Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2014 - 3 StR 57/14

bei uns veröffentlicht am10.06.2014

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 S t R 5 7 / 1 4
vom
10. Juni 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen zu 1.: Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.
zu 2.: Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführer am 10. Juni 2014 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 27. August 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren sowie den Angeklagten L. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Daneben hat es Einziehungs- und Verfallsentscheidungen getroffen. Gegen dieses Urteil wenden sich die Beschwerdeführer mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen. Die Rechtsmittel haben mit der von beiden Beschwerdeführern erhobenen, inhaltsgleichen Beanstandung Erfolg, die Strafkammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO).
2
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
3
Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Wuppertal für das Jahr 2013 war für Strafsachen erster Instanz gegen Erwachsene mit dem Anfangsbuchstaben L die 2. Große Strafkammer zuständig (Ziffer 2.912 des Geschäftsverteilungsplans , im Folgenden: GVP). Gemäß Ziff. 3.24 GVP war bei mehreren Angeklagten der Anfangsbuchstabe des ältesten Angeklagten maßgeblich. Nach Ziff. 2.912 GVP galt ein Präsidiumsbeschluss vom 1. Oktober 2012 fort, nach dem in den Zuständigkeitsbereich der 2. großen Strafkammer fallende Haftsachen in der Reihenfolge ihres Eingangs auf die 1., 3., 4. und 5. Strafkammer verteilt wurden.
4
Da der Angeklagte L. der älteste in der Anklageschrift aufgeführte Angeklagte war, wäre nach dem Geschäftsverteilungsplan die 2. große Strafkammer zuständig gewesen. Aufgrund des fortgeltenden Beschlusses vom 1. Oktober 2012 wurde das vorliegende Verfahren, bei dem es sich um eine Haftsache handelte, der 4. großen Strafkammer zugeteilt. Mit Beschluss vom 25. März 2013 entschied das Präsidium des Landgerichts Wuppertal sodann, dass "die 6. große Strafkammer […] von der 4. großen Strafkammer das Ver- fahren gegen K. u.a. (Aktenzeichen 24 KLs 11/13)" übernehme. Begründet wurde dies mit der hohen Belastung der 4. großen Strafkammer; die 6. große Strafkammer könne schon zwei Monate früher mit der Hauptverhandlung beginnen. Die 6. große Strafkammer eröffnete alsdann das Hauptverfahren , führte die Hauptverhandlung in der Zeit vom 24. Mai bis zum 27. August 2013 durch und erließ das angefochtene Urteil. Beide Beschwerdeführer erhoben am ersten Tag der Hauptverhandlung die Beanstandung, die Strafkammer sei nicht ordnungsgemäß besetzt.
5
2. Die Rügen der vorschriftswidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts nach § 338 Nr. 1 StPO sind zulässig erhoben, insbesondere sind sie nicht wegen nicht fristgemäßer Erhebung der Besetzungseinwände nach § 222b StPO präkludiert, vielmehr sind die rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebrachten Einwände der Angeklagten zurückgewiesen worden (§ 338 Nr. 1, 2. Halbsatz, Buchst. b StPO). Hierzu gilt:
6
a) Nach § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO kann in Fällen, in denen - wie hier - die Besetzung des Gerichts nach § 222a StPO mitgeteilt worden ist, der Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung nur bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden. Ausweislich des von der Revision vorgelegten Protokolls des ersten Hauptverhandlungstages kündigte zunächst ein Verteidiger des Angeklagten K. , Rechtsanwalt W. , vor Verlesung der Anklageschrift an, einen Antrag zur Gerichtsbesetzung stellen zu wollen. Ein Verteidiger des Angeklagten L. , Rechtsanwalt R. , erklärte, dass er ebenfalls einen solchen Antrag stellen wolle. Im Anschluss daran ist protokolliert, dass die Angeklagten Angaben über ihre persönlichen Verhältnisse machten, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft den Anklagesatz verlas, festgestellt wurde, dass die Anklage mit Eröffnungsbeschluss der Strafkammer zur Hauptverhandlung zugelassen worden war und die Angeklagten belehrt wurden, dass es ihnen freistehe, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Das Protokoll weist sodann aus, dass Rechtsanwalt Dr. S. , der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I. , erklärt habe, sein Mandant räume die ihn betreffenden Anklagevorwürfe im Wesentlichen ein, und der ehemalige Mitangeklagte I. erklärt habe, dies sei richtig so. Erst im Anschluss daran verlas laut Protokoll Rechtsanwalt W. den von ihm vorformulierten Besetzungseinwand, der als Anlage zum Protokoll genommen wurde und dem sich Rechtsanwalt R. für den Angeklagten L. anschloss.
7
Da in der protokollierten, von dem ehemaligen Mitangeklagten I. bestätigten Erklärung seines Verteidigers bereits eine Einlassung zur Sache gesehen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 3 StR 38/07, NStZ 2007, 349), wären nach diesem Protokollinhalt die Besetzungseinwände verspätet erhoben und die Revisionsrügen der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts damit nach § 338 Nr. 1, 2. Halbsatz, Buchst. b StPO präkludiert.
8
b) Vorliegend ist indes zur Beantwortung der Frage, ob die Einwände der vorschriftswidrigen Besetzung rechtzeitig vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache erhoben worden sind, nicht vom Inhalt des Protokolls auszugehen. Denn das Protokoll entfaltet hier entgegen § 274 Satz 2 StPO keine formelle Beweiskraft.
9
In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, dass die Beweiskraft des Protokolls entfällt, wenn und soweit sich eine der Urkundspersonen nachträglich zu Gunsten des oder der Angeklagten vom Protokollinhalt distanziert (BGH, Urteil vom 8. Oktober 1953 - 5 StR 245/53, BGHSt 4, 364; Beschluss vom 18. September 1987 - 3 StR 398/87, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 1; OLG München, Beschluss vom 25. Mai 2009 - 5 StRR 101/09, wistra 2009, 365; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 274 Rn. 34 mwN; KK-Greger, StPO, 7. Aufl., § 274 Rn. 11; s. auch BGH, Urteil vom 8. August 2001 - 2 StR 504/00, NJW 2001, 3794, 3796; Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 308; weiter gehend offenbar Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 274 Rn. 16). So verhält es sich hier:
10
aa) Rechtsanwalt W. beantragte als Verteidiger des Angeklagten K. zunächst, das Protokoll der Hauptverhandlung betreffend den ersten Hauptverhandlungstag dahin zu berichtigen, dass er die "Besetzungsrüge" bereits zu Beginn der Hauptverhandlung habe erheben wollen, ihm das Wort dazu nicht erteilt worden sei, auf sein Drängen dieser Umstand und die Zusicherung des Vorsitzenden, dass dem Angeklagten K. durch die spätere Antragstellung keine Nachteile entstehen würden, in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen worden seien und er sodann den Besetzungseinwand vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache - eine Einlassung eines Angeklagten habe es am ersten Hauptverhandlungstag nicht gegeben - erhoben habe. Zur Glaubhaftmachung überreichte er anwaltliche Versicherungen von sich selbst und den anderen drei Verteidigern der Angeklagten. Diesen Protokollberichtigungsantrag wies der Vorsitzende der Strafkammer zurück, weil weder er noch die Protokollführerin nach Ablauf von sechs Monaten eine konkrete Erinnerung an den Ablauf des Hauptverhandlungstages hätten.
11
Nach Eingang der Revisionsbegründungen, die die vorliegende Besetzungsrüge enthielten, gab der Vorsitzende der Strafkammer eine dienstliche Erklärung ab, in der er sich gegen den erhobenen Vorwurf der Protokollfälschung verwahrte und weiterhin betonte, dass er sich an den Ablauf des ersten Hauptverhandlungstages nicht mehr erinnere und deshalb keine zuverlässigen Angaben dazu machen könne. Entsprechendes gelte für die Protokollführerin. Nach weiteren Erwägungen erklärte er, er könne sich eine objektiv unzutreffende Protokollierung zwar nicht vorstellen, wenn eine solche aber vorliege, handele es sich nicht um eine bewusste Falschbeurkundung, sondern lediglich um eine nachlässige Protokollierung. Er halte es indes "allenfalls für denkbar", dass er nach der Belehrung der Angeklagten erklärt habe, infolge der vorgerückten Zeit sollten die Einlassungen der Angeklagten bzw. die Gelegenheit dazu auf den zweiten Hauptverhandlungstag verschoben werden, und der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I. daraufhin mit dessen Zustimmung eine geständige Einlassung seines Mandanten lediglich angekündigt habe. Dies könne die Protokollführerin möglicherweise als Einlassung zur Sache gewertet und entsprechend protokolliert haben, was ihm bei der späteren Lektüre des Protokolls nicht aufgefallen sei.
12
bb) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist der Vorsitzende der Strafkammer als eine der beiden Urkundspersonen damit nachträglich vom Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls abgerückt. Dafür ist es nicht erforderlich, dass die Urkundsperson das Protokoll ausdrücklich als unrichtig bezeichnet, es reicht vielmehr aus, wenn sich aus ihrer Erklärung ergibt, dass sie von dem protokollierten Protokollinhalt nicht mehr überzeugt ist (OLG München , aaO). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt: Der Vorsitzende der Strafkammer hält ausweislich der Ausführungen in seiner dienstlichen Erklärung den vom Protokoll abweichenden Ablauf der Hauptverhandlung ausdrücklich für denkbar, er hält es insoweit für möglich, dass die Protokollführerin die bloße Ankündigung einer Einlassung irrtümlich als Abgabe einer solchen protokolliert habe und ihm dies vor Unterzeichnung des Protokolls nicht aufgefallen sei. Dass er sich eine objektiv unrichtige Protokollierung gleichwohl nicht vorstellen kann, ist demgegenüber schon deshalb ohne maßgebende Bedeutung, weil er gerade keine konkrete Erinnerung mehr an den Ablauf des Hauptverhandlungstages hat. Im Ergebnis hat sich der Vorsitzende Richter damit vom Protokollinhalt in dem Sinne distanziert, dass er einen anderen Ablauf als den protokollierten jedenfalls nicht ausschließen kann. Dann kann er - auf rationaler Basis - aber auch nicht mehr davon überzeugt sein, dass der Hauptverhandlungstag wie protokolliert abgelaufen ist.
13
c) Folge der Distanzierung einer Urkundsperson vom Protokollinhalt ist hier - wie dargelegt - der Verlust der Beweiskraft des Protokolls. Dies führt dazu , dass das Revisionsgericht den tatsächlichen Ablauf des maßgeblichen Verfahrensgeschehens im Freibeweisverfahren aufzuklären hat (allg. Meinung, s. nur Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 274 Rn. 18 mwN).
14
aa) Aufgrund der auch im Revisionsverfahren vorgelegten anwaltlichen Versicherungen der Verteidiger der Angeklagten und der durch den Generalbundesanwalt eingeholten Mitteilung des Verteidigers des ehemaligen Mitangeklagten I. , Rechtsanwalt Dr. S. , ist der Senat jedenfalls davon überzeugt, dass am ersten Hauptverhandlungstag vor Erhebung des Besetzungseinwands durch Rechtsanwalt W. eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. nicht abgegeben, sondern - entsprechend den Erwägungen in der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer - nur angekündigt worden ist. Dies steht mit den anwaltlichen Versicherungen aller Verteidiger im Einklang, nach denen eine Einlassung eines Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag nicht abgegeben worden sei. Dass deren Erinnerung zutreffend ist, wird wiederum dadurch gestützt, dass die Strafkammer den Besetzungseinwand nicht etwa als unzulässig verworfen, sondern als unbegründet zurückgewiesen hat. Wäre sie von einer die Präklusion auslösenden verfristeten Erhebung des Einwands ausgegangen, hätte sie bei richtiger Rechtsanwendung - entgegen den Äußerungen des Vorsitzenden Richters in seiner dienstlichen Erklärung - den Einwand hingegen als unzulässig verwerfen müssen (KK-Gmel, aaO, § 222b Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 222b Rn. 11).
15
Der sich aus den anwaltlichen Versicherungen der Verteidiger der Angeklagten in der Zusammenschau mit der dienstlichen Erklärung des Vorsitzen- den der Strafkammer ergebende Ablauf der Hauptverhandlung wird auch durch das Schreiben von Rechtsanwalt Dr. S. nicht entkräftet. Dieser hat zwar mitgeteilt, er sei sich sicher, dass er am ersten Hauptverhandlungstag erklärt habe, dass sein Klient die Vorwürfe im Wesentlichen einräume und dieser das bestätigt habe; "eine detaillierte Einlassung" sei indes erst am zweiten Hauptverhandlungstag abgegeben worden. Dies steht angesichts des geschilderten Ablaufs und der Pauschalität der Erklärung, die Vorwürfe würden "im Wesentlichen" eingeräumt, ersichtlich nicht im Widerspruch dazu, dass eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. damit am ersten Hauptverhandlungstag lediglich für den nächsten Hauptverhandlungstag angekündigt, nicht aber bereits abgegeben worden ist.
16
bb) Nachdem der Vorsitzende der Strafkammer und die Protokollführerin keine Erinnerung mehr an die Abläufe des Hauptverhandlungstages hatten und die Staatsanwaltschaft eine Revisionsgegenerklärung nicht abgegeben hat, sieht der Senat von der Einholung weiterer dienstlicher Erklärungen, etwa der Beisitzer, der Schöffen oder der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ab: Da schon die Urkundspersonen sich nicht mehr an die konkreten, von ihnen zu beurkundenden Abläufe erinnern können, steht nicht zu erwarten, dass die Verfahrensbeteiligten , die weniger Veranlassung hatten, sich die genauen Abläufe einzuprägen, zur Sachaufklärung beitragen könnten.
17
d) War damit nach dem freibeweislich festgestellten Verfahrensgang davon auszugehen, dass die Verteidiger für jeden der Angeklagten den Besetzungseinwand nach § 222b Abs. 1 StPO rechtzeitig erhoben hatten, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Besetzungsrügen auch aus anderen Gründen als zulässig anzusehen wären: Nach dem Vortrag der Revisionen habe der Vorsitzende Richter die Entgegennahme der Besetzungseinwände vor Verlesung der Anklageschrift zwar abgelehnt, aber zugesichert, diese könnten ohne Rechtsnachteile für die Angeklagten zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden und dies auf Drängen von Rechtsanwalt W. auch in das Protokoll aufgenommen. Im Protokoll findet sich - wie dargelegt - nur die Passage, dass Rechtsanwalt W. einen Antrag zur Gerichtsbesetzung angekündigt und Rechtsanwalt R. erklärt habe, ebenfalls einen solchen Antrag stellen zu wollen.
18
Der Senat sieht Anlass, zu der von den Revisionen dargestellten Vorgehensweise zu bemerken, dass der Vorsitzende grundsätzlich nicht verpflichtet ist, Anträge der Verfahrensbeteiligten zu jeder Zeit entgegenzunehmen (BGH, Beschlüsse vom 5. November 2003 - 1 StR 368/03, BGHSt 48, 372 f.; vom 24. Januar 2006 - 3 StR 460/05, NStZ 2006, 463). Werden sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt gestellt, kann er - auch bei fristgebundenen Anträgen - den Antragsteller auf einen späteren Zeitpunkt verweisen, wobei es die Fürsorgepflicht aber in aller Regel gebietet, dass der Vorsitzende von sich aus auf das zurückgestellte Anliegen zurückkommt (LR/Becker, aaO, § 238 Rn. 4). Fraglich ist, ob der Vorsitzende Richter ausgehend von diesen Grundsätzen nicht schon auf der Grundlage des Inhalts des vorliegenden Hauptverhandlungsprotokolls gehalten war, den Angeklagten vor Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache von sich aus das Wort zur Erhebung der angekündigten, aber auf sein Betreiben zurückgestellten Besetzungseinwände zu erteilen. Es ist kein Grund ersichtlich, aus dem die Verteidiger der Angeklagten von sich aus auf die Erhebung der Besetzungseinwände vor Verlesung der Anklageschrift hätten verzichten und stattdessen diese nur hätten ankündigen sollen; der Vorsitzende Richter hat in seiner dienstlichen Erklärung - schon aufgrund seiner fehlenden Erinnerung - nicht in Abrede gestellt, die Verteidiger zur Zurückstellung der Besetzungseinwände gebracht zu haben. Hätte bei einem solchen Verfahrensablauf aber der Vorsitzende Richter von sich aus auf die Besetzungseinwände zurück- kommen müssen, hätte er dies auch zum gebotenen Zeitpunkt und damit vor Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache tun müssen. Hätte er dies in Verletzung seiner prozessualen Fürsorgepflicht unterlassen, erschiene es zweifelhaft , den Angeklagten die verspätete Erhebung des Besetzungseinwandes anzulasten und sie mit der Rüge nach § 338 Nr. 1 StPO auszuschließen. Letztlich kann dies aber offen bleiben, weil die Besetzungseinwände - wie oben dargelegt - nicht verfristet erhoben worden sind.
19
3. Die auch im Übrigen zulässigen Besetzungsrügen der Angeklagten sind gleichfalls begründet. Zu Recht rügen sie, dass sie durch die Vorgehensweise des Landgerichts bei der Geschäftsverteilung ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden sind.
20
Welches Verfahren zur Bestimmung des im Einzelfall berufenen Richters einzuhalten ist und welche Richter an der Entscheidung mitwirken müssen, ist in den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes, insbesondere in den §§ 21a bis 21g GVG ausdrücklich geregelt. Darüber hinaus gelten weitere Rechtsgrundsätze, die sich daraus ergeben, dass sowohl nach einfachem Recht (§ 16 Satz 2 GVG) als auch nach Verfassungsrecht (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Zu diesen Grundsätzen zählt, dass eine Strafsache dem erkennenden Gericht nach allgemeinen , abstrakten Regelungen zuzuweisen ist; die Sache muss "blindlings" zu dem zuständigen Richter oder Spruchkörper gelangen (BGH, Urteil vom 28. September 1954 - 5 StR 275/53, BGHSt 7, 23, 24; LR/Franke, aaO, § 338 Rn. 14 mwN). Diese Grundsätze sind bei der Aufstellung und der Änderung eines Geschäftsverteilungsplans durch das Präsidium eines Landgerichts gleichsam zu beachten; auch insoweit gilt, dass eine spezielle Zuweisung bestimmter einzelner Verfahren unzulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690).
21
Nach diesen in ständiger Rechtsprechung wiederholten und vom Schrifttum einhellig geteilten Grundsätzen war die Übertragung des Verfahrens "gegen K. u.a." an die 6. große Strafkammer erkennbar rechtsfehlerhaft, weil es sich dabei um eine unzulässige Einzelzuweisung handelte. Dem steht nicht entgegen, dass eine Entlastung der 4. großen Strafkammer sachgerecht gewesen sein mag und zu diesem Zweck auch die Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren geändert werden darf, denn auch in diesen Fällen muss die Neuregelung generell und abstrakt gelten und darf nicht nur ein bestimmtes, namentlich benanntes Verfahren betreffen (vgl. zur insoweit zulässigen Verteilung bereits anhängiger Verfahren BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 - 2 BvR 229/09, BVerfGK 15, 247, 248 f.).
22
4. Die Sache bedarf damit insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass die bisherigen Erwägungen der Strafkammer zur Strafzumessung hinsichtlich des Angeklagten K. insoweit rechtlichen Bedenken begegnen könnten, als bei ihm die Initiierung der Betäubungsmittelgeschäfte durch einen verdeckten Ermittler nicht strafmildernd berücksichtigt worden ist. Zutreffend ist zwar, dass dieser Angeklagte nicht selbst mit dem verdeckten Ermittler verhandelt hat; jedoch sind auch für den Angeklagten K. jedenfalls in den Fällen sieben und neun der Urteilsgründe die gehandelten Mengen auf die Vorgaben des verdeckten Ermittlers gegenüber dem Angeklagten L. zurückzuführen.
Schäfer Pfister RiBGH Hubert befindet sich im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Schäfer Mayer Gericke

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Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2014 - 3 StR 57/14 zitiert 9 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 338 Absolute Revisionsgründe


Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswid

Strafprozeßordnung - StPO | § 274 Beweiskraft des Protokolls


Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Strafprozeßordnung - StPO | § 222b Besetzungseinwand


(1) Ist die Besetzung des Gerichts nach § 222a mitgeteilt worden, so kann der Einwand, daß das Gericht vorschriftswidrig besetzt sei, nur innerhalb einer Woche nach Zustellung der Besetzungsmitteilung oder, soweit eine Zustellung nicht erfolgt ist, i

Gerichtsverfassungsgesetz - GVG | § 16


Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 222a Mitteilung der Besetzung des Gerichts


(1) Findet die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht statt, so ist spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung die Besetzung des Gerichts unter Hervorhebung des Vorsitzenden und hinzugezogener Ergänzungsric

Gerichtsverfassungsgesetz - GVG | § 21a


(1) Bei jedem Gericht wird ein Präsidium gebildet. (2) Das Präsidium besteht aus dem Präsidenten oder aufsichtführenden Richter als Vorsitzenden und 1. bei Gerichten mit mindestens achtzig Richterplanstellen aus zehn gewählten Richtern,2. bei Ger

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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

(1) Ist die Besetzung des Gerichts nach § 222a mitgeteilt worden, so kann der Einwand, daß das Gericht vorschriftswidrig besetzt sei, nur innerhalb einer Woche nach Zustellung der Besetzungsmitteilung oder, soweit eine Zustellung nicht erfolgt ist, ihrer Bekanntmachung in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden. Die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, sind dabei anzugeben. Alle Beanstandungen sind gleichzeitig vorzubringen. Außerhalb der Hauptverhandlung ist der Einwand schriftlich geltend zu machen; § 345 Abs. 2 und für den Nebenkläger § 390 Abs. 2 gelten entsprechend.

(2) Über den Einwand entscheidet das Gericht in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgeschriebenen Besetzung. Hält es den Einwand für begründet, so stellt es fest, daß es nicht vorschriftsmäßig besetzt ist. Führt ein Einwand zu einer Änderung der Besetzung, so ist auf die neue Besetzung § 222a nicht anzuwenden.

(3) Hält das Gericht den Einwand für nicht begründet, so ist er spätestens vor Ablauf von drei Tagen dem Rechtsmittelgericht vorzulegen. Die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ergeht ohne mündliche Verhandlung. Den Verfahrensbeteiligten ist zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. Erachtet das Rechtsmittelgericht den Einwand für begründet, stellt es fest, dass das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist.

(1) Findet die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht statt, so ist spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung die Besetzung des Gerichts unter Hervorhebung des Vorsitzenden und hinzugezogener Ergänzungsrichter und Ergänzungsschöffen mitzuteilen. Die Besetzung kann auf Anordnung des Vorsitzenden schon vor der Hauptverhandlung mitgeteilt werden; die Mitteilung ist zuzustellen. Ändert sich die mitgeteilte Besetzung, so ist dies spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung mitzuteilen.

(2) Ist die Mitteilung der Besetzung oder einer Besetzungsänderung später als eine Woche vor Beginn der Hauptverhandlung zugestellt oder erst zu Beginn der Hauptverhandlung bekanntgemacht worden, so kann das Gericht auf Antrag des Angeklagten, des Verteidigers oder der Staatsanwaltschaft die Hauptverhandlung zur Prüfung der Besetzung unterbrechen, wenn dies spätestens bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache verlangt wird und absehbar ist, dass die Hauptverhandlung vor Ablauf der in § 222b Absatz 1 Satz 1 genannten Frist beendet sein könnte.

(3) In die für die Besetzung maßgebenden Unterlagen kann für den Angeklagten nur sein Verteidiger oder ein Rechtsanwalt, für den Nebenkläger nur ein Rechtsanwalt Einsicht nehmen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 38/07
vom
27. Februar 2007
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 27. Februar 2007 einstimmig

beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 8. November 2006 werden als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zu der Begründung der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat: Die Revision des Angeklagten U. rügt als eine Verletzung von § 261 StPO, das Landgericht habe seiner Beweiswürdigung eine Einlassung des Angeklagten zugrunde gelegt, die dieser nicht abgegeben habe. Die Beanstandung bleibt ohne Erfolg, da der Verfahrensverstoß nicht bewiesen ist.
Nach dem durch die Sitzungsniederschrift bestätigten Vortrag der Revision hat sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung in der Form geäußert, dass sein Verteidiger für ihn eine Erklärung abgegeben und er sodann erklärt hat, dies sei richtig so. Später hat der Verteidiger "die Erklärung des Angeklagten U. zur Sache" überreicht, die als Anlage zum Protokoll genommen wurde. Dadurch ist über den Wortlaut der Erklärung kein Beweis erhoben und dieser damit nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung geworden. Vielmehr wurde Gegenstand der Hauptverhandlung lediglich der mündliche Vortrag durch den Verteidiger und die zustimmende Erklärung des Angeklagten. Eine Überprüfung , ob die zusammenfassende Darstellung dieser Einlassung in den Urteilsgründen zutreffend und vollständig ist, ist dem Senat ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht möglich (BGH NStZ 2004, 163; 2004, 392; ebenso Park StV 2001, 589, 592).
Nur wenn das Gericht die Verlesung dieses Schriftstücks angeordnet und durchgeführt hätte, wäre die Urkunde in ihrem Wortlaut in die Hauptverhandlung eingeführt worden und hätte von der Revision als Maßstab zur Überprüfung der Beweiswürdigung herangezogen werden können (vgl. BGHSt 38, 14, 16 f.). Der Senat weist erneut darauf hin, dass ein Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet ist, die schriftliche Einlassung eines Angeklagten als Urkunde zu verlesen, da seine mündliche Vernehmung nicht durch die gerichtliche Verlesung einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden kann (BGH NStZ 2000, 439). Denn nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO erfolgt die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 StPO, also grundsätzlich durch mündliche Befragung und mündliche Antworten (BGH NStZ 2004, 392 m. w. N.).
Winkler Miebach Pfister Becker Hubert

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 504/00
vom
8. August 2001
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
Zum Wegfall der Beweiskraft des Protokolls.
BGH, Urteil vom 8. August 2001 - 2 StR 504/00 - LG Darmstadt
wegen Mordes u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
18. Juli 2001 in der Sitzung vom 8. August 2001, an denen teilgenommen haben
:
Vizepräsident des Bundesgerichtshofes
Dr. Jähnke
als Vorsitzender
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. h.c. Detter,
Dr. Bode,
die Richterinnen am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
Elf
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
die Nebenkläger
Rechtsanwältin
als Nebenklägervertreterin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 13. Juni 2000 wird verworfen. 2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

I.

1. Der Bruder des Angeklagten, Y. B. , geriet aufgrund eines leichten Anrempelns im Toilettenvorraum einer Gaststätte mit dem später getöteten H. in Streit. Die verbale Auseinandersetzung über die Bemerkung des Opfers, Y. B. habe ihm ein Bein gestellt, wurde im Gastraum fortgesetzt und führte schließlich zu einem Lokalverweis für Y. B. durch den Gastwirt.Y. B. berichtete seinem Bruder, dem Angeklagten N. B. , von dem Streit. Für das Lokalverbot machten die Brüder H. v erantwortlich und wollten es ihm heimzahlen. N. B. s ah in dem Geschehen eine Kränkung seines Bruders und diese als eigene Ehrverletzung an. Sie bewaffneten sich mit Dachlatten, warteten vor der Gaststätte auf den Gegner und wollten ihn angreifen, sobald er das Lokal verlassen wür-
de. Der Angeklagte ging zwischendurch mehrfach hinein. Schließlich fragte er H. , als dieser gerade alleine war, ob er derjenige sei, der mit seinem Bruder Streit gehabt habe. Als er darauf keine Antwort erhielt, empfand er dies als eine zusätzliche Beleidigung, weil H. ihm die kalte Schulter gezeigt hatte und einfach weggegangen war. Y. B. s türzte sich mit der Dachlatte auf den Kontrahenten, sobald er herauskam. Der Angeklagte, der die bereit gelegte Latte nicht mehr ergreifen konnte, kam ihm zu Hilfe. Als Y. B. sich einem hinzugeeilten Freund des Opfers zuwandte, stand der Angeklagte diesem allein gegenüber. Er erkannte, daß es ihm kaum gelingen würde, den erheblich größeren H. niederzustrecken, und entschloß sich, das in seiner Tasche befindliche Springmesser einzusetzen. Mit erheblicher Wucht stach er fünfmal auf H. ein, der infolge der Stichverletzungen verstarb. Die Verärgerung und Wut über den Lokalverweis des Bruders und über das aus seiner Sicht abschätzige Verhalten ihm gegenüber waren bestimmend für den Entschluß des Angeklagten, H. zu töten, was ihm auch bewußt war. 2. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes verurteilt, weil er aus niedrigen Beweggründen gehandelt habe. Es hat angenommen, daß die Verärgerung und Wut ihrerseits wegen eines krassen Mißverhältnisses zwischen Anlaß und Tat auf niedriger Gesinnung beruhten. Der Angeklagte habe aus nichtigem Anlaß getötet. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

II.

1. Mit der Verfahrensrüge beanstandet der Beschwerdeführer die Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO in Verbindung mit § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO durch vorschriftswidrige Abwesenheit eines notwendigen Verteidigers in der Hauptverhandlung vom 11. April 2000.
a) Dazu macht er geltend: An 21 Verhandlungstagen sei er teils von Pflichtverteidiger Rechtsanwalt K. und Wahlverteidiger Rechtsanwalt Br. gemeinsam, teils aber auch von jedem einzeln verteidigt worden. Am 12. Hauptverhandlungstag, dem 11. April 2000, sei für ihn nur Rechtsanwalt K. als Verteidiger in der Hauptverhandlung erschienen. Dieser habe während der Vernehmung des Zeugen KOK H. den Sitzungssaal zeitweise verlassen. In Abwesenheit des einzigen an diesem Tage für ihn erschienenen Verteidigers habe der Zeuge KOKH. zur Sache ausgesagt und auf Vorhalte des Vorsitzenden geantwortet. Während dieses Abschnitts der Hauptverhandlung sei er nicht verteidigt gewesen. Zum Beweis der Richtigkeit seines Vorbringens beruft sich der Beschwerdeführer auf das Protokoll der Hauptverhandlung, das diese Vorgänge ausweist.
b) Die Rüge hat keinen Erfolg. aa) Die Anwesenheit eines notwendigen Verteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne von §§ 273 Abs. 1, 274 Satz 1 StPO, deren Beobachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. BGHSt 24, 281). Die Rüge scheint durch das Protokoll belegt zu werden. Die Beweiskraft des Protokolls kann jedoch entfallen, wenn es
an bestimmten inhaltlichen Mängeln leidet. Es kommen in Betracht aus sich selbst nicht lösbare Widersprüche, unerklärliche Auslassungen (Lücken) und Unklarheiten. Um solche offensichtlichen Mängel handelt es sich nach der neueren Rechtsprechung auch, wenn die Sitzungsniederschrift Vorgänge beurkundet , die sich nach aller Erfahrung so nicht zugetragen haben können. Dabei ist zu beachten, daß das Protokoll einer sich über mehrere Termine erstrekkenden Hauptverhandlung eine Einheit bildet. Der Bundesgerichtshof hat derartige , die Beweiskraft ausschließende Mängel des Protokolls wiederholt angenommen. So wurde als nicht lösbarer Widerspruch behandelt das Schweigen der Sitzungsniederschrift über die Anwesenheit eines beisitzenden Richters an einem bestimmten Verhandlungstag, dessen Anwesenheit die vorangegangenen Teilprotokolle auswiesen, und die Bezugnahme des nachfolgenden Teilprotokolls auf dieselbe Besetzung des Gerichts (BGH, Beschluß vom 25. Februar 2000 - 2 StR 514/99). Ein Widerspruch wurde auch in dem Fall bejaht, in dem das Protokoll für einen Sitzungstag einen anderen Richter anstelle des an den übrigen Sitzungstagen anwesenden Beisitzers aufführte (BGHSt 16, 306). In gleicher Weise wurde für widersprüchlich gehalten, daß nach Ausschluß der Öffentlichkeit deren Wiederherstellung nicht protokolliert, für die später erfolgte Vernehmung einer Zeugin aber die Öffentlichkeit erneut ausgeschlossen wurde (BGH NStZ-RR 2000, 293). Eine Lücke wurde darin gesehen, daß der Staatsanwalt nach der Sitzungsniederschrift keinen bestimmten Schlußantrag zur Strafhöhe gestellt hat, obwohl sich aus anderen Umständen zwingend ergab, daß er einen solchen gestellt haben mußte (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 12). Als lückenhaft wurde das Protokoll des weiteren dann behandelt, wenn ein protokollierter Vorgang
darauf hindeutete, daß ein anderer zuvor geschehen sein mußte. Wurde in der Niederschrift die Sitzung eingangs als öffentlich bezeichnet und vor Mitteilung der Urteilsverkündung vermerkt, daß die Öffentlichkeit wieder hergestellt wurde , so enthielt das Protokoll eine augenscheinliche Lücke, soweit die Öffentlichkeit zuvor ausgeschlossen sein mußte (BGHSt 17, 220). Eine Lücke hat der Bundesgerichtshof auch in dem Fall angenommen, in dem das Landgericht den Nebenklägervertreter auf einen nicht korrekt gestellten Beweisantrag hinwies und das Protokoll keine Reaktion des Anwalts aufzeigte. Es wurde durch die Sitzungsniederschrift nicht als bewiesen angesehen, der Anwalt habe den Hinweis des Gerichts schweigend hingenommen (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 16). Lücken und Widersprüche greifen häufig ineinander über. So wurde ein Protokoll hinsichtlich der Verlesung von Niederschriften über Telefonüberwachungen für lückenhaft und in sich widersprüchlich erachtet. Nachdem auf Anordnung des Vorsitzenden bestimmte Niederschriften laut Sitzungsprotokoll verlesen wurden, wies das Protokoll aus, daß der bereits ergangene Beschluß über die Verlesung der Niederschriften weiter ausgeführt und die Verlesung fortgeführt wurde. Das Protokoll über die Fortsetzung der Verlesung wurde als unvollständig erachtet, soweit daraus nicht zu entnehmen war, daß nur die in der Anordnung konkret bezeichneten Niederschriften über die Telefonüberwachungen verlesen worden sind (BGH, Beschluß vom 22. Juni 1999 - 1 StR 193/99). Als unklar wurde der Protokollvermerk "allgemein vereidigt" hinsichtlich einer Dolmetscherin eingestuft. Da der Vermerk die bloße Tatsache der Vereidigung , aber auch die nach § 189 Abs. 2 GVG erforderliche Berufung auf den Eid beinhalten kann, führte die Mehrdeutigkeit zum Wegfall der Beweiskraft (BGHSt 31, 39). Wegen offensichtlicher Unklarheit konnte in einem weiteren Fall das Schweigen des Protokolls keinen Beweis für die Abwesenheit eines
notwendigen Verfahrensbeteiligten (Dolmetscher) begründen. Bei unterschiedlicher Handhabung der Protokollierung der Namen in verschiedenen Fortsetzungsterminen ließ sich bei mehrfachem Wechsel in der Person des Dolmetschers dem einheitlichen Sitzungsprotokoll nicht entnehmen, welche Person die Funktion des notwendigen Verfahrensbeteiligten an dem Tag bekleidete, an dem das Protokoll zur Anwesenheit schwieg (BGH, Beschluß vom 22. Mai 2001 - 3 StR 462/00). Einen offensichtlichen Mangel - ohne nähere Einordnung - hat der Bundesgerichtshof angenommen, soweit das Protokoll lediglich vermerkte, daß eine Zeugin erschienen war und Angaben zur Sache machte, aber zur Frage ihrer Vereidigung und Entlassung schwieg (BGH NStZ 2000, 546). bb) Der Fall eines offensichtlichen, die Beweiskraft des Protokolls ausschließenden Mangels ist auch hier gegeben. Aus dem Inhalt der Sitzungsniederschrift läßt sich kein klarer Beweis für die fehlende Anwesenheit eines notwendigen Verteidigers in der Sitzung vom 11. April 2000 während der Vernehmung des KOK H. führen. Der Tatrichter hat ausweislich des Gesamtprotokolls an allen anderen Verhandlungstagen das Gebot der notwendigen Verteidigung beachtet. Dafür, daß dies auch während der gesamten Vernehmung des KOKH. geschehen ist, sprechen folgende Umstände: Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines Pflichtverteidigers, die notwendige Verteidigung sicherzustellen. Der Senat kann dem Pflichtverteidiger nicht unterstellen, daß er bei Abwesenheit des Wahlverteidigers sich während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung eigenmächtig entfernt hätte. Ferner konnte es bei dem überschaubaren Verfahren der mit drei Berufsrichtern besetzten Kammer nicht entgehen, wenn einer von zwei Angeklagten zeitweise nicht verteidigt war. Außerdem hatte die Ur-
kundsbeamtin das Verlassen des Sitzungssaals durch den Pflichtverteidiger in die Sitzungsniederschrift aufgenommen, so daß ihr die Abwesenheit dieses Verteidigers bewußt war. Es lag daher nahe, daß sie die Jugendkammer davon informiert hätte, sollte kein weiterer Verteidiger zugegen gewesen sein. Es handelte sich ferner um zwei augenfällige Vorgänge, einmal um den Vorgang des Entfernens durch den Pflichtverteidiger und sodann um den Vorgang des erneuten Erscheinens. Diese Vorgänge standen auch unter der Beobachtung der beiden Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägervertreterin. Das Interesse sämtlicher vorbenannter Verfahrensbeteiligter an der prozeßordnungsgemäßen Abwicklung des Verfahrens, das sich schon im Stadium des zwölften Verhandlungstages befand, gab Anlaß zu besonderer Wachsamkeit und Sorgfalt. Es ist auszuschließen, daß allen diesen Verfahrensbeteiligten entgangen sein könnte, daß der Beschwerdeführer nicht verteidigt war, wie das Protokoll es aussagt. Außerdem handelte es sich bei der Vernehmung des KOKH. um ein Kernstück der Beweisaufnahme. Er hatte als Verhörsperson die polizeilichen Vernehmungen durchgeführt. Auf seiner Aussage beruhen wesentliche Feststellungen. Rechtsanwalt K. hatte der Vernehmung des Zeugen KOK H. über die polizeiliche Aussage des Angeklagten N. B. widersprochen. Der Widerspruch wurde durch Gerichtsbeschluß zurückgewiesen. Nach seinem Wiedererscheinen im Sitzungssaal beantragte Rechtsanwalt K. keine Wiederholung des Verfahrensabschnitts. Bei der Gewichtung dieser Aussage ist es schlechthin ausgeschlossen, daß er versehentlich den Sitzungssaal verließ und kein Verteidiger an diesem Abschnitt der Beweisaufnahme teilnahm. Da die Anwesenheit eines zweiten Verteidigers nicht zu den wesentlichen in das Protokoll aufzunehmenden Förmlichkeiten im Sinne von §§ 273
Abs. 1, 274 Satz 1 StPO gehört (vgl. BGHSt 24, 280, 281), liegt es nahe, daß der Wahlverteidiger Rechtsanwalt B. in der Verhandlung vom 11. April 2000 anwesend war, obwohl er für den Zeitraum, in dem Rechtsanwalt K. sich entfernt hatte, nicht in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wurde. Der tatsächliche Verfahrensgang kann dem Protokoll nicht klar entnommen werden. Aus den oben angeführten Gründen enthält das Protokoll insoweit einen offensichtlichen Mangel, der zum Wegfall der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift nach § 274 Satz 1 StPO führt. Dem stehen die von der Revision zitierten Entscheidungen - BGH, Urteil vom 9. Oktober 1985 - 3 StR 473/84 - = StV 1986, 287 und BGH, Urteil vom 30. März 1983 - 2 StR 173/82 - = NStZ 1983, 375 - nicht entgegen. Die Beweiskraft des Protokolls entfällt hier aufgrund der geschilderten Besonderheiten des Verfahrensganges, die - wie in den zuvor dargestellten Entscheidungen - das Protokoll selbst ausweist. Das von der Rechtsprechung entwickelte Korrektiv der Unklarheit (vgl. G. Schäfer in Festschrift 50 Jahre BGH S. 710 ff.) greift hier insbesondere ein, weil die Zulässigkeit der Beweiserhebung durch Vernehmung des Zeugen KOK H. umstritten, der Inhalt der Aussage aber verfahrensentscheidend war. Es scheint ausgeschlossen, daß Rechtsanwalt K. nach ausdrücklichem Widerspruch gegen die Vernehmung dieses Zeugen über die polizeiliche Aussage seines Mandanten und nach Zurückweisung der beanstandeten Beweiserhebung durch Gerichtsbeschluß während der danach erfolgten Aussage des Zeugen zur Sache den Sitzungssaal verläßt, ohne daß ein anderer Verteidiger zugegen gewesen wäre. Das Schweigen des Protokolls über die Anwesenheit eines notwendigen Verteidigers während dieser umstrittenen und bedeutungsvollen Vernehmung ist dem oben zitierten Fall vergleichbar, der Nebenklägervertreter habe den Hinweis des Gerichts auf ei-
nen nicht korrekt gestellten Beweisantrag schweigend hingenommen (BGHR § 274 Beweiskraft 16). So wie die fehlende Reaktion des Nebenklägervertreters auf einen gerichtlichen Hinweis, so ist auch die fehlende Anwesenheit eines notwendigen Verteidigers während der verfahrensentscheidenden Aussage des Zeugen bei dem vorausgegangenen Prozeßgeschehen durch die Sitzungsniederschrift nicht bewiesen. cc) Der Senat hatte deshalb im Wege des Freibeweises zu klären, wie der Verfahrensablauf wirklich war (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 274 Rdn. 18 m.w.N.). Dazu hat er dienstliche Ä ußerungen und anwaltliche Versicherungen eingeholt. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat in ihrer dienstlichen Ä ußerung erklärt, daß Rechtsanwalt B. an der gesamten Hauptverhandlung vom 11. April 2000 teilgenommen hat und dessen Anwesenheit nur versehentlich im Protokoll nicht aufgeführt ist, weil die entsprechende Zeile aus dem Stenogramm nicht in die Reinschrift übertragen wurde. Ihre Aufzeichnungen hat sie beigefügt. Aufgrund der zusätzlichen übereinstimmenden dienstlichen Erklärungen der drei Berufsrichter und der beiden Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sieht der Senat den Vortrag der Revision, der Angeklagte sei am 11. April 2000 während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung nicht verteidigt gewesen, als widerlegt an. Die erstinstanzlichen Verteidiger des Angeklagten haben wegen des fortbestehenden Verteidigungsverhältnisses die erbetene Stellungnahme abgelehnt. Der vom Beschwerdeführer in Anspruch genommene Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ist damit nicht gegeben.
Der Senat kann deshalb offen lassen, ob nach Distanzierung der Urkundspersonen vom Inhalt der Sitzungsniederschrift die insoweit weggefallene Beweiskraft des Protokolls nur zu Gunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt werden darf (vgl. BGHSt 4, 364; BGH StV 1988, 45). Der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, daß dadurch einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge nicht nachträglich der Boden entzogen werden darf (vgl. BGHSt 2, 125, 127; 10, 145, 147; 34, 11, 12), basiert letztlich auf Erwägungen, die mit dem Grundsatz eines für den Angeklagten fairen Verfahrens zusammenhängen. Fraglich ist allerdings, ob aus dem Gebot des fairen Verfahrens auch folgt, daß das Revisionsgericht sehenden Auges einen Verfahrensvorgang unterstellen muß, der so nicht geschehen ist, nur weil das wirkliche Geschehen sich für den Beschwerdeführer ungünstig auswirkt. Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens muß dies jedenfalls dann nicht folgen, wenn der behauptete Verfahrensverstoß in der Sphäre des Angeklagten liegt. Es bedurfte hier auch keiner Entscheidung darüber, ob eine mit dem Wissen eines Verteidigers unvereinbare Rügebehauptung sich als Rechtsmißbrauch darstellt und zur Unzulässigkeit führt (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft

21).

2. Die Sachrüge, mit der sich die Revision gegen die Annahme "niedriger Beweggründe" wendet, hat ebenfalls keinen Erfolg. Das Bejahen dieses Mordmerkmals aufgrund der getroffenen Feststellungen ist weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht rechtlich zu beanstanden.
a) Ein Beweggrund ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb als besonders verachtenswert erscheint (vgl. BGHSt 3, 132 ff.; 35, 116, 127; BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 11, 25).
Wenn Tatmotive wie Wut und Verärgerung den Täter zur Tötung eines Menschen veranlaßt haben, kommt es weiter darauf an, ob die tatauslösende Motive ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen oder ob sie menschlich verständlich sind (vgl. BGHR a.a.O. 16, 23). Aufgrund des Mißverhältnisses zwischen Anlaß und Tat durfte die Kammer im Rahmen der Gesamtwürdigung das Vorgehen objektiv als besonders verachtenswert und verwerflich ansehen (vgl. BGH StV 1981, 399, 400; StV 1983, 504; NJW 1967, 1140). Bei der Auseinandersetzung des Bruders mit dem Tatopfer ging es um eine Bagatelle, wie sie häufig in Gaststätten vorkommt. Der Angeklagte selbst war daran nicht beteiligt, er kannte das Opfer nicht einmal. Der Getötete wich einer Eskalation mehrfach aus und hatte keinen Anlaß für das spätere Tatgeschehen gegeben. Der Lokalverweis betraf ebenfalls nicht ihn selbst und bedeutete nichts weiter als die Ausübung des Hausrechts durch den Wirt. Seine rechtsfeindliche Einstellung wird auch nicht dadurch beseitigt, daß er sich gekränkt fühlte. Denn dazu hatte er, wie er wußte, objektiv keinen Anlaß. Der Angeklagte suchte die Auseinandersetzung. Die aus dem Tatbild und der Persönlichkeit des Angeklagten unter Einbeziehung der Vorbelastungen gezogene Schlußfolgerung der Kammer, Wut und Verärgerung beruhten auf einer egozentrischen Grundhaltung, die es für die Selbst- und Fremdachtung unverzichtbar mache, notfalls mit drakonischen Mitteln bis hin zur Tötung eines Menschen auf geringste Kränkungen zu reagieren , ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Diese Grundhaltung wird belegt durch sein Rachebedürfnis nach unbedeutenden Vorfällen. Darin kommt eine Eigensucht zum Ausdruck, der die Allgemeinheit kein Verständnis entgegenbringen kann.

b) Aus den Urteilsgründen ergeben sich auch die subjektiven Voraussetzungen für die Bewertung der Tat als ein Handeln aus niedrigen Beweggründen. Die tatauslösenden Motive braucht der Täter rechtlich nicht als niedrige Beweggründe zu bewerten. Es reicht aus, daß er die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewußtsein aufgenommen hat (vgl. BGHSt 28, 210, 212; BGHR § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 6, 15, 16, 26). Nach den getroffenen Feststellungen war dem Angeklagten bewußt, daß er aus nichtigem Anlaß tötete. Dieses Bewußtsein wird belegt durch den Vorsatzwechsel. Nur weil der Angeklagte kein Scheitern der Aktion hinnehmen wollte, griff er zum Messer, dessen Einsatz nach dem Tatplan an s ich nicht erfolgen sollte. Daß der Angeklagte imstande war, seine Gefühle der Verärgerung und Wut gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern, lag angesichts seines längeren Zuwartens auf das Erscheinen des Gegners so nahe, daß es keiner Erörterung bedurfte. Jähnke Detter Bode Otten Elf

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/06
vom
23. April 2007
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil
des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge
die Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten
Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht
er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls
weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen
trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung
hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen
Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im
Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.
BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06 - Landgericht München I
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Nack und Basdorf sowie die Richter am Bundesgerichtshof Häger,
Maatz, Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, Pfister und Becker am 23. April
2007 beschlossen:
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden. 2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. 3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.

Gründe:

I.

1
Die Vorlage des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs an den Großen Senat für Strafsachen betrifft die Frage, ob die Beweiskraft eines berichtigten Hauptverhandlungsprotokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich ist, wenn aufgrund der Protokollberichtigung einer bereits zulässig erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen wird.
2
1. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (1 StR 466/05) über eine Revision des Angeklagten zu entscheiden, die sich zum Beweis eines formal ordnungsgemäß gerügten Verfahrensfehlers auf eine Sitzungsniederschrift beruft, die nach Erhebung der Verfahrensrüge in dem Sinne berichtigt wurde, dass der behauptete Verfahrensfehler in Wirklichkeit nicht geschehen sei.
3
a) Das Landgericht München I hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nrn. 2 und 5 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte dem Geschädigten in einem Oktoberfestzelt mit einem 1,3 kg schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt.
4
b) Der Beschwerdeführer erhebt - neben der Sachbeschwerde - eine Verfahrensrüge. Er beanstandet mit der am 7. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung, der Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden (Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO). Er beruft sich insoweit auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift, in der die Verlesung des Anklagesatzes - zunächst - nicht beurkundet war. Hier hatte es lediglich geheißen: "Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des Landgericht München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde."
5
Am 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle das Protokoll hinsichtlich des ersten Hauptverhandlungstages dahingehend, dass an der genannten Stelle des Protokolls der Satz angefügt wird: "Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz".
6
Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Zum Beleg erklärte etwa der Berichterstatter der Strafkammer, die Verlesung der rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag habe Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst. Die Urkundsbeamtin verwies auf einen ihr bei der Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung, in denen der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen ist ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt.
7
Die Verteidiger des Angeklagten wurden vor der Protokollberichtigung angehört. Der Verteidiger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, äußerte sich dabei wie folgt: "An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend ist."
8
2. Der 1. Strafsenat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen. Die Verfahrensrüge hält er für unbegründet, da er unter Aufgabe seiner Rechtsprechung zum Verbot der "Rügeverkümmerung" (vgl. BGHSt 34, 11, 12; NStZ 1984, 521; 1986, 374; 1995, 200, 201) die berichtigte Sitzungsniederschrift als im Sinne von § 274 StPO beachtlich erachtet, auch wenn durch die Berichtigung der Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird. Da sich der 1. Strafsenat an der beabsichtigten Entscheidung durch entgegenstehende Rechtsprechung der anderen Strafsenate gehindert sieht, hat er mit Beschluss vom 12. Januar 2006 (NStZ-RR 2006, 112, m. Anm. Fezer StV 2006, 290, Jahn/Widmaier JR 2006, 166 und Lampe NStZ 2006, 366) bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 GVG angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten wird.
9
Der 2. Strafsenat (Beschl. vom 31. Mai 2006 i.V.m. Beschl. vom 3. Juli 2006 - 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275) und der 3. Strafsenat (Beschl. vom 22. Februar 2006 - 3 ARs 1/06) haben der vom 1. Strafsenat vertretenen Rechtsansicht zugestimmt und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgegeben. Der 4. Strafsenat (Beschl. vom 3. Mai 2006 - 4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 9. Mai 2006 - 5 ARs 13/06) haben an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten.
10
3. Daraufhin hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 23. August 2006 (NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier) dem Großen Senat gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?
11
4. Der Generalbundesanwalt hält die Vorlegungsfrage für zu eng gefasst; sie sei auf alle Revisionen, insbesondere auch auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers, zu erstrecken.
12
In der Sache selbst tritt der Generalbundesanwalt im Grundsatz der Rechtsansicht des 1. Strafsenats bei, dass die Beweisregel des § 274 StPO auch hinsichtlich eines nachträglich berichtigten Protokolls gelte. Die Vorschrift schaffe keine vom wirklichen Verfahrensgeschehen abweichende formelle bzw. prozessuale Wahrheit; § 274 StPO bezwecke vielmehr nur eine klare Kompetenzverteilung zwischen der Tatsachen- und der Revisionsinstanz in Form des grundsätzlichen Verbots, im Revisionsverfahren die tatrichterliche Hauptverhandlung zu rekonstruieren. Im Interesse einer fairen Verfahrensgestaltung und der Effektivität des Rechtsmittels müsse der Beschwerdeführer jedoch vor der Gefahr fehlerhafter Protokollberichtigungen geschützt werden. Vor der Berichtigung seien daher dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten einzuholen und dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör zu gewähren. Verblieben bei der freibeweislichen Überprüfung aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Zweifel an der Korrektheit der Berichtigung, könne es ihr die Beachtung im Sinne von § 274 StPO verwehren.
13
Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
a) Die nach Erhebung einer Verfahrensrüge erfolgte Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls ist für das Revisionsgericht grundsätzlich auch dann im Sinne von § 274 StPO beachtlich, wenn dadurch der Verfahrensrüge zu Ungunsten des Revidenten die Tatsachengrundlage entzogen wird.
b) Bestehen aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Anhaltspunkte für eine inhaltliche Unrichtigkeit der Protokollberichtigung , so kann das Revisionsgericht die entscheidungserheblichen Verfahrenstatsachen freibeweislich aufklären.

II.

14
1. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG sind gegeben. Den Bedenken, die der 4. Strafsenat im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage im konkreten Fall geäußert hatte (vgl. NStZ-RR 2006, 273), ist der 1. Strafsenat mit ausführlicher Begründung entgegengetreten (vgl. NJW 2006, 3582, 3583, 3586 f.). Dessen Beurteilung ist jedenfalls vertretbar und folglich für den Großen Senat bindend (vgl. BGHSt 41, 187, 194; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 132 GVG Rdn. 42).
15
2. Die vorgelegte Rechtsfrage ist allerdings auf alle Revisionen - namentlich auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers - zu erweitern. Wenngleich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Entscheidungen über eine Revision anderer Beschwerdeführer als des Angeklagten ersichtlich sind, in denen es auf die relative Unbeachtlichkeit einer Protokollberichtigung angekommen wäre, so sind doch die tragenden Erwägungen in den Entscheidungsgründen davon unabhängig, wer Beschwerdeführer ist (vgl. nur grundlegend BGHSt 2, 125; ebenso schon RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277).

III.

16
Im Strafprozessrecht sind Zulässigkeit und Beachtlichkeit einer Protokollberichtigung nicht ausdrücklich geregelt. Auch die Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung enthalten insoweit keine eindeutigen Hinweise.
17
1. Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 273 Abs. 1 StPO) nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese wesentlichen Förmlichkeiten betreffenden Inhalt lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Bei § 274 StPO handelt es sich um eine Beweisregel (BGH NJW 2006, 3579, 3581, zur Veröffentlichung in BGHSt 51, 88 bestimmt; Dahs AnwBl. 1950/51, 90 f.; Dallinger NJW 1951, 256, 257; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 687 f.), die nach der Fertigstellung des ordnungsgemäß errichteten und von beiden Urkundspersonen unterzeichneten Protokolls (§§ 271, 273 Abs. 4 StPO) gilt. Dies wurde zunächst dahin verstanden, dass den Urkundspersonen - außerhalb des Nachweises der Fälschung - Protokollberichtigungen , soweit es um die wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens geht, von vorneherein versagt sind, und zwar solche zugunsten wie zu Lasten des Beschwerdeführers (in diesem Sinne noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Die Frage nach der Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen würde sich danach nicht stellen.
18
Den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung im Zusammenhang mit einer Protokollberichtigung (vgl. Hahn, Materialien zur StPO 2. Aufl. S. 40, 256 ff., 1039, 1394) entnimmt der Große Senat nicht, dass der Gesetzgeber selbst dann jeden Zweifel an der Richtigkeit des - ursprünglichen - Protokollinhalts für unberechtigt hielt, sollte eine Protokollberichtigung aufgrund sicherer Erinnerung der Urkundspersonen erfolgen.
19
2. In die Zivilprozessordnung, die eine der Vorschrift des § 274 StPO vergleichbare Bestimmung (§ 165 ZPO) enthält, ist durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 (ProtVereinfG, BGBl I 3651) mit § 164 ZPO eine Vorschrift eingefügt worden, nach der - unter Anhörung der Beteiligten - Protokollberichtigungen vorgenommen werden dürfen. Anders als für das Verwaltungs -, Finanz- und Sozialgerichtsverfahren (Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5 Nr. 2 des ProtVereinfG: jeweils Verweisung auf die §§ 159 bis 165 ZPO) hat der Gesetzgeber, der mit dem Protokollvereinfachungsgesetz von 1974 die Praxis der Zivilgerichte zur Protokollberichtigung (vgl. Zöller, ZPO 10. Aufl. S. 263) auf eine gesetzliche Grundlage gestellt hat (BRDrucks. 551/74 S. 63; BTDrucks. 7/2769 S. 10), diese Vorschrift nicht für den Strafprozess für anwendbar erklärt.

IV.

20
Die Rechtsprechung hat nach anfänglichem Schwanken Protokollberichtigungen im Strafverfahren zugelassen und dies im Wesentlichen damit begründet , dass insoweit eine auslegungsbedürftige Gesetzeslücke bestehe. Umfang und Folgen zulässiger Berichtigungen wurden allerdings nicht einheitlich bestimmt:
21
1. Eine Protokollberichtigung ist jederzeit zulässig und geboten, falls die Urkundspersonen Mängel erkennen (vgl. BGHSt 1, 259, 261; BGH JZ 1952, 281; NStZ 2005, 281, 282; RGSt 19, 367, 370; OGHSt 1, 277, 278; anders noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Sie ist auch stets beachtlich, wenn sie zugunsten des Beschwerdeführers wirkt (BGHSt 1, 259, 261 f.; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 200, 201; OLG Köln NJW 1952, 758) oder wenn sie - bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zu seinen Gunsten, teilweise zu seinen Ungunsten vorgenommen worden ist (BGHSt aaO; RGSt 56, 29; RG GA 57 [1910], 396; JW 1932, 3109).
22
Nach bisheriger Rechtsprechung ist eine Protokollberichtigung - ebenso wie eine Distanzierung der Urkundspersonen vom Protokollinhalt (vgl. hierzu BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85) - jedoch unbeachtlich, wenn sie einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzieht (Verbot der Rügeverkümmerung). Dieser Rechtssatz hat eine lange Tradition: Er findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1, 10) - schon zu Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76, 77 f.). Er blieb ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (grundlegend RGSt 43, 1 m.w.N.; ferner RGSt 56, 29; 59, 429, 431; 63, 408, 409 f.) bis zu dem - die umfassende Beachtlichkeit einer Berichtigung bejahenden - Beschluss des Großen Strafsenats für Strafsachen vom 11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Diese Entscheidung darf indessen im Hinblick auf im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine Beachtung finden.
23
Der ursprünglichen Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung folgten nach 1945 verschiedene Obergerichte, unter anderem der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OGHSt 1, 277 [m.w.N. 279]; 3, 83, 84), und schließlich der Bundesgerichtshof. Grundlegend war das Urteil des 3. Strafsenats vom 19. Dezember 1951 (BGHSt 2, 125), das sich im Wesentlichen den in RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 dargelegten Argumenten anschloss (nachfolgend BGHSt 7, 218, 219; 10, 145, 147; 10, 342, 343; 12, 270, 271; 22, 278, 280; 34, 11, 12; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11; 13; 27; 28; BGH NStE StPO § 344 Nr. 7; NStZ 1984, 521; 1995, 200, 201; 2002, 219; StV 2002, 183; JZ 1952, 281; wistra 1985, 154; Urt. vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66). Diese Rechtsprechung steht in Übereinstimmung mit der heute herrschenden Meinung in der strafprozessualen Literatur (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 55 ff. m. zahlr. w. N.).
24
Soweit danach eine Protokollberichtigung für das Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt dies dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Beweiskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden , der Verfahrenswirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen (BGHSt 26, 281, 283; 36, 354, 358; RGSt 43, 1, 6).
25
2. Folgende Argumente werden für den Rechtssatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht die Tatsachengrundlage entziehen darf, vorgebracht :
26
Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der Beschwerdeführer eine prozessuale Befugnis bzw. ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen (BGHSt 2, 125, 126; RGSt 43, 1, 9; 59, 429, 431). Da er zur Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in der ihm vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihm das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277, 280); er müsse auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125, 127).
27
Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283); das Hauptverhandlungsprotokoll erzeuge gewissermaßen einen Sachverhalt, der kraft gesetzlicher Vorschrift als Tatsache zu behandeln sei ohne Rücksicht darauf, wie der wirkliche Sachverhalt liegen möge (RGSt 43, 1, 6). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf genommen (RG aaO; OGHSt 1, 277, 282). Die Neugestaltung des § 274 StPO sei Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschl. vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01; OGHSt 1, 277, 280).
28
Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen der Urkundspersonen nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen (BGHSt 2, 125, 128; RGSt 43, 1, 5; OGHSt 1, 277, 281).
29
Die zeitlich unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Berichtigungen wäre mit der nach Sinn und Zweck des § 274 StPO zu erhebenden Forderung nach genauester Abfassung der Sitzungsniederschrift nicht vereinbar. Denn die Möglichkeit ihrer jederzeitigen Änderung könne dazu führen, dass ihrer Herstellung weniger Sorgfalt zugewendet werde (BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281).
30
Auch wenn eine Revision nur deshalb erfolgreich sei, weil sie einen Sachverhalt vortrage, der der Verfahrenswirklichkeit nicht entspreche, sei nicht zu besorgen, dass die Gerechtigkeit letztlich Schaden nehme. Denn selbst bei missbräuchlicher Ausübung der durch § 274 StPO gewährten prozessualen Befugnis erreiche der Beschwerdeführer nur, dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282).
31
3. Das Verbot der Rügeverkümmerung war jedoch in der Rechtsprechung nie unbestritten:
32
Anders als zunächst das Reichsgericht judizierte das Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35; 15, 281, 282). Wenngleich es auf der Grundlage einer anderen Prozessordnung - diese ließ gegen das Protokoll auch den Nachweis der Unrichtigkeit zu (§ 335 Satz 2 MStGO) - zu entscheiden hatte, trat es auch auf der Grundlage der Strafprozessordnung den Argumenten des Reichsgerichts entgegen (vgl. RMG 9, 35, 41 ff.). Dessen II. Strafsenat wollte sich der Auffassung des Reichsmilitärgerichts anschließen. In dem von ihm herbeigeführten Beschluss der Vereinigten Strafsenate wurde die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch bestätigt (RGSt 43, 1). Nach 1945 hielt zunächst das OLG Braunschweig (HESt 1, 192) eine nachträgliche Protokollberichtigung zum Nachteil des Beschwerdeführers für beachtlich.
33
Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich gegen das Verbot der Rügeverkümmerung Vorbehalte: Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die Grundlage entziehen darf, wurde vom 1. Strafsenat offen gelassen in NJW 1982, 1057 sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 (vgl. auch BGH [3. Strafsenat] NStZ-RR 1997, 73). Zweifel äußerte der 2. Strafsenat in NJW 2001, 3794, 3796 (kritisch derselbe Senat in diesem Zusammenhang auch in BGHSt 36, 354, 358 f.). Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - der 2. Strafsenat (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 m. Anm. Mosbacher JuS 2006, 39, 42 und Park StV 2005, 257) und der 1. Strafsenat (NStZ 2006, 181) für eine Änderung der Rechtsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz Rügeverlust aus.
34
4. Dieser Kritik am Verbot der Rügeverkümmerung liegen folgende Erwägungen zugrunde:
35
Das Strafverfahrensrecht kenne keine Rechtsnorm, wonach für das Revisionsgericht die Sitzungsniederschrift in ihrer ursprünglichen Fassung, nicht nach ihrer Berichtigung im Sinne von § 274 StPO beachtlich sei. "Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht" (RMG 9, 35, 41 f.).
36
Grundsätzlich sei auch für die Revisionsgerichte die wahre Sachlage maßgeblich, wenn prozessual erhebliche Tatsachen der Klärung bedürften (BGHSt 36, 354, 358 f.). Wenn tatsächlich kein Verfahrensfehler gegeben sei, dürften bloße Mängel des Protokolls, welche die Urkundspersonen erkannt und beseitigt hätten, kein Revisionsgrund sein (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RMG 9, 35, 43; OLG Braunschweig HESt 1, 192, 193). Ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen sei hingegen nicht gerechtfertigt (BGH NStZ 2006, 181). Eine von der Verfahrenswirklichkeit abweichende prozessuale Wahrheit sei nicht anzuerkennen, da § 274 StPO nicht die Tatsachen verändere, es sich bei der Vorschrift vielmehr nur um eine Beweisregel handele (BGH NJW 2006, 3579, 3581).
37
Bei Berücksichtigung der Protokollberichtigung könnten durch Protokollmängel veranlasste Verfahrensverzögerungen vermieden werden (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NStZ 2006, 181). Die Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls könnte begrenzt werden; die Problematik rechtsmissbräuchlicher Verfahrensrügen würde sich erübrigen (BGHR aaO).

V.

38
Der Große Senat beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich und gibt dabei den für eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung sprechenden Argumenten den Vorzug:
39
1. Der Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Tatsachengrundlage zum Nachteil des Beschwerdeführers entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden; eines Gesetzes bedarf es nicht:
40
a) Die grundsätzlich umfassende Berücksichtigung der nachträglichen Protokollberichtigung widerspricht dem Gesetz nämlich nicht. Zwar lässt § 274 Satz 2 StPO als Gegenbeweis gegen die Beurkundungen des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zu. Eine Berichtigung durch Erklärungen der Urkundspersonen enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht ihr, soweit die Berichtigung reicht, die absolute Beweiskraft, so dass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedarf (ebenso bereits RGSt 19, 367, 370). Insbesondere auch deswegen hat die Rechtsprechung schon bisher nachträgliche Protokollberichtigungen, die einer Verfahrensrüge erst zum Erfolg verhelfen , für beachtlich gehalten (RG aaO; ähnlich für sich zugunsten des Beschwerdeführers vom Protokollinhalt distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen BGHSt 4, 364, 365; BGH NJW 2001, 3794, 3796; NStZ 1988, 85; RGSt 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
41
b) Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet, findet im Gesetz keine Stütze. Der Revisionsführer hat keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten (vgl. BGH NJW 2006, 3579, 3580; Gollwitzer in FS für Gössel S. 543, 558; Lampe NStZ 2006, 366, 367; Lohse in Anwaltskommentar, StPO § 344 Rdn. 18). Ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers dahingehend , dass ein - inhaltlich unrichtiges - Protokoll für die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibe, ist nicht schützenswert und kann auch nicht auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gestützt werden (a.A. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169; Krawczyk HRRS 2006, 344, 353). Verfahrensrechte können nur durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt worden sein. Dementsprechend ist nur ein auf dessen Überprüfung bezogener effektiver Rechtsschutz erforderlich. Einen weitergehenden , aus rechtsstaatlichen Prinzipien abzuleitenden Anspruch des Beschwerdeführers , dass zu seinen Gunsten Unwahres unter allen Umständen als wahr fingiert bleiben muss, gibt es nicht. Da ein Recht auf Beibehaltung der Grundlage für eine Rüge weder einfachgesetzlich geregelt noch gar verfas- http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1950&S=930 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1951&S=259 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=MDR&B=1951&S=193 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=100&G=StPO&P=274 - 17 - sungsrechtlich verankert ist, gilt für die Zulässigkeit und Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen auch kein Gesetzesvorbehalt.
42
2. Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein (vgl. BGHSt 36, 354, 358 f.). Dies spricht entscheidend dafür, die Regelung des § 274 StPO in einer Weise auszulegen, welche die inhaltliche Richtigkeit der Sitzungsniederschrift gewährleistet.
43
a) Allerdings wird dem entgegengehalten, dass § 274 StPO nach dem Willen des Gesetzgebers der Zweckmäßigkeit Vorrang vor der Wahrheit einräume (so BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283). Dieser Vorrang gilt aber schon jetzt nicht uneingeschränkt. Denn damit wäre der unstreitige Grundsatz nicht vereinbar, dass - wie bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt (IV 1 und V 1a) - Protokollberichtigungen und distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen beachtlich sind, wenn sie das Revisionsvorbringen bestätigen (vgl. BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 323, 324 f.; 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
44
b) Der Wahrheitspflicht würde nicht dadurch Genüge getan, dass die Wahrheit in eine "materielle" und eine "formelle" bzw. "prozessuale Wahrheit" aufzuspalten wäre. Die Beweisregel des § 274 StPO schafft keinen von der (objektiven ) Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff (so aber Cüppers NJW 1950, 930, 931 ff.; 1951, 259; Dahs, StraFo 2000, 181, 185; Jahn JuS 2007, 91 Fn. 3; Park StraFo 2004, 335, 337; Schneidewin MDR 1951, 193; vgl. auch RGSt 43, 1, 6). Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die Tatsachen, macht nicht aus Unwahrheit Wahrheit (vgl. Detter StraFo 2004, 329, 334; ebenso Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren 1980 S. 157, der aber "in diesem Ausnahmefall eine Lüge (für) prozessual zulässig" hält).
45
3. Die Verpflichtung zur Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts erhält inzwischen durch das Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes zusätzliches Gewicht.
46
a) Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngerer Zeit - unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. vom 31. Mai 2001 - Nr. 37591/97 - Metzger gegen Deutschland - Rdn. 41 = NJW 2002, 2856, 2857) - mehrfach betont, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG NJW 2003, 2897, 2898; 2006, 672, 673; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 251 [jeweils 3. Kammer des Zweiten Senats ]). Bei erfolgreichen Verfahrensrügen wäre nach dieser Auffassung wohl regelmäßig eine kompensationspflichtige rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben; denn Verfahrensfehler kann nur das Gericht begehen (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1533). Gerade auch die nach bisheriger Rechtsprechung zur Urteilsaufhebung führende Fiktion eines Verfahrensfehlers, die allein darauf beruht, dass die Urkundspersonen durch eine unrichtige Sitzungsniederschrift den Anschein eines in Wahrheit nicht vorgefallenen Verfahrensfehlers erweckt haben, fällt in den Verantwortungsbereich der Justiz. Vor diesem Hintergrund ist das Gewicht des für das Verbot der Rügeverkümmerung früher vorgebrachten Arguments, der Beschwerdeführer könne nicht mehr erreichen, als dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282), stark relativiert.
47
b) Neben der Wahrheitspflicht und dem Beschleunigungsgebot kann auch der Opferschutz gebieten, ein Urteil nicht allein wegen eines fiktiven - unwahren - Sachverhalts aufzuheben. Liegt tatsächlich kein Verfahrensfehler vor und ist das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, so ist es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen nach der "Feuerprobe" (Sowada NStZ 2005, 1, 7) in der ersten Hauptverhandlung nochmals einer konfrontativen Vernehmung zu unterziehen. In diesem Sinne verpflichtet auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001 (ABlEG Nr. L 82 vom 22. März 2001) in Art. 3 Abs. 2 die Mitgliedstaaten, "die gebotenen Maßnahmen (zu ergreifen), damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen" (hierzu BGH NJW 2005, 1519, 1520 f.; vgl. auch BTDrucks. 15/1976 S. 8, 19 zu § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG n.F.).
48
4. Ebenso sind mit der Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt.
49
a) Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird.
50
aa) Die grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der Rügeverkümmerung (BGHSt 2, 125) erging in einer Zeit, in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrige Verfehlung galt (vgl. Dahs AnwBl. 1950/51, 90: "Die wahrheitswidrige Verfahrensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlung" [S. 90]; "… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, [muß] mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts rechnen" [S. 92]; ferner d. Nachw. b. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 598 f.).
51
Heute wird es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" bezeichnet, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH S. 707, 726 f. m.w.N.; ders., Die Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1814; ferner - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - Dahs, Handbuch des Strafverteidigers von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab 4. Auflage Dahs jun.] 2005, Rdn. 918: "… braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll 'geschaffenen' unverrückbaren Tatbestand als 'Wahrheit' auszugehen"). In der Literatur wird sogar postuliert, dass das "Recht der Verteidigung zur 'unwahren Verfahrensrüge' … sakrosankt" sei (Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583, 585), sogar die "Pflicht zur Lüge" bestehe (vgl. Dahs StraFo 2000, 181, 185; Leipold NJW-Spezial 2006, 521, 522; in vergleichbarem Sinne auch Sarstedt /Hamm, Die Revision in Strafsachen 6. Aufl. Rdn. 292 ff.).
52
bb) All dies widerstreitet diametral den Vorstellungen, von denen der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge (BGHSt 7, 162) ausgegangen ist. Hier ist ausgeführt, das Erfordernis der bestimmten Behauptung eines Verfahrensfehlers führe dazu, dass der Verteidiger - unbeschadet der Frage der Standeswidrigkeit seines Verhaltens - jedenfalls "vor seinem Gewissen und nach außen hin die Verantwortung für die Geltendmachung eines jeden Verfahrensmangels übernehmen" muss, "indem er ihn ernstlich behauptet und nicht etwa nur darauf hinweist, daß er sich aus der Niederschrift ergebe"; dieses Erfordernis solle "einem Mißbrauch rein formaler Möglichkeiten entgegenwirken" (BGH aaO 164; hierzu Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 665 f.; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 599).
53
Die veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger hat verdeutlicht , dass sich die mit der Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge verknüpfte Hoffnung nicht erfüllt hat, auf diese Weise - insbesondere durch den Appell an das Gewissen des die Revision begründenden Verteidigers - bewusst unwahre Verfahrensrügen zu verhindern. Vielmehr hat diese Rechtsprechung den Rat nach sich gezogen, Unwahres ohne weiteres als tatsächlich geschehen zu behaupten; denn die Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO schließe "jeden Formulierungs- oder Formelkompromiß in der Revisionsbegründung aus, zu dem zart besaitete Strafverteidiger - falls es solche gibt - sich durch ihr Gewissen gedrängt sehen könnten. Die Revisionsgerichte ahnden derartige Relikte von Wahrheitsliebe (gemeint: angedeutete Distanzierung vom Protokollinhalt) mit unnachsichtiger Strenge" (Dahs StraFo 2000, 181, 185).
54
Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument für die Änderung der Rechtsprechung.
55
b) Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel bis vor kurzem nie verneint (vgl. BGHSt 7, 162, 164; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21; 22; 24; 27; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277, 282; Detter StraFo 2004, 329, 334; Park StraFo 2004, 335, 337; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 585). Erst in neuerer Zeit hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die nachgewiesenermaßen wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer - im Fall der Angeklagtenrevision (auch) der Verteidiger in der Revisionsinstanz - sicher weiß, dass sich der Fehler nicht ereignet hat, und zwar auch dann, wenn er Kenntnis erst im Laufe des Revisionsverfahrens erhält (BGHSt 51, 88 = NJW 2006, 3579 m. Anm. Benthin NJ 2007, 36, Fahl JR 2007, 34, Hollaender JR 2007, 6, Jahn JuS 2007, 91, Lindemann/Reichling StV 2007, 152 und Widmaier NJW 2006, 3587). Der solchermaßen rügevernichtende Missbrauch prozessualer Rechte ist allerdings regelmäßig nicht leicht nachweisbar (BGH NJW 2006, 3579, 3582).
56
5. Eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung begegnet zudem der Tendenz zur Ausweitung der Rechtsprechung zu offensichtlichen Mängeln des Protokolls (ebenso BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29). Diese Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2001, 3794; NStZ 2000, 546) geht mittlerweile sehr weit; ihr fehlen - jedenfalls in Grenzfällen - hinreichend klare und verlässliche Konturen. Diese Tendenz ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Folgen der relativen Unbeachtlichkeit der Protokollberichtigung als nicht mehr tragbar empfunden werden. In der Literatur wird hierzu vorgebracht , die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbrechung der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (Detter StraFo 2004, 329, 330; Park StraFo 2004, 335, 338, 340; krit. auch Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583 f.; Kuhn NJW-Spezial 2006, 567; Ventzke StV 2004, 300 f.).
57
6. Eine Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt geboten, dass auf diese Weise die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung anzuhalten wären (so aber BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281; Jahn/Widmaier JR 2006, 166 f.; MeyerGoßner DRiZ 1997, 471, 474; Park StraFo 2004, 335, 342; ders. StV 2005, 257, 259). Die Tragfähigkeit einer solchen Argumentation ist schon bislang zweifelhaft ; denn gerade ein Protokoll, das offensichtlich unsorgfältig geführt ist, verliert von vorneherein jede Beweiswirkung und die Revisionsgerichte klären im Freibeweisverfahren, ob ein Verfahrensfehler vorliegt. Im Ergebnis wird bislang gerade derjenige "Tatrichter, der das Hauptverhandlungsprotokoll nachlässig führt, … prämiert" (Ventzke StV 2004, 300, 301).
58
7. Die Berichtigung setzt bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 47 ff. m.w.N.). Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die umfassende Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung grundsätzlich nicht. Dass die Urkundspersonen unbewusst Erinnerungsdefizite mit "Erfahrungswissen" ausfüllen (Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 167; vgl. auch BGHSt 2, 125, 128 f.; OGHSt 1, 277, 281; Park StV 2005, 257, 259), liegt gerade bei den in der Literatur für problematisch erachteten Fällen, in denen es um den sachlichen Inhalt nicht regelmäßiger Prozesshandlungen (etwa bei Hinweisen nach § 265 StPO) geht (vgl. Jahn/Widmaier aaO 167 ff.), fern. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall die Urkundsbeamtin auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren; oftmals beruhen Protokollmängel auf derartigen Übertragungsfehlern. Schließlich stammt der Hinweis auf das nachlassende Erinnerungsvermögen aus einer Zeit, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO), die insgesamt regelmäßig zu einer zeitlichen Straffung des Verfahrens nach der Hauptverhandlung geführt haben, noch nicht gab.
59
Das Argument, dass dem berichtigten Protokoll schon deshalb ein tatsächlich geringerer Beweiswert zukomme, weil sich die Urkundspersonen zuvor übereinstimmend geirrt haben müssten (vgl. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 605), hält der Große Senat nicht für durchgreifend. Dass beide Urkundspersonen bei der Anfertigung des ursprünglichen Protokolls nicht gewissenhaft genug waren, wird nämlich dadurch ausgeglichen, dass besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt bei der Berichtigung gestellt werden. Ein übereinstimmender Irrtum im Sinne einer gemeinsamen Fehlvorstellung der Ur- kundspersonen liegt nach aller forensischer Erfahrung ohnehin nicht vor. Dies würde voraussetzen, dass die Urkundspersonen über die Einzelheiten des Prozessgeschehens und dessen - fehlende - Beurkundung gleich reflektiert hätten. So spricht etwa in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall nichts dafür, dass der Vorsitzende und die Protokollführerin zunächst bei der Protokollerstellung noch übereinstimmend davon überzeugt waren, der Vertreter der Staatsanwaltschaft habe den Anklagesatz nicht verlesen.

VI.

60
Zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift bietet eine rechtlich verbindliche Form der Protokollberichtigung , die zu einer im Revisionsverfahren überprüfbaren Entscheidungsgrundlage führt. Dies sichert die Effektivität des Rechtsmittels der Revision (vgl. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169) und trägt im Fall der Angeklagtenrevision dessen verfassungsrechtlich verbürgtem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Rechnung. Lässt sich jedoch zuverlässig ausschließen, dass sich die Urkundspersonen an ein der Verfahrenswirklichkeit nicht entsprechendes Prozessgeschehen irrtümlich vermeintlich sicher erinnern, so haben die Argumente, welche das Verbot der Rügeverkümmerung mit dem Schutz des Beschwerdeführers bzw. der prozessualen Waffengleichheit begründen (vgl. Fezer StV 2006, 290, 291; Tepperwien aaO 604), kein Gewicht.
61
1. In Fällen der vorliegenden Art ist zur Sicherung der Effektivität des Rechtsmittels bei der Protokollberichtigung folgendes Verfahren einzuhalten:
62
Wie bereits dargelegt (V 7), setzt die Berichtigung sichere Erinnerung bei den Urkundspersonen voraus. Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer - im Fall einer Angeklagtenrevision zumindest dem Revisionsverteidiger - zusammen mit dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls eingehen, wie hier etwa darauf, dass die Verlesung der rechtlichen Würdigung des Tatgeschehens zu Unmutsäußerungen der Zuhörer führte. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren.
63
Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll richtig ist, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Auch hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren. Halten die Urkundspersonen die Niederschrift weiterhin für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung - dies ergibt sich bereits aus allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls abweichende Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzugehen.
64
2. Eine erneute Zustellung des Urteils nach Berichtigung der Sitzungsniederschrift ist nicht erforderlich. Nach § 273 Abs. 4 StPO setzt eine wirksame Zustellung einzig voraus, dass die Niederschrift fertig gestellt ist. Die Fertigstellung erfolgt zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der beiden erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (§ 271 Abs. 1 StPO), selbst wenn die Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken aufweist (vgl. Engelhardt in KK-StPO 5. Aufl. § 271 Rdn. 8; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 31, § 273 Rdn. 56). Spätere Berichtigungen derartiger Mängel be- rühren den Zeitpunkt der Fertigstellung nicht mehr (vgl. Gollwitzer aaO). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. In seinem Vertrauen, eine bestimmte Verfahrensrüge werde erfolgreich sein, wird der Beschwerdeführer auch sonst nicht geschützt.
65
3. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Tragen sie die Berichtigung, so ist das berichtigte Protokoll zugrunde zu legen. Allerdings kommt dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die formelle Beweiskraft des § 274 StPO zu. Nur so ist das Revisionsgericht in der Lage, zum Schutz der Beschwerdeführer die rügevernichtende Protokollberichtigung zu überprüfen. Verbleiben dem Revisionsgericht Zweifel, ob die Berichtigung zu Recht erfolgt ist, kann es den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter aufklären. Insoweit gelten die Grundsätze, die schon bisher für eine ursprünglich offensichtlich mangelhafte Sitzungsniederschrift zur Anwendung kamen. Verbleiben dem Revisionsgericht auch nach seiner Überprüfung Zweifel an der Richtigkeit des berichtigten Protokolls, hat es seiner Entscheidung das Protokoll in der ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen. Hirsch Rissing-van Saan Nack Basdorf Häger Maatz Wahl Bode Kuckein Pfister Becker

(1) Ist die Besetzung des Gerichts nach § 222a mitgeteilt worden, so kann der Einwand, daß das Gericht vorschriftswidrig besetzt sei, nur innerhalb einer Woche nach Zustellung der Besetzungsmitteilung oder, soweit eine Zustellung nicht erfolgt ist, ihrer Bekanntmachung in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden. Die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, sind dabei anzugeben. Alle Beanstandungen sind gleichzeitig vorzubringen. Außerhalb der Hauptverhandlung ist der Einwand schriftlich geltend zu machen; § 345 Abs. 2 und für den Nebenkläger § 390 Abs. 2 gelten entsprechend.

(2) Über den Einwand entscheidet das Gericht in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgeschriebenen Besetzung. Hält es den Einwand für begründet, so stellt es fest, daß es nicht vorschriftsmäßig besetzt ist. Führt ein Einwand zu einer Änderung der Besetzung, so ist auf die neue Besetzung § 222a nicht anzuwenden.

(3) Hält das Gericht den Einwand für nicht begründet, so ist er spätestens vor Ablauf von drei Tagen dem Rechtsmittelgericht vorzulegen. Die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ergeht ohne mündliche Verhandlung. Den Verfahrensbeteiligten ist zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. Erachtet das Rechtsmittelgericht den Einwand für begründet, stellt es fest, dass das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 174/09
vom
4. August 2009
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts am 4. August 2009 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 30. September 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 17 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Erwerb, Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Schriften, sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 14 Fällen, Besitzes kinderpornographischer Schriften in zwei Fällen und Verbreitung pornographischer Schriften in sechs Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Weiter hat es den Angeklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Nebenklägerinnen verurteilt und seine weitere Schadenersatzpflicht gegenüber zwei der Nebenklägerinnen dem Grunde nach festgestellt.
2
Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg; auf die Sachrüge kommt es daher nicht an.

I.


3
Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 338 Nr. 1 StPO).
4
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
5
a) Die Staatsanwaltschaft klagte den in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführer am 13. August 2007 zur Jugendschutzkammer an. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts für 2007 war für die Verhandlung und Entscheidung die 2. Große Strafkammer zuständig. Diese setzte den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer am 2. Oktober 2007 außer Vollzug. Der Geschäftsverteilungsplan für 2008 behielt ihre Zuständigkeit bei.
6
Am 13. März 2008 zeigte die 2. Große Strafkammer ihre Überlastung an. Sie werde nicht in der Lage sein, einige ältere Verfahren in absehbarer Zeit zu terminieren, darunter auch erstinstanzliche Sachen, in denen Haftbefehle außer Vollzug gesetzt worden seien. Nahezu ständig verhandle sie mehrere umfangreiche Haftsachen nebeneinander. In vier Verfahren habe sie derzeit Termin auf Anfang April 2008 bestimmt mit Verhandlungstagen über den gesamten Monat hinweg; in zwei dieser Verfahren müsse darüber hinaus bis Ende Juni bzw. Juli 2008 verhandelt werden. Der Eingang zweier weiterer Haftsachen sei zu erwarten.
7
Hierauf beschloss das Präsidium des Landgerichts am 28./29. April 2008: "Zur Entlastung der 2. gr. Strafkammer (Jugend- und Jugendschutzkammer
I) wird mit Wirkung vom 1. 5. 2008 eine gr. Hilfsstrafkammer gebildet, welche die Bezeichnung 20. gr. Hilfsstrafkammer (Jugend- und Jugendschutzkammer III) erhält. Die 20. gr. Hilfsstrafkammer bearbeitet alle in den Jahren 2006 und 2007 bei der 2. gr. Strafkammer eingegangenen und noch nicht terminierten zweitinstanzlichen Jugendschutzsachen."
8
b) Am 9. Mai 2008 setzte die 2. Große Strafkammer den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer wieder in Vollzug. Das Präsidium befasste sich am 30. Mai 2008 erneut mit deren Belastung und beschloss: "Die 20. gr. Hilfsstrafkammer bearbeitet alle bis zum 31. 12. 2007 eingegangenen erstinstanzlichen Verfahren der 2. gr. Strafkammer, in denen zur Zeit Untersuchungshaft vollzogen wird und in denen noch kein Termin zur Hauptverhandlung bestimmt worden ist."
9
Der Beschluss betraf nur das gegenständliche Verfahren. Nach dessen Abgabe durch die 2. Große Strafkammer bestimmte die 20. Hilfsstrafkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 3. September 2008 mit Folgetagen.
10
Über den Wortlaut der vorgenannten Beschlüsse hinaus enthalten die Akten des Präsidiums nur die Überlastungsanzeige vom 13. März 2008. Der Präsident des Landgerichts teilte dem Beschwerdeführer am 28. August 2008 auf Anfrage mit, die Beschlüsse beruhten auf "einer vorübergehenden Überlastungssituation der 2. großen Strafkammer im Frühjahr 2008, die vor allem auf ein Großverfahren zurückzuführen gewesen ist".
11
c) In der Hauptverhandlung am 3. September 2008 erhob der Beschwerdeführer vor seiner Einlassung zur Sache den Besetzungseinwand gemäß § 222 b Abs. 1 StPO. Mit der Zuweisung des Verfahrens an die 20. Hilfsstraf- kammer habe ihn das Präsidium seinem gesetzlichen Richter, der 2. Großen Strafkammer, entzogen. Mangels ausreichender Dokumentation der maßgeblichen Erwägungen erwecke der Beschluss vom 30. Mai 2008 den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung. Es werde nicht ersichtlich, ob seine erneute Inhaftierung die 2. Große Strafkammer in eine Lage brachte, in der rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen absehbar waren, gegebenenfalls , ob die Einzelzuweisung seines Verfahrens an die 20. Hilfsstrafkammer geeignet war, dem abzuhelfen.
12
Die 20. Hilfsstrafkammer wies den Besetzungseinwand in der Hauptverhandlung am 16. September 2008 als unbegründet zurück. Ein Geschäftsverteilungsplan könne auch während des laufenden Geschäftsjahres geändert werden , wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers notwendig werde. Die Überlastungsanzeige vom 13. März 2008, die beiden Präsidiumsbeschlüssen zugrunde liege, belege diese Notwendigkeit. Noch bevor die am 28./29. April 2008 beschlossene Entlastung gegriffen habe, sei das gegenständliche Verfahren unvorhersehbar zur drängenden Haftsache geworden, was weitere Maßnahmen erfordert habe. Beide Beschlüsse seien erkennbar von dem Bemühen getragen, einen ausgewogenen Ausgleich zwischen Beschleunigung und dem Prinzip des gesetzlichen Richters zu finden. Dass das Präsidium sachfremde Ziele verfolgt hätte, werde nicht ersichtlich.
13
2. Die Rüge hat Erfolg.
14
a) Sie ist zulässig, denn sie ist weder wegen unzureichender Substantiierung des in der Hauptverhandlung rechtzeitig erhobenen Besetzungseinwands präkludiert (§§ 222 b Abs. 1 Satz 2, 338 Nr. 1 Buchst. b StPO) noch verfehlt sie die Anforderungen an ihre Begründung in der Revision (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Überlastungsanzeige, die Präsidiumsbeschlüsse und die ihm vom Präsidenten des Landgerichts hierzu erteilte Auskunft jeweils im Wortlaut mitgeteilt. Er hat damit alle Umstände vorgebracht, die ihm zu den Hintergründen der Übertragung des Verfahrens auf die Hilfsstrafkammer zugänglich waren. Seinerseits weitergehende Tatsachen zu ermitteln und so substantiiert vorzutragen, dass der Präsidiumsbeschluss vom 30. Mai 2008 auf seine materielle Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, war er in Anbetracht der Begründungspflicht des Präsidiums hier nicht gehalten (BGH, Urt. vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08 - Rdn. 23 ff., 27).
15
b) Die Besetzungsrüge ist auch begründet.
16
aa) Gemäß § 21 e Abs. 3 Satz 1 GVG darf das Präsidium die nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Eine solche liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum ein erheblicher Überhang der Eingänge über die Erledigungen zu verzeichnen ist, sodass mit einer Bearbeitung der Sachen innerhalb eines angemessenen Zeitraumes nicht zu rechnen ist und sich die Überlastung daher als so erheblich darstellt, dass der Ausgleich nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres zurückgestellt werden kann (BGH aaO Rdn. 9 m. w. N.). Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann auch verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann. Das Beschleunigungsgebot lässt indes das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot ei- ner funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden (BVerfG NJW 2005, 2689, 2690; 2009, 1734 f.).
17
Zu den vor diesem Hintergrund zulässigen und unter den genannten Voraussetzungen auch gebotenen Änderungsmaßnahmen des Präsidiums im Sinne von § 21 e Abs. 3 GVG zählt auch die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer (BGH aaO Rdn. 10). Die mit der Errichtung einer Hilfsstrafkammer verbundene Übertragung von Aufgaben der ordentlichen Strafkammer hat aber denselben Grundsätzen zu folgen, die für Regelungen der Geschäftsverteilung schlechthin gelten. Insbesondere ist auch insoweit das Abstraktionsprinzip zu beachten, das die Zuweisung von Aufgaben nach allgemeinen, sachlich-objektiven Merkmalen fordert. Eine spezielle Zuweisung bestimmter einzelner Verfahren ist unzulässig. Nach diesen Maßstäben steht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger , gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht (BVerfG NJW 2003, 345; 2005, 2689, 2690 m. w. N.). In Ausnahmefällen kann aber auch eine Änderung der Geschäftsverteilung zulässig sein, die der Hilfsstrafkammer ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen (s. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 2. Halbs., Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) angemessen Rechnung getragen werden kann (BVerfG NJW 2009, 1734, 1735). Gleichgültig, ob der Hilfsstrafkammer ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren zugewiesen werden, muss jedoch jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres , die bereits anhängige Verfahren erfasst, geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Denn Änderungen der Geschäftsverteilung, die diesen Anforderungen nicht genügen, sind nicht im Sinne des § 21 e Abs. 3 Satz 1 GVG nötig und können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben (BVerfG NJW 2005, 2689, 2690).
18
Obwohl die Umverteilung von Geschäftsaufgaben auf eine Hilfsstrafkammer nach diesen Maßstäben grundsätzlich zulässig ist, birgt sie doch stets erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährleistung des gesetzlichen Richters in sich. Dies gilt in besonderem Maße bei Überleitung bereits bei der überlasteten ordentlichen Strafkammer anhängiger Verfahren in die Zuständigkeit der Hilfsstrafkammer, weil dann schon eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet worden war. Daher ist es in solchen Fällen geboten, die Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, zu dokumentieren und den Verfahrensbeteiligten - jedenfalls auf Verlangen - zur Kenntnis zu geben, um "dem Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung" entgegen zu wirken (BVerfG NJW 2005, 2689, 2690; 2009, 1734, 1735). Der Präsidiumsbeschluss muss so detailliert begründet sein, dass eine Prüfung seiner Rechtmäßigkeit möglich ist; von Verfassungs wegen sind Regelungen der Zuständigkeit, anders deren Anwendung, nicht lediglich am Maßstab der Willkür, sondern auf jede Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen (BVerfG NJW 2005, 2689, 2690 f.; BGH aaO Rdn. 17).
19
bb) Diesen Anforderungen wird der Präsidiumsbeschluss vom 30. Mai 2008 nicht gerecht.
20
Dahinstehen kann, ob der Beschluss des Präsidiums vom 28./29. April 2008, durch den die 20. Hilfsstrafkammer errichtet wurde, in der Überlastungsanzeige der 2. Großen Strafkammer vom 13. März 2008 eine hinreichend do- kumentierte Begründung findet. Jedenfalls fehlt eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Dokumentation der Gründe, die für den Präsidiumsbeschluss vom 30. Mai 2008, mithin für die Übertragung des gegenständlichen Verfahrens auf die Hilfsstrafkammer, maßgeblich waren. Die Überprüfung , ob dieser Beschluss rechtmäßig war, ist deshalb nicht möglich.
21
Ob der Beschluss stillschweigend auf die Überlastungsanzeige vom 13. März 2008 Bezug nimmt, kann ebenfalls offen bleiben. Schon nach ihrem Inhalt bietet diese Anzeige keine Erklärung dafür, dass die 2. Große Strafkammer trotz der am 28./29. April 2008 beschlossenen Entlastung nicht in der Lage war, das gegenständliche Verfahren innerhalb einer dem Beschleunigungsgebot genügenden Zeitspanne zu verhandeln. Sie legt vielmehr nahe, dass am 30. Mai 2008 zwei der ab Anfang April 2008 verhandelten Sachen bereits abgeschlossen waren und der Abschluss der beiden anderen in wenigen Wochen bevorstand. Ungewiss bleibt, ob die erwarteten weiteren Haftsachen eingegangen waren und welchen Umfang sie gegebenenfalls hatten. Damit kann auch nicht beurteilt werden, ob die Übertragung des Verfahrens auf die 20. Hilfsstrafkammer ungeachtet der drei Monate, die noch bis zum Beginn der Hauptverhandlung verstrichen, geeignet war, das Verfahren zu beschleunigen.
22
Zwar kann das Präsidium bis zur Entscheidung über einen nach § 222 b StPO erhobenen Besetzungseinwand Mängel in der Begründung seines Beschlusses beheben, indem es diesen durch ergänzenden, die Gründe für die Umverteilung dokumentierenden Beschluss bestätigt (BGH aaO Rdn. 20). Auch wenn die Auskunft des Präsidenten des Landgerichts vom 28. August 2008 auf einem solchen ergänzenden Beschluss beruht haben sollte, ermöglichte sie indes ebenso wenig wie die Überlastungsanzeige eine Überprüfung der Maßnahme auf ihre Rechtmäßigkeit. Mit der Anzeige im Ergebnis übereinstimmend offenbart sie lediglich eine vorübergehende Überlastung der 2. Großen Strafkammer im Frühjahr 2008.
23
Nach alledem bedarf es keiner näheren Erörterung, ob die Besetzungsrüge allein auch unter dem Aspekt Erfolg haben müsste, dass es sich bei der Übertragung der vorliegenden Sache auf die 20. Hilfsstrafkammer um eine unzulässige Einzelzuweisung handelte.

II.


24
Für die neue Hauptverhandlung geben die Urteilsgründe Anlass zu folgenden Hinweisen:
25
Fälle A 1 und 2: Besitz nach § 184 b Abs. 4 Satz 2 StGB tritt hinter die in der Herstellung liegende Besitzverschaffung gemäß Satz 1 zurück (BGH NStZ 2009, 208).
26
Fall B 1: Werden die gefertigten Bilder Personen unter 18 Jahren zugänglich gemacht (Fälle C 4, C 5, D 17, E 1), liegt darin ein Verbreiten nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB; hiervon wird Nr. 8 dieser Vorschrift verdrängt (Fischer, StGB 56. Aufl. § 184 Rdn. 46).
27
Fall B 2: Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern nach § 176 a Abs. 3 StGB setzt die Absicht des Täters voraus, die Tat zum Gegenstand einer pornographischen Schrift zu machen, die nach § 184 b Abs. 1 bis 3 StGB verbreitet werden soll. Ein Verbreiten im Sinne von § 184 b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist bei der Weitergabe (je) eines einzelnen Exemplars der Schrift nur gegeben, wenn der Täter zumindest damit rechnet, dass das Werk im Anschluss einer größeren, nicht mehr kontrollierbaren Zahl von Personen zugänglich gemacht werde (BGHSt 19, 63, 71); die regelmäßig ohnehin bestehende abstrakte Gefahr der Weitergabe durch den Dritten genügt nicht. Sollte dies in der neuen Hauptverhandlung nicht festgestellt werden können, könnte eine Strafbarkeit nach § 176 a Abs. 3 StGB über die Verweisung auf § 184 b Abs. 2 StGB eröffnet sein. Denn § 176 a Abs. 3 StGB verwendet den Begriff des Verbreitens nicht im engeren Sinne des § 184 b Abs. 1 Nr. 1 StGB, sondern nimmt auf die gesetzliche Überschrift dieser Norm Bezug (vgl. Fischer aaO § 176 a Rdn. 15; § 184 b Rdn. 8). Kraft Verweisung auf § 184 b Abs. 2 StGB erfasst § 176 a Abs. 3 StGB deshalb auch Tathandlungen, die nur in der Absicht vorgenommen werden, einem anderen den Besitz an der Schrift zu verschaffen, ohne dass zugleich Verbreitungsabsicht nach § 184 b Abs. 1 StGB besteht. Da der Verweisung auf § 184 b Abs. 2 StGB deshalb durchaus eigenständige Bedeutung zukommen kann, erscheint sie auch nicht als bloßes gesetzgeberisches Versehen (so aber Wolters in SK-StGB § 176 a Rdn. 23). Tateinheitlich kann zu § 176 a Abs. 3 StGB, soweit nicht von § 154 a StPO Gebrauch gemacht wird, ein Sichverschaffen von kinderpornographischen Schriften nach § 184 b Abs. 4 Satz 1 StGB hinzutreten (BGHSt 43, 366, 367).
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Fälle B 3, B 11, D 16: § 176 StGB schützt die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes, somit ein persönliches Rechtsgut. Ist die auf ein Kind bezogene Tathandlung nach § 176 Abs. 1 StGB gleichzeitig eine solche nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB vor einem anderen Kind, stehen deshalb beide Tatbestände in Tateinheit (vgl. Fischer aaO § 176 Rdn. 43).
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Fälle D 1, D 3, D 12, D 13 bis 15: Aus demselben Grund führt auch eine gleichartige und gleichzeitige Tathandlung zum Nachteil mehrerer Kinder nicht zu einem einheitlichen Delikt, sondern zu tateinheitlicher Begehung in der entsprechenden Zahl von Fällen.
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Fall E 2: Allein die Bezeichnung "Pornofilm" ist keine hinreichende Feststellung , dass der Film sexualbezogenes Geschehen in pornographischer Form darstellt.
VRiBGH Becker und RiBGH von Lienen befinden sich in Urlaub und sind daher gehindert zu unterschreiben. Sost-Scheible Sost-Scheible Hubert Mayer