Bayerisches Oberstes Landesgericht Urteil, 29. Juni 2021 - 205 StRR 141/21

erstmalig veröffentlicht: 21.06.2024, letzte Fassung: 21.06.2024

Bayerisches Oberstes Landesgericht

Urteil vom 29. Juni 2021

Az.: 205 StRR 141/21

 

Tenor

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 8. Oktober 2020 wird verworfen.
 
II. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
 
III. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
 
IV. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I.
Das Amtsgericht Kempten (Allgäu) verurteilte den Angeklagten am 24. Januar 2019 wegen schwerer Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung in sieben weiteren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Gegen dieses Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung ein. Mit Urteil vom 8. Oktober 2020 änderte das Landgericht Kempten (Allgäu) auf die Berufung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 24. Januar 2019 ab und fasste es neu. Der Angeklagte wurde nunmehr wegen fahrlässiger Körperverletzung in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten wurden dem Angeklagten auferlegt, die Berufungsgebühr wurde um ½ ermäßigt.

Gegen dieses Urteil legten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Revision ein. Der Angeklagte legte zudem sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung ein. Der Angeklagte beantragt, das ergangene Urteil aufzuheben und den Angeklagten freizusprechen. Gerügt werde die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Mit der von der Generalstaatsanwaltschaft M. vertretenen Revision der Staatsanwaltschaft wird ebenfalls die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) halte einer sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung sei lückenhaft und widersprüchlich; zudem leide sie an einem Darstellungsmangel.

Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragt auf die Revision der Staatsanwaltschaft das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 8. Oktober 2020 mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückzuverweisen und die Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
 
II.
 
1. Revision des Angeklagten:

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der mit der nicht näher ausgeführten Verfahrensrüge sowie der Sachrüge begründeten Revision des Angeklagten hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
 
Zu Recht führt das Landgericht aus, dass eine wirksame Einwilligung der Geschädigten in die Operationen nicht vorliegt (UA S. 22f). Eine rechtswirksame Einwilligung setzt eine Aufklärung voraus, die dem Patienten Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestaltung in den Grundzügen erkennen lassen und ihn in die Lage versetzen, das Für und Wider des Eingriffs abschätzen zu können (BGH, Beschluss vom 22. Mai 1981 - 4 StR 225/81, NStZ 1981, 351). Diese Aufklärung obliegt grundsätzlich dem Arzt, der den Eingriff vornimmt; für ihn entfällt diese Pflicht ausnahmsweise nur dann, wenn er davon überzeugt sein darf, dass die Aufklärung bereits durch einen anderen Arzt ordnungsgemäß erfolgt ist. Er allein, nicht der andere Arzt, trägt auch dann die Verantwortung und das Risiko einer irrtumsfreien Einwilligung (BGH a.a.O.). Inhaltlich liegt der Schwerpunkt dieser Aufklärungspflicht in einer sogenannten Risikoaufklärung (Kraatz in NStZ-RR 2016, 233, 236) und bezieht sich vorrangig zunächst auf die bedeutsamen Umstände und Folgen des Eingriffs selbst. Der dieser Risikoeinwilligung zugrundeliegende Gedanke des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und dessen sinnvolle Wahrnehmung kann aber in besonders gelagerten Einzelfällen die Aufklärungspflicht auch auf Risiken ausdehnen, die sich durch die Person bzw. in der Person des Operateurs ergeben, wie beispielsweise bei einer - unter Umständen auch nur vorübergehenden - körperlichen Beeinträchtigung, durch die eine sachgerechte Durchführung des ärztlichen Eingriffs erkennbar gefährdet wird. Wird die Aufklärung nicht durch den Operateur selbst, sondern durch Dritte durchgeführt, so müssen solche spezifischen in der Person des Operateurs liegenden Besonderheiten gleichwohl in das Aufklärungsgespräch mit aufgenommen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich der Patient nicht im Rahmen eines Vorgesprächs oder einer Voruntersuchung durch den Operateur gleichsam ein eigenes Bild von dem Operateur machen konnte.

Die Frage, über welche konkreten Einzelheiten aufzuklären ist, ist aus der Sicht eines verständigen, nicht übertrieben angstbehafteten Patienten zu beurteilen, wobei der Art der Operation entscheidende Bedeutung zukommt. Die Approbation ist grundsätzlich die Bestätigung der fachlichen und gesundheitlichen Eignung, als Arzt - bzw. im konkreten Einzelfall als Augenarzt - tätig werden zu dürfen. Die Approbation entbindet den Arzt aber nicht von der Pflicht, seine ärztlichen Fähigkeiten für das Tätigwerden im konkreten Einzelfall selbstkritisch zu hinterfragen. Das Tätigkeitsfeld eines Arztes - bzw. im konkreten Einzelfall eines Augenarztes -, das die Approbation erfasst, umfasst nämlich nicht nur chirurgische Eingriffe, sondern beispielsweise auch Augendiagnostik, Voruntersuchungen, das Führen von Aufklärungsgesprächen oder Nachuntersuchungen. Bei Augenoperationen wegen eines grauen Stars bzw. bei sogenannten Kataraktoperationen versteht es sich allerdings von selbst, dass über jegliche Umstände, die Zweifel an der Feinmotorik des Operateurs nachvollziehbar begründen können, ein verständiger Patient aufzuklären ist. Wie das Landgericht zu Recht feststellt, ist die Frage, welche Konsequenzen eine solche Aufklärung für die berufliche Situation des Artes hat, irrelevant (UA S. 23). Den Bedenken, die von Seiten der Verteidigung gegen eine Ausdehnung der Aufklärungspflicht über den Eingriff hinaus im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arztes vorgetragen werden, sind auf Seiten der Patienten deren Recht auf körperliche Unversehrtheit entgegenzuhalten (Nowrousian, „Zur Wirksamkeit der Einwilligung eines Patienten bei verschwiegenen Gesundheitsproblemen des Arztes“, JR 2020, 364, 367). Bei einer Abwägung dieser gegenläufigen Interessen wird dem Patientenwohl zumindest dann regelmäßig der Vorrang einzuräumen sein, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Arzt nach wie vor - wenn auch nicht als Operateur - seine berufliche Tätigkeit ausführen kann.
 
2. Revision der Staatsanwaltschaft:

Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte lediglich wegen einer Fahrlässigkeitstat verurteilt worden ist. Das Landgericht sei der Einlassung des Angeklagten, er sei davon überzeugt gewesen, dass seine Fähigkeiten zur ordnungsgemäßen Vornahme einer Kataraktoperation wiederhergestellt gewesen seien, gefolgt, ohne diese Einlassung anhand anderer Beweisanzeichen auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen. Die Rüge hat Erfolg.

a) Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Die revisionsrechtliche Beurteilung ist auf die Prüfung beschränkt, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. nur BGH, Urteil vom 27. November 2019 - 3 StR 301/19 -, juris Rdn. 9, m.w.N.). Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (BGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - 2 StR 132/17 -, juris Rdn. 16, m.w.N.).

An die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind dabei die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Entlastende Angaben des Angeklagten sind insbesondere nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Auch im Übrigen hat der Tatrichter seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu bilden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 StR 436/17 -, juris, Rdn. 10 m.w.N.).

b) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung im Ergebnis zutreffend ausführt.

Zusammenfassend ist hierzu Folgendes anzumerken:

aa) Das Landgericht führt aus, dass dem Angeklagten seine Einlassung, er sei davon überzeugt gewesen, dass seine Fähigkeiten zur ordnungsgemäßen Vornahme einer Kataraktoperation wiederhergestellt gewesen seien, aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme nicht widerlegt werden könnten (UA S. 10). Hieran anschließend folgen zunächst Ausführungen zu dem vom Angeklagten erlittenen Schlaganfall mit Gehirnblutung sowie einmaligem epileptischem Anfall und den Folgen dieser Erkrankung (UA S. 10). Daran schließen sich Ausführungen dazu an, dass die neurologischen Einschränkungen des Angeklagten zu einer objektiven Unmöglichkeit einer Tätigkeit als ambulanter Operateur von Kataraktoperationen geführt hätten (UA S. 11/13). Es folgen Ausführungen, dass zwischen der objektiven Ungeeignetheit des Angeklagten zur Durchführung ambulanter Operationen und den konkret bei neun Patienten während oder nach der Operation aufgetretenen Komplikationen ein direkter kausaler Zusammenhang nicht nachweisbar sei (UA S. 14/15) und dass es bei den vom Angeklagten durchgeführten Operationen keine signifikante Häufung von Komplikationen gegeben habe (UA S. 15/16). Daran schließen sich Ausführungen zur Praxisorganisation (UA S. 16 ff) und zu den berufsrechtlich und standesrechtlich erfolgten Maßnahmen (UA S. 21/22) an.

Die vorgenannten ausgeführten Umstände tragen aber nicht die Schlussfolgerung des Landgerichts, die Einlassung des Angeklagten, er sei davon überzeugt gewesen, dass seine Fähigkeiten zur ordnungsgemäßen Vornahme einer Kataraktoperation wiederhergestellt gewesen seien, könne nicht widerlegt werden.

bb) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist zudem lückenhaft, weil wesentliche Umstände unerörtert bleiben. So beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht, dass sich das Tatgericht mit den Ausführungen der Sachverständigen Dr. R., die Anhaltspunkte für eine gestörte Selbstwahrnehmung des Angeklagten im Sinne einer Anosognosie nicht enthalten, nicht auseinandersetzt. Gerade im Hinblick darauf, dass der Angeklagte nach den Ausführungen der Sachverständigen „feine Bewegungen nur plump und ohne Feinsteuerung“ durchführen könne (UA S. 11), lässt die Beweiswürdigung eine entsprechende Auseinandersetzung mit der behaupteten gestörten Selbstwahrnehmung vermissen. Das gilt auch hinsichtlich der Ausführungen der Sachverständigen, dass sich beim Angeklagten „in nicht medizinischen Alltagstätigkeiten Auffälligkeiten beim Schuhe binden, schreiben und ankleiden“ zeigen würden und „bei einer feinmotorischen höchst anspruchsvollen Tätigkeit wie einer Operation am Auge unter dem Mikroskop mit Instrumenten im Bewegungsradius von Millimetern die Behinderung des Angeklagten zu starken Einschränkungen“ führe (UA S. 11). Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Ausführungen der Zeugin J., wonach es eine Anordnung durch den Angeklagten gegeben habe „den Patienten, wenn sie nachfragen, nichts von dem Schlaganfall des Angeklagten zu erzählen“ (UA S. 13). Auch mit dem Umstand, dass der Angeklagte am 2. Juni 2010 einen Selbstmordversuch unternahm, weil er mit den Therapiefortschritten nach seinem Schlaganfall nicht zufrieden war, ab März 2011 aber wieder eigenständig ambulante Augenoperationen durchführte (UA S. 5), setzt sich die Beweiswürdigung im Hinblick auf die Einlassung des Angeklagten nicht auseinander. Letztendlich lässt die Beweiswürdigung auch eine Auseinandersetzung mit dem Umstand vermissen, dass der Angeklagte als eigentlich operierender Arzt auch nach der Wiederaufnahme seiner Operationstätigkeit regelmäßig weder an Aufklärungsgesprächen noch an Voruntersuchungen beteiligt war (UA S. 7).

Bevor die Berufungskammer von einer nicht widerlegbaren Einlassung des Angeklagten, wonach er geglaubt habe, dass seine Fähigkeiten zur ordnungsgemäßen Vornahme einer Kataraktoperation wiederhergestellt gewesen seien, ausging, hätten die genannten Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung in die Beweiswürdigung einbezogen werden müssen. Das Urteil beruht auch auf diesem Mangel, da nicht auszuschließen ist, dass das Tatgericht bei vollständiger und fehlerfreier Beweiswürdigung einen Erlaubnistatbestandsirrtum analog § 16 StGB nicht angenommen hätte.

3. Aufgrund der aufgezeigten Mängel war das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Mit der Aufhebung des Urteils ist auch die Entscheidung über die Kosten aufgehoben. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Kostenentscheidung ist damit gegenstandslos (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. § 464 Rdn. 20).

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Strafprozeßordnung - StPO | § 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung


(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erört

Strafprozeßordnung - StPO | § 353 Aufhebung des Urteils und der Feststellungen


(1) Soweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. (2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren

Strafgesetzbuch - StGB | § 16 Irrtum über Tatumstände


(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den

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Bundesgerichtshof Beschluss, 19. Sept. 2017 - 1 StR 436/17

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 436/17 vom 19. September 2017 in der Strafsache gegen wegen Totschlags ECLI:DE:BGH:2017:190917B1STR436.17.0 Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerde

Bundesgerichtshof Urteil, 26. Juli 2017 - 2 StR 132/17

bei uns veröffentlicht am 26.07.2017

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 2 StR 132/17 vom 26. Juli 2017 in der Strafsache gegen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls u.a. ECLI:DE:BGH:2017:260717U2STR132.17.0 Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26.

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 132/17
vom
26. Juli 2017
in der Strafsache
gegen
wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:260717U2STR132.17.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. Juli 2017, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl als Vorsitzender,
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Eschelbach, die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Bartel, Wimmer, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Grube,
Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Kassel vom 10. Oktober 2016 wird verworfen. Die Kosten der Revision und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls und wegen „Wohnungseinbruchsdiebstahls in 21 Fällen, davon in sechs Fällen versucht“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Von dem Vorwurf zweier weiterer Wohnungseinbruchsdiebstähle sowie vom Vorwurf der Vergewaltigung hat es den Angeklagten freigesprochen. Gegen diese Teilfreisprüche sowie gegen die in den Fällen II. 1. und II. 19. erfolgte Verurteilung wegen Versuchs richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt überwiegend vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2
Die Kammer hat – soweit für die Entscheidung von Bedeutung – zu den Fällen II.1. und II. 19. der Urteilsgründe sowie zu den Teilfreisprüchen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
1. Tat II.1. der Urteilsgründe:
4
a) Der Angeklagte brach zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem 20. Mai 2007 um 20.00 Uhr und dem 21. Mai 2007 um 10.00 Uhr in das Wohnhaus des Geschädigten Dr. R. in K. ein. Nach dem missglückten Versuch, die Terrassentür aufzuhebeln, schlug er die Scheibe des Küchenfensters ein, gelangte auf diesem Wege in das Wohnanwesen, durchsuchte das Haus erfolglos nach stehlenswerten Gegenständen und verließ den Tatort ohne Beute.
5
b) Das Landgericht vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte ein Notebook im Wert von 1.200 Euro entwendet hat. Es hat sich zwar davon überzeugt, dass tatsächlich ein Notebook entwendet worden ist, hat aber die den Diebstahl bestreitende Einlassung des Angeklagten, das Notebook nicht entwendet zu haben, weil er „nie etwas Großes mitgenommen“ habe, für glaubhaft erachtet. Insoweit hat es darauf abgestellt, dass der Angeklagte bei den weiteren Taten „durchgängig kleine, leicht zu transportierende Gegenstän- de entwendete“, und bei der Durchsuchung seiner Wohnung eine Vielzahl von PCs aufgefunden wurde, die „unwiderlegt aus den Restbeständen der in die- sem Segment angesiedelten selbstständigen Geschäftstätigkeit des Angeklag- ten stammen“, weshalb es nachvollziehbar sei, dass er an einem Notebook als Stehlgut kein Interesse gehabt habe.
6
2. Tat II.19. der Urteilsgründe:
7
a) Am 8. Januar 2015 brach der Angeklagte die Terrassentüre des Wohnhauses des Geschädigten H. in N. auf, drang in das Haus ein, durchsuchte es erfolglos nach Wertgegenständen und verließ den Tatort ohne Beute.
8
b) Das Landgericht hat sich aufgrund einer am Tatort aufgefundenen Schuhsohlenabdruckspur davon überzeugt, dass der Angeklagte sich tatsächlich am Tatort befunden hat; dass er dabei auch einen rund 60 Kilogramm schweren Tresor samt Inhalt entwendet habe, hat das Landgericht nicht für erwiesen erachtet. Angesichts des Modus Operandi des Angeklagten, der sich auf die Entwendung kleiner und leicht zu transportierender Beutestücke – Bargeld und Schmuck – konzentriert habe,sei zweifelhaft, dass der Angeklagte die „ganz erheblichen Mühen“ auf sich genommen habe, den schweren Tresor über eine längere Strecke zu transportieren. Das Landgericht hat im Übrigen nicht auszuschließen vermocht, dass sich in dem möglichen Tatzeitraum von knapp zehn Stunden „andere Täter die vom Angeklagten aufgebrochene Terrassentür ohne dessen Wollen zu Nutze gemacht“ und den Tresor entwen- det haben.
9
3. Freispruch von den Vorwürfen Ziffer 7 und 8 der Anklageschrift vom 18. November 2015:
10
Soweit dem Angeklagten unter den Ziffern 7 und 8 der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 18. November 2015, am 30. August und am 26. September 2012 begangene Wohnungseinbruchsdiebstähle zur Last gelegt worden sind, hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es sich von einer Täterschaft des Angeklagten, der die Begehung dieser beiden Taten bestritten hat, nicht zu überzeugen vermochte. Da- bei hat es berücksichtigt, dass jeweils eine am Tatort gesicherte DNAMischspur auf den Angeklagten als Täter hindeutete. Weil die Spuren jedoch jeweils an beweglichen Gegenständen ohne zweifelsfreien Tatbezug – im Fall Ziffer 7 an der Verpackung eines Schoko-Riegels und im Fall Ziffer 8 an einem im Innern des Hauses aufgefundenen Ast, wobei nur eine von insgesamt fünf daran gesicherten „Abwischungen“ eine auf den Angeklagten als Spurenverursacher hindeutende DNA-Mischspur enthielt – hat es Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden vermocht.
11
4. Das Landgericht hat den Angeklagten schließlich vom Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung freigesprochen.
12
a) Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kassel vom 30. Oktober 2015 war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am 17. Oktober 2000 gegen 21.20 Uhr in Wu. die 52 Jahre alte Geschädigte D. unter Vorhalt eines Messers und der Drohung, sie umzubringen, genötigt zu haben, sich hinter eine Hecke zu begeben und sie sodann vergewaltigt zu haben. Das Landgericht hat insoweit Folgendes festgestellt: „Am Abend des 17.10.2000 gegen 21.00 Uhr verließ die damals 52 Jahre alte Ballettlehrerin D. die Ballettschule in Wu. , , um zu Fuß zu ihrer Wohnung im W. zurückzukehren. Ihren Ballettanzug, einen Einteiler, behielt sie auf dem Rückweg an und trug darunter einen Slip und darüber eine Jeans. Gegen 21.20 Uhr befand sie sich in der H. straße, dieim letzten Drittel des 2,3 km langen Heimweges liegt. Hier wurde sie von einem männlichen Täter […], im Vorbeigehen angerempelt. Der Täter blieb sodann vor ihr stehen und hielt ihr ein Messer, das aussah wie ein altes Rasiermesser, vor ihr Gesicht. Er forderte sie auf, nicht zu schreien, was die Zeugin, da sie große Angst hatte, auch nicht tat; sie bat ihn, ihr nichts zu tun. Der kräftige, rund 1,80 m große Mann zerrte die zierliche, rund 20 cm kleinere Zeugin D. von der Straße herunter in ein Gebüsch , drückte sie zu Boden, warf ihr Handy weg und stützte sich auf sie. Dann öffnete er den Knopf und den Reißverschluss ihrer Jeans, zog ihr diese herunter, ohne sie ganz auszuziehen, und forderte sie auf, ihren Slip runterzuziehen. Sie antwortete ihm, dass dies nicht gehen würde, da sie einen Ballettanzug trage. Sodann schob der Täter mit einer Hand ihren Ballettanzug und ihren Slip zur Seite und versuchte mit seinem Penis in ihre Scheide einzudringen, was ihm jedoch mangels Erektion nicht gelang. Er sagte dann sinngemäß 'Scheiße, Moment mal', versuchte dann noch, mittels Manipulation an seinem Glied eine Erektion zu bekommen , sprang dann aber irgendwann auf und ging davon. Im Weggehen sagte er noch zu ihr, dass ihm egal sei, ob sie die Polizei rufe.“
13
b) Der Angeklagte hat die Tat bestritten und angegeben, dass er nie in Wu. gewesen sei und keine Bezüge dorthin habe. Der 17. Oktober sei der Geburtstag seiner Mutter, der an diesem Tag mit der Familie gefeiert werde; die Feier finde zu Hause in Wa. statt, beginne im Laufe des Nachmittags und ende mit einem gemeinsamen Abendessen. Er sei bei diesen Feiern immer dabei gewesen und habe seine Tätigkeiten so geplant, dass dies möglich gewesen sei.
14
c) Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten hat das Landgericht nicht zu überwinden vermocht. Zwar werde er „durch ein einziges – allerdings fraglos gewichtiges – Beweisergebnis“ belastet; an dem Ballettanzug der Geschädigten sei im vorderen Schrittbereich in einer Misch-Spur, welche die Geschädigte als Hauptspurenverursacherin ausweise, als „Beimengung“ eine DNA-Spur gesi- chert worden; nach „biostatistischer Mischspurenberechnung“ sei unter 1,02 Quadrillionen zufällig ausgewählten Personen nur eine zu erwarten, die – wie der Angeklagte – als Verursacher der Beimengung in Betracht komme. „Zumindest zwei wichtige Gesichtspunkte“ sprächen jedoch gegen seine Täterschaft. So habe ihn die Geschädigte trotz eines sehr auffälligen Merkmals – seiner Stimme – nicht identifizieren können; auch im Übrigen habe sie eine in wichtigen Punkten nicht auf ihn passende Täterbeschreibung abgegeben. Darüber hinaus habe der Angeklagte für die Tatzeit ein Alibi behauptet, für dessen Richtigkeit Vieles spreche. Zweifel an seiner Täterschaft seien bei dieser Sachlage nicht auszuräumen.

II.

15
Die mit der näher ausgeführten Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
16
1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es diesem verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich somit darauf, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes , wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst ist es geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen , für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 11. April 2013 – 5 StR 261/12, NStZ 2013, 648, 652 und vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 253/16, NJW 2017, 1487 mwN).
17
2. Gemessen hieran hält die tatrichterliche Beweiswürdigung in den Fällen II.1. und II.19. revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Die tatrichterlichen Erwägungen, mit denen das Landgericht verbleibende Zweifel an der Beuteerlangung begründet hat, sind nicht lückenhaft und auch im Übrigen von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
18
3. Auch die Freisprüche in den Fällen Ziffer 7 und Ziffer 8 der Anklageschrift vom 18. November 2015 halten rechtlicher Überprüfung (noch) stand.
19
Zwar leidet das Urteil insoweit an einem Darstellungsmangel, weil das Landgericht nicht – wie erforderlich – zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen festgestellt hat, die es für erwiesen erachtete. Erst auf dieser Grundlage ist in der Beweiswürdigung darzulegen, aus welchen Gründen die zur Verurteilung notwendigen Feststellungen nicht getroffen werden konnten (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 8. Mai 2014 – 1 StR 722/13, NStZ- RR 2014, 220). Auf diesem Darlegungsmangel beruht das Urteil jedoch unter den hier gegebenen Umständen nicht. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe vermag der Senat hinreichend sicher zu entnehmen, dass das Landgericht sich in diesen beiden Fällen davon überzeugt hat, dass die angeklagten Taten so wie angeklagt begangen worden sind, aber Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden vermochte. Die angeführten – knappen – Beweiserwägungen halten rechtlicher Überprüfung noch stand. Dass sich das Landgericht angesichts der Spurenlage nicht davon überzeugen konnte, dass der überwiegend geständige Angeklagte auch diese beiden Taten verübt hat, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
20
4. Der Freispruch vom Tatvorwurf der Vergewaltigung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die insoweit von der Staatsanwaltschaft erhobenen Einwendungen greifen nicht durch.
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a) Das Landgericht hat den Beweiswert der auf den Angeklagten als Täter hinweisenden DNA-Spur nicht verkannt, sondern hat ausdrücklich festgehalten , dass ihr ein hoher Beweiswert zukommt. Es hat diesem belastenden Indiz jedoch keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Dies hält sich im Rahmen des dem Tatrichter eröffneten Spielraums und ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden (vgl. BGH, Urteil vom 12. August 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 324; Beschluss vom 21. Januar 2009 – 1 StR 722/08, NStZ 2009, 285; Urteil vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212, 214; Senat , Urteil vom 24. März 2016 – 2 StR 112/14, NStZ 2016, 490, 491). Im Einzelfall kann es revisionsrechtlich sowohl hinzunehmen sein, dass sich das Tatgericht eine entsprechende Überzeugung bildet, als auch, dass es sich dazu aufgrund vernünftiger Zweifel nicht in der Lage sieht (BGH, Urteil vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212).
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b) Die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten begründet hat, begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
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aa) Das Landgericht hat zunächst darauf abgestellt, dass die Geschädigte den Angeklagten nicht als Täter wiedererkannt hat, obwohl dieser bei der Tat nicht maskiert gewesen sei. Dies und die insoweit angestellten weiteren Beweiserwägungen erweisen sich nicht als lückenhaft. Zwar hat das Landgericht nicht auf Haar- oder Barttracht, sondern auf die Gesamterscheinung („kräftige Statur“) und die Gesichtsform („rund oder gar bullig“) abgestellt und ausgeführt, dass die Täterbeschreibung der Geschädigten insoweit auf den Angeklagten nicht zutreffe. Der Senat schließt aus, dass die Strafkammer in diesem Zusammenhang aus den Augen verloren haben könnte, dass Täterbeschreibungen häufig wenig zuverlässig sind und nur den „subjektiven Eindruck“ des Tatopfers wiedergeben, wie die Staatsanwaltschaft besorgt. Dass sie dem Umstand, dass die Täterbeschreibung des Tatopfers nicht auf den Angeklagten passt, gleichwohl nicht jeglichen Beweiswert abgesprochen hat, hält sich innerhalb des tatrichterlichen Spielraums und ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die tatrichterliche Wertung, dass das von der Geschädigten zeitnah gefertigte Phantombild keine Ähnlichkeit mit dem Angeklagten aufweist.
24
bb) Das Landgericht hat dem Umstand, dass die Geschädigte in ihren Befragungen unmittelbar nach der Tat die „äußerst auffällige Stimme“ des Angeklagten nicht erwähnt hat, obwohl er während des Tatgeschehens „ver- gleichsweise viel“ und „in akzentfreiem Deutsch“ gesprochen habe,sowie dem weiteren Umstand, dass sie seine Stimme auch in der Hauptverhandlung nicht wiedererkannt hat, obwohl diese „ganz ungewöhnlich hell, etwas rau, bei Aufregung leicht stockend und durchgängig eher leise und wenig dominant sei“, entlastende Bedeutung beigemessen. Dies begegnet unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die tatrichterliche Annahme, dass sich das sehr auffällige Klangbild der (Sprech-) Stimme des Angeklagten im Verlaufe von rund 16 Jahren bis in ein mittleres Alter hinein – der Angeklagte war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 53 Jahre alt – nicht „derartgravierend“ verändert habe, dass ihre Charakteristik gänzlich verloren ginge, begegnet keinen Bedenken. Soweit die Staatsanwaltschaft der Auffassung ist, das Landgericht habe seinen Erwägungen einen nicht existierenden wissenschaftlichen Erfahrungssatz des Inhalts zugrunde gelegt, dass „der Klang einer menschlichen Stimme von einem 16jährigen Alterungsprozess im Erwachsenenalter unabhängig und überdauernd vorhanden“ sei, vermag der Senat dies vor dem Hintergrund der differenzierten Beweiserwägungen der Kammer nicht nachzuvollziehen. Dass das Landgericht dabei die Besonderheiten außer Acht gelassen haben könnte, die für Wahrnehmung, Erinnerung und das Wiedererkennen von Stimmen gelten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Mai 2009 – 1 StR 597/08, BGHSt 54, 15, 20; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 9. Aufl., Rn. 1395 ff.), schließt der Senat aus.
25
c) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft sind die Beweiserwägungen zur Alibibehauptung des Angeklagten nicht lückenhaft. Das Landgericht war von Rechts wegen weder verpflichtet, sich mit dem Umstand auseinanderzusetzen , dass der Angeklagte die Tat Ziffer II.3. am 17. Oktober 2007 – also amGeburtstag seiner Mutter begangen hat – und zu erörtern, ob dies den Beweiswert seiner Alibibehauptung schmälern könnte. Angesichts der erheblichen Tatzeitspanne zwischen 17.00 Uhr und 20.00 Uhr sowie der Lage des Tatorts unweit des Wohnorts des Angeklagten und seiner Mutter musste sich das Landgericht zu einer ausdrücklichen Erörterung dieses Umstands nicht gedrängt sehen.
26
d) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft fehlt es auch nicht an der gebotenen Gesamtwürdigung aller für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände. Dass die Strafkammer den Tablettenfunden (Viagra, Rohypnol) sowie dem Umstand, dass sich auf den bei dem Angeklagten beschlagnahmten Rechnern „pornographisches Material“ befunden hat, aufgrund der ausführlich erörterten Besonderheiten letztlich keinen Beweiswert beigemessen hat, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
27
Bei dieser Sachlage hat die Revision der Staatsanwaltschaft keinen Erfolg.
RiBGH Prof. Dr. Krehl ist Eschelbach Bartel durch Urlaub an der Unterschrift gehindert. Eschelbach Wimmer RiBGH Dr. Grube ist durch Urlaub an der Unterschrift gehindert. Eschelbach

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 436/17
vom
19. September 2017
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
ECLI:DE:BGH:2017:190917B1STR436.17.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 19. September 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 7. April 2017 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt; zudem hat es das bei der Tat verwendete Keramikhaushaltsmesser eingezogen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet die Angeklagte an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Subtypus. Sie erlebt intensiv Stimmungen, die sehr wechselnd, launenhaft sein können. Sie wird schnell traurig oder wütend, ist leicht reizbar und handelt häufig „aus dem Bauch heraus“, ohne über die Konsequenzen ihres Tuns nachzudenken. Zu- dem ist sie nur schwer in der Lage, mit Kritik an ihrer Person oder ihren Handlungsweisen umzugehen, was häufig zu Streit führt. Ihr Verhalten ist stark belohnungsabhängig mit der Neigung, nicht unmittelbar belohnte Handlungen aufzugeben, so dass es ihr schwer fällt, schwierige Zeiten um eines übergeordneten Zieles willen durchzustehen. Diese psychische Störung führte letztlich dazu, dass die Angeklagte keine Berufsausbildung absolvierte, Beschäftigungsverhältnisse nur von kurzer Dauer und auch Beziehungen instabil und nicht längerfristig waren. Sie stand unter einem erheblichen Leidensdruck, den sie mit einem riskanten Alkoholkonsum zu kompensieren versuchte. Eine Alkoholabhängigkeit ist bei der Angeklagten allerdings nicht gegeben.
3
Im Jahre 2012 lernte sie den 21 Jahre älteren späteren Geschädigten kennen und ging mit ihm 2014 eine Liebesbeziehung ein. Beide Partner behielten jedoch jeweils ihre Wohnungen. Nach einer in der Anfangszeit sehr harmonischen Beziehung führte insbesondere eine schwere Krebserkrankung der Mutter der Angeklagten dazu, dass sich der Geschädigte vernachlässigt fühlte und zunehmend eifersüchtig wurde, ohne dass die Angeklagte ihm hierzu einen Anlass gegeben hatte. Er machte ihr immer wieder Vorhaltungen und drohte mehrfach, sich das Leben zu nehmen, wobei er sich jeweils ein Messer an den Hals hielt. Er beabsichtigte dabei nicht ernstlich, sich das Leben zu nehmen, sondern versuchte lediglich, die Angeklagte unter Druck zu setzen. Aufgrund von Streitigkeiten kam es mehrfach dazu, dass die Angeklagte dem Geschädigten den Wohnungsschlüssel zu ihrer Wohnung entzog.
4
Im Frühjahr des Jahres 2016 gerieten beide wiederum in einen heftigen Streit, wobei der Geschädigte der Angeklagten erstmals eine Ohrfeige gab, die sie damit beantwortete, dass sie ihm ebenfalls eine Ohrfeige gab und ihn aus ihrer Wohnung verwies. Die Schwierigkeiten verschärften sich, als die Ange- klagte Ende August 2016 mit ihrer Mutter während einer Pause in deren Chemotherapie eine Reise unternahm. Während dieser Reise „bombardierte“ der grundlos eifersüchtige Geschädigte die Angeklagte mit „WhatsApp“- Nachrichten und Vorwürfen. Die Angeklagte stand unter einem erheblichen emotionalen Druck und war erschöpft. Auch nach ihrer Rückkehr am 1. September 2016 war die Stimmung zwischen ihr und dem Geschädigten äußerst angespannt. Sie machte dem Geschädigten deshalb klar, dass sie zunächst Abstand brauche und er in seiner Wohnung übernachten müsse, was dieser auch akzeptierte.
5
Am Abend des 5. September 2016 befanden sich die Angeklagte und der Geschädigte in der Wohnung der Angeklagten. Sie ärgerte sich zunehmend darüber, dass sie auch für den Geschädigten arbeitete, obwohl sie müde war. Er gewann entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten den Eindruck, dass die Angeklagte mit anderen Männern über das Smartphone Kontakte knüpfte, und steigerte sich weiter in seine Eifersucht hinein. Gegen 23.30 Uhr kam der Geschädigte aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und versetzte der am Wohnzimmertisch sitzenden Angeklagten völlig unvermittelt und ohne ein Wort zu sagen eine heftige Ohrfeige, worauf sie nach rechts mit dem Stuhl auf den Boden kippte. Als sie versuchte, nach ihm zu treten, versetzte er ihr noch eine Ohrfeige. Durch die Ohrfeigen erlitt die Angeklagte u.a. eine Verletzung an der Lippe sowie Schürfungen und Rötungen. Die nunmehr völlig aufgebrachte Angeklagte stand daraufhin auf, gab dem Geschädigten ebenfalls eine Ohrfeige und verwies ihn der Wohnung. Aus Wut und um ihrer Forderung, er solle die Wohnung verlassen, Nachdruck zu verleihen, warf sie eine befüllte Bonbonschale aus Glas in Richtung des Geschädigten. Die Schale schlug am Boden auf und zersplitterte. Der Geschädigte machte gleichwohl keine Anstalten, die Wohnung zu verlassen.
6
Die Angeklagte blieb zunächst in der Küche, um abzuwarten, dass der Geschädigte ihrer Aufforderung nachkommen werde. Sie schaute dann aus der Küche heraus und forderte den Geschädigten mehrfach auf, die Wohnung zu verlassen, ohne dass dieser dem nachkam. Als sie ein weiteres Mal aus der Küche herausblickte, sah sie den Geschädigten, ein kleines Küchenmesser in der Hand haltend, im Flur stehen. Sie fragte ihn, ob er nun „wieder damit anfange“ , da sie befürchtete, er werde nunmehr wieder damit drohen, sich in ihrer Wohnung das Leben zu nehmen. Auch hegte sie die Befürchtung, er könne ihr das Gesicht zerschneiden, wie er es bereits einmal angekündigt hatte. Sie wollte unbedingt Distanz zu dem Geschädigten bekommen, musste aber erkennen, dass er dies ignorierte. Dies steigerte ihre Wut darüber, dass er ihrer mehrfachen Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, keine Folge leistete, nochmals erheblich. Daher wollte sie dieser Aufforderung Nachdruck verleihen. Sie nahm in der Küche aus einer Plastikbox ein 32,5 cm langes Küchenmesser und trat damit dem Geschädigten, der seinerseits das zuvor von ihm in der Hand gehaltene Messer wieder abgelegt hatte, entgegen. Sie forderte ihn schreiend nochmals auf, die Wohnung zu verlassen. Sie hielt das Messer in Hüfthöhe vor sich, trat auf ihn zu und stach ihm mit einem mit mäßigem Kraftaufwand geführten Stich von vorne in den linken Oberbauch. Dabei nahm sie billigend in Kauf, dass der von ihr zur Erreichung ihres Ziels geführte Stich, den Geschädigten aus der Wohnung zu verweisen, diesen töten könnte. Die hierbei verursachte Stichverletzung führte in kürzester Zeit zum Tod des Geschädigten. Er schlug mit einem dumpfen Schlag mit dem Hinterkopf auf den Boden und verstarb. Nach der Wertung des Landgerichts war die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten bei der Tat wegen ihrer Alkoholisierung mit einer Blutalkoholkonzentration von maximal 1,64 Promille in Kombination mit ihrer Persönlichkeitsstörung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert.
7
2. Das Landgericht hat die Tat als Totschlag gemäß § 212 Abs. 1 StGB gewertet. Im Rahmen der Strafzumessung hat es das Vorliegen eines minder schweren Falls nach § 213 1. Alt. StGB verneint, weil der finale Bauchstich nicht auf das Vorgeschehen zurückzuführen sei. Auf dieses habe die Angeklagte mit dem Tritt in die Richtung des Geschädigten, einer Ohrfeige, seines Verweises aus der Wohnung und dem in seine Richtung gezielten Wurf einer gläsernen Bonboniere abschließend reagiert. Auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung und unter Berücksichtigung des vertypten Strafmilderungsgrundes der eingeschränkten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) hat das Landgericht jedoch einen sonstigen minder schweren Fall (§ 213 2. Alt. StGB) angenommen.

II.


8
Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Feststellungen des Landgerichts beruhen auf einer lückenhaften und deshalb durchgreifend rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung.
9
1. Bereits die Beweiswürdigung zum Tathergang hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Damit fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für eine Verurteilung der Angeklagten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.
10
a) An die Bewertung der Einlassung eines Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 1995 – 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Dabei sind entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Auch im Übrigen hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwür- digung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Beweisergebnisses zu bilden (st. Rspr.; vgl. nur BGH aaO BGHR Einlassung 6 sowie Ott in KK-StPO, 7. Aufl., § 261 StPO Rn. 57 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
11
b) Diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht stand. Die Urteilsausführungen lassen eine umfassende Würdigung der Einlassung der Angeklagten vermissen.
12
aa) Das Landgericht hat den Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen im Wesentlichen die Angaben der Angeklagten in der Hauptverhandlung zugrunde gelegt. Abweichend von ihrer Einlassung hat es sich jedoch davon überzeugt, dass die Angeklagte das Tatmesser nicht etwa zufällig im Rahmen von Arbeiten beim Kochen in der Hand gehabt habe, sondern dieses bewusst aus einer Box herausgenommen habe. Diese Überzeugung stützt das Landgericht auf entsprechende Angaben der Angeklagten bei einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung.
13
Zudem ist das Landgericht abweichend von der Einlassung der Angeklagten zu der Überzeugung gelangt, dass sie den tödlichen Stich bewusst ausgeführt habe. Das Landgericht hat dabei in den Blick genommen, dass sich die Angeklagte in der Hauptverhandlung eingelassen hatte, sie habe lediglich mit dem Messer vor dem Geschädigten „herum gefuchtelt“, um ihrer Forderung, er solle die Wohnung verlassen, Nachdruck zu verleihen. Da der Geschädigte sich auf sie zubewegt habe, habe sie befürchtet, dass er ihr nochmals eine Ohrfeige versetzen oder sie packen würde. Bei diesem Herumfuchteln müsse sie den Geschädigten mit dem Messer verletzt haben. Sie habe ihn aber überhaupt nicht verletzen und schon gar nicht umbringen wollen. Sie habe nur ge- wollt, dass er gehe. Das Landgericht hält die Einlassung der Angeklagten auch insoweit für widerlegt, zumal sie mit früheren Angaben in Widerspruch stehe. So habe die Angeklagte nicht nur in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben , das Messer nach vorne gehalten zu haben. Gegenüber den am Tatort eintreffenden Polizeibeamten habe sie sogar spontan geäußert, sie habe nur einmal zugestochen.
14
bb) Ausgehend hiervon hätte das Landgericht auch die übrigen Angaben der Angeklagten nicht ohne weiteres den Feststellungen zugrunde legen dürfen. Vielmehr hätte es erörtern müssen, ob über die vom Landgericht für widerlegt angesehenen Angaben hinaus auch die weiteren Angaben der Angeklagten nicht der Wahrheit entsprachen. Denn entlastende Angaben des Angeklagten sind nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. August 1995 – 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Das Landgericht hätte daher insbesondere erörtern müssen, ob die Einlassung der Angeklagten auch insoweit unwahr war, als sie behauptete, der Geschädigte habe ihr völlig unvermittelt und ohne ein Wort zu sagen eine Ohrfeige gegeben, woraufhin sie mit dem Stuhl auf den Boden gekippt sei.
15
cc) Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich dieser Beweiswürdigungsmangel nicht nur zum Vorteil, sondern auch zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt hat. Da mithin die Feststellungen zum Tatablauf insgesamt keinen Bestand haben können, fehlt auch dem Schuldspruch eine tragfähige Grundlage. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
16
2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat zum Tatbestands- merkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ in § 2131. Alt. StGB auf Folgendes hin:
17
Für dieses Merkmal ist nicht entscheidend, ob sich die Tat als „Spontan- tat“ darstellt. Vielmehr kommt es darauf an, ob der durch eine schwere Provo- kation, die in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls auch in Ohrfeigen liegen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2016 – 1 StR 581/15, StraFo 2016, 167), hervorgerufene Zorn noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. April 2007 – 5 StR 134/07, NStZ-RR 2007, 200 und vom 28. September 2010 – 5 StR 358/10, NStZ-RR 2011, 10). Entscheidend ist, ob ein motivationspsychologischer Zusammenhang zwischen der Misshandlung oder Beleidigung durch das Opfer und der Körperverletzungshandlung des Täters besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1999 – 2 StR 384/99, NStZ-RR 2000, 80). Das kann auch noch nach mehreren Stunden der Fall sein (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 1984 – 3 StR 443/83, NStZ 1984, 216; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 213 Rn. 9a). Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe auf die beiden Ohrfeigen des Geschädigten am Tatabend mit dem Tritt in die Richtung des Geschädigten, eine ihm gegebene Ohrfeige, seines Verweises aus der Wohnung und dem in seine Richtung gezielten Wurf einer Bonboniere abschließend reagiert, genügte angesichts der Feststellungen zum weiteren Tatablauf und zur Persönlichkeit der Angeklagten diesen Maßstäben nicht. In diesem Zusammenhang könnte gegebenenfalls die beharrliche Weigerung des Geschädigten, die Wohnung zu verlassen, Gewicht erlangen.
Raum Jäger Bellay Fischer Hohoff

(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.

(1) Soweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

(2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird.

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.