geltend gemacht hat.
85 
Da auch die Entscheidungen über die der Beigeladenen erteilten „Schutzauflagen“ von dem vorbezeichneten Mangel betroffen sind, lässt sich auch aus deren Beifügung nicht auf eine eigene Abwägung schließen, zumal die Schutzauflagen zu einem großen Teil ohnehin nicht von der Planfeststellungsbehörde, sondern von der Anhörungsbehörde, mithin der Stadt Heidelberg formuliert worden sind, die gleichzeitig Gesellschafterin der Vorhabenträgerin ist.
86 
Der von der Planfeststellungsbehörde gewählte Ansatz einer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung wird bereits auf der Ebene der Ermittlung, Bewertung und Gewichtung der für die Trassenwahl besonders bedeutsamen Auswirkungen des Vorhabens deutlich. Dies gilt insbesondere für die von dem Vorhaben ausgehenden Erschütterungen und elektromagnetischen Felder, gegen die sich die Klägerin wegen ihrer von diesen Wirkungen betroffenen Forschungseinrichtungen bzw. dort eingesetzter hochempfindlicher Geräte - vor allem an der Straße Im Neuenheimer Feld, aber auch im Botanischen Garten - hauptsächlich wendet. Gleiches gilt für die weiteren Auswirkungen des Vorhabens, insbesondere für die mit ihm verbundenen Zerschneidungswirkungen bzw. Einschränkungen hinsichtlich einer bedarfsgerechten Nutzung der Bauvorbehaltsfläche durch die Klägerin.
87 
Hinsichtlich der für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Beurteilung der Immissionswirkungen hat die Planfeststellungsbehörde dabei zunächst auf ihre Ausführungen unter Abschnitt B. III. 2.3 „Zwingendes Recht“ verwiesen (S. 326 ff.), wo stereotyp den Einwendungen - auch denen der Klägerin - („… wird geltend macht, …“) jeweils die gegenteilige Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. ihrer Gutachter gegenübergestellt wird („Der Vorhabenträger hat dazu ausgeführt, …“), um dies jeweils mit der Wendung abzuschließen, dass sie „keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte“ dafür habe, dass sich die gutachterlichen Einschätzungen, Annahmen und Schlussfolgerungen „im Ergebnis als unzutreffend“ oder „u n v e r t r e t b a r“ (!) darstellten bzw. die Überlegungen, Ansätze und Schlussfolgerungen des Fachgutachters „in einer Weise erschüttert“ würden, dass sich daraus ein „z w i n g e n d e r“ weitergehender Handlungsbedarf ergäbe.
88 
Vor diesem Hintergrund entbehrt auch das von der Planfeststellungsbehörde gezogene Fazit jeder tatsächlichen Grundlage, dass die Erschütterungswirkungen der Zulassung des Vorhabens „nicht zwingend“ entgegenstünden und dass mit den von der Vorhabenträgerin aufgrund umfangreicher fachgutachterlicher Expertisen vorgesehenen Schutzmaßnahmen den berechtigten Belangen der betroffenen Einrichtungen im Hinblick auf eine elektro-magnetische Verträglichkeit „angemessen Rechnung“ getragen werde.
89 
Diese Ausführungen lassen darüber hinaus erkennen, dass es der Planfeststellungsbehörde ohnehin nur darauf ankam, zwingendes Recht, und zwar die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG) einzuhalten, sie jedoch darüber hinaus für eine sachgerechte Abwägung mit dem Interesse der Klägerin, von weiteren - gerade auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen - nachteiligen Einwirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, tatsächlich nicht offen war. Dies zeigt auch der Umstand, dass sie es dahinstehen ließ, ob bei einer Trassenführung über den von der Klägerin favorisierten „Klausenpfad“ (Variante A1) deutlich weniger empfindliche Einrichtungen betroffen wären, und es nicht für aufklärungsbedürftig ansah, ob in dem dort gelegenen „Technologiepark“ überhaupt in vergleichbaren Entfernungen ebenso empfindliche Nutzungen stattfinden.
90 
Ohne entsprechende „belastbare“ Feststellungen erweist sich die von der Planfeststellungsbehörde wiedergegebene Sichtweise der Vorhabenträgerin, wonach beide Varianten hinsichtlich der elektromagnetischen Verträglichkeit und der Erschütterungen „nahezu vergleichbar“ seien, keineswegs als „nachvollziehbar und plausibel“, sondern als nicht „vertretbar“.
91 
Dies gilt umso mehr, als die Planfeststellungsbehörde auch die bauplanungsrechtliche Situation - und die sie konkretisierenden städtebaulichen Verträge - nicht mit dem ihr zukommenden Gewicht zu Gunsten der Belange der Klägerin berücksichtigt hat, indem sie selbst hier - wiederum ohne erkennbar eigenständige Prüfung - die unzutreffende, rechtliche Sichtweise der Vorhabenträgerin bzw. des Rechtsamts der Stadt Heidelberg zugrunde gelegt hat. Die bestehende bauplanungsrechtliche Situation wäre indes bei der Abwägung nicht nur als wesentlicher städtebaulicher Belang, sondern auch als schutzwürdiges Interesse der betroffenen Einrichtungen an der Beibehaltung des bestehenden Zustandes (vgl. Senatsurt. v. 06.05.2011 - 5 S 1670/09 -, VBlBW 2012, 108) mit besonderem - grundrechtlichen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) - Gewicht zu berücksichtigen gewesen (vgl. Senatsurt. v. 03.07.1998 - 5 S 1/98 -, BRS 60 Nr. 13). Dies hätte auch dann gegolten, wenn sich die Beigeladene auf das Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB n.F. hätte berufen können. Selbst wenn der Bebauungsplan unwirksam wäre, hätte das Vorliegen eines seit den 1960iger Jahren tatsächlich vorhandenen Universitätsgebiets zugunsten der Klägerin angemessen berücksichtigt werden müssen.
92 
In städtebaulicher Hinsicht hat die Planfeststellungsbehörde zudem übersehen, dass der von ihr in den Vordergrund gerückte „Technologiepark“ jedenfalls ganz überwiegend im Geltungsbereich des „Bebauungsplans Handschuhsheim Langgewann II - Technologiepark Heidelberg“ vom 16.03.2000 liegt. Dieser erklärt aber nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Geschäfts-, Büro und Verwaltungsgebäude für zulässig. Zwar sollen dabei auch Forschungseinrichtungen, daneben aber auch Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen zulässig sein. Bei den danach zulässigen Nutzungsarten kann von einer vergleichbaren Schutzwürdigkeit wie im angrenzenden „Universitätsgebiet“ nicht die Rede sein. Denn auf der durch den Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ für Zwecke der Universität einschließlich Folgeeinrichtungen für Lehre und Forschung festgesetzten Bauvorbehaltsfläche sind lediglich bauliche Anlagen zulässig, die mittelbar und unmittelbar den Zwecken der Universität und des Studienbetriebs dienen (vgl. b) der Besonderen Bauvorschriften).
93 
Schließlich belegt der Hinweis der Planfeststellungsbehörde auf das Fehlen einer - von der Klägerin gar nicht geltend gemachten - Bestandsgarantie und den im Neuenheimer Feld weiterhin möglichen Wissenschaftsbetrieb, dass die Planfeststellungsbehörde das Gewicht des durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG besonders geschützten Belangs der Klägerin unterschätzt hat, ihre Forschungseinrichtungen von möglicherweise die Forschung beeinträchtigenden Auswirkungen des Vorhabens soweit als möglich zu verschonen. Diese unzutreffende Gewichtung kommt auch in den Bemerkungen des Vertreters der Planfeststellungsbehörde in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck, die Universität werde schon „nicht untergehen“, wenn die Straßenbahn durchs Neuenheimer Feld fahre. Zu Recht weist die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der Forschungsfreiheit aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten noch mehr als beim Eigentum auch mögliche künftige Nutzungen - auch auf den „Erweiterungsflächen“ der Universität - in den Blick zu nehmen waren. Der Umstand, dass solche Nutzungen noch nicht unmittelbar angestanden haben oder dass deren Realisierung aufgrund der bereits erreichten Bebauungsdichte möglicherweise zunächst den Abriss anderer Gebäude bedingte, mag für die Gewichtung dieses Belangs von Bedeutung sein, stellt indessen - nicht zuletzt im Hinblick auf den Prognosehorizont - dessen Abwägungserheblichkeit nicht in Frage. Anderes gilt auch nicht deshalb, weil die Klägerin nicht Eigentümerin jener „Erweiterungsflächen“ ist. Denn auch diese Flächen liegen im festgesetzten „Universitätsgebiet“ und sind nach dem nach wie vor wirksamen Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ grundsätzlich für die universitären Zwecke der Klägerin nutzbar. Insofern leidet die Entscheidung jedenfalls an einer Abwägungsfehlgewichtung, wenn nicht gar an einer Abwägungsdisproportionalität.
94 
Die Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss lassen auch nicht annähernd erkennen, dass insbesondere die von der Klägerin als vorzugswürdiger angesehene Variante A1 derartige Abstriche an den verkehrlichen Zielsetzungen der Vorhabenträgerin bedingt hätte, dass sie ungeachtet der betroffenen gegenläufigen Interessen, insbesondere des Interesses der Klägerin, von nachteiligen Auswirkungen auf ihre Forschungseinrichtungen möglichst verschont zu bleiben, und ungeachtet des von der Planfeststellungsbehörde zu beachtenden Trennungsgrundsatzes (vgl. § 50 Satz 2 BImSchG) jedenfalls nicht hinzunehmen wären. Entgegen der Behauptung des Beklagten-Vertreters in der mündlichen Verhandlung war der Variante A2 gegenüber der Variante A1, der die Planfeststellungsbehörde durchaus auch gewisse Vorteile attestiert hat, lediglich aufgrund überwiegender Vorteile der Vorzug gegeben worden (a.a.O., S. 336). Solches ließe sich auch nicht bereits mit den angeführten Nachteilen hinsichtlich der Erschließungswirkung begründen (a.a.O., S. 335), zumal sich die Planfeststellungsbehörde im Hinblick auf das jeweilige Fahrgastaufkommen auf die Wendung zurückgezogen hat (S. 321), dass es sich aus ihrer Sicht „n a c h v o l l z i e h b a r und p l a u s i b e l“ sei, wenn sich d e m V o r h a b e n t r ä g e r, der als Verkehrsunternehmer das stärkste Interesse habe, ein möglichst hohes Fahrgastpotential auszuschöpfen, die Beibehaltung einer bestehenden Linienführung a u f d r ä n g e (sic!). Entsprechende Abstriche wären hier indes umso eher gerechtfertigt gewesen, je gewichtiger die gegenläufigen Belange sind, insbesondere je einschneidender sich die nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens bei der Variante A2 auf die weitere Funktionsfähigkeit der derzeit und künftig betroffenen Forschungseinrichtungen der Klägerin erweisen. Über diese hätte sich die Planfeststellungsbehörde jedoch zunächst selbst Gewissheit verschaffen müssen, auch wenn dies für sie bzw. die hierzu zunächst berufene Anhörungsbehörde mit einem größeren Aufwand verbunden gewesen wäre. Dies gilt umso mehr, als der Erläuterungsbericht der Vorhabenträgerin einen besonderen Bedarf einer Straßenbahnverbindung anstatt einer Busverbindung ins Neuenheimer Feld zwar behauptet, jedoch auch nicht annähernd nachvollziehbar belegt hat. Inwiefern dies unbeachtlich sein sollte, weil die Stadt Heidelberg inzwischen eine - Ende 2011 fertiggestellte - aktuellere Verkehrsprognose in Auftrag gegeben habe (S. 129), erschließt sich nicht.
95 
All diese, sich bereits bei der Variantenentscheidung manifestierenden Mängel, die letztlich auf den falschen Prüfungsmaßstab der Planfeststellungsbehörde zurückzuführen sind, setzen sich bei der Entscheidung über die konkrete Trassenführung- und -gestaltung sowie bei der Entscheidung über das dabei vorzusehende Schutzkonzept (einschließlich der verfügten Nebenbestimmungen) fort. Denn auch hier hat sich die Planfeststellungsbehörde jedenfalls ganz überwiegend auf eine reine Evidenz- und Plausibilitätskontrolle zurückgezogen, ob insbesondere durch die von der Anhörungsbehörde vorgeschlagenen Nebenbestimmungen die fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle eingehalten werden wird oder nicht. Ob wenigstens dies hinsichtlich der besonders kritischen Erschütterungswirkungen und elektromagnetischen Wirkungen sowie der weiteren, von der Klägerin beanstandeten Auswirkungen des Vorhabens tatsächlich gewährleistet sein könnte, bedarf - wie ausgeführt - vor dem Hintergrund der aufgezeigten grundlegenden Abwägungsmängel keiner Prüfung mehr.
96 
b) Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss sind auch unter Berücksichtigung der mit ihm festgestellten Planänderungen - insbesondere bei Berücksichtigung des im Bereich des Max-Planck-Instituts und der besonders betroffenen Institute der Klägerin vorgesehenen weiteren stromlosen Abschnitts - nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundenen weiteren Abwägungsmängel zu beheben. Dies gilt ungeachtet dessen, dass einzelne, für die Abwägung erhebliche Umstände - etwa die derzeitige konkrete Betroffenheit bestimmter Geräte bzw. Gerätestandorte - aktuell nachermittelt wurden.
97 
Mit der anlässlich der 1. Planänderung von Amts wegen vorgenommenen „Gesamtbetrachtung“ wurde die bisher im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt. Das war ohne Weiteres zulässig (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG; § 114 Satz 2 VwGO). Insofern hätten sogar neue Erwägungen nachgeschoben werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.1991 - 7 B 65.91 -, Buchholz 451.22 AbfG Nr. 44). Da nur von „klarstellenden und vertiefenden“ Ausführungen die Rede ist und die Planfeststellungsbehörde Mängel der ursprünglich getroffenen Entscheidung gerade in Abrede gestellt hat, können die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allerdings nur so verstanden werden, dass lediglich die im Planfeststellungsbeschluss gegebene Begründung ergänzt, nicht jedoch eine neue Abwägungsentscheidung getroffen werden sollte (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. 20.12.1991 - 4 C 25.90 -, Buchholz 316 § 76 VwVfG Nr. 4). Auch der Sache nach wurde eine solche nicht getroffen. Abgesehen von der nunmehr ausdrücklich erteilten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB wurde die bereits getroffene Abwägungsentscheidung vielmehr nur im Hinblick auf den zwischenzeitlich ergangenen Senatsbeschluss vom 18.12.2014 „überprüft“ und - teilweise - weiter begründet, um sie im Ergebnis zu rechtfertigen und unberührt zu lassen. Allein diesem Zweck dienten auch die „Aktualisierung“ der Gerätestandorte und die Einholung weiterer Gutachten, mit denen lediglich die bisherigen Gutachten zu den Auswirkungen des Vorhabens ergänzt wurden. Wurden damit aber bestimmte Probleme nicht - zum Zwecke einer erneuten Abwägung - einer Neubewertung unterzogen, ist für die gerichtliche Kontrolle insoweit auch nicht auf den Zeitpunkt des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.04.2010 - 9 A 5.08 -, BVerwGE136, 291). Dass mit dem Erlass des Änderungsplanfeststellungsbeschlusses tatsächlich keine Fehlerbehebung entsprechend § 75 Abs. 1a LVwVfG beabsichtigt war, haben die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung schließlich ausdrücklich bestätigt.
98 
Soweit die Planfeststellungsbehörde ihre Variantenentscheidung „ergänzend“ damit zu rechtfertigen versucht hat, dass die Variante A1 tatsächlich frühzeitig hätte ausgeschieden werden können, da sie schon nicht ernsthaft in Betracht gekommen sei, weil sie offensichtlich „am Bedarf vorbeifahre“ (vgl. S. 95 f.), ist dies jedenfalls aufgrund der im Änderungsplanfeststellungsbeschluss gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar. Denn die planfestgestellte Variante sieht zwischen der Haltestelle „Geowissenschaften“, deren Erschließungswirkung - auch nach der vom Planfeststellungsbeschluss für plausibel gehaltenen Sicht der Vorhabenträgerin (vgl. PFB, S. 319 f.) - mit derjenigen der in der Berliner Straße vorhandenen Haltestelle „Technologiepark“ fast vergleichbar ist, bis zur Haltestelle „Kopfklinik“ gar keine weiteren Haltestellen entlang der Straße Im Neuenheimer Feld vor. Soweit der Beklagte und die Beigeladene im gerichtlichen Verfahren nun maßgeblich darauf abgehoben haben, dass der Einzugsbereich beider Haltestellen bei der Variante A1 nur mit einem geringeren Takt bedient werden könnte, mag dies eventuell auf einen abwägungserheblichen Nachteil dieser Variante führen. Daraus folgt aber nicht, dass diese Variante deshalb schon nicht „zielkonform“ und ungeachtet der mit der Antragsvariante verbundenen Auswirkungen - insbesondere auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin - nicht weiter in den Blick zu nehmen gewesen wäre. Soweit der Vertreter des Beklagten dies in der mündlichen Verhandlung mit im (geänderten) Planfeststellungsbeschluss nicht erwähnten Nachteilen - etwa einer notwendigen „Verlegung eines Hubschrauberlandeplatzes“ - zu belegen versucht hat, mag dieser Gesichtspunkt, sollte er zutreffen, gegebenenfalls im Rahmen einer neuen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen sein.
99 
Auch der Hinweis, dass bei der Variante A1 - allerdings in nicht kompensierter Form - ebenfalls mit Immissionswirkungen in den „Kernbereich“ des Neuenheimer Felds hinein zu rechnen wäre, lässt nicht erkennen, warum diese Variante nicht gleichwohl vorzugswürdiger sein könnte. Denn ungeachtet auch dann zu erwartender Immissionswirkungen verliefe sie doch in deutlich größerem Abstand zu den besonders schutzbedürftigen Einrichtungen und „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, was die Wirksamkeit auch bei der Alternativtrasse vorzusehender Schutzmaßnahmen erhöhte. Soweit die Planfeststellungsbehörde wiederum auf den „Technologiepark“ verweist, lassen ihre Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen, inwiefern sich aus dem „nochmals abgefragten Gerätebestand“ ergeben sollte, dass gleichermaßen empfindliche Geräte tatsächlich in vergleichbarer Entfernung zu den Gleisen eingesetzt würden. Abgesehen davon bliebe wiederum unberücksichtigt, dass dem Sondergebiet „Technologiepark“ eben eine geringere Schutzwürdigkeit als dem im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ als Bauvorbehaltsfläche für die Klägerin ausgewiesenen Sondergebiet „Universität“ zukommt.
100 
Die planänderungsbedingten Verbesserungen hinsichtlich der elektromagnetischen Wirkungen im Bereich der besonders empfindlichen Institute der Klägerin - Realisierung eines stromlosen Abschnitts von Station 2+160 bis 2+439 bei Vergrößerung des Mastabstands und Entfallen der Kompensationsleitungen -, waren für sich genommen noch nicht geeignet, den Abwägungsausfall bzw. das umfassende Abwägungsdefizit und die damit verbundene Abwägungsfehleinschätzung zu beheben. Abgesehen davon, dass diese Verbesserungen an den anderen Wirkungen des Planvorhabens - insbesondere den Erschütterungs- und Zerschneidungswirkungen - nichts änderten, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nach wie vor nicht erkennen, von welchen für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen und Bewertungen die Planfeststellungsbehörde - nicht deren Gutachter - nunmehr ausgegangen ist. Nach wie vor fehlt es an einer für die gerichtliche Kontrolle nachvollziehbaren und fachlich nachprüfbaren Auseinandersetzung mit den elektromagnetischen Auswirkungen (und Erschütterungen) auf den derzeitigen u n d künftigen Forschungsbetrieb. Auch hat die Planfeststellungsbehörde weiterhin davon abgesehen, in Ermangelung gesetzlicher Regelungen selbst festzulegen, wo s i e jeweils die Zumutbarkeitsgrenze ziehen will, jenseits derer sie „lediglich“ noch abzuwägen hat (a.a.O., S. 60; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschl. v. 02.10.2014 - 7 A 14.12 -, NuR 2014, 785).
101 
Die Planfeststellungsbehörde hat sich auch im Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht die eingeholten einschlägigen Fachgutachten zur elektromagnetischen Verträglichkeit zu Eigen gemacht. Vielmehr werden deren Ergebnisse im Änderungsplanfeststellungsbeschluss allenfalls (teilweise) referiert und als Arbeitshypothese unterstellt („Geht man, wie es der V o r h a b e n - t r ä g e r vorsorglich getan hat, von diesem Wert aus…; bei einem u n t e r - s t e l l t e n Grenzwert von 50 nT …, a.a.O., S. 50; „nach dem aktuellen fachlichen K e n n t n i s s t a n d d e s v o r h a b e n t r ä g e r i s c h e n Gutachters“, a.a.O., S. 76). Daran ändern auch die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Einflussgrenzen EMV“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter Nr. I.1.2 des verfügenden Teils nichts. Der Umstand, dass die Planfeststellungsbehörde ein ihr bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses vorliegendes Gutachten von Prof. Dr. V. nunmehr pauschal für überzeugend und „nachvollziehbar“ bezeichnet (a.a.O., S. 79), vermag daran ebenso wenig etwas zu ändern, zumal zahlreiche Einwendungen gegen die elektromagnetische Verträglichkeit im Planfeststellungsbeschluss noch lediglich mit der Begründung zurückgewiesen worden waren, dass "keine b e l a s t b a r e n Anhaltspunkte bestünden, dass sich die Aussagen des Gutachters der Vorhabenträgerin als u n v e r t r e t b a r (sic!) darstellen könnten (vgl. insbes. S. 249 ff.). Inwieweit und aus welchen Gründen die Planfeststellungsbehörde nunmehr eine eigene Überzeugung erlangt haben will, obwohl es gerade bei den bisherigen Begründungen verbleiben sollte, lässt der Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht erkennen.
102 
Soweit der Beklagte maßgeblich darauf verweist, dass bereits der Einflussbereich der Straßenbahn in der Berliner Straße einen Großteil des östlichen Neuenheimer Felds überdecke und weitere Störungen - zumal bei den vorgesehenen Schutzvorkehrungen - keine neue Qualität erreichten, lässt sich solches - mangels Feststellung entsprechender Tatsachen und Bewertungen durch die Planfeststellungsbehörde - anhand ihrer „vertieften“ Begründung nicht nachvollziehen. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, warum bei einer solchen Vorbelastung jede weitere Verschlechterung der Umgebungsbedingungen - auch auf den angrenzenden „Erweiterungsflächen“ der Klägerin, die nach dem Bebauungsplan ebenfalls für universitäre Zwecke nutzbar sind - abwägungsfehlerfrei sein sollte. Ohne ausreichende Tatsachenfeststellungen zu den damit einhergehenden Schwierigkeiten kann die Klägerin auch nicht abwägungsfehlerfrei auf (aktive) Kompensationsmaßnahmen verwiesen werden. Hinzukommt, dass auch nach Auffassung der Planfeststellungsbehörde im unmittelbar an die Trasse angrenzenden Bereich noch eine Einzelfallbetrachtung erforderlich würde. Auch unterstellt die Planfeststellungsbehörde ohne nähere Begründung, dass die von der vorhandenen Straßenbahnstrecke in der Berliner Straße ausgehenden Beeinträchtigungen ungeachtet der Festsetzungen im Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ im bisherigen Ausmaß hinzunehmen sind. Nicht nachvollziehbar sind auch ihre Ausführungen zur künftigen Überlagerung elektromagnetischer Wirkungen (a.a.O., S. 78). Es liegt auf der Hand, dass es ungeachtet dessen, ob von einer Überlagerung "im klassischen Sinne" ausgegangen werden und dies im Einzelfall auch einmal zu geringeren Belastungen führen kann, durchaus auch eine Überlagerung i. S. einer Verstärkung bereits bestehender elektromagnetischer Felder mit weiteren einschränkenden Wirkungen auf empfindliche Geräte möglich ist. Dennoch hat die Planfeststellungsbehörde dies gar nicht in Betracht gezogen. Darauf, ob hierbei dem von der Klägerin in Auftrag gegebenen Gutachten der M.-BBM GmbH (Dr. Ing. G.) Aussagekraft beizumessen war, kommt es nicht mehr entscheidend an. Letztlich belegt auch der Hinweis der Planfeststellungsbehörde (a.a.O., S. 49 f.), ein anderes Gutachten des Fachbüros M.-BBM zu einem ganz anderen Vorhaben - nämlich zur „Mainzelbahn“ in Würzburg - herangezogen zu haben, weil ein in Bezug genommenes Gutachten dieses Fachbüros (noch) nicht zur Verfügung gestellt worden sei, dass nach wie vor gar keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den entsprechenden Belangen der Klägerin vorgenommen wurde.
103 
Ohne eine n a c h v o l l z i e h b a r e Feststellung und Bewertung der derzeitigen und künftigen elektromagnetischen Auswirkungen des Vorhabens kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass von dem geänderten Planvorhaben insoweit auch deshalb keine - abwägungserheblichen - Beeinträchtigungen (mehr) ausgingen, weil es nicht zuletzt aufgrund der gegebenen Vorbelastung zu keinen Verschlechterungen mehr kommen könne.
104 
Nichts anderes gilt für die von der Klägerin beanstandeten Erschütterungswirkungen. Auch hier fehlt es nach wie vor an einer nachvollziehbaren fachlichen Auseinandersetzung mit den von der Klägerin geltend gemachten zusätzlichen nachteiligen Auswirkungen auf ihren derzeitigen und künftigen Forschungsbetrieb. Der aus sich heraus nicht nachvollziehbare Hinweis, aus den vorliegenden Gutachten ergebe sich, „dass die Vorbelastung bereits teilweise über den Grenzwerten liegt“, vermag eine solche jedenfalls nicht zu ersetzen, zumal sich in dem im Änderungsplanfeststellungsbeschluss in Bezug genommenen (a.a.O., S. 48, 82) Ausgangsplanfeststellungsbeschluss keine entsprechenden Feststellungen finden. Auch in diesem Zusammenhang genügten die bloße Bezugnahme auf den Übersichtslageplan der Beigeladenen („Standorte erschütterungsempfindlicher Geräte“) und die Aufführung von Fachbeiträgen unter I.1.2 des verfügenden Teils nicht. Weiterhin als bloße Behauptung stellt sich dar, dass es aufgrund der bereits vorhandenen Vorbelastung durch den motorisierten Individualverkehr, welche schon heute situationsbedingt Schutzmaßnahmen erfordert haben mag, bei den vorgesehenen schwingungstechnischen Systemen zu keinen weiteren negativen Erschütterungswirkungen mehr käme (a.a.O., S. 83) bzw. diese jedenfalls auf ein auch für Forschungszwecke zumutbares Maß minimiert würden (a.a.O, S. 86), zumal künftig allenfalls Busse entfallen dürften. Vorgesehen ist im Bereich der besonders empfindlichen Forschungseinrichtungen der Klägerin auch nur eine hochelastische Schienenlagerung und kein punktförmig oder flächig gelagertes Messe-Feder-System. Anderes mag hinsichtlich der Erschütterungswirkungen für die Gewächshäuser des Botanischen Gartens der Klägerin gelten, da sich für diese aufgrund der festgestellten Planänderungen nunmehr tatsächliche Verbesserungen ergaben, da die Trasse von diesen nunmehr weiter entfernt geführt wird. Soweit der Beklagte noch auf die Vorbelastung durch Baustellen mit Baukränen verweist, geht dies schon deshalb fehl, weil solche am jeweiligen Standort nur vorübergehend betrieben werden und insofern nicht die Zumutbarkeit und Abwägungserheblichkeit der von einer dauerhaften Straßenbahntrasse künftig regelmäßig ausgehenden Erschütterungswirkungen herabsetzen bzw. entfallen lassen.
105 
Die Ausführungen im Änderungsplanfeststellungsbeschluss erweisen überdies, dass - unabhängig von dem grundlegenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizit hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens - die besondere Bedeutung des festgesetzten (Sonder-)Gebiets „Universität“ gerade für die grundrechtlich geschützten Forschungstätigkeit der Klägerin trotz gegenteiliger Behauptungen mit der Folge einer Abwägungsfehleinschätzung nicht angemessen berücksichtigt wurde. Dies erhellt nicht zuletzt aus dem Hinweis im Änderungsplanfeststellungsbeschluss, dass auch auf dem Universitätsgelände damit zu rechnen sei, dass andere Emittenten vorhanden seien oder hinzukämen und daher von vornherein nicht erwartet werden könne, dass keine elektromagnetischen Felder vorhanden seien oder hinzukämen (S. 51). Auch wenn die in den Universitätskliniken praktizierte „Verknüpfung von Forschung und angewandter Medizin“ eine gewisse Toleranz gegenüber alltäglichen Störquellen bedingen mag (S. 81), führt dies jedenfalls nicht dazu, dass die Auswirkungen des Planvorhabens nicht mehr abwägungserheblich wären. Inwiefern es schließlich ungeachtet dessen, dass die Variante „Mittellage“ verworfen wurde, vorhabenbedingt zu einer erheblichen Verminderung des bisherigen Aufkommens an Individual- und Omnibusverkehr und damit verbundener Störungen käme (S. 82), wird im Änderungsplanfeststellungsbeschluss auch nicht annähernd nachvollziehbar aufgezeigt.
106 
c) Den in der mündlichen Verhandlung gestellten unbedingten Beweisanträgen ist - ganz überwiegend mangels Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen - nicht nachzugehen.
107 
Der Beklagte und die Beigeladene übersehen mit ihren Beweisangeboten bereits, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Planfeststellungsbehörde ist, die für eine sachgerechte Abwägung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten. Insofern kann ein von der Planfeststellungsbehörde zu verantwortendes grundlegendes Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, an dem die „Abwägung“ im angegriffenen Planfeststellungsbeschluss leidet, insbesondere nicht durch gerichtlichen Sachverständigenbeweis ausgeglichen und damit gleichsam „geheilt“ werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.1988 - 4 C 32.86, 4 C 33.86 -, Buchholz 407.56 NStrG Nr. 2; Urt. v. 22.10.1987 - 7 C 4.85 -, BVerwGE 78, 177; Senatsurt. v. 15.11.1994 - 5 S 1602/93 -, ESVGH 45, 109). Demzufolge brauchte den auf eine solche Beweiserhebung gerichteten Anträgen des Beklagten und der Beigeladenen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachgegangen zu werden. Sie zielen auf die erstmalige Klärung von Sachverhalten, die zwar für eine sachgerechte Abwägung der Planfeststellungsbehörde von Bedeutung gewesen sind, von dieser jedoch - aufgrund ihres falschen Prüfungsmaßstabs - so bislang gar nicht festgestellt und ihrer Entscheidung daher auch nicht zugrunde gelegt worden sind. Dass damit teilweise einzelne Annahmen der Gutachter der Vorhabenträgerin - durch „Sachverständigenkontrollgutachten“ - verifiziert werden sollen, ändert nichts. Denn diese Annahmen hat sich die Planfeststellungsbehörde aufgrund ihrer auf eine bloße Evidenz- und Plausibilitätskontrolle beschränkten Planprüfung nicht zu eigen gemacht.
108 
Im Übrigen sind die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit die Beweisanträge nicht schon auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet sind, auch deshalb nicht entscheidungserheblich, weil entsprechende Beweisergebnisse an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten. Insbesondere verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens auf schutzwürdige Belange der Klägerin. Tatsächlich ist die Planfeststellungsbehörde auch nur einer möglichen Beeinflussung vorhandener Geräte an ihren derzeitigen Standorten - bei Unterstellung bestimmter, von der Klägerin freilich teilweise in Frage gestellter Grenzwerte - nachgegangen. Zukünftige Entwicklungen konkret zu berücksichtigen, hielt sie demgegenüber für unmöglich, da die künftig anzuschaffenden Geräte ja nicht bekannt seien (a.a.O., S. 49). Dennoch ging sie ohne weiteres und ohne dies ansatzweise zu begründen davon aus, dass der Klägerin noch genügend Entwicklungsflächen verblieben (a.a.O., S. 49). Dabei wären gerade die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer Fortführung der bisher ausgeübten Forschungstätigkeit infolge neuer (noch empfindlicherer) Gerätegenerationen und damit möglicherweise einhergehender höherer Anforderungen an den Aufstellort bei der Planung einer Straßenbahntrasse durch das Gebiet „Universität“ des Bebauungsplans „Neues Universitätsgebiet“ zu berücksichtigen gewesen. Denn ohne Berücksichtigung künftiger - wenn auch noch nicht konkret absehbarer - technischer Entwicklungen ist Forschung kaum vorstellbar. Davon, dass die oben festgestellten Abwägungsfehler unbeachtlich geworden wären, weil die Belange der Klägerin tatsächlich nicht (mehr) abwägungserheblich gewesen wären, kann danach nicht die Rede sein.
109 
Dazu, dass die unter Beweis gestellten Tatsachen, soweit sie nicht schon ohne jede tatsächliche Grundlage behauptet worden sind, an den grundlegenden Abwägungsmängeln nichts änderten und insofern nicht entscheidungserheblich waren, bleibt hinsichtlich der einzelnen Beweisanträge noch das Folgende auszuführen:
110 
Soweit der Beklagte durch Einnahme eines Augenscheins eine „erhebliche Bautätigkeit“ innerhalb des Neuenheimer Felds festgestellt wissen will (Nr. 1), ist nicht ersichtlich, inwiefern damit verbundene - typischerweise vorübergehende - Beeinträchtigungen - dazu führten, dass der Belang der Klägerin, von d a u e r h a f t e n nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens verschont zu bleiben, nicht mehr abwägungserheblich gewesen wäre, sodass letztere von der Planfeststellungsbehörde nicht mehr näher zu ermitteln und zu bewerten gewesen wären.
111 
Inwiefern die ebenfalls durch eine Inaugenscheinnahme unter Beweis gestellte „erhebliche Beeinträchtigung des Verkehrsflusses in „Stoßzeiten“ (Nr. 2) die unterbliebene, jedoch gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit einer aktuellen V e r k e h r s p r o g n o s e durch die Planfeststellungsbehörde erübrigte, ist ebenso wenig zu erkennen.
112 
Auch die vom Beklagte beantragten „Sachverständigenkontrollgutachten“ über die fachliche und sachliche Richtigkeit „der“ Gutachten von Prof. Dr. V. und von Dr. Lenz beantragt hat Nr. 3 u. 16) machten die unterbliebene, indes gebotene nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den sachverständigen Annahmen der Gutachter durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
113 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache beantragt hat, dass die im Neuenheimer Feld eingesetzten Busse elektromagnetische Auswirkungen bis zu 200 nT erzeugen könnten (Nr. 3), erübrigten solche nicht eine genaue Ermittlung und Bewertung der für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde.
114 
Soweit der Beklagte ein Sachverständigengutachten über die von den im Neuenheimer Feld eingesetzten Kräne ausgehenden elektromagnetischen Auswirkungen beantragt hat (Nr. 5), welches erweisen solle, dass diese kritischer als eine vorbeifahrende Straßenbahn seien, machten auch solche - vorübergehende - Auswirkungen eine genaue Ermittlung und Bewertung der d a u e r h a f t e n für die Klägerin nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens durch die Planfeststellungsbehörde nicht entbehrlich.
115 
Ähnlich verhält es sich, soweit der Beklagte durch Zeugenbeweis geklärt wissen will, dass „tagtäglich elektromagnetisch und erschütterungstechnisch sensible Geräte neben Straßenbahnen aufgestellt und betrieben“ würden (Nr. 7), bestimmte optische Geräte eines Herstellers auch bei einer regulären Straßenbahn im Abstand von 5 Metern unter aktiver Kompensation funktionsfähig seien (Nr. 8) und bestimmte Geräte eines anderen Herstellers im Abstand von 40 m zu einer regulären Straßenbahn betrieben werden könnten (Nr. 11). Denn der Umstand, dass ganz bestimmte Forschungsgeräte, zu denen die Zeugen Angaben machen könnten, irgendwo in bestimmten Abständen zur Straßenbahn tatsächlich aufgestellt und - irgendwie, nach ganz bestimmten Maßgaben - betrieben werden können, änderte nichts daran, dass eine sachgerechte, auch künftige Entwicklungen berücksichtigende Abwägung die Ermittlung voraussetzte, inwieweit sich die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin nutzbaren Flächen durch die von dem Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen künftig verschlechtern werden.
116 
Letztlich dasselbe gilt für die vom Beklagten unter Zeugenbeweis gestellte Tatsache (Nr. 12), dass eine passive Kompensation insbesondere bei Elektronenmikroskopen möglich und wirkungsvoll sei und aktive mit passiven Schutzmaßnahmen kombinierbar seien. Denn für eine sachgerechte Abwägung der Belange der Klägerin genügte nicht die Klärung, ob Schutzmaßnahmen - mit welchem Aufwand auch immer - möglich sind, vielmehr setzte eine solche Ermittlungen voraus, inwieweit sich die Forschungsbedingungen auf den dafür nach dem Bebauungsplan vorgesehenen Flächen verschlechterten. Hierbei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin aufgezeigten Grenzen und nicht ohne weiteres hinzunehmenden abwägungserheblichen Nachteilen solcher Schutzmaßnahmen auseinanderzusetzen.
117 
Für die Beweisanträge der Beigeladenen gilt letztlich nichts anderes:
118 
Soweit die Beigeladene durch Sachverständigengutachten geklärt wissen will, dass durch das planfestgestellte Vorhaben außerhalb der im Lageplan festgestellten roten und grünen Bereiche keine magnetischen Felder mit einer Feldstärke über 50 nT erzeugt würden (Nr. 1), würde dies die unterbliebene, jedoch gebotene Auseinandersetzung mit den entsprechenden - im Planfeststellungsbeschluss lediglich referierten - Annahmen des Gutachters und den von der Klägerin geltend gemachten weitergehenden Anforderungen - teilweise 20 nT - nicht erübrigen.
119 
Soweit sie durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt hat (Nr. 2 u. 3), dass innerhalb der grün dargestellten Bereiche EMV-empfindliche Geräte mit aktiver Kompensation nach einer Einzelfallprüfung und auch in den roten Bereichen nach einer Einzelfallprüfung aufgestellt werden könnten, ist ihr entgegenzuhalten, dass es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf ankam, ob Geräte derzeit - mit welchem Aufwand auch immer - in Trassennähe aufgestellt werden können, sondern inwieweit sich durch das Vorhaben die Bedingungen für die Spitzenforschung auf den hierfür vorgesehenen Flächen verschlechterten. Dabei hätte sich die Planfeststellungsbehörde auch mit den von der Klägerin geltend gemachten - abwägungserheblichen - Unzuträglichkeiten auseinanderzusetzen gehabt.
120 
Ähnlich verhält es sich bei dem von ihr beantragten Sachverständigen- bzw. Zeugenbeweis, mit dem sie unter Beweis gestellt hat, dass die Klägerin in den im Lageplan rot, grün und blau dargestellten Bereichen bereits heute EMV-empfindliche Geräte betreibe (Nr. 4). Auch hier kam es zur Vermeidung eines Abwägungsmangels nicht entscheidend darauf an, ob derzeit in diesen Bereichen störungsempfindliche Geräte aufgestellt sind und - irgendwie - betrieben werden, sondern darauf, inwieweit sich durch die vom Vorhaben ausgehenden elektromagnetischen und Erschütterungswirklungen die Bedingungen für die Aufstellung für die Spitzenforschung erforderlicher Gerätschaften - auch solche künftiger Generationen - im Bereich der von der Klägerin insgesamt nutzbaren Flächen künftig verschlechtern werden. Auch hier verblieben jedenfalls noch abwägungserhebliche Auswirkungen auf die Forschungseinrichtungen der Klägerin.
121 
Soweit die Beigeladene die Einholung amtlicher Auskünfte beim Universitätsbauamt und beim Baurechtsamt der Stadt Heidelberg zum Beweis der Tatsache beantragt hat (Nr. 5), dass keine konkreten Planungen der Klägerin für den Einsatz solcher Geräte im Einwirkungsbereich des Vorhabens vorlägen, welche auch bei aktiver Kompensation nicht betrieben werden könnten, ist ihr bereits entgegenzuhalten, dass es für die Aufstellung von Geräten nicht ohne weiteres eines baurechtlichen Verfahrens bedarf. Schließlich war eine etwaige Verschlechterung der künftigen Standortbedingungen unabhängig davon abwägungserheblich, ob die Klägerin bereits konkrete Planungen für den Einsatz weiterer empfindlicher Geräte verfolgt hat.
122 
Soweit die Beigeladene noch unter Sachverständigenbeweis gestellt hat, dass es für die erschütterungsempfindlichen Geräte - auch hinsichtlich der Nano-D-Anforderungen - planbedingt zu keiner Verschlechterung komme (Nr. 6), kam es tatsächlich nicht nur auf eine Verschlechterung für die bereits derzeit betriebenen Geräte an. Soweit darüber hinaus unter Beweis gestellt wird, es werde noch nicht einmal die bestehende Vorbelastung erhöht, ist dies auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gerichtet. Denn für ihre Behauptung fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.07.2010 - 4 BN 25.10 -). Denn konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich für alle für eine Aufstellung solcher Geräte in Betracht kommenden Flächen die (zu berücksichtigende) Vorbelastung planbedingt nicht erhöhte, liegen nicht vor; solche lassen sich insbesondere auch dem Änderungsplanfeststellungsbeschluss nicht entnehmen.
123 
4. Nach alldem liegen nach wie vor offensichtliche Mängel der Abwägung vor, die - wie ausgeführt - bereits auf die Variantenwahl und damit jedenfalls auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind und auch nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden könnten (vgl. § 29 Abs. 8 PBefG).
124 
Im ergänzenden Verfahren heilbar sind alle Fehler bei der Abwägung, bei denen die Möglichkeit besteht, dass die Planfeststellungsbehörde nach erneuter Abwägung an der getroffenen Entscheidung festhält und hierzu im Rahmen ihres planerischen Ermessens auch berechtigt ist, bei denen sie also nicht von vornherein darauf verwiesen ist, den Planfeststellungsbeschluss aufzuheben oder zu ändern. Hierzu können auch Mängel bei der Variantenprüfung oder Fehler gehören, die darauf beruhen, dass die planende Behörde durch Abwägung nicht überwindbare Schranken des strikten Rechts verletzt hat. Im ergänzenden Verfahren nicht behoben werden können dagegen Mängel bei der Abwägung, die von solcher Art und Schwere sind, dass sie die Planung als Ganzes von vornherein in Frage stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008 - 9 B 28.08 -, Buchholz 406.25 § 50 BImSchG Nr. 6; Urt. v. 01.04.2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <283 f.>; Urt. v. 17.05.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254 <268> u. v. 12.12.1996 - 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358 <365>). Die Unzulässigkeit eines ergänzenden Verfahrens hängt danach zwar nicht allein von der "Bedeutung und großen Zahl fehlgewichteter Belange" ab. Vielmehr muss von vornherein ausgeschlossen sein, dass die Planfeststellungsbehörde diese Mängel unter Aufrechterhaltung ihres Planfeststellungsbeschlusses beheben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.12.2008, a.a.O.).
125 
Dies ist hier der Fall. Denn der Planfeststellungsbeschluss leidet an schwerwiegenden Abwägungsmängeln, die schon aufgrund der bei der Variantenprüfung unterlaufenen Fehler und des nahezu vollständigen Abwägungsausfalls oder doch umfassenden Abwägungsdefizits die Planung als Ganzes in Frage stellen. Hinzukommt, dass der Planung einer Straßenbahn durch das (Sonder-)Gebiet „Universität“ derzeit ohnehin der Bebauungsplan „Neues Universitätsgebiet“ der Stadt Heidelberg entgegensteht, woran sich bei realistischer Betrachtung auch in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Zwar wird die Anwendung des § 29 Abs. 8 Satz 1 PBefG nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass die Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren von zusätzlichen Entscheidungen anderer Organe abhinge (vgl. BVerwG, Urt. 24.11.2010 - 9 A 13.09 -,BVerwGE 138, 226 zur Anpassung eines Flächennutzungsplans; Urt. v. 01.04.2004, a.a.O.). Dies kann freilich nicht gelten, wenn zunächst in einem umfangreichen und zeitaufwändigen Verfahren ein dem Vorhaben entgegenstehender Bebauungsplan in seinen Grundzügen geändert werden müsste, dessen Einleitung und Ergebnis sich auch nicht entfernt absehen lässt. Doch selbst dann, wenn eine Fehlerbehebung durch ein ergänzendes Verfahren auch in einem solchen Fall möglich wäre, käme hier eine Planerhaltung nicht mehr in Betracht. Denn die Planung einer Straßenbahn durch ein (jedenfalls vorhandenes) Universitätsgebiet setzte im Hinblick auf die von dem Vorhaben ausgehenden, einer weiteren Forschungstätigkeit abträglichen Auswirkungen eine sorgfältige Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Belang der Forschungsfreiheit der Universität voraus, die hier - nicht zuletzt aufgrund eines falschen Prüfungsmaßstabs und eines dadurch bedingten nahezu umfassenden Ermittlungs- und Bewertungsdefizits - nunmehr bezogen auf eine neue Sach- und Rechtslage - erstmals getroffen werden müsste. Zu diesem Zwecke müsste der Planfeststellungsbeschluss zumindest in seinem Begründungsteil gänzlich neugefasst werden, sodass von einer „Aufrechterhaltung“ der ursprünglichen Entscheidung selbst dann nicht mehr gesprochen werden könnte, wenn letzten Endes wieder dieselbe Variante planfestgestellt würde. Hinzukommt, dass die Planunterlagen bislang weder eine nachvollziehbare Variantenuntersuchung noch eine nachvollziehbare Bedarfsprognose enthalten. Ohne entsprechende nachvollziehbare - und aktualisierte - Planunterlagen ist eine sachgerechte Abwägungsentscheidung jedoch nicht möglich. Insofern müsste das Planfeststellungsverfahren zumindest ab dem Anhörungsverfahren wiederholt werden. Sinn und Zweck der Planerhaltungsvorschriften ist jedoch die Vermeidung eines erneuten, umfangreichen und zeitaufwändigen Planfeststellungsverfahrens (vgl. Deutsch, in Mann/Senne-kamp/Uechtritz, VwVfG 2014, § 75 Rn. 121). Dies ist jedoch von vornherein nicht erreichbar, wenn nicht nur punktuelle Nachbesserungen einer ansonsten intakten Gesamtplanung in Rede stehen, sondern - nach einem umfangreichen und zeitaufwendigen Bebauungsplanverfahren - erstmals umfassend neu abzuwägen ist. Die in einem solchen Fall gebotene umfassende Ergebnisoffenheit lässt sich auch nur in einem neuen Planfeststellungsverfahren gewährleisten (vgl. hierzu Deutsch, a.a.O., § 75 Rn. 123).
126 
Ist damit der - auch nicht hinsichtlich einzelner Streckenabschnitte teilbare - Planfeststellungsbeschluss bereits nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 29 Abs. 8 PBefG in vollem Umfang aufzuheben, kann dahinstehen, ob sich auch aus § 4 Abs. 3 u. 1 UmwRG ein Aufhebungsanspruch ergäbe.
127 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 u. 3, 159 Satz 1 VwGO. Der Senat sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, sie für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
128 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
129 
Beschluss vom 10. Mai 2016
130 
Der Streitwert wird endgültig auf 60.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 34.2.2 u. 34.3 des Streitwertkatalogs 2013; hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 18.12.2014 - 5 S 1444/14 -).
131 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
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„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
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Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der am ...1995 in Damaskus geborene, ledige Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ eigenen Angaben zufolge im November 2014 sein Heimatland und reiste am 26.07.2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 26.08.2015 einen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge händigte ihm im Verwaltungsverfahren einen Fragebogen aus, um ihm die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [sein] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen dieses Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger beantwortete in der Folge die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.03.2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus Dahiyat Qudsaya, Damaskus, und habe in Syrien als Koch gearbeitet. Fragen nach der Ableistung von Wehrdienst, einer Tätigkeit für die Sicherheitsbehörden oder die Polizei, der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung oder in einer politischen Organisation verneinte er ebenso wie die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von Kriegsverbrechen, Übergriffen auf die Zivilbevölkerung o.ä. geworden sei. Ihm sei nichts passiert; er habe befürchtet, zum Militär zu müssen, habe aber auch eine bessere Zukunft gewollt und sei deshalb nach Deutschland gereist. Ferner legte der Kläger dem Bundesamt sein syrisches Abiturzeugnis nebst Übersetzung vor sowie einen am 11.11.2015 ausgestellten Auszug aus dem Zivilregister für Personenstandsangelegenheiten. Einem entsprechenden Aktenvermerk vom 01.03.2016 zufolge hält das Bundesamt den Kläger „zweifelsohne“ für einen Syrer.
Mit Bescheid vom 09.03.2016, zugestellt am 31.03.2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung habe er nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich allein auf die allgemeine Gefährdung durch den Krieg in seinem Heimatland berufen. Aus seinem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.
Der Kläger hat am 08.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, es liege ein objektiver Nachfluchtgrund vor, weil davon auszugehen sei, dass das syrische Regime jeden syrischen Staatsangehörigen, der das Land verlasse bzw. fliehe, als potenziellen Regimegegner betrachte. Hinzu komme, dass der Kläger auch als „fahnenflüchtig“ oder als Deserteur betrachtet werde. Im Übrigen sei den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Es sei schwer vorstellbar, dass die Familie des Klägers das Land aus „flüchtlingsrelevanten Gründen“ verlassen habe, ausgerechnet er selbst aber nicht.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, auch diejenigen der Eltern des Klägers (Gesch.-Z. ...), sowie seiner Brüder A. (Gesch.-Z. ...) und Mohamad A. (Gesch.-Z. ...). Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
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Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
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Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
12 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
15 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
17 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
18 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
20 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21 
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22 
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte; die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23 
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen, die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24 
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
26 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
31 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
38 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
40 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
42 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
44 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
45 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
47 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
49 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
53 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
54 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
57 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
58 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59 
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
60 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63 
aa) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
64 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
66 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
68 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
77 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
78 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
79 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
80 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
81 
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82 
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
83 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84 
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
87 
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
89 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
90 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
93 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
95 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
101 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
105 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
108 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 
cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
110 
dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 
c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 
Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.), dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße (zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria - Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015, abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
113 
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 
„Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 
Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 
„6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 
Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18 Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 
Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu bekommen (vgl. amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das Immigration and Refugee Board of Canada beruft sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet hätten („most vulnerable group“).
119 
Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 
Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
121 
Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.


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Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

1

Die Kläger, syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und christlicher Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.

2

Der am ... geborene Kläger zu 1) und die am ... geborene Klägerin zu 2) reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihren Kindern, der am ... geborenen Klägerin zu 3) und der am ... geborenen Klägerin zu 4), am 21. November 2015 auf der „Balkanroute“ in das Bundesgebiet ein, wurden am 23. November 2015 als Asylbewerber registriert und stellten am 8. Juli 2016 förmliche Asylanträge.

3

Im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Hermeskeil - am 21. Juli 2016 gab die Klägerin zu 2) an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihren Kindern vor der Ausreise aus Syrien in Aleppo in einem Stadtteil gelebt, der seinerzeit unter der Kontrolle der Regierungstruppen gestanden habe. Sie habe dort einen Textilladen betrieben, obschon sie zuvor mehrere Semester Jura studiert gehabt habe. Ihr Wohnhaus, der Laden und die Schule der Kinder seien von Raketen der Opposition getroffen worden, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben habe. Ihnen selbst seien jedoch keine körperlichen Schäden entstanden. Aus Angst vor weiteren Angriffen und zum Schutz ihrer Kinder hätten sie sich im Oktober 2015 entschieden, das Land zu verlassen. Sie seien illegal mit dem Bus in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und mit dem Schlauchboot unter Zuhilfenahme eines Schleppers auf die griechischen Inseln gereist. Über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich seien sie schließlich nach Deutschland gelangt.

4

Der Kläger zu 1) schloss sich in seiner Anhörung am selben Tag den Ausführungen seiner Ehefrau an. Er habe mehrere Semester Physik für das Lehramt studiert, aber letztlich als Schneider gearbeitet und eigene Kleider entworfen. In den Jahren 1989 bis 1991 habe er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee geleistet. Syrien habe er aus Angst um seine Familie verlassen, nachdem ihre Wohnung und die Schule der Kinder von Raketen beschädigt worden seien. Er habe viele Verletzte und Tote gesehen. Sein Bruder sei auf der Straße von einem Querschläger verletzt worden. Auch sei sein Nachbar, der ebenfalls Christ gewesen sei, entführt worden und verschwunden.

5

Mit Bescheid vom 10. August 2016, zugestellt am 17. August 2016, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen wurde ihr Antrag abgelehnt, da nach Ansicht der Beklagten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlagen. Aus dem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.

6

Hiergegen richtet sich die am 24. August 2016 erhobene Klage, mit der die Kläger die Zuerkennung des weitergehenden Flüchtlingsstatus begehren. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass sie allein schon wegen ihrer illegalen Ausreise, dem längerfristigen Aufenthalt im westlichen Ausland und der Stellung des Asylantrags im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien von der Regierung als potenziell regimekritisch erachtet werden würden. Man werde ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat und der Regierung vorwerfen. Es sei daher zu befürchten, dass sie schon bei der Ankunft von den Sicherheitskräften verhaftet und befragt würden, um Informationen über die ausländische Vernetzung der Opposition zu erlangen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter führen werde. Hierin liege jedenfalls eine Verfolgung aus vermuteter politischer Überzeugung.

7

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragt,

8

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. August 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

9

Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte beantragt schriftsätzlich,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich zur Begründung ihres Antrags auf den angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016.

12

Die Kammer hat das Verfahren aufgrund ihrer bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 12. September 2016 zunächst dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem ähnlich gelagerten Parallelverfahren die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (vgl. OVG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG -, asyl.net), hat der Einzelrichter das Verfahren am 28. September 2016 gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - zur Entscheidung auf die Kammer zurückübertragen. Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten, der bei der Akte befindlichen Asyldokumentation über die asyl- und abschiebungsrelevanten Verhältnisse in Syrien und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und nach der bindenden Rückübertragung durch den Einzelrichter als Kammer entscheidet (§ 76 Abs. 1 AsylG), hat Erfolg. Das Gericht ist dabei durch das Ausbleiben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht gehindert, diese Entscheidung zu treffen, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

14

Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass sich die Kläger nur insoweit gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 10. August 2016 wenden, als ihnen die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt hat. Die ebenfalls in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Anerkennung als Asylberechtigte ist demgegenüber nach dem Klagevorbringen nicht Streitgegenstand geworden und insoweit in Bestandskraft erwachsen.

15

In dieser Fassung ist die Klage als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig und begründet. Den Klägern steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt.

16

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 560) unter anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

17

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

18

b. Zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Zu dem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Rasse stellt § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG klar, dass dies insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe umfasst. Den Verfolgungsgrund der Religion definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere als theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Der Verfolgungsgrund der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird. Dabei ist eine soziale Gruppe insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei allen genannten Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

19

c. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“). Dieser ist nach Maßgabe des § 3e Abs. 1 AsylG zu bestimmen und führt zur Nichtanerkennung des Ausländers als Flüchtling, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und wenn er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20

2. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 1990- 9 C 14.89 -, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13, m.w.N.).

21

a. Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientierende, auf die tatsächliche Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12, m.w.N.). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 23, unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [Abdulla u.a.] -, NVwZ 2010, 505, juris Rn. 92 ff.).

22

Der Asylsuchende muss danach bei verständiger Würdigung der gesamten Um- stände seines Falles sein Heimatland aus Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Aufgabe des Schutzsuchenden ist es insoweit, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Der Vortrag eines Schutzsuchenden, der sein Verfolgungsschicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen kann, ist dabei gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Diese bindet das Gericht dabei nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Im Ergebnis muss das Gericht von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Hierbei darf das Gericht jedoch insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16).

23

b. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann jedoch gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 26). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27/07 -, BVerwGE 133, 31, juris Rn. 14).

24

Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt und hiermit zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 22).

25

Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, DVBl. 1988, 653, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rn. 23; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

26

Maßgebend ist damit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17). Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar er- scheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990- 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52, juris Rn. 31; BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, BVerwGE 89, 16, juris Rn. 17; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 118, juris Rn. 37).

27

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Sie haben Syrien zwar nicht wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen (nachfolgend a.). Ihnen droht jedoch bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (nachfolgend b. und c.).

28

a) Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines der vorstehend genannten Gründe haben die Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert geltend gemacht.

29

In ihren Anhörungen vom 21. Juli 2016 gaben der Kläger zu 1)

30

und die Klägerin zu 2) als Gründe für die Ausreise aus Syrien im Wesentlichen das allgemeine Kriegsgeschehen in Aleppo und die damit verbundene Gefährdung von Leben und Gesundheit ihrer selbst sowie ihrer Kinder an. Diese Darstellung haben die Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen bestätigt. Soweit der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren das Verschwinden eines Nachbarn christlichen Glaubens erwähnt hat, so ist die Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im gesamten Verfahren zu unspezifisch geblieben, um der Kammer die Überzeugung einer religiös motivierten (Vor-)Verfolgungssituation glaubhaft zu vermitteln. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid vom 10. August 2016 (jedenfalls insoweit) zutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger weder eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG noch einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG substantiiert vorgetragen haben, wozu sie jedoch im Falle ihres Vorliegens gemäß §§ 15 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 2 AsylG verpflichtet gewesen wären.

31

Unzutreffend hat die Beklagte jedoch ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass in den Personen der Kläger „lediglich“ stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt ernsthafter individueller Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht und hat dementsprechend den Klägern rechtsfehlerhaft nur den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Dabei hat die Beklagte ihre Entscheidung über das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf die fehlende Vorverfolgung der Kläger gestützt, ohne das Vorliegen von Nachfluchttatbeständen im Sinne des § 28 AsylG auch nur in Betracht zu ziehen. Allein aus diesem Grund erweist sich der Bescheid vom 10. August 2016 als rechtswidrig und ist - soweit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist - aufzuheben.

32

b) Die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer führt indes auch zu dem Ergebnis, dass Nachfluchtgründe in den Personen der Kläger vorhanden sind. Ihnen droht aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung jedenfalls wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheinen lässt.

33

aa) Das Gericht ist im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen davon ausgegangen, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland und die dortige Stellung eines Asylantrags als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. nur VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v.; VG Trier, Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 K 1576/16.TR -, juris, jeweils m.w.N.). Daher war Asylbewerbern aus Syrien ungeachtet zusätzlich individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen der Flüchtlingsstatus zuzusprechen, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten stand, dass ihnen im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohte, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.

34

Diese Rechtsprechung folgte erstens aus Berichten über die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 nach Syrien abgeschoben wurden und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (nachfolgend 1.), zweitens der umfassenden Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste (nachfolgend 2.) sowie drittens der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und aus der aktuellen Berichterstattung zur Situation des Regimes (nachfolgend 3.).

35

(1) So hatte das Auswärtige Amt bei der Bewertung der asyl- und abschiebungsrechtlichen Lage in Syrien festgestellt, dass Personen, die im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens vor dem Abschiebestopp 2011 zwangsweise nach Syrien zurückgeführt worden waren, bei ihrer Einreise nicht nur - wie üblich - durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, sondern auch willkürlich verhaftet und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftiert sowie körperlich und psychisch misshandelt worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 20).

36

Seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 ging das syrische Regime nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen zudem mit massiver Gewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vor. Das Auswärtige Amt sah zugleich eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegen die Protestbewegung (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 7). Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung war nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang hatten, als besonders hoch einzustufen, zumal jeder der vier großen militärischen und zivilen Geheimdienste in Syrien eigene Gefängnisse und Verhörzentralen unterhielt, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelte. Vieles deutete nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 6, 11).

37

(2) Zugleich hatte nach den damals vorliegenden Erkenntnissen das Interesse der syrischen Geheimdienste an der Exilopposition auch nach der Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien nicht abgenommen. Im Ausland lebende Syrer wurden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. Ziel war vor allem die Ausforschung von oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus Sicht des Regimes eine Gefahr darstellen konnten. Der Verfassungsschutz verzeichnete laut Verfassungsschutzbericht 2012 seit der Eskalation des syrischen Konflikts im Frühjahr 2011 sogar eine gesteigerte Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2012, S. 400). Hieraus schloss das Gericht, dass der syrische Staat bei Rückkehrern, die die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut vermuten werde (vgl. auch VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - 22 K 14. 30752 -, juris Rn. 35 ff.).

38

Da schon der bloße Verdacht oppositioneller Umtriebe oder exilpolitischer Betätigung, die bereits niederschwellig angenommen werde, zu einem hohen Folterrisiko führte (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10 f.), war auch vor diesem Hintergrund von der realen Möglichkeit einer Befragung und körperlichen Misshandlung von Personen auszugehen, die nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland in ihre Heimat zurückkehren.

39

(3) Dem stand bereits seinerzeit auch nicht die Annahme entgegen, dass die syrische Regierung keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen habe, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren zusätzlichen individuellen Grund oder konkreten Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG genannten Gründen zu verfolgen. Vielmehr sprach nach den damaligen Erkenntnissen zur militärischen Lage im Land alles dafür, dass die syrische Regierung sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befand, es dieser jedoch lokal auch des Öfteren gelang, Gebiete zurückzuerobern. Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen konnten vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen und waren trotz der Desertionswelle in den Jahren 2011 und 2012 nach wie vor in der Lage, zumindest weitere Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten (vgl. VG Trier, Urteil vom 14. Juni 2016 - 1 K 1105/16.TR -, n.v., m.w.N.). Gerade der Flughafen in Damaskus als Einreisepunkt aus dem europäischen Ausland rückkehrender Asylantragsteller war jederzeit in der Hand der Regierungstruppen, so dass diese ohne weiteres in der Lage waren, Rückkehrer zu kontrollieren oder zu inhaftieren.

40

Daher sprach alles dafür, dass die Behandlung, der sich abgelehnte Asylantragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien würden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpfen würde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 5 ff.). Das Gericht folgte insoweit insbesondere der durch das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam war, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nahm und auch die Möglichkeit zu deren Durchsetzung hatte (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris).

41

(4) Diese Rechtsprechung der Kammer stand im Einklang mit der weit überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Januar 2014 - OVG 3 N 91.13 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. März 2013 - RN 6 K 12.30059 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris; VG Kassel, Urteil vom 2. Juli 2013 - 5 K 200/13.KS.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 3 K 986/13 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 21. November 2013 - 9 K 1844/13.A -, juris; VG München, Urteil vom 9. Juli 2014 - M 22 K 14.30752 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 2 K 3472/12.GI.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 9. September 2014 - RN 1 K 14.30205 -, n.v.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 26. September 2014 - 3 K 1489/13.A -, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 25. November 2014 - Au 2 K 14.30422 -, juris; VG Köln, Urteil vom 18. Juni 2015 - 20 K 4052/14.A -, juris; aA OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2012 - 14 A 2485/11.A -, juris). Auch Gerichte aus dem europäischen Ausland vertraten diese Rechtsprechung (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urteil vom 7. August 2012 - Syria CG UKUT 00426 [KB ./. Secretary of State for the Home Department] -, verfügbar unter: https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/pdf_file/37443/00426_ukut_iac_2012_kb_syria_cg.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Bis vor kurzer Zeit - Frühjahr 2016 - entsprach es zudem der Praxis der Beklagten, syrischen Flüchtlingen aus eben diesen Gründen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

42

bb) Die Verfolgungssituation gegenüber tatsächlichen und vermuteten politischen Gegnern in Syrien hat sich - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht maßgeblich geändert. Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht der Kläger vor Verfolgung vor. Ihnen droht nach dem vorstehend beschriebenen Maßstab bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihnen nicht zumutbar ist, nach Syrien zu- rückzukehren.

43

Zwar sind hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen belastbare Fakten aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und ihrer Schwere muss daher in erster Linie im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 32; VG Meiningen, Urteil vom 27. März 2014 - 1 K 20092/12 Me -, juris Rn. 31). Dies zugrunde gelegt, führt die „qualifizierende Betrachtungsweise“ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu dem Ergebnis, dass in einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger berechtigt die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, da die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.

44

(1) Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage werden Personen, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, weiterhin systematisch Opfer einer Behandlung, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

45

(a) Das US State Department, dem auch Erkenntnisse über das Schicksal von Personen vorliegen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht 2016 zur Lage in Syrien aus, dass bei ihrer Rückkehr in das Land sowohl Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht haben, als auch solche, die Verbindungen zur syrischen Muslimbruderschaft hatten, verschärften Ermittlungen ausgesetzt waren. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl. United States Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, April 13th, 2016, S. 35/36, verfügbar unter http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

46

(b) Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 fest, dass Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert würden und in konkreter Gefahr stünden, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem werde in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiere der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter. Zwar bestehe insoweit kein Automatismus. Während traditionell ausgerichtete Entscheidungsträger einen Rückkehrer immer als potenziellen Oppositionellen erachten würden, gebe es auch Fälle, in denen etwa eine Ausreise aus wirtschaftlichen Gründen als berechtigt anerkannt werde. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt. Besonderes Augenmerk werde bei Rückkehrern zudem auf die Form der Ausreise aus Syrien gerichtet. Da eine Genehmigung der Regierung für die Ausreise erforderlich sei und Frauen zudem die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen müssten, könne die Regierung jederzeit feststellen, ob eine Person das Land legal verlassen habe und zu welchem Zeitpunkt dies erfolgt sei (vgl. Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed milita- ry service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014- December 2015], January 19th, 2016, verfügbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

47

(c) Diese Verhaltensmuster finden ihre Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt im jüngsten Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise 2011 darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe, willkürlich inhaftiert zu werden, zu „verschwinden“ oder gefoltert bzw. misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren und könnten sowohl friedliche Aktivitäten wie die eines Menschenrechtsaktivisten, medizinische Hilfe für bedürftige Zivilisten als auch die Mitorganisation von reformbestrebten Demonstrationen umfassen (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 16, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508 /2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

48

Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist. Ein Zugang zu staatlichen Gerichten ist den so Inhaftierten nicht möglich. Seit 2012 wurde zudem ein sog. Anti-Terrorismus-Gericht etabliert, dessen Verfahrensgestaltung grundsätzliche rechtsstaatliche Verfahrensregeln missachtet (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 14, Fn. 23, verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

49

(d) Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen zehntausendfacher Fälle des Verschwindenlassens von Personen seitens der syrischen Regierung festgestellt:

50

„75. Civilians, mainly men of fighting age, continue to vanish from the streets of the Syrian Arab Republic. Tens of thousands of Syrians are missing, many in circumstances that suggest they have been forcibly disappeared. (…)

51

77. In a pattern that began in March 2011 and which continues to this day, Syrians are arrested or abducted by State agents and thereafter disappear from public view. Relatives continue to report cases of those who disappeared between 2011 and 2015. Common sites of arrest and abduction include checkpoints, hospitals, workplaces and homes.

52

78. Throughout the Commission’s existence, Syrians have recounted the terror they feel when passing through government checkpoints for fear of being taken and never heard from again. Some women indicated the final trigger for their becoming refugees was the fact that their adolescent sons faced increasing risks of being held at checkpoints. This fear is well justified: many Syrians have had family members vanish following arrest or abduction by government forces. (…)

53

79. Other victims have disappeared while imprisoned, having been transferred from a known detention centre to an unknown location. (…)” (Human Rights Council, 33rd session, Report of the Independent International Commission Inquiry on the Syrian Arab Re- public, August 11th, 2016, UN-Doc A/HRC/33/35, verfügbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

54

„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)

55

77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.

56

78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohl- begründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)

57

79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“ (sinngemäße Übersetzung durch die Kammer)

58

(e) Dabei beschränken sich nach der bestehenden Erkenntnislage die Verhaftungen, Befragungen und dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen nachweislich kundgetan worden ist. Vielmehr werden in zunehmendem Maße menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN- HCR) stellt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge in der aktualisierten Fassung vom November 2015 fest:

59

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften die Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

60

Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extra- legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“ (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 11-14, verfügbar unter: http://www.ref world.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56ba17344, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

61

Den Berichten des UNHCR kommt dabei besonderes Gewicht zu, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -, juris Rn. 38).

62

(f) Bestätigt werden diese Erkenntnisse auch durch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Diese hat im Rahmen einer Schnellrecherche vom 10. September 2015 unter Bezugnahme auf verschiedene sonstige Quellen und unter Auswertung der seinerzeit bekannten Erkenntnislage festgestellt, dass in zahllosen Fällen von Familienangehörigen berichtet werde, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert würden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen (sog. Reflexverfolgung). Auch Kinder seien von den Maßnahmen betroffen gewesen, die sich zum einen gegen Angehörige bewaffneter Gruppierungen, zum anderen aber auch gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten, Regierungskritiker wie auch gegen Mitglieder von Menschenrechtsgruppen richteten. Die meisten Verhaftungen seien im Geheimen und auf Befehl eines der Sicherheitsapparate durchgeführt worden. Dabei habe in vielen Fällen eine offizielle Begründung für die Verhaftung gefehlt, häufig habe es sich um willkürliches Vorgehen gehandelt. Diese Dynamik der Reflexverfolgung stelle eine „ganz entscheidende Charakteristik des anhaltenden syrischen Konflikts“ dar. Betroffen seien demnach insbesondere Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen, Dienstverweigerer und Überläufer. Zudem seien Fälle bekannt, in denen es durch Reflexverfolgung zu „willkürlichen Festnahmen, Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen Hinrichtungen“ gekommen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH- Länderanalyse vom 10. September 2015 zu Syrien: Reflexverfolgung, verfügbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150908-syr-reflexverfolgung.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

63

(g) Die so Inhaftierten sind zudem jenseits der bestehenden Gefahr der Folter, des Verschwindenlassens und der willkürlichen Tötungen jedenfalls Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 23. Mai 2016 darüber, dass nach Angaben der in London ansässigen „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in den Gefängnissen der syrischen Regierung mindestens 60.000 Menschen zu Tode gekommen seien, seitdem die Kampfhandlungen im Jahr 2011 ausbrachen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2016, S. 7).

64

(h) Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht zu den Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human - torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 37 ff., verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/docu-ments/mde24/4508/2016/en/, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

65

(i) Gleichlautend ist ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch aus dem Dezember 2015, in dem unter anderem systematisch Augenzeugenberichte zur Lage in den staatlichen Gefängnissen ausgewertet wurden. Darin heißt es exemplarisch:

66

„Alle von Human Rights Watch befragten ehemaligen Gefangenen beschrieben Zustände in ihren Zellen, welche das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen lag eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter vor. Nach der Auskunft von Gefangenen, die nach verbesserten Haftbedingungen fragten und von einem Deserteur, der als Gefängniswärter arbeitete, wussten die Behörden von diesen Bedingungen und förderten sie durch die Verweigerung von angemessener Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum.“ (vgl. Human Rights Watch, If the Dead could speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Fecilities, Dezember 2015, verfügbar unter https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could- speak/ mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016).

67

(j) Die Gesamtschau der verfügbaren Erkenntnisquellen, im Rahmen derer den regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. [N.S../. Secretary of State for the Home Department] -, NVwZ 2012, 417, juris Rn. 90), führt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen sowie ihren Angehörigen die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung droht. In der Durchführung der willkürlichen Inhaftierungen liegen Verletzungen von Art. 7 EMRK, in der Durchführung der Folter und der unmenschlichen Behandlung in der Haft Verletzungen von Art. 3 EMRK und in der willkürlichen Tötung oder dem Verschwindenlassen Verletzungen von Art. 2 Abs. 1 EMRK. Alle genannten Konventionsrechte sind nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest, so dass jedwede der genannten Verletzungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt.

68

Die übereinstimmenden Berichte belegen zudem, dass sich die Verfolgung in erster Linie gegen Personen und Personengruppen richtet, die seitens der syrischen Regierung in dem - berechtigten oder unberechtigten - Verdacht stehen, politisch nicht fest im Regime verankert zu sein und die aus Sicht der Regierung gebotene Treuepflicht durch ein vermeintlich illoyales Verhalten oder schlichte Passivität in der Bürgerkriegssituation verletzt zu haben. Hierin liegt eine Verfolgung wegen der tatsächlichen oder zugeschriebenen politischen Überzeugung der Betroffenen im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, die eine in hinreichendem Maße gefestigte Verknüpfung zur Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG aufweist.

69

(2) Auch die Erkenntnislage zum fortbestehenden Interesse der syrischen Regierung an der Exilopposition im Ausland lässt keine maßgebliche Änderung der Sachlage erkennen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die syrischen Geheimdienste im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine weitreichende Beobachtung von oppositionsverdächtigen syrischen Staatsangehörigen im Ausland vornehmen.

70

(a) Der Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern stellt insoweit unmissverständlich fest:

71

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

72

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“ (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.)

73

(b) Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus den Verfassungsschutzberichten der Länder. So hat der Verfassungsschutz des Landes Rheinland-Pfalz festgestellt, dass die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland „forcieren“ (vgl. Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82). Der Verfassungsschutz des Freistaats Sachsen führt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 explizit aus:

74

„Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden. Als Agenten können vermeintliche Flüchtlinge oder seit längerem in Deutschland lebende Landsleute zum Einsatz kommen.“ (vgl. Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S.236).

75

Der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015 fest, dass verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens in der Hansestadt aktiv seien, die ein „besonderes Interesse (…) an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden“, haben (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 215). Der Hessische Verfassungsschutzbericht 2015 beschreibt die Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Land folgendermaßen:

76

„Der überwiegende Teil der im Berichtsjahr in die Bundesrepublik eingereisten Flüchtlinge stammt aus Ländern, in denen staatliche Strukturen nur noch begrenzt vorhanden sind, wie etwa Syrien und Irak. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“ (vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162).

77

(c) Diese übereinstimmende Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung. Zugleich dürften bereits aufgrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Syrien in den Jahren 2014 und 2015 die personellen und sachlichen Mittel der syrischen Geheimdienste unzureichend sein, um eine systematische Erfassung und Bewertung der Oppositionsnähe aller in Deutschland lebenden Syrer zuverlässig zu gewährleisten. Aus diesen Grund steht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr allein schon aufgrund der lückenhaften geheimdienstlichen Erkenntnislage verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen werden, um die Motive der Ausreise sowie die etwaige Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen.

78

(d) Schließlich hat auch die immer stärker eskalierende Situation in Syrien mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen nicht zur Folge, dass der Einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling wegen dieses Massenphänomens nicht mehr als potenzieller politischer Gegner angesehen wird. Nach der Auffassung der syrischen Regierung handelt es sich bei dem sich zu einem Bürgerkrieg ausgewachsenen Aufstand um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land, der mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen sei. Daher muss mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung von zurückkehrenden Asylbewerbern gerechnet werden (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 - A 7 K 2987/12 -, juris Rn. 27). Während schon vor Beginn der Aufstände teilweise wochenlange Inhaftierungen und Verhöre von aus dem Ausland kommenden und nicht exponiert auftretenden Syrern nicht unüblich waren, wird unter den konkreten derzeitigen Umständen jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen werden (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris Rn. 34; VG Aachen, Urteil vom 11. Januar 2012 - 9 K 1698/10.A -, juris Rn. 20 ff.).

79

(3) Die Entwicklung der innenpolitischen und militärischen Lage in Syrien rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass der syrischen Regierung im Falle der hypothetischen Rückkehr der Kläger keine ausreichenden finanziellen oder personellen Ressourcen zur Verfügung stehen könnten, so dass aus diesem Grunde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht bestünde.

80

(a) Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr 2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen, die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub wichtige Stadt Kusseir, zu erobern.

81

Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen.

82

Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016 eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in Aleppo': As- sad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny- times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html, letzter Auf- ruf jeweils: 7. Oktober 2016).

83

(b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch, logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia Fighting in Syria for a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert- russland-schickt-flugzeuge-a-1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl. The New York Times, Tension With Russia Rises as US Halts Syria Negotiations, verfügbar unter http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht kommt, die - etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.

84

(c) Auch steht der internationale Flughafen in Damaskus als einziges mögliches Ziel einer zwangsweisen Rückführung nach Syrien unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte. Bereits aus diesem Grund fehlt den Klägern auch eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“). Selbst wenn innerhalb eines beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG für die Kläger bestünde (vgl. hierzu aber bereits Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungs- rechtlich relevante Lage in der Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S. 10), könnten diese jedenfalls nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen, bevor sie in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fallen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Kammer bezweifelt freilich, dass die Kläger selbst bei der unterstellten Möglichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr sicher und frei innerhalb Syriens zu reisen, eine inländische Fluchtalternative bestünde, da die dortigen Machthaber der Opposition oder des Islamischen Staats Ausreisenden aus regierungskontrollierten Gebieten ebenfalls mit Misstrauen und Zwangsmaßnahmen begegnen dürften. Hiervon ist ersichtlich auch die Beklagte ausgegangen, da sie den Klägern den subsidiären Schutzstatus zugebilligt hat, der ebenfalls von dem Fehlen internen Schutzes abhängig ist (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

85

(4) Nach alledem muss in Ansehung der vorliegenden Erkenntnisse trotz gestiegener Ausreisezahlen nach wie vor davon ausgegangen werden, dass wegen der illegalen Ausreise der Kläger, ihrem Aufenthalt in westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung im Falle ihrer Abschiebung nach Syrien eine Befragung und gegebenenfalls Inhaftierung durch syrische Sicherheitskräfte erfolgen wird, bei der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter zu erwarten ist und die zumindest auf einer den Klägern durch die Verfolger zugeschriebenen politischen Überzeugung beruht.

86

Dieses Ergebnis entspricht auch der weit überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. VG Köln, Urteil vom 23. Juni 2016 - 20 K 1599/16.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707-, juris; VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2016 - 1 K 20205/16 Me -, n.v.; VG Regensburg, Urteil vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2016 - VG 23 K 486.16 A -, n.v.; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 10. August 2016 - 3 K 7501/16.A -, juris; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 15. August 2016 - 12 A 149/16 -, asyl.net; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 664/15.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 -, asyl.net).

87

Daneben hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt und die damit mittelbar die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflusst (vgl. statt vieler: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a.-, BVerfGE 128, 326, juris Rn. 88, 89, m.w.N.) in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die beabsichtigte Rückführung von erfolglosen Asylbewerbern aus der Russischen Föderation nach Syrien aufgrund der dortigen Verfolgungsgefahr wegen zugeschriebener oppositioneller Einstellung als Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK bewertet. Hierfür hat er neben den im Einzelnen aufgeführten Erkenntnisquellen als ausreichend erachtet, dass es sich bei einem Beschwerdeführer um einen staatenlosen Palästinenser handelte, ein weiterer Beschwerdeführer einen Verwandten in dem Konflikt verloren hatte, alle Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter waren und aus Aleppo bzw. Damaskus stammten, wo besonders schwere Kämpfe stattgefunden hatten (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a../. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 123-125).

88

cc) Soweit die Beklagte in anderen Verfahren die Auffassung vertreten hat, dass sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge im Rahmen der Massenausreise geändert habe und daher im Vergleich zu früheren Jahren nur noch ein geringeres Interesse der syrischen Regierung zur Befragung von Rückkehrern bestehe, verkennt die Kammer nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Bürgerkriegs mehr (tatsächliche) Oppositionelle aus dem Land geflohen sind, während die in den Jahren 2014 bis 2016 ausgereisten Personen überwiegend wegen der Kriegsereignisse das Land verlassen haben. Dies führt jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entfiele. Erstens ist angesichts der weiteren Zuspitzung des Konflikts in Syrien nicht zu erwarten, dass die totalitär ausgerichtete Regierung den Verfolgungsdruck auf potenzielle Gegner mit der Erwägung mildert oder gar aufgibt, dass eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit besteht, einen schon vor der Ausreise aktiven Oppositionellen ausfindig zu machen. Zweitens dürfte sich aufgrund des Umstands der illegalen Ausreise für den Rückkehrer im Einzelfall auch nicht mehr belegen lassen, dass er erst zu einem Zeitpunkt das Land verlassen hat, als sich die Zusammensetzung der Flüchtlinge bereits von den mehrheitlichen Regimegegnern zu den mehrheitlichen Kriegsopfern verschoben hatte.

89

Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zahl von über 4 Millionen Flüchtlingen, die Syrien seit dem Beginn des Bürgerkriegs verlassen haben, und von der die Beklagte jeweils bei der Darstellung der Massenauswanderung im Rahmen ihrer Anträge auf Zulassung der Berufung ausgeht, nur zu einem untergeordneten Anteil Personen beinhaltet, die - wie die Kläger - in das westliche Ausland geflohen sind. Die weit überwiegende Mehrzahl verbleibt in den Nachbarstaaten Syriens. Ausweislich des jüngsten Berichts des UNHCR über die globale Flüchtlingssituation 2015 sind von den 4,9 Millionen Flüchtlingen aus Syrien rund 2,5 Millionen in die Türkei, circa 1,1 Millionen in den Libanon und etwa 600.000 nach Jordanien geflohen (vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, June 20th, 2016, S. 21; verfügbar unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/Infomaterial/global_trends_2015.pdf, letzter Aufruf: 7. Oktober 2016). Damit hat im Ergebnis nur rund ein Siebtel der aus Syrien ausgereisten Personen in anderen als den genannten Staaten um internationalen Schutz nachgesucht. In Anbetracht dessen erscheint es nach dem Maßstab eines vernünftigen und besonnenen Menschen ebenfalls nicht als weniger wahrscheinlich, dass dem wiederum geringeren Anteil der Ausreisenden, der im westlichen Ausland um internationalen Schutz nachgesucht hat, im Falle der Rückkehr ins Heimatland im Vergleich zu den in der Großregion verbliebenen Kriegsflüchtlingen eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Sicherheitskräfte zuteil wird.

90

dd) Soweit einzelne Gerichte davon ausgehen, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage sei oder kein Interesse mehr an solchen hätte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 14 A 1008/13.A -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Februar 2014 - 14 A 215/14.A -, juris; bestätigt durch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2016 - 14 A 1802/16.A -, juris Rn. 12), handelt es sich dabei um eine Mutmaßung, die die Kammer den vorliegenden Erkenntnisquellen so nicht zu entnehmen vermag (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 - RO 11 K 16.30707 -, juris) und die auch die gestärkte Position der syrischen Regierung in der allerjüngsten Vergangenheit verkennt.

91

Zudem entfällt die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht dadurch, dass ein Regime möglicherweise durch Überlastung seiner Sicherheitskräfte im Falle massenhafter Rückkehr/Abschiebung ab einem gewissen Moment nicht mehr in der Lage ist, die Verfolgungsmaßnahmen effektiv und systematisch durchzusetzen. Es kann bereits bei der Prognose der Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unterstellt werden, dass die Masse der Flüchtlinge „auf einen Schlag“ in die Heimat zurückkehrt. Vielmehr muss bei realitätsnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrer allenfalls in Gruppen von einigen Hundert bis wenigen Tausend Personen pro Tag zurückgeführt werden. Diese Größenordnung dürften auch auf lange Sicht durch einen effektiven Sicherheitsapparat, der faktisch keinen verfahrensrechtlichen oder sonstigen rechtsstaatlichen Beschränkungen unterliegt, zu bewältigen sein. Daneben kann der Wahrscheinlichkeitsprognose des individuellen Asylsuchenden nicht zulässigerweise zugrunde gelegt werden, dass er erst zu einem Zeitpunkt in das Heimatland zurückgeführt wird, zu dem das Sicherheitssystem zusammengebrochen ist und daher keine effektive Verfolgung mehr stattfindet. Im Gegenteil muss auch die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass er vor diesem Zeitpunkt nach Syrien gelangt und (noch) Opfer systematischer Verfolgung wird oder dass seine Rückkehr in die Phase des Zusammenbruchs fällt, die nach den empirischen historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen in der Regel von besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt ist. Angesichts dieser Ungewissheit kann die Rückkehr aus der Sicht eines besonnen und vernünftigen Menschen, gerade auch in Ansehung der Schwere der zu befürchtenden Menschenrechtsverletzungen, nicht mehr als zumutbar erachtet werden.

92

ee) Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15. September 2016 - 1 A 10655/16.OVG - die Frage als klärungsbedürftig angesehen hat, ob Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen, ist zu betonen, dass die genannten Voraussetzungen bereits für sich genommen individuelle Verfolgungsgründe darstellen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Gruppenverfolgung, sondern um eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ (vgl. bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris Rn. 24 ff.). Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, stellt in dieser Konstellation für den Verfolger nur ein Element in seinem Feindbild dar, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 5).

93

In diesem Sinne liegen die zum Anlass für die Verfolgung genommenen Merkmale vorliegend erstens in der illegalen Ausreise und der damit verbundenen Aufkündigung der von der syrischen Regierung geforderten Loyalität im Kampf gegen die Oppositionsgruppierungen, zweitens in der Flucht und dem längeren Aufenthalt in einem westlichen Land, durch die die Ausreisenden nach Sicht der Regierung eine Identifikation mit der dortigen Werteordnung und der westlichen Unterstützung der Opposition in Syrien zum Ausdruck bringen sowie drittens der Asylantragstellung, die den dauerhaften Bruch mit dem syrischen Staat nach außen zum Ausdruck bringt. Da die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, nicht voraussetzt, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 1996 - 9 B 14.96 -, DVBl. 1996, 623, juris Rn. 4), ist es angesichts dessen auch unschädlich, dass vor dem Hintergrund der Massenausreise einzelne Rückkehrer möglicherweise von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben.

94

c) Die Kläger weisen die genannten Merkmale auf. Ihre hierzu in den Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getätigten Angaben sind durch ihre Einlassungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt worden. Sie sind illegal aus Syrien ausgereist, da der Grenzübertritt nur durch Zahlung eines Bestechungsgeldes an der Kontrollstelle ermöglicht wurde, die Reisepässe keinen Ausreisestempel aufweisen und zudem keine Genehmigung der syrischen Behörden für die Ausreise eingeholt worden ist. Sie halten sich zudem nunmehr seit rund einem Jahr im Bundesgebiet und damit dem westlichen Ausland auf und haben einen Asylantrag sowie einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt. Angesichts dessen droht den Klägern für den Fall der Rückkehr ungeachtet weiterer individuell geltend gemachter Fluchtgründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil davon auszugehen ist, dass im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werden wird.

95

d) Erschwerend kommt hinzu, dass die Kläger als Christen und ehemalige Bewohner der durch die Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Stadt Aleppo zumindest zwei besonders vulnerablen Zielgruppen angehören (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26; EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 [L.M. u.a. ./. Russische Föderation] -, HUDOC, Rn. 124), was die individuelle Wahrscheinlichkeit, im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, weiter erhöht. Zwar kommt diesem Umstand für die Begründung des Anspruchs auf Zuerkennung er Flüchtlingseigenschaft keine eigenständige Bedeutung mehr zu, da die Merkmale der illegalen Ausreise, des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland und der hiesigen Asylantragstellung den Anspruch bereits für sich genommen tragen. Die Kammer stützt ihre Entscheidung gleichwohl ergänzend auf die besondere Vulnerabilität der Kläger.

96

4. Die Ausspruch über die Kosten resultiert aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

97

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.

(1) Über vor dem 1. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung ist nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht zu entscheiden. § 101 Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, ist es bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 findet keine Anwendung.

(3) Bei Ausländern, die sich vor dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, gilt hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt geborenen Kinder für den Nachzug § 20 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere Rechtsstellung.

(4) (weggefallen)

(5) Auch für Ausländer, die bis zum Ablauf des 31. Juli 2015 im Rahmen des Programms zur dauerhaften Neuansiedlung von Schutzsuchenden einen Aufenthaltstitel nach § 23 Absatz 2 erhalten haben, sind die Regelungen über den Familiennachzug, das Bleibeinteresse, die Teilnahme an Integrationskursen und die Aufenthaltsverfestigung auf Grund des § 23 Absatz 4 entsprechend anzuwenden.

(6) § 23 Abs. 2 in der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung findet in den Fällen weiter Anwendung, in denen die Anordnung der obersten Landesbehörde, die auf Grund der bis zum 24. Mai 2007 geltenden Fassung getroffen wurde, eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. § 23 Abs. 2 Satz 5 und § 44 Abs. 1 Nr. 2 sind auf die betroffenen Ausländer und die Familienangehörigen, die mit ihnen ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen, entsprechend anzuwenden.

(7) Eine Niederlassungserlaubnis kann auch Ehegatten, Lebenspartnern und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers erteilt werden, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes waren, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 erfüllt sind und sie weiterhin die Voraussetzungen erfüllen, wonach eine Aufenthaltsbefugnis nach § 31 des Ausländergesetzes oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 2 des Ausländergesetzes erteilt werden durfte.

(8) § 28 Absatz 2 in der bis zum 5. September 2013 geltenden Fassung findet weiter Anwendung auf Familienangehörige eines Deutschen, die am 5. September 2013 bereits einen Aufenthaltstitel nach § 28 Absatz 1 innehatten.

(9) Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 besitzen, weil das Bundesamt oder die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 2, 3 oder 7 Satz 2 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung vorliegen, gelten als subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative, es sei denn, das Bundesamt hat die Ausländerbehörde über das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen im Sinne des „§ 25 Absatz 3 Satz 2 Buchstabe a bis d in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung unterrichtet. Die Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Satz 1 in der vor dem 1. Dezember 2013 gültigen Fassung stehen Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 73b des Asylgesetzes gilt entsprechend.

(10) Für Betroffene nach § 73b Absatz 1, die als nicht entsandte Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in einer Auslandsvertretung tätig sind, findet § 73b Absatz 4 ab dem 1. Februar 2016 Anwendung.

(11) Für Ausländer, denen zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Juli 2015 subsidiärer Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/38/EG unanfechtbar zuerkannt wurde, beginnt die Frist nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zu laufen.

(12) Im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34 und 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes, die bereits vor dem 1. August 2015 erlassen oder angeordnet worden ist, sind die Ausländerbehörden für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 zuständig.

(13) Die Vorschriften von Kapitel 2 Abschnitt 6 in der bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassung finden weiter Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. § 27 Absatz 3a findet Anwendung.

(14) (weggefallen)

(15) Wurde eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 4 in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung erteilt, gilt § 19d Absatz 1 Nummer 4 und 5 nicht, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Absatz 1a der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat.

(16) Für Beschäftigungen, die Inhabern einer Duldung bis zum 31. Dezember 2019 erlaubt wurden, gilt § 60a Absatz 6 in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung fort.

(17) Auf Personen mit einer bis zum Ablauf des 30. Juni 2023 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung sind bis zur erstmaligen Erstellung eines Kooperationsplans nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Fassung, spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023, § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und Satz 3 sowie § 45a Absatz 2 Satz 1 in der bis zum 30. Juni 2023 gültigen Fassung weiter anzuwenden.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
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„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
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In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
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Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
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http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
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Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
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b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
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aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
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Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
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bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
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Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
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Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
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cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
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Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
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Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
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cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
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Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 
„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 
Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Kläger sind - bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersuchten Zivilregisterauszug und eine ID-Card - syrische Staatsangehörige aus Ain Larouz. Die 1968 bzw. 1972 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der 1998, 2000, 2004 und 2011 geborenen Kläger zu 3) bis 6). Eigenen Angaben zufolge verließen sie am 11.10.2015 ihr Heimatland und reisten über den Landweg kommend am 24.10.2015 in das Bundesgebiet ein, wo ihr Asylantrag am 01.02.2016 erfasst wurde. An diesem Tag führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit den Klägern zu 1) und 2) ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens. Bei dieser Gelegenheit händigte das Bundesamt ihnen auch einen Fragebogen aus, um die Möglichkeit einzuräumen, „in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [ihr] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger zu 1) beantwortete vor Ort unter Zuhilfenahme des anwesenden Dolmetschers die Formularfragen schriftlich im Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne. Die Frage, ob er Dokumente zu Gefahren vorlegen könne, die ihm in Syrien drohten, verneinte er, gab aber in diesem Zusammenhang an, sie seien „in die Mitte“ zwischen Regime und Regimegegner geraten. Er sei weder Berufssoldat noch Angehöriger von Sicherheitsbehörden oder Polizei noch Mitglied einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe gewesen; von Beruf sei er selbstständiger Fahrer. Er sei nicht Augenzeuge von Kriegsverbrechen oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung geworden. Die Klägerin zu 2) machte im Wesentlichen gleiche (schriftliche) Angaben. Beide äußerten ihre Befürchtung, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gewärtigen.
Ohne die Kläger zuvor persönlich anzuhören, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Entscheidungszentrum West, Bonn - ihnen mit Bescheid vom 06.04.2016, zugestellt am 11.04.2016, den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte die Asylanträge im Übrigen jedoch ab. Zur Begründung hieß es zunächst einleitend, die „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften“ erfolge auf der Grundlage eines schriftlichen Verfahrens. Aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine individuelle Begründung für die letztgenannte Annahme enthielt der Bescheid nicht.
Mit Bescheid vom 08.04.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg einer weiteren, am 07.09.1996 geborenen Tochter der Kläger zu 1) und 2) (A.) unter dem Gesch.-Z. 6517620-475 die Flüchtlingseigenschaft zu, obwohl sie auch im Rubrum des Bescheids vom 06.04.2016 mit aufgeführt war. Diese Tochter war mit den Klägern eingereist und hatte mit diesen gleichfalls am 01.02.2016 identische (schriftliche) Angaben gemacht. Im Anerkennungsbescheid vom 08.04.2016 hieß es zur Begründung lediglich, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass die Furcht der Tochter vor Verfolgung begründet sei. In einem begleitenden Aktenvermerk des Bundesamts zu den Gründen für die positive Entscheidung zu § 3 AsylG hieß es, in allen Landesteilen Syriens könne Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG in hohem Maße stattfinden. Die syrische Regierung könne in den von ihr kontrollierten Gebieten als Akteur zielgerichteter Verfolgung in Betracht kommen. Gleiches gelte für den Islamischen Staat, die Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und andere Oppositionsgruppierungen, die in den von ihnen verwalteten Gebieten als Verfolgungsakteure in Betracht kämen. Verfolgungshandlungen oder Übergriffe durch Dritte, z.B. Islamisten, Aufständische, Terroristen, hätten typischerweise zum Ziel, die Situation im Land weiter zu destabilisieren und Mängel der Ordnungs- und Sicherungsmacht der bestehenden Regierung bloßzustellen.
Die Kläger haben am 12.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2016 erhoben. Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, der angefochtene Bescheid sei bereits widersprüchlich, wenn einerseits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem schriftlichen Verfahren erfolgen solle, diese aber zugleich abgelehnt werde. Ferner seien die Kläger - obwohl erforderlich - nicht persönlich angehört worden. Es liege im Übrigen ein objektiver Nachfluchtgrund vor. Die Kläger hätten Syrien unerlaubt verlassen. Das syrische Regime unterstelle jedem syrischen Staatsangehörigen, der die Regierung im Kampf gegen die Rebellen nicht unterstütze, ein Regimegegner zu sein.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor, schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 
Mit Beschluss vom 04.08.2016 hat die Kammer den Rechtsstreit zunächst dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der sodann mit Beschlüssen vom gleichen Tag sowie vom 22.08.2016 das Verfahren hinsichtlich der damals noch im Rubrum geführten Tochter A. abgetrennt und eingestellt hat, nachdem die Beteiligten diesen Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Mit Beschluss vom 26.10.2016 wurde den Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Beschluss vom 11.11.2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit nach § 76 Abs. 3 AsylG auf die Kammer zurückübertragen, nachdem zwischenzeitlich Obergerichte im Bundesgebiet Berufungen in vergleichbaren Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatten.
12 
Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - auch zur Tochter A. - vor (zwei Bände), ebenso die Gerichtsakte des abgetrennten Verfahrens A 5 K 3023/16. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
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„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
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Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
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Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
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In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
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Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
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Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
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Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
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Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
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„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
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Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
13 
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens der Kläger individuell, seitens der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Klagen sind zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2016 ist bereits formell rechtswidrig (dazu A.). Die Kläger haben darüber hinaus aber ohnehin zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch einen materiellen Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, dazu B.). Soweit der Bescheid vom 06.04.2016 dem entgegensteht und zum Gegenstand des Klageantrags gemacht wurde, verletzt er die Kläger in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
A.
15 
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in verfahrensfehlerhafter Weise abgelehnt. Die Kläger wurden in formell rechtswidriger Weise vor der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag entgegen § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG nicht persönlich angehört.
16 
§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG verpflichtet die Beklagte, die Kläger vor der Entscheidung über ihren Asylantrag persönlich anzuhören. Mit dieser Pflicht korrespondiert nicht nur ein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf eine persönliche Anhörung (Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 24 AsylG, Rn. 14); diese bildet mit Rücksicht auf die das Asylverfahren typischerweise prägenden besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung vielmehr das Kernstück der Ermittlungen und des gesamten behördlichen Verfahrens (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 24 AsylVfG, Rn. 8; VG München, Urteil vom 17.02.2016 - M 2 K 15.31625 -, Juris).
17 
Hier konnte auch nicht in Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden. Die Kläger zu 1) und 2) haben zwar in dem von ihnen ausgefüllten Fragebögen formularmäßig bekundet, dass sie ein „beschleunigtes Verfahren“ wünschten; damit haben sie - wie von der Beklagten erstrebt - ihren Asylantrag nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt. Auch in diesem Fall ist eine Anhörung jedoch nur entbehrlich, wenn das Bundesamt einem solchermaßen beschränkten Asylantrag stattgeben will (§ 24 Abs. 1 Satz 5 AsylG). Hier hat das Bundesamt jedoch nur subsidiären Schutz gewährt und den weiter gehenden Antrag in Nr. 2 des Bescheidtenors (im Übrigen umfänglich und - trotz der erklärten Beschränkung - auch bezogen auf Art. 16a GG) abgelehnt. Dies steht zudem auch explizit nicht mit dem Inhalt der den Klägern nach § 13 Abs. 1 Satz 3 AsylG zuvor erteilten Belehrung in Übereinstimmung. Unter Nr. 3 des am 01.02.2016 ausgefüllten Fragebogens hieß es dazu einleitend, die Beschränkung des Asylantrags bedeute, „dass [die Kläger] ohne eine persönliche Anhörung in einem beschleunigten Verfahren den Flüchtlingsstatus erhalten könnten.“ Dadurch entstünden ihnen auch keine Nachteile, denn die Rechtsfolgen einer Asyl- und einer Flüchtlingsanerkennung seien gleich; die Prüfung eines Anspruchs auf Asylanerkennung nehme nur mehr Zeit in Anspruch. Die Kläger haben vor diesem Hintergrund mit ihrer Beschränkung in keiner Weise erklärt, dass sie auch mit der „bloßen“ Gewährung subsidiären Schutzes ohne persönliche Anhörung einverstanden wären. Noch dazu in der Zusammenschau mit dem (im Tatbestand bereits wiedergegebenen) Inhalt des dem Fragebogen beigefügten Anschreibens vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen rechtlich anerkennenswerten Gründen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hier von einer persönlichen Anhörung der Kläger hätte absehen können.
18 
Gleichwohl sieht die Kammer von einer Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt durch bloße Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2016 in Anwendung von § 113 Abs. 3 VwGO ab. Das Verwaltungsgericht hat in Asylverfahren grundsätzlich alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen und ist gehalten, die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, Juris; Beschluss vom 14.05.1982 - 9 B 179.82 -, DVBl. 1983, 33). Im Asylverfahren, das im Wesentlichen nur gebundene Entscheidungen kennt, kann allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung eines Bescheids nicht ohne Weiteres rechtfertigen (vgl. § 46 VwVfG), weshalb von der Ausnahmeregelung in § 113 Abs. 3 VwGO „zurückhaltend Gebrauch zu machen ist“ (BayVGH, Beschluss vom 08.10.2012 - 21 ZB 12.30312 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.1997 - 23 A 2412/96.A -, Juris; HessVGH, Beschluss vom 26.03.1991 - 12 TG 2541/90 -, Juris). Hier kann der Rechtsstreit in erster Instanz auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Kammer auch ohne persönliche Anhörung der Kläger und ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Kläger positiv - „durchentschieden“ werden, sodass für eine Zurückverweisung im dargelegten Sinn keine Veranlassung besteht.
B.
19 
Die Kläger haben jeweils einen eigenständigen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I.
20 
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten Ausschlussgründe zu beachten.
21 
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
22 
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
23 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist.
24 
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
25 
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -, BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, EzAR-NF 62, Nr. 26)
26 
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
27 
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Ob insbesondere - aber nicht nur - die Kläger zu 1) und 2) sowie der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens volljährig gewordene Kläger zu 3) auch ein individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen können, das Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte, kann dabei offen bleiben. Das Bundesamt hat sie hierzu - obwohl geboten - nicht angehört. Zur Herstellung der erforderlichen Spruchreife bedarf es auf der Grundlage der nachfolgend entwickelten Rechtsauffassung der Kammer aber auch keiner Anhörung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung; ihnen würden nämlich schon unabhängig von einem ggf. noch festzustellenden Vorverfolgungsgeschehen im (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die ihre diesbezügliche Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen und die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihnen aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG seitens ihrer Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
28 
1. Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.). Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris) zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
29 
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
30 
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
31 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
32 
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
33 
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
34 
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden.
35 
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
36 
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
37 
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
38 
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
39 
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
40 
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
41 
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht.
42 
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
43 
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus.
44 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
45 
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde,
46 
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
47 
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
(…)
48 
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit. (…)“
49 
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.; ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom 05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
50 
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte, können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden. (…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. - BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist eindeutig. (…)
51 
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772). Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung ansehe, auch nicht stellen. (…)“
52 
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
53 
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
54 
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
55 
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
56 
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.
57 
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. (…)“
58 
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
59 
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre, was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
60 
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. (…)“
61 
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
62 
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
63 
2. Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie die Kläger illegal ausgereist sind, um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
64 
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
65 
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73 AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf. Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf; https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
66 
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen - Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
67 
a) Das UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom 20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
68 
Der UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
69 
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist. (…)“
70 
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen, religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
71 
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, Asylmagazin 2016, 383):
72 
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
73 
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
74 
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige, nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
75 
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
76 
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern, Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
77 
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
78 
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
79 
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
80 
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt amnesty international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien, wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher seien (die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.
81 
In ähnlicher Weise dokumentiert auch Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener) unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken, stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B. berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen, sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden sind.
82 
Auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim, abrufbar unter:
83 
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.
84 
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden, sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten (wiedergegeben im Fact-Finding Report des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7, abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388; den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren zu können).
85 
b) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese ausforscht und überwacht (dazu aa)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu bb)) und dass es bei einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu cc)).
86 
aa) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen; darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.
87 
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a. Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
88 
bb) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
89 
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16). Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 - Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
90 
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten würden.
91 
cc) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
92 
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T. unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl. dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur die tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.; im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem Zusammenhang aus:
93 
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen. (…)
94 
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
95 
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw. gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung. Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des Immigration and Refugee Board of Canada in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen (gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen - handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne, Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde, könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf. lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
96 
In gleicher Weise geht auch das U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
97 
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher. Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (Human Rights Watch, Lebanon: Stop Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014, https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014, https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return, 10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl. auch amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria, 05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom 29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
98 
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3 AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne adopt a revolution unter wissenschaftlicher Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid / Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf). Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt, derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die Erkenntnisse des Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
99 
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen Personengruppe - und damit auch für die Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
100 
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte), wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384 sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62 Nr. 34).
101 
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht, dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
102 
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp 2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50 Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
103 
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - (a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben, verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
104 
Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den (spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend relativiert.
105 
Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben (Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
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„Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN, steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib, Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 
Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
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Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -, jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein Verfolgungsinteresse sei.
109 
Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme, dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für (systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
110 
Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt „vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch (hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011 aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom 17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
111 
Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes bislang [Hervorhebung im Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris).
112 
Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt selbst offen stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
113 
c) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris; Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden.
114 
d) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG können die Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass vom ihnen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
115 
3. In gleicher Weise ist auch die Verfolgungsfurcht der noch minderjährigen Kläger zu 4), 5) und 6) eigenständig begründet. Sie müssen sich nicht auf die Inanspruchnahme von Familienasyl nach einer etwaigen Bestandskraft der Anerkennung ihrer Eltern (vgl. dazu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.1995 - A 14 S 1686/94 -, VGHBW-Ls 1995, Beilage 10, B5; anders: VG München, Urteil vom 17.03.2016 - M 22 K 15.30256 -, Juris) verweisen lassen.
116 
Zur Überzeugung der Kammer sind mit ihren Eltern in das westeuropäische Ausland ausgereiste Kinder im (hypothetischen) Fall einer Rückkehr gleichermaßen gefährdet. Dem U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria) zufolge ist auch weiterhin eine beträchtliche Anzahl von Berichten über außerordentlich brutale Fälle des Missbrauchs von Kindern seitens der syrischen Regierung zu verzeichnen (S. 8, 47); regelmäßig würden Ingewahrsamnahmen und Folterungen von Kindern unter 13 Jahren - in einigen Fällen bei Elfjährigen - geschildert. Dabei würden sie gezielt wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermuteten familiären Beziehungen zu Dissidenten, Mitgliedern der Freien Syrischen Armee oder Aktivistengruppen gefoltert. Ihnen gegenüber würden die gleichen Methoden wie bei Erwachsenen angewendet. Über sie sollte z.T. Druck auf ihre Eltern ausgeübt werden. Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O.) berichtet beispielsweise davon, dass bei Einreisen über Grenzkontrollpunkte überprüft werde, ob Familienangehörige des Einreisenden gesucht seien; für diesen Fall komme es zu Ingewahrsamnahmen und „Verschwindens“-Fällen, um Druck auf die Gesuchten auszuüben, was die sippenhaftähnlichen Verhältnisse vor Ort illustriert. Auch die Schnellrecherche der SFH vom 10.09.2015 mit dem Titel „Reflexverfolgung“ fasst Erkenntnisse zusammen, denen zufolge Personen vielfach aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden; Familienangehörige würden verhaftet und gefoltert, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Auch Kinder sollen von derartigen Maßnahmen betroffen gewesen sein, Frauen würden auch zur gezielten Demütigung ihrer männlichen Verwandten gefangen genommen. Das so umrissene Vorgehen werde weiterhin systematisch angewandt. Der UNHCR stellt in seinen bereits zitierten Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01, S. 12, 15), heraus, dass eine Besonderheit des Konflikts in Syrien gerade in dem Umstand bestehe, dass oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung schlicht undifferenziert unterstellt werde; Kinder seien nicht nur massiv von den bewaffneten Auseinandersetzungen im Land betroffen, sondern würden auch vielfach festgenommen, entführt, gefoltert oder Opfer sexueller Gewalt (S. 15). Mit Blick auf die bereits mehrfach betonte Rücksichtslosigkeit des Vorgehens des syrischen Regimes, das selbst Kliniken unter Beschuss nimmt, hält es die Kammer vor diesem Hintergrund auch für beachtlich wahrscheinlich, dass Kinder bei einer Rückkehr nach Syrien am Flughafen oder an anderen Grenzkontrollpunkten entweder selbst einer mit Verfolgungshandlungen verbundenen Befragung unterzogen werden oder aber bei der Befragung ihrer Eltern in menschenrechtswidriger Weise instrumentalisiert und ggf. gefoltert werden, um Druck auf ihre Verwandten auszuüben.
117 
Die vorstehenden Erwägungen gelten gleichermaßen für den derzeit 16-jährigen männlichen Kläger zu 4), der bereits ein Alter erreicht hat, das womöglich sogar die Mobilisierung für Kampfhandlungen erwarten ließe. In diesem Alter kann ihm seitens des syrischen Regimes auch bereits die Bildung einer politischen Überzeugung zugeschrieben werden, sodass ihm persönlich die illegale Ausreise und der längere Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung angelastet werden kann.
118 
Auch für den derzeit 12-jährigen männlichen Kläger zu 5) hält die Kammer eine individuelle Verfolgungsfurcht nach den vorstehenden Ausführungen für begründet, auch wenn er selbst noch nicht mit dem Begehren der Teilnahme an Kampfhandlungen oder Militärdiensten konfrontiert werden dürfte. Immerhin befindet auch er sich in einem Alter, in dem Jugendliche schon eine gewisse eigenständige geistige Reife aufweisen können; sein männliches Geschlecht dürfte ihn dabei in gesteigertem Maße vulnerabel für Verfolgungshandlungen der syrischen Sicherheitskräfte machen.
119 
Letztlich ist die Kammer ebenso der Überzeugung, dass auch der fünfjährigen Klägerin zu 6) mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die in ihrem Fall - wie im Übrigen auch ohnehin bei ihren Geschwistern - daran ansetzen würden, über Misshandlungen ihrer Person Druck auf ihre Eltern ausüben zu können. Dabei ist in ihrem Fall nicht maßgeblich, dass sie wegen ihres Alters noch nicht in der Lage ist, sich eine politische Überzeugung zu bilden (so aber beispielhaft etwa VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -, Juris; VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 9 A 464/16 MD -, Juris).
120 
All diese Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern zu 4) bis 6) würden wegen des Bezugsrahmens zu ihren Eltern nämlich auch die erforderliche Asylrelevanz aufweisen. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge (vgl. Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6) kann eine politische Verfolgung bereits dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene nicht einmal nach der Überzeugung des Verfolgers Träger oder Inhaber des asylerheblichen Merkmals ist, er aber etwa als Mittel zur Verfolgung dritter Personen eingesetzt wird. Es reicht, wenn er lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dies wäre hier der Fall.
121 
4. Ob den Klägern zu 1) und 3), die sich zwar nicht unmittelbar im Altersspektrum der allgemeinen Wehrpflicht befinden, wohl aber im dienstfähigen Alter sind, darüber hinaus eine Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee droht, kann offen bleiben (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -). Jedenfalls wirkt sich dieser Umstand bei ihnen - ohne dass es darauf noch ankäme - Risiko erhöhend aus.
122 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.