Bundesgerichtshof Urteil, 04. Okt. 2017 - 2 StR 219/15

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:041017U2STR219.15.0
bei uns veröffentlicht am04.10.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 219/15
vom
4. Oktober 2017
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter sexueller Nötigung u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:041017U2STR219.15.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 4. Oktober 2017, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl als Vorsitzender, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Eschelbach, Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Bartel, die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Grube, Schmidt, Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 21. Januar 2015 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) soweit er in den Fällen II.2. und II.5. der Urteilsgründe verurteilt wurde,
b) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II.3. der Urteilsgründe ,
c) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
1. Der Angeklagte lebte zur Tatzeit mit Sch. , der Großmutter der Nebenklägerin, zusammen. In der Zeit vom Sommer 1995 bis Anfang 2010 kam es zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf deren Enkelin, die am 17. Januar 1993 geborene Nebenklägerin Z. , sowie auf die am 21. August 1988 geborene Zeugin M. . Weitere sexuelle Übergriffe waren nicht konkretisierbar; insoweit hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Festgestellt wurden folgende Vorkommnisse:
4
a) Zu einem unbekannt gebliebenen Zeitpunkt zwischen dem 21. August 1995 und dem 1. Dezember 1996 missbrauchte der Angeklagte M. , indem er das Kind auf den Esstisch setzte, dessen Beine auseinanderdrückte und seinen Penis für kurze Zeit an ihrem Genitalbereich rieb, um sich sexuell zu erregen (Fall II.1. der Urteilsgründe).
5
b) An einem Morgen im Zeitraum zwischen dem 17. Januar 1997 und Sommer 1999 missbrauchte der Angeklagte die Nebenklägerin, die im Bett auf dem Bauch lag, indem er sie an Brust und Scheide anfasste. Letzteres verursachte der Nebenklägerin Schmerzen (Fall II.2. der Urteilsgründe).
6
c) Im Zeitraum zwischen Sommer 2003 und Sommer 2005 missbrauchte der Angeklagte die Nebenklägerin im Gästezimmer der Wohnung ihrer Großmutter , indem er ihr die Hosen auszog, sie an Brust und Scheide anfasste und an ihrer Scheide leckte (Fall II.3. der Urteilsgründe).
7
d) Bei einem Besuch der Familie der Nebenklägerin im Zeitraum vom 28. September 2000 bis zum 28. Mai 2009 legte sich der Angeklagte hinter die Nebenklägerin ins Bett und fasste sie entweder an der Scheide an oder rieb seinen Penis daran (Fall II.4. der Urteilsgründe).
8
e) An einem Tag im Zeitraum zwischen dem 17. Januar 2007 und dem 16. Januar 2010 wollte der Angeklagte erneut sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin vornehmen. Diese wehrte sich jedoch durch Schläge und Tritte. „Um sein Vorhaben umzusetzen, drohte er der Nebenklägerin nunmehr, siezu vergewaltigen, wenn sie ihm nicht freiwillig zu Willen sei. Er hatte jedoch nicht vor, tatsächlich Gewalt anzuwenden. Als seine Drohung keine Wirkung zeigte und der Angeklagte erkannte, dadurch nicht zu seinem Ziel zu gelangen, verließ er das Zimmer“ (Fall II.5. der Urteilsgründe).
9
2. Das Landgericht hat sich in den Fällen II.2., II.3. und II.4. nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte, wie dies die Anklage angenommen hat, auch in die Scheide der Nebenklägerin eingedrungen ist. Im Fall II.4. ist es nicht zu einer Verurteilung gelangt, weil es nicht feststellen konnte, dass die sexuelle Handlung vor Überschreiten der Schutzaltersgrenze der Nebenklägerin im Sinne von § 176 Abs. 1 StGB begangen wurde. In den Fällen II.1. bis II.3. der Urteilsgründe ist es jeweils von sexuellem Missbrauch eines Kindes ausge- gangen; im Fall II.5. der Urteilsgründe hat es den Versuch einer sexuellen Nötigung angenommen.

II.

10
Der Senat hat durch Beschluss vom 6. April 2016 die Revisionshauptverhandlung im Hinblick auf das Anfrage- und Vorlageverfahren des 3. Strafsenats in der Sache 3 StR 342/15 unterbrochen. Er setzt die Hauptverhandlung fort, nachdem der Große Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen durch Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17 (NJW 2017, 3537 ff., für BGHSt bestimmt) über die Vorlage entschieden hat.

III.

11
Die Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.
12
1. Soweit es um die Taten zum Nachteil der Nebenklägerin geht, gilt Folgendes :
13
a) Der Schuldspruch hinsichtlich der Tat im Fall II.3. ist rechtsfehlerfrei; jedoch begegnet die Begründung der Zumessung der Einzelstrafe hierfür durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
14
aa) Die Feststellungen zur Tatbegehung im Fall II.3. der Urteilsgründe sind rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit liegt keine Konstellation vor, in der nur „Aussage gegen Aussage“ stünde. Der Angeklagte, der zuvor alle Vorwürfe bestritten hatte, hat die Tat im Fall II.3. in der Hauptverhandlung eingeräumt. Sein Geständnis wird durch die Zeugenaussage der Nebenklägerin bestätigt.
Da das Landgericht den insoweit übereinstimmenden Angaben des Angeklagten und der Nebenklägerin gefolgt ist, liegt kein Rechtsfehler der Beweiswürdigung vor.
15
bb) Das Landgericht hat im Fall II.3. der Urteilsgründe einen minder schweren Fall des sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 StGB a.F. verneint und bei der Strafzumessung im engeren Sinne auf die diesbezügliche Begründung Bezug genommen. Dabei hat es darauf verwiesen, dass die Tat bereits lange Zeit zurückliege; diesen Strafmilde- rungsgrund hat es jedoch mit der Bemerkung relativiert: „Allerdings kommt dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht die gleich hohe Bedeutung zu wie in anderen Fällen (vgl. BGH NStZ 2006, 393).“
16
Die Überlegung trifft in dieser Allgemeinheit nicht mehr zu. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juni 2017 – GSSt 2/17 – in Abänderung der vom Landgericht zitierten Entscheidung des 1. Strafsenats beschlossen: „Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“ Danach kann entgegen der früheren Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht mehr generell davon ausgegangen werden, dass der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine andere Bedeutung für die Strafzumessung habe, als sie bei anderen Delikten anzunehmen ist.
17
Daran ändert nach Ansicht des Großen Senats für Strafsachen die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nichts, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 StGB ruht. Mit dieser verjährungsrechtlichen Regelung soll der besonderen Bedeutung des Anzeige- und Aussageverhaltens von Opfern des sexuellen Missbrauchs im Kindes- oder Jugendalter Rechnung getragen werden, die sich bei der Tatbegehung im sozialen Nahbereich in einer Abhängigkeit vom Täter befinden und dadurch in ihrer Bereitschaft zur Strafanzeige und zur Aussage gegen den Beschuldigten gehemmt sein können. Jedoch wirkt sich die verjährungsrechtliche Regelung nicht ohne weiteres auf die Bewertung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung aus. Die Umstände , die das gesetzgeberische Motiv für die besondere Regelung des Ruhens der Verjährung der Strafverfolgung bilden, können zwar auch den Strafzumessungsaspekt des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil beeinflussen. Dies bedarf aber einer Prüfung des Tatgerichts im Einzelfall. Es rechtfertigt nicht die generelle Annahme, dem Zeitablauf komme bei der Strafzumessung in Fällen des sexuellen Missbrauchs nicht die gleiche Bedeutung zu, wie bei anderen Delikten. Danach ist der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung nicht mehr deliktsgruppenspezifisch, sondern einzelfallbezogen zu würdigen.
18
Das Landgericht hat sich mit den Umständen des Einzelfalls hinsichtlich der Beziehung zwischen Täter und Opfer im Lauf der Zeit zwischen Tat und Urteil nicht auseinandergesetzt, sondern allgemein und deliktsspezifisch die Bedeutung des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil relativiert. Der Senat kann die aufgrund des veränderten Maßstabs erforderliche Würdigung nicht selbst vornehmen und daher nicht ausschließen, dass die Verneinung eines minder schweren Falls und die Strafzumessung im engeren Sinne auf der rechtlich fehlerhaften Erwägung beruht.
19
b) Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2. und II.5. der Urteilsgründe hat insgesamt keinen Bestand. Insoweit ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht tragfähig.
20
aa) Die Beweiswürdigung ist Aufgabe des Tatgerichts. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich , unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung und ihrer Grundlagen formuliert. Die Urteilsgründe müssen dann für das Revisionsgericht genau erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. Senat, Urteil vom 6. April 2016 – 2 StR 408/15). Gerade bei Sexualdelikten sind die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage von besonderer Bedeutung (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 StR 465/16, NStZ-RR 2017, 319 f.). Hat die Geschädigte zum Teil Angaben gemacht, der das Tatgericht nicht folgt, ist besondere Vorsicht bei der Beweiswürdigung hinsichtlich der übrigen Aussageteile geboten (vgl. Senat, Urteil vom 20. Juli 2016 – 2 StR 59/16).
21
bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, weshalb die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2. und II.5. keinen Bestand haben kann.
22
(1) Das Landgericht hat es als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin gewertet, dass ihre erste Offenbarung gegenüber den Eltern „in einer Drucksituation eher zufällig“ erfolgt sei. Dabei habe sie auf mehrmaliges Nachfragen eine Missbrauchsbehauptung aufgestellt, aber nur wenig preisgegeben. Im Urteil wird nicht erörtert, ob diese Behauptung möglicherweise allein der Drucksituation geschuldet war.
23
Hatte zudem nach den Urteilsfeststellungen bei der anschließenden polizeilichen Vernehmung eine „suggestive Befragung“ stattgefunden, wäre in Betracht zu ziehen gewesen, dass weitere Details erst in diesem Zusammenhang entwickelt worden sein können, ohne dass dies auf einen Erlebnisbezug der Behauptungen schließen lässt. Der Hinweis des Landgerichts, dass die suggestiven Elemente in der polizeilichen Vernehmung nicht die Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 StGB) im Umfang der Feststellungen betroffen hätten, sondern Qualifikationen durch Penetration (§ 176a Abs. 2 StGB), die das Landgericht nicht festgestellt hat, genügt insoweit nicht. Das Landgericht hat in der Behauptung einer Penetration eine möglicherweise unzutreffende Mehrbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin gesehen. Dies weckt weiter gehende Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der übrigen belastenden Angaben, die das Landgericht nicht ausgeräumt hat.
24
(2) Das Landgericht hat hervorgehoben, die in der Hauptverhandlung gemachten Angaben der Nebenklägerin entsprächen im Handlungskern dem Geschehen, das sie bei der Polizei und gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen geschildert habe. Zugleich hat es aber die Detailarmut bei der Schilderung einzelner Übergriffe festgehalten und dies damit erklärt, dass die Erinnerung der Nebenklägerin an das Geschehen wegen einer Vielzahl gleichartiger Handlungen erschwert sei. Durch Detailarmut wird aber die Bedeutung des Beurteilungskriteriums der Aussagekonstanz vermindert (vgl. BGH, Be- schluss vom 28. Oktober 1999 – 4 StR 370/99, StV 2000, 123, 124; Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2010 – 2 StR 403/10). Zudem hat die Nebenklägerin eingeräumt, vor ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung die Vernehmungsprotokolle aus dem Vorverfahren gelesen zu haben. Auch dies kann die Konstanz der detailarmen Mitteilungen erklären. Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen , dass das Landgericht dies bei seiner Gesamtwürdigung aller Umstände im erforderlichen Maß bedacht hat.
25
(3) Das Landgericht hat nicht feststellen können, ob die bei der Nebenklägerin durch die psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung, die zusätzlich vorhandene Borderline-Störung und die außerdem diagnostizierte depressive Erkrankung auf die Taten zurückzuführen sind. Deshalb hat es diese Beeinträchtigungen auch nicht strafschärfend bewertet. Andererseits hat es von der Nebenklägerin beschriebene Flashbacks und Dissoziationen als Realkennzeichen gewertet. Das Landgericht hat diesen Widerspruch nicht aufgelöst. Es hat zwar eine kinderpsychiatrische Sachverständige vernommen; deren Ausführungen hat es im Urteil aber nicht erläutert.
26
(4) Das Landgericht hat ferner angenommen, das äußere Erscheinungs- bild der Nebenklägerin bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung deute „im Endeffekt ebenfalls die Richtigkeit“ ihrer Angaben an. Dies ist angesichts der Unklarheit der Ursachen der psychischen Beeinträchtigungen der Nebenklägerin und der Schwierigkeit der Deutung ihrer Wirkungen nicht nachzuvollziehen.
27
(5) Unklar bleibt die Annahme des Landgerichts, es gebe keinen durchgreifenden Hinweis darauf, dass ein Internetchat, den die Nebenklägerin über ihre Missbrauchsbehauptungen geführt hatte, ohne suggestive Wirkung auf ihre Erinnerungen geblieben sei. Es hat betont, die Nebenklägerin sei nach der Trennung von etwaigen Suggestoren bei ihren Angaben geblieben. Die psychi- atrische Sachverständige habe dazu erklärt, eine suggestiv beeinflusste Person distanziere sich „regelmäßig“ von der suggestiven Erinnerung, wenn sie vom Suggestor getrennt sei. Dieser Hinweis in den Urteilsgründen lässt besorgen, dass das Landgericht von einem Erfahrungssatz ausgegangen ist, der so nicht besteht.
28
cc) Insgesamt hätte das Landgericht die Aspekte der erstmaligen Offenbarung des Missbrauchsvorwurfs in einer Drucksituation, die anschließende suggestive Form der Befragung bei der polizeilichen Vernehmung, die Detailarmut der Angaben mit der Folge der Relativierung des Glaubhaftigkeitskriteriums der Aussagekonstanz, die Unklarheit der Ursachen der psychischen Beeinträchtigungen der Nebenklägerin, die Fragwürdigkeit des persönlichen Erscheinungsbild bei der Vernehmung in der Haupthandlung und mögliche suggestive Einflüsse bei der Internetkommunikation über die Missbrauchsproblematik nicht nur einzeln betrachten, sondern auch hinsichtlich einer möglichen Wechselwirkung der Beweisbedeutung dieser Umstände im Rahmen einer Gesamtschau würdigen müssen, um zu prüfen, ob insoweit eine unzutreffende Mehrbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin vorliegt.
29
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen einer Tat zum Nachteil der Zeugin M. ist dagegen rechtlich nicht zu beanstanden.
30
a) Insoweit greift die Verfahrensrüge nicht durch, das Landgericht habe einen wiederholten Antrag der Verteidigung auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zu Unrecht zurückgewiesen.
31
aa) Die Verteidigung hatte die Einholung eines solchen Gutachtens zunächst mit der Begründung beantragt, dass die angeklagte Tat bereits 19 bis 20 Jahre zurückliege und die Zeugin M. damals erst 4 bis 5 Jahre alt gewesen sei. Das Landgericht hatte diesen Antrag im Hinblick auf ausreichende eigene Sachkunde und den Hinweis der psychiatrischen Sachverständigen, die zur Begutachtung der Nebenklägerin hinzugezogen worden war, zurückgewiesen, es lägen „keine psychologischen oder psychiatrischen Anhaltspunkte“ vor, „die eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch einen Sachverständigen erforderlich erscheinen lassen“. Später hat die Verteidigung den Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens wiederholt und damit ergänzt, dass die Zeugin M. zum Teil unterschiedliche Angaben gemacht habe. Den Beweis- antrag hat die Strafkammer erneut abgelehnt, weil „weiterhin keine besonderen Umstände“ vorlägen, welche die Hinzuziehung eines Sachverständigen gebieten könnten. „Die von der Verteidigung im erneuten Antrag vorgebrachten Ar- gumente betreffen die vom Gericht zu leistende und ohne die Hinzuziehung eines Sachverständigen leistbare Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage und der Glaubwürdigkeit der Zeugin“.
32
bb) Diese Begründung ist rechtsfehlerfrei. Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist nur dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2006 – 1 StR 579/05, NStZ-RR 2006, 242 f.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht allein deshalb vor, weil zwischen Tat und Urteil lange Zeit vergangen ist, die Zeugin zur Tatzeit noch ein Kind war und ihre Angaben in bestimmten Punkten keine Konstanz aufweisen. Dies sind Umstände , die ein Strafrichter aus eigener Sachkunde beurteilen kann. Nach der Auskunft der psychiatrischen Sachverständigen konnte das Landgericht zudem ohne Rechtsfehler davon ausgehen, dass kein psychopathologischer Befund bei der Zeugin vorliegt, der ausnahmsweise die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen nahegelegt hätte.
33
b) Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerfrei.
34
Die Tatsache, dass die Zeugin bei der ersten polizeilichen Vernehmung von mehreren sexuellen Übergriffen gesprochen hatte, aber in der Hauptverhandlung auch auf Vorhalt nur von einer Begebenheit ausging, hat die Straf- kammer damit erklärt, dass bei langem Zeitablauf die Erinnerungen „verschwimmen“. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Die vom Landgericht gezogene Schlussfolgerung ist möglich.
35
Der Hinweis der Revision darauf, dass die Mutter der Geschädigten ausgesagt hatte, diese habe ihr gegenüber geschildert, der Angeklagte habe bei einem Übergriff einen nackten Oberkörper gehabt, was sich in den Zeugenaussagen der Geschädigten nicht wieder finde, deckt ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Das Landgericht hat diesen Aspekt als unerheblich bezeichnet, weil die Mutter der Geschädigten sich nach seiner Über- zeugung „diesbezüglich nicht richtig erinnert oder Angaben von M. nicht richtig wahrgenommen“ habe. Auch dabei handelt es sich um mögliche Schlussfolgerungen aus den festgestellten Tatsachen, die auch keinen Widerspruch der Urteilsgründe ergeben. Krehl Eschelbach Bartel Grube Schmidt

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Strafgesetzbuch - StGB | § 174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen


(1) Wer sexuelle Handlungen 1. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsver

Strafgesetzbuch - StGB | § 176a Sexueller Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind


(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen

Strafgesetzbuch - StGB | § 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen


(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die 1. seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,2. seinem Hausstand angehört,3. von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder4.

Strafgesetzbuch - StGB | § 78b Ruhen


(1) Die Verjährung ruht 1. bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,2. solange nach dem Gesetz d

Strafgesetzbuch - StGB | § 182 Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen


(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage 1. sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder2. diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorz

Strafgesetzbuch - StGB | § 180 Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger


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(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der Ehe nötigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewa

Strafgesetzbuch - StGB | § 226a Verstümmelung weiblicher Genitalien


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(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 2/17
vom
12. Juni 2017
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung
bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand
haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.
BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017- GSSt 2/17
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
ECLI:DE:BGH:2017:120617BGSST2.17.0

Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Raum, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof SostScheible , die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Graf, Dr. Franke und Dr. Schäfer, die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Schneider sowie die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. König, Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach und Gericke am 12. Juni 2017 beschlossen:
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.

Gründe:


1
Die Vorlage betrifft eine Frage aus dem Bereich der Strafzumessung.

I.


2
1. In dem beim 3. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.
3
Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen nahm der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter an ihr sexuelle Handlungen vor oder ließ solche von ihr an sich vornehmen. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
4
Der Angeklagte hat die Verurteilung mit der Revision umfassend angegriffen und die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet.
5
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
6
Nach Auffassung des 3. Strafsenats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Er ist der Ansicht, der Schuldspruch halte auch materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhten auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens sei ebenfalls nichts zu erinnern.
7
Der 3. Strafsenat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu gibt ihm die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts, zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld erfolgt und die späte An- zeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde.
8
Im Einzelnen hatte der 1. Strafsenat in der vom Landgericht in Bezug genommenen Entscheidung im Einklang mit Erwägungen in einem früheren Urteil des 3. Strafsenats (BGH, Urteil vom 10. November 1999 - 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749), das zu dem in § 358 Abs. 2 StPO normierten Verschlechterungsverbot ergangen war, ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen , in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen. Zuvor hatte der 5. Strafsenat in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, - nicht tragend - darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe , dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 - 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207). In der Literatur hat die Auffassung des 1. Strafsenats überwiegend Zustimmung gefunden (vgl. SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 323); zum Teil ist sie aber auch auf Ablehnung gestoßen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61, § 176 Rn. 35; MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176 Rn. 72).
9
Der 3. Strafsenat versteht die Ausführungen der Strafkammer dahin, diese habe durch den ausdrücklichen Verweis auf die Entscheidung des 1. Strafsenats und die Betonung der gesetzgeberischen Wertung des § 78b StGB deutlich gemacht, dass sie bezüglich des Gewichts des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zwischen Straftaten, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes zum Gegenstand haben, und sonstigen Straftaten generell unterscheide. Er hält diese Erwägung für rechtsfehlerhaft und kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, hätte das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
10
2. Der 3. Strafsenat hat deshalb unter Darlegung seiner Auffassung bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG angefragt, ob diese an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festhalten (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - 3 StR 342/15, NStZ 2016, 277, mit Anm. Schiemann, NStZ 2016, 336).
11
Hierauf hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336) mitgeteilt, dass die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats seiner Rechtsprechung widerspreche und er an seiner Rechtsansicht grundsätzlich festhalte. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, einem besonders langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil komme für sich genommen eine strafmildernde Wirkung zu. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses selbständigen Strafzumessungsgrundes sei nicht eindeutig, beruhe aber bei unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Sühnebedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne; daneben könnten besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände ausgelöst werden. Dies führe zu der Notwendigkeit einer individuellen Gewichtung des Faktors Zeitablauf; diese Wertung sei grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Nach den Maßgaben, die für die Überprüfung der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz gelten, sei es rechtsfehlerfrei , wenn das Tatgericht in diesem Zusammenhang auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreife, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen seien. Er könne deshalb die Ansicht nicht teilen, dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe. Eine entsprechende Anknüpfung finde sich in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Die Verjährungsvorschriften hätten zwar "zum Teil" eine andere Zielrichtung als die Strafzumessungsregelungen, letztlich komme aber in ihnen auch zum Ausdruck , dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs verneine. Es gehe mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten. Durch den Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung werde der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung ausgefüllt. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht orientieren dürfe, zähle auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Gesetzgeber mit dieser "Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten" nicht den ersichtlichen Willen kundgetan habe, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren , sei nicht aussagekräftig.
12
Der 2. Strafsenat hat mit näher begründetem Beschluss vom 14. Juni 2016 (2 ARs 67/16, juris) geantwortet, er stimme der Rechtsauffassung des 3. Strafsenats zu.
13
Der 4. und der 5. Strafsenat haben mitgeteilt, ihre Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats nicht entgegen.
14
3. Mit Beschluss vom 17. November 2016 (3 StR 342/15, NStZ-RR 2017, 103) hat der 3. Strafsenat dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: "Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?"
15
Er hat ausgeführt, er vermöge sich der Ansicht des 1. Strafsenats auch unter Berücksichtigung der Erwägungen in dem Beschluss vom 10. Mai 2016 nicht anzuschließen; denn sie vermische in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er halte deshalb an seiner in dem Anfragebeschluss vom 29. Oktober 2015 dargelegten Auffassung fest; soweit er in der Entscheidung vom 10. November 1999 noch Anderes vertreten habe, gebe er diese Rechtsprechung auf. Danach könne der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten; die gesetzliche Regelung des Ruhens der Verjährung in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB führe nicht zu einem anderen Ergebnis.
16
Dem hat die Verteidigung mit näheren Ausführungen zugestimmt.
17
4. Der Generalbundesanwalt erachtet die Vorlage für zulässig und beantragt zu beschließen: "Es ist nicht rechtsfehlerhaft, wenn im Einzelfall bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Rahmen der Strafzumessung der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil unter Berücksichtigung der dem § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrundeliegenden Motive des Gesetzgebers nicht in gleicher Weise Beachtung findet wie bei anderen Straftaten."

II.


18
Die Vorlage ist zulässig.
19
1. Sie betrifft eine Rechtsfrage im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG und nicht die tatgerichtliche Wertung von für die Strafzumessung bedeutsamen Tatsachen , die dem Revisionsgericht grundsätzlich verschlossen und damit dem Divergenzverfahren nicht zugänglich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 213 ff.; vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 86 ff.); denn es steht die vom 3. Strafsenat bereits im rechtlichen Ansatz und damit losgelöst von dem konkreten Einzelfall als fehlerhaft erachtete Erwägung in Rede, aufgrund einer Vorschrift aus dem Bereich der Verjährungsregelungen sei ein strafzumessungsrechtlich erheblicher Umstand für bestimmte Delikte generell mit einem geringeren Gewicht zu bewerten als bei anderen Straftaten.
20
2. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Nach dem jedenfalls vertretbaren und deshalb für den Großen Senat für Strafsachen bindenden Verständnis der tatgerichtlichen Urteilsgründe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 1995 - GSSt 1/95, BGHSt 41, 187, 194; vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 302; Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., § 132 Rn. 29; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 132 GVG Rn. 42) durch den 3. Strafsenat hängt die Entscheidung über die Revision des Angeklagten davon ab, ob die Ausführungen der Strafkammer als rechtsfehlerhaft oder rechtsfehlerfrei zu bewerten sind. Durch ihre Beantwortung wird somit das Ergebnis des konkreten Revisionsverfahrens beeinflusst (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 128; vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, NJW 2017, 94, 95).
21
3. Der 3. Strafsenat kann auch mit Blick auf den im Anfrageverfahren ergangenen Antwortbeschluss des 1. Strafsenats nicht wie beabsichtigt entscheiden , ohne von dessen Rechtsauffassung abzuweichen. Dem steht im Ergebnis nicht entgegen, dass der 1. Strafsenat ausgeführt hat, er halte "grundsätzlich" an seiner Rechtsansicht fest, und im Folgenden - jedenfalls auch - darauf hingewiesen hat, es beurteile sich nach dem Einzelfall, mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf strafmildernd auswirke. Hierdurch haben sich die Auffassungen der beiden Senate zwar angenähert, indes ist die entscheidungserhebliche Divergenz zwischen den verschiedenen Ansichten betreffend die Frage, ob die in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB getroffene Regelung dazu führt, dass dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, generell eine geringere Bedeutung als bei anderen Straftaten zukommt, nicht beseitigt.

III.


22
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Vorlegungsfrage in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Sinne.
23
Die Strafzumessung erfordert eine sich am Einzelfall orientierende Bewertung der hierfür bedeutsamen Umstände (hierzu u. 1.). Zu diesen kann auch der eigenständige Strafzumessungsgesichtspunkt des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil gehören (hierzu u. 2.). Die Verjährungsvorschriften und dabei insbesondere die Regelung des § 78b StGB stehen dieser sich nach den Umständen des konkreten Falles richtenden Würdigung nicht entgegen; aus ihnen ergibt sich insbesondere nicht, dass bei dem von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen , ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten (hierzu u. 3.). Allerdings kann das Tatgericht diejenigen Gesichtspunkte, die der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrunde liegen, bei der Strafzumessung berücksichtigen, sofern sie im Einzelfall festgestellt und für die Bemessung der Strafe von Bedeutung sind (hierzu u. 4.). Im Einzelnen:
24
1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung ist zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierten Strafzumessungskriterien und Leitlinien (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 1447, 136/05, BVerfGE 118, 212, 228 ff.; BGH, Beschluss vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 87); sie erfordert nach anerkannten Grundsätzen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 215) eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urteil vom 4. August 1965 - 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist dessen Resozialisierung der zentrale Ge- sichtspunkt, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Es ist im Rahmen der konkreten Strafzumessung gehalten, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände festzustellen, zu bewerten, gegeneinander abzuwägen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB) und die Strafe innerhalb des ihm zur Verfügung stehenden Strafrahmens zu bestimmen. Eine "Mathematisierung" oder ein sonstiger Schematismus sind dem Gesetz hierbei fremd (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 351; Urteil vom 28. März 2013 - 4 StR 467/12, juris Rn. 30; Beschluss vom 10. November 2016 - 1 StR 417/16, juris).
25
2. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil gehört zu den Umständen , die nach diesen am Einzelfall orientierten Maßgaben Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können.
26
a) Kommt es in einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198 f.): Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen. Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hin- ausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken.
27
b) Die sich an diese drei Gesichtspunkte anknüpfenden Rechtsfolgen sind unterschiedlich:
28
aa) Die zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führende Verletzung des Beschleunigungsgebotes gebietet eine Kompensation zu Gunsten des hierdurch betroffenen Angeklagten (sog. Vollstreckungsmodell; st. Rspr.; vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124).
29
bb) Demgegenüber handelt es sich bei dem großen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil und bei den mit einer langen Verfahrensdauer einhergehenden Belastungen des Angeklagten um zwei selbständige, gegebenenfalls im Rahmen der nach den §§ 46 ff. StGB vorzunehmenden Strafzumessung getrennt zu prüfende und im tatgerichtlichen Urteil zu erörternde Strafzumessungsgesichtspunkte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, aaO S. 141 f.; vom 29. November 1985 - 2 StR 596/85, NStZ 1986, 217, 218; vom 29. März 1988 - 5 StR 76/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2; vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651).
30
Dies entspricht, soweit es um die hier relevante strafmildernde Wirkung des Zeitraums zwischen Tat und Urteil geht, im Ergebnis einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vom 13. Mai 2015 - 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40; vom 29. September 2015 - 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7) und Literatur (vgl. etwa Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 4, S. 269, 299 f.; Streng, JR 2006, 257, 259; LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 319; NK-StGB-Streng, 5. Aufl., § 46 Rn. 88; S/S-Stree/Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 57a; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97; SSWStGB /Eschelbach, 3. Aufl., § 46 Rn. 168 ff.). Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil ist als sonstiger, nicht ausdrücklich namentlich aufgeführter Aspekt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB einzuordnen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 56, 61; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97), wenn auch die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses Gesichtspunktes variiert (vgl. hierzu im Einzelnen BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336 m. zahlr. w.N.). Im hiesigen Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass der Ablauf der Zeit zwar nicht die Tatschuld mindert; jedoch kann er Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre. Dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240 mwN). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs , weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 - 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
31
c) Mit den dargelegten, die Strafzumessung allgemein prägenden Grundsätzen und dem Wesen des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsgesichtspunkt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB sind generalisierende , die konkreten Einzelfallumstände außer Acht lassende Wertungen nicht vereinbar. Dies gilt für alle in diesem Zusammenhang bedeutsamen Strafzumessungsfaktoren ; ein Grund, insoweit zwischen dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil und den sonstigen nach § 46 Abs. 2 StGB zu beachtenden Faktoren zu unterscheiden, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist aus strafzumessungsdogmatischer Sicht die Bedeutung des hier relevanten Kriteriums zum einen weder absolut, noch begründet es eine Regelwirkung; zum anderen ist dem strafrechtlichen Sanktionensystem auch eine Differenzierung der Bedeutung nach Deliktsgruppen fremd.
32
3. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt auch nicht von der Länge der zunächst nach den §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird ebenfalls nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen ist. Insbesondere die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB steht dem sich aus den Grundsätzen der Strafzumessung ergebenden Erfordernis, den Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil stets individuell zu betrachten und zu gewichten, nicht entgegen; sie führt nicht dazu, dass bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffen, dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen, ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten.
33
a) Dies folgt zunächst aus den im Vergleich zu dem Bereich der Strafzumessung unterschiedlichen Regelungsgehalten, Zielen und Ausgestaltungen der Vorschriften über die Verfolgungsverjährung.
34
§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist Teil des die Verfolgungsverjährung betreffenden gesetzlichen Regelungsgefüges. Dieses knüpft zwar wie der Strafzumessungsgesichtspunkt zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil an den seit der Begehung der Straftat vergangenen Zeitraum an. Die Verjährungsvorschriften begründen indes keine Maßstäbe für eine angemessene staatliche Sanktion für eine begangene Straftat; sie regeln vielmehr - unabhängig davon, welchen Sinn und Zweck man der Verjährung im Einzelnen beimisst (vgl. hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 293 ff.; Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 90 ff.; Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115 ff.; Schiemann, NStZ 2016, 336) - die Verfolgbarkeit der Tat und lassen deren Strafbarkeit bzw. deren Unrecht und die Schuld des Täters unberührt (BVerfG, Beschlüsse vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 287, 294; vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251). Nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 - 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 - 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Damit betrifft die Verjährung nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139). Ist die Straftat verjährt, so ist der Angeklagte grundsätzlich nicht freizusprechen , sondern das Verfahren einzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2004 - 1 StR 565/03, wistra 2005, 27).
35
Um die mit der Verjährung verbundenen Ziele zu erreichen, hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert , innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB). Die diesem Regelungsgefüge zugrunde liegenden Wertungen sind Ausdruck generalisierender Betrachtungen. Eine Aussage über das Strafbedürfnis im Einzelfall treffen die Verjährungsvorschriften nicht. Für sie ist ohne Belang, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erscheint. Umgekehrt beeinflussen die für die Strafzumessung maßgebenden Aspekte den Eintritt der Verfolgungsverjährung nicht. Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht nicht darin, einer Verminderung des Gewichts von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen. Deshalb führt etwa ein aus welchem Grund auch immer entfallenes oder geringeres Strafbedürfnis nicht zum vorzeitigen Eintritt der Verjährung.
36
Folgerichtig hat die Rechtsprechung die Länge der Verjährungsfrist im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig nur dafür herangezogen, um im Einzelfall die Dauer des seit der Tat vergangenen Zeitraumes bzw. das Gewicht des Tatunrechts näher zu verdeutlichen, ohne eine darüber hinausgehende innere Verknüpfung - etwa zu § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - herzustellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 26. Juli 1994 - 5 StR 113/94, StV 1995, 130; vom 7. Juni 2011 - 4 StR 643/10, StV 2011, 603, 607; insoweit unklar BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 - 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 682; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 - 2 BvR 2646/13, juris Rn. 30).
37
b) Somit steht das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Strafzumessung einzustellen ist, mit der Länge der nach abstrakt-generellen Regelungen vorgegebenen Verjährungsfrist in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gründe dafür, von diesem allgemein für das Verhältnis zwischen Strafzumessung auf der einen und Verjährung auf der anderen Seite geltenden Grundsatz für die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil für diese Deliktsgruppe generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, bestehen nicht.
38
aa) Solche ergeben sich insbesondere nicht aus dem Sinn und Zweck des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie sich unter Beachtung des den Gesetzesmaterialien zu entnehmenden Willens des Gesetzgebers ergeben.
39
(1) Der Gesetzgeber hat in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) - eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll (vgl. Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115, 116). Hierzu ist in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwie- gend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975, S. 1; 12/3825, S. 1; 12/6980, S. 1). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BTDrucks. 12/6980, S. 4).
40
(2) Diese Erwägungen belegen zunächst, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten, hinsichtlich derer er ein entsprechendes Regelungsbedürfnis sah, über die bis dahin geltenden Verjährungsfristen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam , die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Grundsätze der Strafzumessung, insbesondere die dort relevanten Kriterien sowie deren Gewichtung, zu modifizieren, und dabei eine Aussage über das Verhältnis zwischen Zeitablauf und dem Gewicht des Strafbedürfnisses zu treffen (so aber Schiemann, NStZ 2016, 336). Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350, S. 13 f.; 16/13671, S. 23 f.; 18/2601, S. 14, 22 f.).
41
bb) Dagegen, dass aufgrund der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Gewicht des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern generell gemindert ist, sprechen auch die folgenden weiteren Erwägungen:
42
(1) Wollte man den Gedanken, dass durch die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hervorgerufene längere Verfolgbarkeit der Tat das Gewicht des Zeitablaufs seit der Tat bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten vermindert wird, konsequent weiter denken, so wäre die Bedeutung dieses Strafzumessungsgesichtspunktes allgemein auch über die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Fallgestaltungen hinaus mit der Länge der Verjährungsfrist verknüpft bzw. hinge sie von den diesbezüglichen Ruhens- oder Unterbrechungsbestimmungen ab. Ein solcher systemwidriger Zusammenhang wäre etwa im Falle des § 78b Abs. 4 StGB, der an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind, in besonderer Weise unplausibel. Entsprechendes gilt für die Unterbrechensregelungen des § 78c StGB. Eine derart weitgehende Anbindung der Strafzumessung an die für die Verfolgungsverjährung geltenden Fristen ist - soweit ersichtlich - bisher auch weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur befürwortet worden.
43
(2) Ließe man die Art der begangenen Straftat ausreichen, um einen anerkannten Strafmilderungsgrund zu relativieren, so fiele dies auch dann zum Nachteil des Angeklagten ins Gewicht, wenn die Gründe, die zur Schaffung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB geführt haben, im konkreten Fall gar nicht vorliegen, der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil vielmehr auf sonstigen Gesichtspunkten , etwa Versäumnissen der Strafverfolgungsorgane, beruht. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass dies mit den Grundsätzen einer den Maßgaben der §§ 46 ff. StGB folgenden Strafzumessung nicht vereinbar wäre.
Entsprechendes gilt für die vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgeführte Fallkonstellation, bei der der sexuelle Missbrauch von einem Nachbarn begangen wurde, der kurz nach der Tat wegzieht und zu der Familie des kindlichen Opfers keinen Kontakt mehr unterhält. In diesen Fällen ist eine Drucksituation, die Anlass für den Gesetzgeber war, die Ruhensregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, nicht gegeben. Es erschließt sich nicht, aus welchem Grunde dann gleichwohl dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil ein geringeres Gewicht beizumessen sein soll, nur weil es sich bei der Tat um ein bestimmtes Delikt handelt.
44
(3) Eine strafzumessungsrechtliche Koppelung des Faktors Zeitablauf an die Länge der Verjährungsfrist könnte in bestimmten Konstellationen auch zu sachwidrigen Ergebnissen führen. So verringert sich etwa mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Tat in den Fällen, in denen sich der Täter nicht weiter strafbar gemacht hat, unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention das Strafbedürfnis, möglicherweise bis zu dessen vollständigem Wegfall. Der relevante Zeitraum kann gegebenenfalls auch mehrere Jahrzehnte betragen. Dies gilt nicht nur im Anwendungsbereich von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, bei dem die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt hat, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BT-Drucks. 18/2601, S. 23). Noch längere Zeiträume können etwa bei den gemäß § 78 Abs. 2, 4 StGB unverjährbaren Delikten des versuchten Mordes oder der Beihilfe zum Mord (vgl. LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., § 78 Rn. 6) eintreten. Diese Wertungen des Gesetzgebers sind zwar zu beachten. Dies führt jedoch nicht dazu, sie über den Bereich der Verjährung hinaus auf die Strafzumessung zu erstrecken, deren Wesenselement die umfassende Würdigung der Einzelfallumstände darstellt (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Zudem wäre es nicht sachgerecht, den Strafzweck der Spezialprävention trotz seiner gesetzlich hervorgehobenen Bedeutung (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StPO) in den beschriebenen Fällen aufgrund allein an die Art der begangenen Straftat anknüpfender Überlegungen nur eingeschränkt zu berücksichtigen.
45
(4) Wollte man schließlich die hier in Rede stehende Verknüpfung zwischen Strafzumessung und Verfolgungsverjährung herstellen, so erschiene es wenig konsequent, sie auf die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu beschränken. Auch in anderen Fallkonstellationen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB oder solchen, die von dieser Vorschrift nicht erfasst werden, kann es - wenn auch möglicherweise weniger häufig - vorkommen, dass Täter und Opfer eine besondere persönliche Beziehung verbindet und der Täter versucht, das Opfer davon abzuhalten, die Straftat zu offenbaren. Dies gilt etwa für Körperverletzungs - oder Nötigungshandlungen zum Nachteil von Lebenspartnern, kann aber auch bei anderen Delikten wie zum Beispiel gegen das Vermögen oder das Eigentum von Familienangehörigen gerichteten Straftaten von Bedeutung sein.
46
4. Die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist nach alldem einzelfall- und nicht deliktsgruppenabhängig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass neben anderen die wesentlichen Gründe, die den Gesetzgeber zur Schaffung und sukzessiven Erweiterung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben, nicht auch im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangen können. Insbesondere erlauben es die in § 46 Abs. 2 StGB aufgeführten Strafzumessungskriterien, in systemkonformer Weise die wesentlichen unrechtssteigernden Elemente zu erfassen, die auch im Rahmen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Rolle spielen. Hierzu gilt:
47
Aus dem Umstand, dass der Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsfaktor stets nach Maßgabe der Umstände des konkreten Falles zu betrachten und zu gewichten ist, folgt auch, dass eine Wechselwirkung mit den anderen im Einzelfall für die Bemessung der Sanktion bedeutsamen Gesichtspunkten besteht. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB nennt als Strafzumessungskriterien neben anderen die verschuldeten Auswirkungen der Tat und das Verhalten des Täters nach dieser. Damit können dem Täter zum einen Auswirkungen auf das Tatopfer straferschwerend angelastet werden, die er verschuldet hat, sie somit von ihm mindestens vorausgesehen werden konnten und ihm vorzuwerfen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1990 - 4 StR 359/90, BGHSt 37, 179, 180), wobei es bezüglich der Vorhersehbarkeit genügt, dass sie in ihrer Art und ihrem Gewicht im Wesentlichen erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 285/06, NStZ-RR 2006, 372). Zum anderen kann jedes Tun oder Unterlassen berücksichtigt werden, das Schlüsse auf den Unrechtsgehalt der Tat zulässt, auf Rechtsfeindlichkeit, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche des Täters hinweist oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewährt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Juli 1985 - 3 StR 127/85, NStZ 1985, 545; Beschluss vom 6. Dezember 1996 - 2 StR 468/96, NStZ-RR 1997, 196; vgl. auch S/S-Stree-Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 39; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 246 ff. jeweils mwN).
48
Nach diesen Maßgaben gewinnt das Zeitmoment aufgrund der verminderten Notwendigkeit, durch die Verhängung der Strafe spezialpräventiv auf den Angeklagten einzuwirken, etwa dann an Bedeutung, wenn der Täter sich in der Zwischenzeit nicht weiter strafbar gemacht hat. Das Gewicht des langen Abstandes zwischen Tat und Urteil kann aber auch durch andere Umstände, darunter solchen, die im Zusammenhang mit § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB relevant sind, beeinflusst werden. So war wie dargelegt vor allem der mögliche Einfluss, den der Täter auf das Opfer nimmt, um dieses zu veranlassen, die Tat nicht zu offenbaren, für den Gesetzgeber Grund für die Schaffung der genannten Norm. Dieser Umstand erfüllt zumindest regelmäßig die genannten Voraussetzungen und kann deshalb als für die Strafzumessung relevantes, die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs reduzierendes Nachtatverhalten zu Lasten des Angeklagten gewertet werden. Aber auch ohne ein unmittelbares Einwirken durch den Täter kann zum Beispiel die mit dem Zeitablauf einhergehende längere Dauer der psychischen Belastung, denen das Opfer durch eine familiäre Drucksituation ausgesetzt ist, von Bedeutung sein, sofern der Täter diese Auswirkungen verschuldet hat.
49
Eine solche Bewertung kann das Tatgericht systemgerecht und damit ohne Rekurs auf die Verjährungsregeln freilich nicht bereits allein aufgrund der Zuordnung der Tat zu einer bestimmten Deliktsgruppe, sondern nur auf der Grundlage der im konkreten Fall getroffenen Feststellungen nach Maßgabe aller relevanten Einzelfallumstände vornehmen.
Limperg Raum Sost-Scheible Graf Franke Schäfer Schneider König Krehl Eschelbach Gericke

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Wer sexuellen Handlungen einer Person unter sechzehn Jahren an oder vor einem Dritten oder sexuellen Handlungen eines Dritten an einer Person unter sechzehn Jahren

1.
durch seine Vermittlung oder
2.
durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit
Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 Nr. 2 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt; dies gilt nicht, wenn der Sorgeberechtigte durch das Vorschubleisten seine Erziehungspflicht gröblich verletzt.

(2) Wer eine Person unter achtzehn Jahren bestimmt, sexuelle Handlungen gegen Entgelt an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, oder wer solchen Handlungen durch seine Vermittlung Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(3) Im Fall des Absatzes 2 ist der Versuch strafbar.

(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage

1.
sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2.
diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird eine Person über achtzehn Jahren bestraft, die eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass sie gegen Entgelt sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.

(3) Eine Person über einundzwanzig Jahre, die eine Person unter sechzehn Jahren dadurch mißbraucht, daß sie

1.
sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt oder
2.
diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen,
und dabei die ihr gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(4) Der Versuch ist strafbar.

(5) In den Fällen des Absatzes 3 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.

(6) In den Fällen der Absätze 1 bis 3 kann das Gericht von Strafe nach diesen Vorschriften absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens der Person, gegen die sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist.

(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die

1.
seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,
2.
seinem Hausstand angehört,
3.
von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder
4.
ihm im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist,
quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die Gefahr

1.
des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder
2.
einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung
bringt.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(1) Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der Ehe nötigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.

(2) Ebenso wird bestraft, wer zur Begehung einer Tat nach Absatz 1 den Menschen durch Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes verbringt oder veranlasst, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 408/15
vom
6. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:060416U2STR408.15.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. April 2016, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach, die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Ott, der Richter am Bundesgerichtshof Zeng,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof in der Verhandlung, Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof bei der Verkündung als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin in der Verhandlung, Justizangestellte bei der Verkündung als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 15. Juni 2015 mit Ausnahme der Entscheidung über den Adhäsionsantrag mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs „eines leiblichen Kindes“ in sieben Fällen, davon in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Melsungen vom 30. Juni 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Wegen eines weiteren Falls des sexuellen Missbrauchs eines „leiblichen Kindes“ hat es ihn zu einer Frei- heitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Daneben hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf sachlich-rechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhr der Angeklagte im Sommer 2006 mit der Geschädigten, seiner 1997 geborenen Tochter, in der Abenddämmerung auf einen Waldspielplatz und band sie dort an ein Spielgerät. Anschließend entfernte er sich für 10-15 Minuten. Nach seiner Rückkehr forderte er sie auf, ihn sexuell zu befriedigen. Da die Geschädigte dies ablehnte, führte er sie immer tiefer in den Wald, wobei er ihr fortlaufend Angst machte. Als sich die Geschädigte schließlich bereit erklärte, seinem Ansinnen nachzukommen , ging er mit ihr zu seinem Auto zurück. Hier führte die Geschädigte auf Aufforderung ihres Vaters zunächst den Handverkehr und sodann den Oralverkehr bis zum Samenerguss an diesem durch. Der Angeklagte verpflichtete seine Tochter anschließend zur Geheimhaltung (Fall 1).
3
An einem Morgen rund vier Wochen später forderte der Angeklagte seine Tochter im häuslichen Wohnzimmer auf, ihn manuell zu befriedigen.Dem kam die Geschädigte nach und führte den Handverkehr an ihrem Vater bis zum Samenerguss durch (Fall 2). An einem Morgen in der Zeit vom 15. Januar 2008 bis zum 1. März 2009 ging die Geschädigte in das elterliche Schlafzimmer. Ihre Stiefmutter war aus nicht feststellbaren Gründen nicht anwesend und die Geschädigte wollte fragen, wann der Angeklagte aufstehen und Frühstück für sie und ihre Geschwister machen würde. Dem Wunsch des Angeklagten, zunächst den Handverkehr an ihm durchzuführen, kam die Geschädigte nach (Fall 3). Kurze Zeit nach dem 1. März 2009 bat der Angeklagte die damals 11jährige Geschädigte eines Abends erneut, ihn manuell zu befriedigen. Da die Geschädigte zunächst nicht wollte, wies der Angeklagte sie daraufhin, dass sie seiner Bitte, wenn sie ihn wirklich liebe, auch nachkommen solle. Daraufhin schloss er das Wohnzimmer ab und die Geschädigte führte den Handverkehr an ihm durch (Fall 4). Im Jahr 2010, als die Geschädigte 12 oder 13 Jahre alt war und sich ihre Stiefmutter für einige Tage im Krankenhaus aufhielt, wurde sie am Morgen von ihren Geschwistern in das elterliche Schlafzimmer geschickt, um nach dem Frühstück zu fragen. Auf Aufforderung des Angeklagten zog sie sich aus und setzte sich nackt auf seinen Penis, wobei er sich bis zum Samenerguss an ihr rieb und ihr währenddessen Zungenküsse gab (Fall 5). Zwischen dem 30. März 2011 und 30. Juni 2011 fragte die nunmehr 14jährige Geschädigte wiederum morgens nach dem Frühstück. Die Stiefmutter A. war bereits aufgestanden und fütterte draußen die Kaninchen. Die Geschädigte setzte sich nackt auf den Penis des Angeklagten, der sich an ihr rieb und dabei einen Finger in ihre Scheide einführte, was die Geschädigte schmerzte (Fall 6). Im gleichen Zeitraum betrat der Angeklagte an einem Tag, an dem alle anderen Familienmitglieder außer Haus waren, das Kinderzimmer der Geschädigten. Auf Geheiß des Angeklagten führte sie den Handverkehr an ihm durch (Fall 7). Circa 2-4 Wochen vor dem 21. Juni 2012 führte die Geschädigte anlässlich des morgendlichen Fragens nach dem Frühstück letztmalig den Handverkehr an dem Angeklagten durch (Fall 8).
4
Während des gesamten Tatzeitraums sprach die Geschädigte – außer einmal gegenüber ihrem Stiefbruder – mit niemanden über die Vorfälle. Sie fühlte sich aufgrund der Aufforderung des Angeklagten zur Geheimhaltung verpflichtet. Auch während einer zwischen 2009 bis Sommer 2012 durchgeführten Psychotherapie offenbarte sie sich nicht. Diese Behandlung bezog sich allein auf die Aufarbeitung der körperlichen Gewalt, die die Geschädigte von einer früheren Lebensgefährtin des Angeklagten erfahren hatte.
5
Am 21. Juni 2012 wurde die Geschädigte bei einem Ladendiebstahl erwischt. Als die Polizei sie heimbrachte, floh sie in den Wald, wo sie sich bis zum Abend aufhielt und sich mit einer Schere Ritzverletzungen beibrachte. Mit dem „Ritzen“ hatte sie schon einige Monate zuvor begonnen. Gegen Abend begab sie sich freiwillig und weinend zur Polizei. Dort berichtete sie zögerlich erstmals auch von den Missbrauchshandlungen, die mit einem Oralverkehr im Auto begonnen und zuletzt vor ca. 2 bis 4 Wochen stattgefunden hätten. Da sie nicht mehr nach Hause wollte und Suizidgedanken äußerte, wurde sie in der Kinderund Jugendpsychiatrie untergebracht. Dort wurde sie ermutigt, die Vorwürfe gegen ihren Vater nicht fallen zu lassen. Am 11. Juli 2012 wurde sie erstmals polizeilich und im März 2013 richterlich vernommen. Im Februar 2014 erfolgte eine Befragung durch die Sachverständige.
6
Die Geschädigte lebt seit Sommer 2012 in einer Pflegefamilie. Sie hat den Realschulabschluss erreicht und strebt das Abitur an. Sie gibt sich erhebliche Mitschuld an dem Geschehen, weil sie mitgemacht habe, und hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Stiefmutter A. , die sie sehr mochte.
7
2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Es ist davon überzeugt, dass deren Angaben einem tatsächlichen Erleben entsprechen und glaubhaft sind.

II.

8
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg.
9
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält – auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) – sachlich -rechtlicher Überprüfung nicht stand.
10
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 - 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; BGH, Urteil vom 27. Juli 1994 – 3 StR 225/94, StV 1994, 580).
11
Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen im Kern „Aussagegegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; BGH, Beschluss vom 22. April 1997 - 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 - 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 18. Juni 1997 - 2 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14; BGH, Beschluss vom 12. November 1998 – 4 StR 511/98, NStZ-RR 1999, 139). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der be- lastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656,657).
12
b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter einem durchgreifenden Erörterungsmangel.
13
Das Landgericht hat zwar die Möglichkeit einer Falschbelastung des Angeklagten durch die Geschädigte erörtert. Es hat die Offenbarungssituation gewürdigt und erörtert, ob es der Geschädigten möglicherweise nur darum gegangen sein könnte, von ihrem eigenen Fehlverhalten abzulenken. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Geschädigte im Alter von neun Jahren wahrheitswidrig behauptet hatte, entführt worden zu sein, als entdeckt worden war, dass sie einen unerlaubten Fahrradausflug gemacht hatte. Die Strafkammer hat das Ablenken von eigenem Fehlverhalten als Motiv für eine Falschbelastung unter anderem mit der Erwägung ausgeschlossen, dass der Ladendiebstahl zum Zeitpunkt ihrer Offenbarung tatsächlich schon entdeckt war und nicht mehr verschleiert werden konnte. Ein Ablenkungsmotiv würde auch nur die Erstbezichtigung erklären, nicht aber, dass die Geschädigte um eines vergleichbaren geringfügigen Vorteils willen – anders als bei der Entführungsgeschichte , bei der sie ihre Lüge bald eingeräumt hatte – ihre Angaben über Jahre hinweg aufrechterhalten habe und in eine Pflegefamilie gewechselt sei. Im Übrigen habe die Geschädigte schon zuvor einem ihrer Stiefbrüder gegenüber offenbart, dass sie den Angeklagten auf dessen Wunsch befriedige.
14
Das Landgericht hat es jedoch versäumt, im Rahmen der Prüfung, ob die Geschädigte möglicherweise nur von eigenem Fehlverhalten ablenken wollte, sich auch damit auseinanderzusetzen, warum sie sich am 21. Juni 2013 ohne Weiteres gegenüber den Polizeibeamten offenbarte, wohingegen sie dazu ge- genüber ihrer Psychotherapeutin, die sie zwischen 2009 bis Sommer 2012 behandelt hatte, nicht bereit war. Zwar bezog sich die therapeutische Behandlung allein auf die Aufarbeitung der von der Geschädigten erlittenen körperlichen Gewalt. Allein aber der Hinweis der Strafkammer, die Geschädigte sei nicht bereit gewesen, dort ihre Missbrauchserfahrungen zu thematisieren, weil sie keinen Grund dafür gesehen habe, diese therapeutisch aufzuarbeiten und auch nicht gewusst habe, was es diesbezüglich zu erörtern gegeben haben solle, erklärt nicht, weshalb sie sich gegenüber den Polizeibeamten trotz der ihr vom Angeklagten auferlegten Geheimhaltungspflicht offenbaren konnte.
15
Ein Erörterungsmangel liegt letztlich aber auch darin, dass die Strafkammer sich nicht damit auseinandergesetzt hat, dass die Geschädigte, die nach ihrer Offenbarung am 21. Juni 2012 wegen Selbsttötungsabsicht in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden war, dort „im weiteren Verlaufe der Behandlung dazu ermutigt [worden war], die Vorwürfe gegen ihren Vater nicht fallen zu lassen“. Offen bleibt schon, weshalb die Geschädigte überhaupt „ermutigt“ werden musste und inwiefern ein „fallen lassen“ der Vorwürfe zu besorgen war.
16
2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei Einhaltung der verfahrensrechtlich gebotenen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter. Die Adhäsionsentscheidung bleibt hiervon unberührt (vgl. Senat, Urteil vom 28. November 2007 - 2 StR 477/07, BGHSt 52, 96, 98); Im Übrigen wird auf den Anfragebeschluss des Senats vom 8. Oktober 2014 (2 StR 137/14 und 337/14, NStZ-RR 2015, 382) verwiesen.
17
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Nach den Feststellungen war die Vollstreckung der im Rahmen der Bildung der ersten Gesamtfreiheitsstrafe einbezogenen Freiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Melsungen vom 30. Juni 2011 zur Bewährung ausgesetzt worden. Die dem Angeklagten hierbei auferlegte Bewährungsauflage der Ableistung von 100 Arbeitsstunden hatte dieser in der Folge umfassend erfüllt. Angesichts dieser Feststellungen hätte sich die Strafkammer gedrängt sehen müssen, die Voraussetzungen für eine Anrechnung auf Bewährungsauflagen erbrachter Leistungen gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 StGB i.V.m. § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB zu prüfen und in den Urteilsgründen zu erörtern (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2001 - 2 StR 43/01). Nach dieser Regelung sind Leistungen, die auf Bewährungsauflagen nach § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 StGB erbracht worden sind, entgegen der Auffassung des Landgerichts (vgl. UA S. 45) nicht bei der Bemessung der Gesamtstrafe zu berücksichtigen, sondern durch eine die Vollstreckung verkürzende Anrechnung auf die gebildete Gesamtfreiheitsstrafe auszugleichen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 1990 - 1 StR 283/89, BGHSt 36, 378, 381 ff.). Fischer Krehl Eschelbach Ott Zeng

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 465/16
vom
13. Juni 2017
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:130617B2STR465.16.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 13. Juni 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 19. Mai 2016 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in jeweils drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in weiteren vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensbeanstandungen und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge Erfolg.

I.

2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
1. a) Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2001 zusammen mit seiner Lebensgefährtin in einem gemeinsamen Haushalt. Am 7. Juli 2007 heirateten er und seine Lebensgefährtin. Im Sommer 2009 nahmen sie die zum damaligen Zeitpunkt acht Jahre alte - spätere Geschädigte - Enkelin der Ehefrau des Angeklagten zur Erziehung und Betreuung auf. Wegen Erziehungs- und Umgangsproblemen erhielten sie in der Folgezeit Hilfe durch das Jugendamt. Im Februar/März 2014 und im April 2015 wurde die Geschädigte wegen Streitigkeiten zwischen ihr und dem Angeklagten kurzfristig durch das Jugendamt in Obhut genommen; sie kehrte aber jeweils wieder in den gemeinsamen Haushalt zurück. Am 7. Juli 2015 begab sich die Geschädigte freiwillig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo sie sich hinsichtlich der dem Verfahren zugrundeliegenden Taten offenbarte.
4
Im Zeitraum zwischen Herbst 2013 und Juli 2015 kam es an nicht mehr feststellbaren Tagen zu insgesamt sieben Taten: In der Gartenlaube leckte der Angeklagte mit seiner Zunge am unbedeckten Geschlechtsteil der sexuell unerfahrenen Geschädigten (Fall II. 1. der Urteilsgründe). Einen Vibrator, auf dem der Angeklagte zuvor Gleitgel aufgetragen hatte, führte er bei der Geschädigten einmal anal (Fall II. 2. der Urteilsgründe) und in einem anderen Fall - für die Geschädigte schmerzhaft - vaginal ein (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Der Angeklagte versuchte in zwei weiteren Fällen mit seinen Penis bei der Geschädigten vaginal einzudringen, was ihm aufgrund der Anspannung des Kindes nicht gelang ; in einem Fall befriedigte er sich sodann selbst und ejakulierte auf dessen Bauch (Fälle II. 4. und II. 5. der Urteilsgründe). Nach Aufforderung befriedigte die Geschädigte den Angeklagten mit der Hand bis zum Samenerguss (Fall II. 6. der Urteilsgründe). Innerhalb des Tatzeitraumes vollzog der Angeklagte mit der Geschädigten den Analverkehr. Danach sagte er ihr, dass sie niemandem davon erzählen solle, weil er sonst dafür bestraft werde (Fall II. 7. der Urteilsgründe).
5
b) Die Geschädigte offenbarte sich an einem zeitlich nicht einzuordnenden Tag ohne nähere Details einer gleichaltrigen Freundin. Während ihres Aufenthaltes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie äußerte sie sich am 31. August 2015 gegenüber einer dort tätigen Krankenschwester, auch ohne konkrete Angaben über das Geschehene zu machen; „ihren Opa“ wolle sie nicht anzeigen. Am 8. September 2015 wurde die Polizei von Seiten der Einrichtung informiert. Am 10. und 14. September erfolgten polizeiliche Vernehmungen der Geschä- digten, in denen sie „umfangreiche Angaben“ zu den Taten machte.Anlässlich der Durchsuchung der Wohnung und der Gartenlaube des Angeklagten wurden u.a. mehrere Vibratoren, ein Pornofilm und ein Mobiltelefon mit insgesamt 13 Fotos sichergestellt, auf denen ein Zungenkuss zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten sowie Großaufnahmen der Brüste und des Vaginal- und Analbereich des Kindes zu sehen sind.
6
In der Folgezeit äußerte die Geschädigte „wiederholt große Angst, in ei- nem Heim untergebracht zu werden“ und wollte deswegen in den Haushalt ihrer Großmutter zurückkehren. Am 27. September 2015 schrieb sie einen Brief an eine Ärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in dem sie erklärte, den Angeklagten zu Unrecht beschuldigt zu haben. Sie habe bemerkt, dass sie sich schon sehr oft widersprochen habe. Sie sage die Wahrheit lieber jetzt; „sie sage dies nicht nur, damit sie nicht ins Heim komme. Sie sei wütend auf Opa gewe- sen und habe aus Rache die Behauptungen aufgestellt“. Am 1. Oktober2015 nahm die Geschädigte ihre Angaben aus dem Brief vom 27. September 2015 zurück. „Sie habe sich sehr unter Druck gefühlt, weil ihre Oma zu ihr gesagt habe, sie würde für immer weggehen, wenn die Vorwürfe gegen den Angeklagten wahr seien. Tatsächlich seien ihre Angaben bei der Polizei über den sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten wahr“. Am 24. November 2015 wurde sie richterlich vernommen; die Geschädigte machte dort „erneut detaillierte An- gaben“ zu den sexuellen Übergriffen.
7
2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Er habe ein freundschaftliches Verhältnis zu der Geschädigten gehabt. Auseinandersetzungen habe es indes auch gegeben, die regelmäßig Strafen nach sich gezogen hätten. „Es habe keine Woche ohne Strafe gegeben“. Die auf seinem Mobiltelefon befindli- chen Fotos habe er teilweise auf Verlangen der Geschädigten gefertigt; wie die weiteren Fotos, die er nicht gemacht habe, auf sein Mobiltelefon „gelangt seien, könne er sich nicht erklären. Sein Mobiltelefon habe oft offen herumgelegen“. Die Geschädigte habe durchaus Zugang zu seinem Mobiltelefon gehabt.
8
Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Deren Angaben entsprächen einem tatsächlichen Erleben und seien glaubhaft.

II.

9
1. Die zulässige Rüge einer Verletzung des § 261 StPO wegen Nichtberücksichtigung des Ergebnisses einer verlesenen gynäkologischen Untersuchung ist begründet. Das Landgericht hat sich insoweit nicht mit allen erhobenen Beweisen auseinandergesetzt und daher seine Überzeugung nicht aus dem vollständigen Inhalt der Beweisaufnahme geschöpft. Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
10
Am 5. Hauptverhandlungstag verlas der Vorsitzende den gynäkologischen Befund des k. s N. vom 28. September 2015 hinsichtlich der Geschädigten. Der - im Übrigen - unauffällige Befund stellte keinerlei Verletzungen und u.a. ein intaktes Hymen fest. Diesen Umstand hat das Landgericht nicht verwertet.
11
Die Revision macht zu Recht geltend, dass der Tatrichter dieses Beweisergebnis in den Urteilsgründen mit Blick darauf hätte erörtern müssen, ob dieser Umstand der Glaubhaftigkeit der Aussage der Geschädigten entgegenstehe. Denn nach ihrer Aussage, die mit dem Befund nicht ohne Weiteres vereinbar ist, habe der Angeklagte ihr im Fall II. 3. der Urteilsgründe - für sie schmerzhaft - einen Vibrator vaginal eingeführt. Soweit der Generalbundesanwalt ausführt, dem gynäkologischem Befund käme kein erörterungsbedürftiger Beweiswert zu, weil es „(allgemein) anerkannt“ ist, „dass ein Eindringen in die Vagina ohne Verletzungen der Jungfernhaut keine Seltenheit“ sei,bleibt dies notwendigerweise spekulativ. Auch wenn es möglich ist, einen vollendeten Beischlaf ohne Verletzung der Jungfernhaut auszuführen, hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, ob auch im vorliegenden Fall die (für die Geschädigte schmerzhafte) vaginale Einführung eines - nicht näher spezifizierten - Vibrators ohne Verletzung des Hymens möglich ist (vgl. auch BGH, Urteil vom 4. März 1960 - 4 StR 31/60, BGHSt 14, 162, 164; Beschluss vom 24. Juni 2008 - 3 StR 169/08).
12
Diese nicht unbedeutende Indiztatsache könnte erhebliches Gewicht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin insgesamt haben, namentlich auch im Hinblick auf deren ambivalentes Verhalten in der Vergangenheit sowie auf weitere vom Landgericht erwähnte, jedoch als letztlich nicht gravierend angesehene Besonderheiten.
13
Das Schweigen der Urteilsgründe zu diesem für die Beweiswürdigung möglicherweise nicht unbedeutenden Beweisergebnis ist rechtsfehlerhaft und verstößt gegen § 261 StPO. Dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, kann nicht ausgeschlossen werden.
14
2. Auch die Sachrüge hat Erfolg. Die Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) - sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
15
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (Senat, Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15 mwN). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (Senat, aaO). Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 261 Rn. 3 und 38).
16
Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen im Kern „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Tragfähig- keit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 - 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 mwN) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. August 2012 - 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 mwN). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657).
17
b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter Erörterungsmängeln.
18
Das Landgericht hat sich nicht näher damit auseinandergesetzt, dass die Geschädigte, in „Absprache“ mit einer sie betreuenden Psychotherapeutin „freiwillig“ inder Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht wurde und die verfahrensgegenständlichen sexuellen Übergriffe während dieses Aufenthaltes „bekannt“ wurden. Bereits der Inhalt dieser „Absprache“wird nicht mitgeteilt. Offen bleibt auch, ab wann und welche psychischen Probleme bei der Geschädigten , die von verschiedenen Zeugen beobachtetes selbstverletzendes Verhalten gezeigt hat, auftraten, und wann und warum die gegenüber der Psychotherapeutin geäußerten nicht näher erörterten Suizidgedanken auftraten. Inwieweit die jeweiligen Aussagen der Geschädigten, die zudem von mehreren Zeugen, u.a. auch von der Großmutter der Geschädigten - mit Beispielen belegt - als Mädchen beschrieben wird, das „in der Vergangenheit schon mehrfach die Un- wahrheit gesagt habe“,von möglicherweise bestehenden „psychischen Proble- men“ bzw. vonden dargestellten „Verhaltensauffälligkeiten“ geprägt sein könn- ten, erschließt sich dem Senat mangels näherer Erörterung durch das Landgericht nicht.
19
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei Einhaltung der verfahrensrechtlich gebotenen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter. Krehl Eschelbach Zeng Bartel Grube

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 27. Oktober 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte, der aus Nigeria stammt, die Geschädigte, die ebenfalls Nigerianerin ist, im Februar oder März 2014 durch die Zeugen A. und Y. kennen. Anschließend hielten sie über Kurznachrichten miteinander Kontakt. Am 26. November 2014 reiste der Angeklagte auf ihre Anregung zu der Geschädigten. In ihrer Unterkunft bereitete sie ihm ein Essen. Nachdem er gegessen hatte, äußerte er den Wunsch, den Geschlechtsverkehr auszuüben. Dies lehnte die Geschädigte ab. Darauf packte der Angeklagte sie am Arm, zog sie aufs Bett, hielt sie mit einer Hand fest und zog ihr mit der anderen Hand die Hose aus. Dann drang er in sie ein. Als er ihren Oberkörper auf das Bett drückte, riss ihr Top im V-Ausschnitt ein. Der Angeklagte führte den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch.

3

Danach band sich die Geschädigte einen Wickelrock um und verließ das Zimmer. Sie schloss die Zimmertür ab und rief im Treppenhaus mit ihrem Mobiltelefon die Polizei. Nach Eintreffen der Polizeibeamten zeigte sie auf den Angeklagten und erklärte, er habe sie vergewaltigt. Der Angeklagte war überrascht und behauptete, es sei nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen. Die Geschädigte zog darauf ihren Rock hoch, griff zwischen ihre Beine und präsentierte den Beamten Reste von Sperma.

4

2. Der Angeklagte hat die Tatbegehung bestritten und behauptet, die Geschädigte habe sich ausgezogen, aufs Bett gelegt und ihn zum Geschlechtsverkehr verführt. Der  Vergewaltigungsvorwurf treffe nicht zu. Er habe sich mit dem Zeugen A.  zerstritten und dieser habe die Geschädigte zu einer Racheaktion instrumentalisiert.

5

Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten für widerlegt erachtet und ist den Zeugenaussagen der Geschädigten gefolgt. Besondere Beweisbedeutung komme der Tatsache zu, dass ihr Top eingerissen gewesen sei und Zellspuren mit dem DNA-Muster des Angeklagten aufgewiesen habe. Mit der Einlassung, die Geschädigte habe sich vor dem Geschlechtsverkehr entkleidet, sei dies nicht vereinbar. Obwohl der Angeklagte nach Erstattung des Sachverständigengutachtens zur Spurenauswertung durch Unterbrechung der Hauptverhandlung „drei Wochen Zeit hatte, um seine Verteidigung auf das Gutachten einzurichten, hat er dem Gericht keine Erklärung dafür, wie seine DNA auf das Top der Zeugin Aj. gelangt sein könne, aufgezeigt. Die Kammer vermag sich die DNA-Spur des Angeklagten auf dem Top der Zeugin deshalb nur dadurch zu erklären, dass, wie die Zeugin ausgesagt hat, der Angeklagte das Top der Zeugin angefasst hat, als er ihren Oberkörper mit der Hand auf das Bett drückte.“

II.

6

Die Revision des Angeklagten ist mit der Sachrüge begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist lückenhaft.

7

Es geht um einen Fall, in dem in der entscheidenden Frage, ob der Geschlechtsverkehr des Angeklagten mit der Nebenklägerin einvernehmlich erfolgte, wie es der Angeklagte behauptet, oder vom Angeklagten erzwungen wurde, wie es die Geschädigte darstellt, letztlich Aussage gegen Aussage steht. Zudem hat die Geschädigte nach Ansicht des Landgerichts teilweise falsche Angaben gemacht, welche sich allerdings auf Umstände zu ihrem ungesicherten Aufenthaltsstatus beziehen. In einem solchen Fall ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13). Seine Urteilsgründe müssen genau erkennen lassen, dass es alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Hierbei sind das Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien zusammenfassend zu bewerten (vgl. Senat, Urteil vom 19. November 2008 – 2 StR 394/08). Dies hat die Strafkammer nicht ausreichend beachtet.

8

Die Annahme, die Antragung der Zellspur mit DNA vom Angeklagten sei nur dadurch erklärbar, dass sie beim Niederdrücken der zunächst bekleideten Geschädigten durch den Angeklagten an das Top gelangt sei, lässt eine konkret in Betracht kommende Alternative unberücksichtigt. Die Geschädigte präsentierte den Polizeibeamten unmittelbar nach deren Eintreffen Spermaspuren und hatte dadurch selbst Zellmaterial, das vom Angeklagten stammte, an der Hand. Nach ihrer Zeugenaussage in der Hauptverhandlung hatte sie das Top „zu diesem Zeitpunkt noch angehabt. Sie habe das Top noch während des polizeilichen Einsatzes ausgezogen und hingeworfen. Die Beamten hätten jedoch nur ihren Wickelrock und das Bettzeug mitgenommen.“ Daraus ergibt sich die nahe liegende Möglichkeit, dass die Geschädigte das Zellmaterial vom Angeklagten an dem Kleidungsstück angetragen hat. Mit dieser Alternative hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass dies nicht geschehen ist. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil darauf beruht.

Fischer                        Appl                        Eschelbach

                 Ott                          Zeng

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder
3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.

(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.

(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 579/05
vom
25. April 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. April 2006 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 16. August 2005 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts München II zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in 27 Fällen , wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in 43 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Gegen das Urteil wendet der Angeklagte sich mit Verfahrensrügen und der näher ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
I. Die Revision beanstandet die Behandlung von zwei Hilfsbeweisanträgen , die auf die Einholung aussagepsychologischer Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten E. und M. G. gerichtet waren und von der Strafkammer unter Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt worden sind. Die Rüge nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO greift durch.
3
1. Gegenstand der Verurteilung sind Misshandlungen und sexuelle Übergriffe des Angeklagten zum Nachteil seiner Ehefrau E. G. , seines am 1. Mai 1989 geborenen Sohnes M. und seiner am 7. November 1993 geborenen Tochter S. . Das Landgericht hat den nicht vorbestraften Angeklagten für schuldig befunden, in den Jahren 1998 bis 2002 im Abstand von jeweils zwei Monaten den Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau erzwun- gen zu haben, indem er sie würgte und bedrohte (“Wenn ich Dich jetzt umbringe , kannst Du gar nichts tun.”). Nach den Urteilsfeststellungen missbrauchte der Angeklagte zwischen 1994 und 2000 seinen behinderten Sohn M. fünfzehn Mal, indem er das fünf bis elf Jahre alte Kind auf dessen Bett warf, es mit der einen Hand würgte und mit der anderen vor ihm masturbierende Bewegungen an sich vollzog. Mit der vier bis sechs Jahre alten S. führte der Angeklagte nach den Feststellungen in drei Fällen den Geschlechtsverkehr durch. Daneben kam es - so das Landgericht - wiederholt zu Gewalttätigkeiten, indem der Angeklagte S. mit einem eisernen Pfannenwender und M. mit einem Gürtel schlug, M. zudem in zwei weiteren Fällen mit einem Messer in den Arm schnitt.
4
Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat sich in seiner Beweiswürdigung im Wesentlichen auf die jeweiligen Aussagen der Geschädigten zu den an ihnen begangenen Taten gestützt. Ergänzend hat es Angaben der Zeugin E. G. zu Begleitumständen des Missbrauchs von S. und zu den Misshandlungen von M. berücksichtigt, weiterhin Angaben der Zeugin K. G. , Schwester von S. und M. , die einen Fall des Missbrauchs von S. beobachtet haben will. Die Kammer hat die Zeugin S. G. einer aussagepsychologischen Begutachtung unterzogen ; sie ist der Bewertung der Sachverständigen, wonach die Schilderungen der Zeugin keinen Erlebnisbezug aufweisen, Aussageentstehung und –inhalt vielmehr deutliche Hinweise auf suggestive Prozesse und die Entstehung von Scheinerinnerungen ergeben, indes nicht gefolgt. Auch die Zeugin K. G. war im Ermittlungsverfahren im Hinblick auf Missbrauchsvorwürfe, die sie gegenüber dem Angeklagten erhoben hatte, Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung. Die Sachverständige ist auch hinsichtlich dieser Zeugin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Annahme von Scheinerinnerungen und einer darauf beruhenden Falschaussage nicht zurückzuweisen sei. Die Kammer hat dem in die Verhandlung eingeführten Gutachten keine durchgreifende Bedeutung beigemessen, da es sich hauptsächlich auf Berichte der Zeugin über an ihr selbst begangene Taten beziehe, nicht aber auf solche zu Lasten ihrer Schwester S. .
5
Die Verteidigung hat Hilfsbeweisanträge auf Einholung aussagepsychologischer Sachverständigengutachten zum Beweis dafür gestellt, dass die Aussagen der Zeugen E. und M. G. nicht erlebnisfundiert seien. Die Kammer hat die Anträge abgelehnt, weil sie selbst über die erforderliche Sachkunde verfüge.
6
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Ablehnung der Beweisanträge erweist sich in Anbetracht der ungewöhnlichen Besonderheiten des Falles als rechtsfehlerhaft.
7
Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut (BGHSt 8, 130; BGH NStZ 2001, 105). Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist allerdings dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 2; BGH StV 1994, 173). Um einen solchen Fall handelt es sich hier.
8
a) Auffälligkeiten im Hinblick auf die Aussage der Zeugin E. G. liegen in ihrer Person und in den Umständen der Aussageentstehung begründet. Den Urteilsfeststellungen ist zu entnehmen, dass die Zeugin nach ihren eigenen Angaben von ihrem vierten bis zum achtzehnten Lebensjahr in ihrer eigenen Familie sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen ist. Solche Übergriffe habe sie auch von einem Freund hinnehmen müssen, mit dem sie eine Beziehung unterhielt, bevor sie den Angeklagten kennen gelernt habe.
9
Zur Entstehung der den Angeklagten belastenden Aussagen verhält sich das Urteil nicht näher. Ihm ist aber zu entnehmen, dass die Zeugin in Gesprächen mit Ärzten eines psychiatrischen Krankenhauses, in dem der Angeklagte sich im Jahr 2004 zur Behandlung einer Depression aufgehalten hatte, verbalaggressives Verhalten des Angeklagten geschildert, körperliche Übergriffe jedoch entschieden verneint hatte. Den Inhalt weiterer in diesem Zeitraum geführter Unterredungen der Zeugin mit einem Vertrauten, dem Zeugen Ge. Ei. , teilt das Urteil nicht mit. Aus den polizeilichen Vernehmungen des Zeugen Ei. und der Zeugin G. ergibt sich, dass beide Zeugen zahlreiche intensive Gespräche über die familiäre Situation der Zeugin G. geführt haben. Die Zeugin brachte dabei zunächst ihre Überzeugung zum Ausdruck, in einer glücklichen Ehe und heilen Familie zu leben. Nach dem Eindruck des - von der Zeugin G. als “Hobbypsychologen” beschriebenen - Zeugen Ei. lagen dieser Überzeugung jedoch verdrängte familiäre Probleme zugrunde. Auf Anraten des Zeugen unterzog die Zeugin G. sich einer „Familienaufstellung“; hierbei und hiernach sei ihr nach Aussage des Zeugen Ei. “nach und nach zu Be- wusstsein gekommen, was überhaupt passiert ist”.
10
b) Besonderheiten hinsichtlich des Zeugen M. G. finden sich in dessen organischer Hirnschädigung sowie auch hier in den Umständen der Aussageentstehung. Der Zeuge hatte bei seiner von der Revision mitgeteilten polizeilichen Vernehmung sexuelle Übergriffe und Schläge mit Gegenständen seitens des Angeklagten noch ausdrücklich verneint. Erst in seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung schilderte der Zeuge die Geschehnisse, wie sie später Gegenstand der Feststellungen geworden sind, ohne dass ihm seine frühere gegenteilige Aussage hierbei vorgehalten wurde. Die der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des Zeugen beiwohnende aussagepsychologische Sachverständige vermutete ausweislich eines von der Revision mitgeteilten Aktenvermerkes der Staatsanwaltschaft, dass der Aussage durch Suggestion hervorgerufene Pseudoerinnerungen zugrunde liegen könnten.
11
c) Hinsichtlich beider Zeugen war zudem zu berücksichtigen, dass Sachverständigengutachten über die Glaubwürdigkeit der über ähnliche Missbrauchserfahrungen berichtenden familienangehörigen Zeugen S. und K. G. vorlagen, in welchen die Sachverständige erhebliche Anzeichen für eine wechselseitige innerfamiliäre Beeinflussung der Zeuginnen dokumentiert hatte. Auch wenn die Kammer dem Ergebnis der Gutachten nicht gefolgt ist, boten sie bei Würdigung der Aussagen weiterer als Zeugen vernommener Familienmitglieder doch Anlass für eine besonders kritische Prüfung möglicher suggestiver Einflüsse und hierdurch hervorgerufener Fehlerinnerungen.
12
Vor dem Hintergrund all dieser Besonderheiten durfte die Kammer sich nicht für befugt halten, über die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen der Zeugen E. und M. G. aus eigener Sachkunde zu entscheiden; vielmehr hätte es der Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens bedurft (vgl. BGH NStZ 2001, 105).
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3. Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung aller Urteilsfeststellungen, soweit sie der Verurteilung des Angeklagten zugrunde liegen. Denn die Kammer hat die Aussagen dieser beiden Zeugen zur Feststellung sämtlicher Tatkomplexe in wechselnder Beteiligung herangezogen.
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Auf die weiteren von der Revision erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen und auf die Sachrüge kommt es hiernach nicht mehr an.
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II. Der Senat hat Anlaß zu folgendem Hinweis: Der Tatrichter ist nicht gehindert, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders zu beurteilen als ein hierfür herangezogener Sachverständiger, denn das von diesem erstattete Gutachten kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Er muss dann aber die wesentlichen Ausführungen des Sachverständigen im Einzelnen darlegen, insbesondere die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Gesichtspunkten, auf die er seine abweichende Auffassung stützt. Dem Revisionsgericht ist ansonsten keine Prüfung möglich, ob der Tatrichter das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat (st. Rspr.; BGH NStZ 2000, 550f.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1 und 5). Zu den Anforderungen an ein aussagepsychologisches Gutachten , welche von der herangezogenen Sachverständigen hier beachtet wurden, weist der Senat auf BGHSt 45, 164 hin.
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Im Hinblick auf die bisherige Länge der Untersuchungshaft wird der neue Tatrichter im weiteren Verfahren das Beschleunigungsgebot besonders zu beachten haben.
Nack Kolz Hebenstreit Elf Herr RiBGH Dr. Graf ist erkrankt und deshalb an der Unterschrift gehindert. Nack