Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 14. Dez. 2016 - L 2 P 19/15

bei uns veröffentlicht am14.12.2016

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I.

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 06.03.2015 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht München zurückverwiesen.

II.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die am 13.12.2013 beim Sozialgericht München (SG) eingegangene Klage als zurückgenommen gilt und ob der Kläger Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe I hat.

Mit Bescheid vom 10.12.2013 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Leistungen aus der Pflegeversicherung ab. Den vom Klägerbevollmächtigten eingelegten, aber nicht begründeten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2013 zurück.

Mit Klageschriftsatz vom 10.12.2013 hat sich der Klägerbevollmächtigte gegen den Bescheid der Beklagten vom 05.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 04.12.2013 gewandt und Klagebegründung mit gesondertem Schreiben angekündigt, ohne Anträge zu stellen (Az.: S 20 P 411/13).

Mit Schreiben vom 17.12.2013 hat das SG den Klägerbevollmächtigten zur Klagebegründung, zur Vorlage einer schriftlichen Vollmacht und zur Rücksendung der ausgefüllten und unterschriebenen beigefügten Vordrucke aufgefordert und um Mitteilung gebeten, ob der Kläger für eine eventuelle Untersuchung oder für die mündliche Verhandlung einen Dolmetscher benötigt. Die Vordrucke betrafen die Entbindungserklärung von der Geheimhaltungs- und Schweigepflicht sowie einen Fragebogen über Medizinische Behandlungen bzw. Leistungsbezug.

Die Vollmacht hat der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 12.02.2014 zugesandt. Mit Schreiben vom 10.03.2014 hat das SG an Erledigung des Schreibens vom 17.12.2013 erinnert. Die dafür vom Klägerbevollmächtigten am 08.04.2014 beantragte Fristverlängerung bis 30.05.2014 ist gewährt worden.

In einem als Richterbrief gefasstem Schreiben vom 04.06.2014 ist der Klägerbevollmächtigte letztmalig unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgefordert worden, die Klagebegründung und die ausgefüllten und unterschriebenen Vordrucke vorzulegen und mitzuteilen, ob der Kläger einen Dolmetscher benötigt. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf dieses Schreiben Bezug genommen. Es ist dem Klägerbevollmächtigten ausweislich der Postzustellungsurkunde (PZU) am 07.06.2014 durch Einlegen in den zum Geschäftsraum seiner Kanzlei gehörenden Briefkasten zugestellt worden.

Weitere Schreiben des Klägerbevollmächtigten sind beim SG nicht eingegangen.

Daraufhin hat das SG den Beteiligten mit Schreiben vom 16.09.2014 mitgeteilt, dass der Klägerbevollmächtigte das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben habe und die Klage somit als zurückgenommen gelte (§ 102 Abs. 2 SGG).

Am 10.10.2014 hat der Klägerbevollmächtigte vom SG Fortsetzung des Verfahrens begehrt, weil die Voraussetzungen von § 102 Abs. 2 SGG nicht vorliegen würden. § 102 Abs. 2 SGG setze eine Betreibensaufforderung durch das Gericht voraus. Weiter heißt es: „Diese befindet sich in unserer Akte. Das letzte in unserer Akte befindliche Schreiben des Gerichts ist die Fristverlängerung bis 30.05.2014.“ Eine Betreibensaufforderung könne nicht an eine fehlende Klagebegründung oder Stellungnahme geknüpft werden, da die Klage nach § 92 SGG nur begründet werden solle, aber nicht begründet werden müsse. Die Aufforderung müsse sich auf eine konkrete verfahrensfördernde Handlung beziehen. Auf die in diesem Schreiben enthaltenen Klageanträge und die Klagebegründung werde verwiesen.

Nach Anhörung der Beteiligten zu einer Entscheidung mittels Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG stellte das SG mit Gerichtsbescheid vom 06.03.2015, dem Klägerbevollmächtigten zugestellt am 11.03.2015, fest, dass der Rechtsstreit unter dem Az. S 29 P 411/13 als zurückgenommen gilt gemäß § 102 Abs. 2 SGG. Die Zustellung der Betreibensaufforderung an den Klägerbevollmächtigten sei laut PZU am 07.06.2014 erfolgt. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bzw. für ein Desinteresse des Klägers an der Verfolgung seines Begehrens bestanden. Denn aus der Klageschrift sei außer den angegriffenen Bescheiden nichts zu entnehmen gewesen und die Beklagte habe mit Schreiben vom 19.12.2013 zu erkennen gegeben, dass sie erst nach Klagebegründung und Antragstellung zum Klagebegehren sinnvoll Stellung nehmen könne. Auf die gerichtliche Aufforderung zur Klagebegründung und zur Übersendung von Vollmacht und Vordrucken vom 17.12.2013 sei erst am 12.02.2014 die Vollmacht vorgelegt worden, ohne zu der vom Klägerbevollmächtigten selbst angekündigten Klagebegründung ein Wort zu verlieren. Auch innerhalb der wunschgemäß bis 30.05.2014 verlängerten Frist sei keinerlei Reaktion des Klägers erfolgt. Der Kläger habe auch nicht innerhalb der Dreimonatsfrist substantiiert dargetan, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen sei, trotz des in der Betreibensaufforderung manifestierten Zweifels des Gerichts. Auf die Betreibensaufforderung sei keinerlei Reaktion des Klägers erfolgt. Selbst auf die Mitteilung der Rücknahmefiktion vom 16.09.2014 habe der Klägerbevollmächtigte erst mit Schreiben vom 10.10.2014 reagiert. Aus der fehlenden Klagebegründung sei unter Berücksichtigung der Gesamtumstände auf ein Desinteresse des Klägers an der Verfolgung seines Klagebegehrens zu schließen, zumal die ursprüngliche Klageschrift keinerlei Hinweise enthalten habe, mit welchen Argumenten bzw. Anträgen der Kläger sein Begehren gerichtlich verfolgen wolle. Erst nach Klagebegründung könne das Gericht im Rahmen des Amtsermittlungsprinzips den Sachverhalt durch Beweisaufnahme aufklären und entscheiden.

Am 24.03.2015 hat der Klägerbevollmächtigte beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt. Auf das gerichtliche Hinweisschreiben vom 08.05.2015 und das Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 11.05.2015 wird Bezug genommen. Der Klägerbevollmächtigte hat insbesondere erklärt, er habe das Aufforderungsschreiben des SG vom 04.06.2014 nicht erhalten. Am 26.05.2015 hat der Klägerbevollmächtigte Antrag auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Klägerbevollmächtigten gestellt.

Nach Akteneinsicht hat der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 03.06.2015 und 26.08.2015 im Wesentlichen ausgeführt, dass die Betreibensaufforderung des SG aus ihm unbekannten Gründen nicht zur Akte gelangt sei. Offen bleibe, ob dieses Schreiben tatsächlich zugestellt worden sei. Dem Kläger sei keine letzte Nachfrist eingeräumt worden und es sei nicht im Einzelnen dargelegt worden, weshalb Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestünden. Auf eine fehlende Klagebegründung könne zudem die Klagefiktion nicht gestützt werden. Die Bewertung einer Mitwirkungspflichtverletzung sei nicht angemessen, denn der Kläger müsse sich angemessen verteidigen können. Das SG habe dem Kläger erklären müssen, weshalb es die angeforderten Unterlagen benötige und weshalb bei Nichterfüllung von einem nicht mehr bestehendem Rechtsschutzinteresse auszugehen sei. Mit Nichtwissen werde bestritten, dass die Betreibensaufforderung schriftlich verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sei. Aus der in der Akte enthaltenen Abschrift sei nicht zu erkennen, ob der Vorsitzende mit vollem Namen unterzeichnet habe.

Die Beklagte hat auf die förmliche Zustellung der Betreibensaufforderung hingewiesen.

Mit Beschluss vom 12.12.2016 hat der Senat dem Klägerbevollmächtigten Prozesskostenhilfe unter seiner Beiordnung bewilligt.

Auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 14.12.2016 wird verwiesen. Die Beteiligten haben u. a. mitgeteilt, dass aufgrund Neuantrags inzwischen Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.01.2015 bewilligt worden seien.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 06.03.2015 aufzuheben und den Rechtsstreit zur Fortsetzung an das Sozialgericht München zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten des SG unter den Az. S 29 P411/13 und S 29 P 308/14 sowie auf die Akte des LSG Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Gründe

A) Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung erweist sich als begründet. Das Klageverfahren vom 13.12.2013, zunächst geführt unter dem Az. S 29 P 411/13, ist nicht aufgrund Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendet worden.

Gemäß § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Senat weist darauf hin, dass entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten das Verhalten des Klägers bzw. seines Bevollmächtigten zum Zeitpunkt der gerichtlichen Betreibensaufforderung dem SG eindeutig Anlass zu der Annahme gegeben hatte, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses bzw. von mangelndem Interesse des Kläger an der Fortführung seines eigenen Klageverfahrens auszugehen (vgl. hierzu u. a. BSG Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - Juris RdNr. 46 f. m. w. N.).

Auch wenn das SGG für die Begründung der Klage sowie für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung sich der Kläger beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften enthält (vgl. § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG), hat das SG die Beteiligten aber im Rahmen der Amtsermittlung insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs. 2 SGG ergibt (vgl. BSG Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - Juris RdNr. 47). Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung („ins Blaue hinein“) zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl. BSG ebenda). Es ist in der Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers in der Regel Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses liefert, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat und der Kläger diesen Auflagen nicht nachkommt, ohne substantiierte Gründe für seine fehlende Mitwirkung mitzuteilen (vgl. hierzu BT-Drucks. 16/7716 S. 19 zur Einführung von § 102 Abs. 2 SGG; vgl. BSG im Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - Juris RdNr. 47; Hessisches LSG, Beschluss vom 17.08.2015 - L 6 AS 659/14 B - Juris RdNr. 38).

Denn zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung vom 04.06.2014 waren bereits über fünf Monate seit Klageeingang verstrichen, ohne dass der Streitgegenstand mitgeteilt oder Anträge gestellt worden waren. Die bereits mit Klageerhebung vom Bevollmächtigten selbst angekündigte Klagebegründung war nicht vorgelegt worden. Insbesondere hat der Klägerbevollmächtigte die von ihm selbst erbetene Frist bis 30.05.2014 nicht eingehalten. Selbst Rückschlüsse über den Streitgegenstand aus dem Vortrag im Widerspruchsverfahren waren dem SG verwehrt, weil auch im Widerspruchsverfahren außer der Einlegung des Widerspruchs und der Mitteilung, diesen nicht zurückzunehmen, keinerlei Äußerung von Klägerseite zu seinem Begehren erfolgt war. Darüber hinaus waren trotz Erinnerungen und Betreibensaufforderung durch das SG nicht nur die Klageanträge und Klagebegründung unterblieben, sondern der Kläger hatte auch die für weitere Ermittlungen des SG zum Pflegebedarf von Amts wegen notwendigen Vordrucke nicht ausgefüllt und unterschrieben und trotz gerichtlicher Nachfrage nicht mitgeteilt, ob er ggf. einen Dolmetscher im Verfahren benötigt.

Damit bestanden zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung aus objektiver Sicht eindeutig sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses des Klägers bzw. dafür, dass dieser keinerlei Interesse mehr an der Verfolgung eines - nicht ansatzweise konkretisierten - Klagebegehrens hatte.

Das gerichtliche Schreiben vom 04.06.2014 hat ferner die für ein ordnungsgemäßes Betreiben erforderlichen Handlungen des Klägers klar formuliert, unter Hinweis auf die Rechtsfolgen im Falle eines Nichtbetreibens, und dieses Schreiben wurde dem Klägerbevollmächtigten ordnungsgemäß durch Einlegen am 07.06.2014 in den zu den Geschäftsräumen gehörenden Briefkasten zugestellt (§ 63 Abs. 2 SGG i. V. m. § 180 ZPO). Gemäß den §§ 418, 182 ZPO begründet die Postzustellungsurkunde vollen Beweis der bezeugten Tatsachen. Einen Beweis für die Unrichtigkeit dieser Tatsache, dass also der Brief tatsächlich nicht in den Briefkasten der Kanzlei eingeworfen worden ist, hat der Klägerbevollmächtigte nicht antreten können. Die bloße Tatsache, dass ein Brief nicht zur Akte gelangt sein soll, vermag die Beweiskraft der PZU nicht zu erschüttern, zumal dies auch von der ordnungsgemäßen Zuordnung der in einer Rechtsanwaltskanzlei eingehenden Post und damit von internen Verfahrensabläufen dort abhängt.

Allerdings erfüllt die Betreibensaufforderung vom 04.06.2014 nicht vollständig die formellen Anforderungen, die angesichts ihrer weitreichenden Bedeutung von der Rechtsprechung an sie gestellt werden. So muss sichergestellt sein, dass der Richter die Betreibensaufforderung bewusst veranlasst hat und es sich nicht nur um einen Entwurf handelt. Der 13. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in den nichttragenden Gründen seines Urteils vom 01.07.2010 (B 13 R 58/09 R - Juris RdNr. 49) dazu ausgeführt, dass erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters deutlich macht, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht nur um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht (vgl. BSG ebenda). Das BSG hat ferner ausgeführt, dass auch die gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung bzw. beglaubigte Abschrift durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen muss, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

Die in der SG-Akte enthaltene Betreibensaufforderung vom 04.06.2014 weist keine eigenhändige Unterschrift des vorsitzenden Richters - und nicht einmal ein Unterschriftskürzel - auf, auch wenn diese im Vordruck vorgesehen ist, und in der Akte ist ferner keine entsprechende vorangegangene richterliche Verfügung ersichtlich. Ob statt dessen nur die mit PZU versandte Ausfertigung der Betreibensaufforderung vom Richter unterschrieben worden war, lässt sich nicht aufklären, da der Klägerbevollmächtigte auf Nachfrage bekräftigt hat, dass diese nicht zu ihm gelangt ist. Damit kann der Nachweis, dass die Betreibensaufforderung auf richterlichen Entschluss zurückgeht, letztlich nicht geführt werden.

Das gerichtliche Schreiben vom 04.06.2016 entfaltet damit nicht die Wirkungen einer Betreibensaufforderung gemäß § 102 Abs. 2 SGG; insbesondere ist trotz Nichtbetreibens des Verfahrens durch den Kläger und seinen Bevollmächtigten die Wirkung der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 SGG nicht kraft Gesetzes eingetreten.

Daher ist der Gerichtsbescheid aufzuheben, mit dem das SG die Wirksamkeit der Klagerücknahmefiktion festgestellt hat. Für den Streit über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme oder einer Klagerücknahmefiktion sieht das Gesetz kein gesondertes Wiederaufnahmeverfahren vor, so dass das Gericht das ursprüngliche Verfahren fortsetzen muss und durch Urteil abschließend entscheidet (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, im Folgenden M-L, zu § 102 RdNr. 9b und 12), entweder im Sinne eines (End-)Urteils mit Feststellung der Wirksamkeit der Klagerücknahme oder im Sinne einer Entscheidung in der Sache (vgl. zur entsprechenden Situation bei Vergleich BVerwG, Beschluss vom 11.12.2007 - 2 B 86/07 - Juris RdNr. 14). Die Entscheidung über die Wirksamkeit von Klagerücknahme bzw. Klagerücknahmefiktion ist daher untrennbar mit dem ursprünglichen Klageverfahren verbunden. Hat das SG mit Urteil oder Gerichtsbescheid die Wirksamkeit der Klagerücknahmefiktion festgestellt, wird durch die Berufung das gesamte Klageverfahren im selben Umfang in der Berufungsinstanz anhängig wie vor dem SG (sogenannter Devolutiveffekt). Die Berufung leitet den Rechtsstreit in den zweiten Rechtszug und damit in die Zuständigkeit des LSG über, das den Streitfall im gleichen Umfang prüft wie das Sozialgericht (vgl. § 157 SGG; vgl. Schreiber in Breitkreuz/Fichte, Kommentar zum SGG, zu § 143 RdNr. 1). Die Aufhebung des Gerichtsbescheides allein genügt daher nicht, um die Zuständigkeit des LSG für die rechtshängige Klage zu beenden bzw. um die Zuständigkeit des SG für die weitergehende Prüfung und Entscheidung der geltend gemachten Leistungsansprüche zu begründen (vgl. zur Zurückverweisung in solchen Fällen Bayerisches LSG, Urteil vom 08.12.2009 - L 5 R 884/09; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.05.2016 - L 27 R 240/16; zu § 92 VwGO BayVGH, Urteil vom 06.06.2010 - 22 B 16.611; alle veröffentlicht in Juris). Soweit in der Rechtsprechung die Ansicht vertreten wird, die Klage auf Leistungen bleibe bei unwirksamer Klagerücknahmefiktion beim SG rechtshängig, so dass sich eine Entscheidung über eine Zurückverweisung erübrige (§ 94 SGG - vgl. so 6. Senat des Bayerischen Landessozialgerichts im Urteil vom 13.07.2016 - L 6 R 149/16 - Juris RdNr. 16; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.07.2014 - L 5 AS 586/13 - Juris RdNr. 31 m. w. N.; Sächsisches LSG Urteil vom 28.02.2013 - Az.: L 7 AS 523/09 - Juris RdNr. 27 bis 29), überzeugt dies nicht. Denn die Rechtshängigkeit der Klage besagt nicht, welche Instanz über die - ggf. bis zum Abschluss einer Revision - i. S. v. § 94 SGG rechtshängige Klage zu entscheiden hat.

Das SG hat den Klageantrag des Klägers abgewiesen, ohne in der Sache selbst - nämlich über Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch - zu entscheiden (vgl. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der Senat hat hier im Rahmen seines nach § 159 Abs. 1 SGG auszuübenden Ermessens das Interesse des Klägers an einer Erledigung des Rechtsstreit im vorliegenden Berufungsverfahrens gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich für eine Zurückverweisung entschieden. Dabei hat er berücksichtigt, dass der Rechtsstreit erst am Anfang der Ermittlungen steht, deren Umfang für den Senat derzeit noch nicht einmal abschätzbar sind. Das gilt insbesondere, da von Klägerseite auch während des Berufungsverfahrens die vom SG angeforderten Vordrucke zu ärztlichen Behandlungen bzw. die für weitere Ermittlungen erforderliche Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht nicht vorgelegt worden sind. Der Rechtsstreit ist daher bei Weitem noch nicht entscheidungsreif, so dass der Verlust einer Tatsacheninstanz besonders ins Gewicht fällt. Deshalb erscheint es dem Senat im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG geboten, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Weitere damit verbundene Verzögerungen erscheinen dem Kläger auch mit Blick auf das eigene Verhalten zumutbar, zumal nach Aussage des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung laufende Leistungen mittlerweile seit 01.01.2015 gewährt werden.

B) Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Keller in M-L zu u § 159 RdNr. 5 f.).

C) Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 92


(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der münd

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Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 418 Beweiskraft öffentlicher Urkunden mit anderem Inhalt


(1) Öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, begründen vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. (2) Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen ist zulässig, sofern nicht die Lande

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(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die

Zivilprozessordnung - ZPO | § 180 Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten


Ist die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 nicht ausführbar, kann das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang e

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 63


(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben. (2) Zugest

Zivilprozessordnung - ZPO | § 182 Zustellungsurkunde


(1) Zum Nachweis der Zustellung nach den §§ 171, 177 bis 181 ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen. Für diese Zustellungsurkunde gilt § 418. (2) Die Zustellungsurkunde muss enthalten:1.die Bezeichnung der Person, der

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 159


(1) Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn 1. dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,2. das Verfahren an einem wesent

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 157


Das Landessozialgericht prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht. Es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 102


(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache. (2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länge

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 92


(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertr

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 94


Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache rechtshängig. In Verfahren nach dem Siebzehnten Titel des Gerichtsverfassungsgesetzes wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens wird die Streitsache erst mit Zustellung der Klage rechtshängig.

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Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben. D

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(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die Vorschriften über Urteile gelten entsprechend.

(2) Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt.

(3) Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen.

(4) Wird mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben.

(2) Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. §§ 173, 175 und 178 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung sind entsprechend anzuwenden auf die nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 9 zur Prozessvertretung zugelassenen Personen.

(3) Wer nicht im Inland wohnt, hat auf Verlangen einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen.

Ist die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 nicht ausführbar, kann das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt. Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung.

(1) Öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, begründen vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.

(2) Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen ist zulässig, sofern nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken.

(3) Beruht das Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist.

(1) Zum Nachweis der Zustellung nach den §§ 171, 177 bis 181 ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen. Für diese Zustellungsurkunde gilt § 418.

(2) Die Zustellungsurkunde muss enthalten:

1.
die Bezeichnung der Person, der zugestellt werden soll,
2.
die Bezeichnung der Person, an die der Brief oder das Schriftstück übergeben wurde,
3.
im Falle des § 171 die Angabe, dass die Vollmachtsurkunde vorgelegen hat,
4.
im Falle der §§ 178, 180 die Angabe des Grundes, der diese Zustellung rechtfertigt und wenn nach § 181 verfahren wurde, die Bemerkung, wie die schriftliche Mitteilung abgegeben wurde,
5.
im Falle des § 179 die Erwähnung, wer die Annahme verweigert hat und dass der Brief am Ort der Zustellung zurückgelassen oder an den Absender zurückgesandt wurde,
6.
die Bemerkung, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist,
7.
den Ort, das Datum und auf Anordnung der Geschäftsstelle auch die Uhrzeit der Zustellung,
8.
Name, Vorname und Unterschrift des Zustellers sowie die Angabe des beauftragten Unternehmens oder der ersuchten Behörde.

(3) Die Zustellungsurkunde ist der Geschäftsstelle in Urschrift oder als elektronisches Dokument unverzüglich zurückzuleiten.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landes-sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Vormerkung rentenrechtlicher Zeiten. Mit der Revision wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 4.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs 5 SGB VI die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für den Zeitraum bis zum 31.12.1996 verbindlich fest.

3

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2007 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger weder seinen Widerspruch noch die Klage begründet habe. Mangels Begründung sei nicht ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Daten im Versicherungskonto rechtswidrig sein solle.

4

Im Berufungsverfahren hat das LSG den Kläger mehrmals vergeblich an die Vorlage der Berufungsbegründung erinnert. Die Geschäftsstelle des LSG-Senats hat mit Schreiben vom 19.8.2008, das auf einer durch den Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, den Kläger aufgefordert, (unter Hinweis auf § 153 Abs 1, § 106a SGG: bis zum 19.9.2008) die Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühle. Des Weiteren hat sie ihn darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 102 Abs 2 Satz 1, § 153 Abs 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate (gerechnet ab Zugang dieser Verfügung) nicht betreibe, dh die Berufung nicht begründe. Auf das ihm am 21.8.2008 zugestellte Schreiben hat sich der Kläger nicht zur Sache geäußert.

5

Am 16.12.2008 hat das LSG den Beteiligten mitgeteilt, dass die Berufung als zurückgenommen gelte. Hiergegen hat sich der Kläger mit Schriftsatz vom 21.12.2008 gewandt; er habe seine Berufung keinesfalls zurückgenommen, sondern warte auf einen Gerichtstermin. In der mündlichen Verhandlung vom 18.3.2009 hat er erklärt, der Versicherungsverlauf sei fehlerhaft, da dort (im Einzelnen bezeichnete) Zeiten der Arbeitslosigkeit und eines Rentenbezugs nicht angegeben seien.

6

Mit Urteil vom selben Tage hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme erledigt sei. Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit "nichts anderes" iS von § 153 Abs 1 SGG. Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass es an einer gesetzlichen Regelung für fehlendes Betreiben im Berufungsverfahren mangele, denn auch in den Gesetzesmaterialien finde das Problem keine Erwähnung. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

7

Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Kläger habe innerhalb der ihm gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Nur mit entsprechender Mitwirkung des Versicherten durch Angaben zu den streitigen Zeiten seien weitere Ermittlungen des Versicherungsträgers ohne Beschränkung auf zugängliche Daten möglich. Entsprechendes gelte für eine sinnvolle gerichtliche Überprüfung des Vormerkungsbescheids. Trotz entsprechender Aufforderung habe der Kläger innerhalb der gesetzten Frist das Verfahren nicht durch Begründung der Berufung betrieben.

8

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 156, § 153 Abs 1 und § 102 Abs 2 SGG. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG sei nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG auf das Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. In das SGG sei keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme aufgenommen worden. Die Berufungsrücknahme sei im sozialgerichtlichem Verfahren in § 156 SGG speziell und abschließend geregelt, was die Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ausschließe. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den nach § 102 Abs 2 SGG vorausgesetzten Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das LSG nicht festgestellt.

9

           

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.6.2004 zu verpflichten, für die Zeiten vom 12.2.1993 bis 21.6.1994 eine Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB VI vorzumerken;
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 18.3.2009 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die zulässige Revision des Klägers hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung erledigt sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

15

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

16

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

17

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

18

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

19

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

20

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

21

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das hier angefochtene LSG-Urteil).

22

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

23

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

24

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

25

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

26

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

27

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

28

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

29

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

31

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

32

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

33

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens (vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

34

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

35

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

36

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

37

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

38

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

39

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

40

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

41

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

42

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

43

Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

44

Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

45

3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch das LSG im Falle des Klägers zu Unrecht erfolgt wäre.

46

a) Zwar ist im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das vom BVerfG für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 74/09 R).

47

Denn bei Erlass der Betreibensaufforderung am 19.8.2008 waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Vormerkungsbescheids vom 4.11.2003 begehrte, mangels dessen Mitwirkung für das LSG nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Berufung auch ein Jahr nach ihrer Einlegung nicht begründet worden, ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Vormerkungsbescheid vom 4.11.2003 oder die Klage. Das SGG enthält zwar für die Begründung der Klage und der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften (§ 92 Abs 1 Satz 4, § 151 Abs 3 SGG: "sollen" bzw "soll"). Das Gericht hat die Beteiligten aber insoweit heranzuziehen, wie sich aus § 103 Satz 1 Halbs 2 SGG ergibt. Bei fehlender Mitwirkung ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung ("ins Blaue hinein") zu ermitteln und Beweis zu erheben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 103 RdNr 16).

48

b) Allerdings setzt eine Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend aber nicht erfolgt. Denn jedenfalls vermag ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

49

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt im Übrigen Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

50

4. Da der Senat über die vom Kläger geltend gemachten rentenrechtlichen Zeiten mangels entsprechender Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG nicht entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Terminbestimmungen und Ladungen sind bekannt zu geben.

(2) Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung. §§ 173, 175 und 178 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung sind entsprechend anzuwenden auf die nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 9 zur Prozessvertretung zugelassenen Personen.

(3) Wer nicht im Inland wohnt, hat auf Verlangen einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Das Landessozialgericht prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht. Es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache rechtshängig. In Verfahren nach dem Siebzehnten Titel des Gerichtsverfassungsgesetzes wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens wird die Streitsache erst mit Zustellung der Klage rechtshängig.

Tenor

I.

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 03. September 2015 aufgehoben.

II.

Es wird festgestellt, dass der ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 6 R 4/13 vor dem Sozialgericht München anhängige Rechtsstreit nicht durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG beendet wurde.

III.

Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Verfahren auf Feststellung rentenrechtlicher Zeiten vor dem SG (S 6 R 4/13) durch fiktive Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendet wurde.

Mit Bescheid vom 22.11.2011 stellte die Beklagte die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen Daten für die Zeit bis 31.12.2004 verbindlich fest. Der Widerspruch, mit welchem der Kläger die Berücksichtigung weiterer Zeiten (Arbeitslosigkeit, Kindererziehung) begehrte, wurde mit Bescheid vom 27.11.2012 als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen erhob der Kläger am 02.01.2013 Klage zum Sozialgericht München (SG), welche unter dem Aktenzeichen S 6 R 4/13 aufgenommen wurde. Im Rahmen dieses Verfahrens übermittelte die Beklagte mit Schriftsatz vom 15.10.2013 einen aktualisierten Feststellungsbescheid nach § 149 Abs. 5 SGB VI vom 24.09.2013 und bat um Mitteilung, ob die Klage weiter aufrechterhalten werde. Mit Schreiben vom 28.10.2013 übermittelte das SG den Schriftsatz der Beklagten nebst Anlagen mit einfachem Brief an die Wohnsitzadresse des Klägers zur Kenntnis und Stellungnahme binnen einer Woche, ob die Klage angesichts des Vorbringens der Beklagten und dem ergangenen Feststellungsbescheid vom 24.09.2013 für erledigt erklärt werde. Auf dem Entwurf des Schreibens ist handschriftlich vermerkt „nochmals abgesandt am 27.11.2013“. Nachdem in der Folge keine Reaktion des Klägers erfolgte, erließ das SG mit Datum vom 05.02.2014 eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG. Das Schreiben, welchem keine Anlagen beigefügt waren, hatte folgenden Wortlaut: „ ... werden Sie hiermit zur Vermeidung der unten genannten Rechtsfolge letztmals aufgefordert, das gerichtliche Schreiben vom 28.10.2013 zu beantworten. Die Klage gilt gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, er also ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend durch Tatsachen darlegt und begründet, warum die geforderte Handlung nicht vorgenommen werden kann. In diesen Fällen unterstellt das Gericht den Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers.“ Das Schreiben war vom Kammervorsitzenden persönlich unterzeichnet worden und dem Kläger laut Zustellungsurkunde am 18.02.2014 zugestellt worden. Am 19.03.2014 rief der Kläger laut aktenkundigem Telefonvermerk bei der Geschäftsstelle des SG an und teilte mit, dass er zwar das Schreiben vom 05.02.2014 nicht jedoch das Schreiben vom 28.10.2013 nebst Anlagen erhalten habe. Um nochmalige Zusendung dieses Schreibens wurde gebeten. Daraufhin wurde am 19.03.2014 das Schreiben vom 28.10.2013 nebst Anlagen nochmals mit einfachem Brief an den Kläger versandt. Nachdem in der Folge wiederum keine Reaktion des Klägers erfolgte, wurde das Verfahren mit Verfügung des Kammervorsitzenden vom 04.06.2014 aufgrund fiktiver Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG mit der Begründung ausgetragen, der Kläger habe trotz Aufforderung des Gerichts das Verfahren länger als drei Monate nicht betrieben.

Am 13.07.2015 gingen ein Schreiben Klägers am SG ein, mit welchem er sich gegen die Erledigung des Rechtsstreites wandte. Der letzte Sachstand sei aus seiner Sicht gewesen, dass er einen Schriftsatz der Beklagten erhalten und sich zu diesem äußern sollte, wenn sich die Klage dadurch erledigt habe. Er habe beim SG angerufen und mitgeteilt, dass Schreiben an ihn förmlich zuzustellen seien bzw. von ihm persönlich beim SG abgeholt werden sollten, da an ihn adressierte Post des Öfteren aus seinem Briefkasten verschwinden würde. Trotz der Zusage des SG, den Schriftsatz der Beklagten erneut zu senden habe er ihn bisher nicht erhalten. Es habe keine rechtliche Grundlage gegeben, das Verfahren von Amts wegen zu beenden. Vorsorglich werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Das SG führte das Verfahren daraufhin unter dem Aktenzeichen S 6 R 1533/15 fort. Zu der in der Folge anberaumten mündlichen Verhandlung vom 03.09.2015, welche trotz entsprechenden Antrags des Klägers nicht verlegt wurde, erschien der Kläger unentschuldigt nicht. Das SG hob das angeordnete persönliche Erscheinen auf und stellte mit Urteil nach mündlicher Verhandlung vom gleichen Tage fest, dass der Rechtsstreit unter dem Aktenzeichen S 6 R 4/13 durch Klagerücknahme beendet worden sei. Der Kläger habe das Verfahren trotz entsprechender Aufforderung des Gerichtes innerhalb von drei Monaten nicht betrieben. Die Aufforderung sei dem Kläger nachweislich am 05.02.2014 zugestellt worden. Es verbleibe bei der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 S. 1 SGG.

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger am 29.02 2016 Berufung beim Bayer. Landessozialgericht ein. Das SG sei zur Fortsetzung der dort anhängigen Klagesache und zur Umsetzung der Sachanträge zu veranlassen. Das SG berufe sich unzutreffender Weise auf ein angebliches Nichtbetreiben. Er habe im Übrigen nach telefonischer Rückfrage vor der mündlichen Verhandlung davon ausgehen können, dass diese auf seinen Antrag hin verlegt werde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 03. September 2015 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 6 R 4/13 vor dem Sozialgericht München nicht durch Klagerücknahmefiktion beendet wurde.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des Sozialgerichts und die Akten Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG unter denen die Klage als zurückgenommen gilt, sind nicht erfüllt. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist aufzuheben. Das Sozialgericht wird das unter dem Aktenzeichen S 6 R 4/13 rechtshängig gewordene und anhängig gebliebene Klageverfahren fortzuführen haben.

Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Betreibensaufforderung ist der Kläger auf die sich aus § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung unterliegt hierbei formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht Grundlage der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sein kann (BSG, Urteil vom 01.07.2010, Az.: B 13 R 58/09 R).

In formeller Hinsicht muss wegen der einschneidenden Folgen der Rücknahmefiktion sichergestellt sein, dass es sich bei der Betreibensaufforderung nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Richter nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Die Betreibensaufforderung muss daher nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Auch die gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift der Betreibensaufforderung muss diesen Umstand erkennen lassen, d. h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (BSG, Urteil vom 01.07.2010, a. a. O.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Die Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens muss daneben auch inhaltlichen Anforderungen genügen. Dem Kläger muss im Rahmen des § 102 Abs. 2 S. 3 SGG klar und unzweifelhaft deutlich gemacht werden, welche Verfahrenshandlung er vornehmen muss, um die Fiktion der Rücknahme seiner Klage abzuwenden. Die Handlungen zum (hinreichenden) Betreiben des Verfahrens müssen - abhängig vom Stand des Verfahrens - möglichst konkret bezeichnet werden; allgemeine Aufforderungen zum Tätigwerden genügen grundsätzlich nicht (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl. 2014, Rn. 8c zu § 102; NK-VwGO/Schmid § 92 Rn. 33; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom. 12.07.2011, Az.: L 11 KR 1429/11).

Diese Anforderungen werden durch die im vorliegenden Verfahren unter dem Datum vom 05.02.2014 erteilte Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens nicht erfüllt. Das SG hat bei der angegriffenen Feststellung, das Verfahren sei durch fiktive Klagerücknahme erledigt, übersehen, dass der Nachweis einer ordnungsgemäßen Betreibensaufforderung nicht geführt werden kann. Zwar wurde die Aufforderung vom 05.02.2014 an den Kläger ausweislich der Zustellungsurkunde am 18.02.2014 zugestellt. Aus dieser Aufforderung alleine war für den Kläger jedoch nicht zu entnehmen, welche Verfahrenshandlungen konkret gefordert waren. Es wurde dort lediglich pauschal gefordert, das „gerichtliche Schreiben vom 28.10.2013“ zu beantworten. Den Zugang dieses ersten Schreibens nebst Anlagen hat der Kläger aber stets bestritten und diesen Umstand - wie auch seine erfolglosen Bemühungen an das Schreiben nebst Anlagen zu gelangen - in der mündlichen Verhandlung nochmals glaubhaft dargelegt. Der Betreibensaufforderung selbst war dieses Schreiben nebst Anlagen nicht beigefügt. Zwar wusste der Kläger aufgrund des nachweislich mit der Geschäftsstelle des SG geführten Telefonats, dass mit diesem gerichtlichem Schreiben vom 28.10.2013 ein Verfahrensschriftsatz der Beklagten übermittelt werden und er zur Fortführung des Verfahrens Stellung nehmen sollte. Gleichwohl konnte diese Verfahrenshandlung vom Kläger ernsthaft nicht verlangt werden, da sich in den Akten des SG kein Nachweis findet, dass der Kläger das der Betreibensaufforderung zugrunde liegende Schreiben vom 28.10.2013 nebst Anlagen auch tatsächlich erhalten hat. Das Schreiben wurde zwar mehrfach abgesandt, jedoch jeweils nur mit einfachem Brief. Spätestens nachdem der Kläger am 19.03.2014 telefonisch mitgeteilt hatte, das Schreiben vom 28.10.2013 nebst Anlagen nicht erhalten zu haben und hierzu auch zumindest glaubhafte Gründe angab, hätte es sich für das SG aufdrängen müssen, zur nachweislichen Herbeiführung der Voraussetzungen einer fiktiven Klagerücknahme auch die Aufforderung vom 28.10.2013 nebst Anlagen förmlich zuzustellen. Denn ohne Nachweis der Kenntnis des Klägers von dem aktualisierten Feststellungsbescheid der Beklagten vom 24.09.2013 lagen gerade keine begründeten Anhaltspunkte für den ausnahmsweisen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vor (Meyer-Ladewig, a. a. O., Rn. 8a zu § 102). Wird der Zugang des Ausgangsschreibens bestritten, so steht das Fehlen eines entsprechenden Zustellungsnachweises auch für das Ausgangsschreiben der Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 S 1SGG regelmäßig entgegen (so auch Bayer. LSG, Beschluss vom 21.03.2011, Az.: L 10 AL 165/09).

Infolge der nicht eingetretenen Beendigung durch Klagerücknahmefiktion ist das Klageverfahren weiterhin am SG rechtshängig i. S.v. § 94 SGG, so dass eine Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 SGG in die Ausgangsinstanz entbehrlich ist (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21.04.2015, Az.: L 7 SB 105/13 m. w. N.).

Die Kostenentscheidung berücksichtigt die in erster Instanz weiterbestehende Rechtshängigkeit.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 5. März 2013 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Magdeburg zum Aktenzeichen S 45 AS 90220/10 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger und Berufungsführer wenden sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, mit dem dieses ihre Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgewiesen und die Verfahrensbeendigung festgestellt hat. In der Sache begehren die Kläger vom Beklagten die Gewährung höherer Leistungen für die Kosten für die Unterkunft und Heizung im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2010.

2

Die am ... 1973 geborene Klägerin ist mit dem am ... 1974 geborenen Kläger verheiratet. Beide beziehen mit ihren Kindern seit dem 1. Januar 2005 mit Unterbrechungen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnen ein Eigenheim auf einem im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstück, welches diese im Jahr 2004 erworben hat. Über das Wohnhaus haben die Kläger mit der Großmutter des Klägers mit Wirkung zum 1. Juni 2004 einen Mietvertrag abgeschlossen, der auf den 20. Mai 2004 datiert und eine monatliche Gesamtmiete von 321,20 EUR ausweist. Ausweislich eines Schreibens der Großmutter des Klägers vom 14. März 2005 soll die Miete seit dem 1. April 2005 wegen einer Erhöhung der vorauszuzahlenden Betriebskosten 425,76 EUR betragen. Die Wirksamkeit des Mietvertrages sowie die Höhe der den Klägern zustehenden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) sind zwischen den Beteiligten im Einzelnen streitig.

3

Mit Bescheid vom 7. Oktober 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern und deren Kindern zuletzt vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2010 in Höhe von monatlich 820 EUR. Dagegen legten die Kläger Widerspruch ein, mit dem sie geltend machten, dass die KdUH in diesem Zeitraum nicht in der tatsächlichen Höhe gewährt würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück und führte ergänzend aus: Die KdUH könnten lediglich in Höhe von 14 EUR/Monat Berücksichtigung finden, da der vorgelegte Mietvertrag nicht wirksam und weitere Aufwendungen durch die Kläger nicht nachgewiesen seien.

4

Mit ihrer am 25. Februar 2010 beim Sozialgericht Stendal erhobenen Klage (S 5 AS 220/10; Aktenzeichen des Sozialgerichts Magdeburg: S 45 AS 90220/10) haben die Kläger ihr Begehren weiter verfolgt und vorgetragen, die Aufwendungen für die KdUH seien vom Beklagten an den Vermieter auszukehren. Eine ausführliche Klagebegründung haben sie angekündigt. Dem ist der Beklagte unter Bezugnahme auf seine bisherigen Ausführungen entgegengetreten.

5

Mit gerichtlichem Schreiben vom 8. Juni 2010 hat das Sozialgericht die Kläger aufgefordert, "eine umfassende Klagebegründung und sämtliche Kosten der Unterkunft und Heizung im streitigen Zeitraum nachzuweisen. Hier sind die Originalbelege beziehungsweise Verträge zu der Akte zu reichen". Mit Schreiben vom 28. Dezember 2010 hat das Sozialgericht die Kläger unter Fristsetzung von zwei Wochen an die Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom 8. Juni 2010 erinnert. Da die Kläger sich hierzu nicht äußerten, hat der Kammervorsitzende mit Verfügung vom 18. Februar 2011 gegenüber den Klägern ausgeführt: " fordere ich Sie aus gegebenem Anlass – Sie haben auf die Verfügungen vom 8. Juni 2010 und 28. Dezember 2010 nicht reagiert – zur Mitwirkung gemäß § 103 SGG auf. Mit den genannten Verfügungen wurden folgende Unterlagen angefordert: Originalnachweise/Verträge über die Kosten der Unterkunft und Heizung. Dieser Aufforderung sind Sie nicht nachgekommen, weshalb ich Sie letztmalig auffordere, die Verträge und Belege über die Kosten der Unterkunft und Heizung im Original für die Monate Oktober 2009 bis März 2010 binnen drei Monaten nach Erhalt dieses Schreibens zur Akte zu reichen". Des Weiteren hat das Sozialgericht die Kläger darauf hingewiesen, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, wenn diese das Verfahren trotz der Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben. Noch vor Zustellung der gerichtlichen Schreiben am 24. Februar 2011 haben die Kläger mit Schriftsatz vom 17. Februar 2011 mitgeteilt, sie seien der gerichtlichen Aufforderung bereits bei Klageerhebung nachgekommen. Gegenstand der Klage sei der in der Akte befindliche Mietvertrag, in dem alle Wohn- und Nebenkosten vollumfänglich aufgeschlüsselt seien. Es werde beantragt, den Beklagten zur Übernahme der Wohnkosten aus dem Mietvertrag zu verurteilen.

6

Mit Schreiben vom 1. März 2011 hat das Sozialgericht den Klägern mitgeteilt, dass die angeforderten Unterlagen, insbesondere ein Original des Mietvertrages bislang nicht vorgelegt worden seien. Sollten die Unterlagen nicht bis zum 24. Mai 2011 bei Gericht eingereicht worden sein, gelte die Klage als zurückgenommen. Nachdem die Kläger auf dieses gerichtliche Schreiben nicht reagiert haben, hat das Sozialgericht mit Verfügung vom 22. August 2011 die Erledigung des Verfahrens durch Klagerücknahme festgestellt und den Beteiligten mit Schreiben vom gleichen Tage mitgeteilt, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, da die angeforderten Unterlagen nicht innerhalb der gesetzten Frist eingereicht worden seien.

7

Die Kläger haben am 10. Oktober 2011 die Fortführung des Verfahrens beantragt und ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG seien nicht erfüllt, da die Unterkunftskosten im Klageverfahren hinreichend und umfänglich belegt worden seien.

8

Das Sozialgericht Stendal hat das Verfahren unter dem neuen Aktenzeichen S 45 AS 3776/11 WA wieder aufgenommen. Mit Urteil vom 5. März 2013 hat das Sozialgericht die Klage auf Feststellung, dass das Verfahren nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet wurde, abgewiesen. Es hat festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Fiktion der Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG seien erfüllt. Die Kläger hätten innerhalb der ihnen gesetzten Frist das Verfahren nicht betrieben. Sie seien der Aufforderung des Gerichts vom 8. Juni 2010, weitere Nachweise zu den KdUH vorzulegen, und die Klage zu begründen, nicht nachgekommen. Nach dem vorgelegten "Mietvertrag" und der "Betriebskostenabrechnung" sei davon auszugehen, dass die Kläger im streitigen Bewilligungszeitraum nicht nur zu Zahlungen an die Großmutter des Klägers, sondern auch an Dritte verpflichtet gewesen sein konnten. Dies betreffe insbesondere die Kosten für die Müllentsorgung, Wasser und Abwasser, Heizung sowie die Grundsteuer, zu deren Zahlung die Klägerin als Eigentümerin verpflichtet sei. Die Vorlage dieser Nachweise sei auch unabhängig von der gerichtlichen Aufforderung geboten gewesen. Auch das Landessozialgericht habe in dem mit Beschluss vom 10. November 2009 (L 5 B 445/07 AS ER) beendeten Eilverfahren trotz Aufforderung der Kläger zur Vorlage anderer Nachweise das Vorliegen eines rechtswirksamen Mietvertrages nicht feststellen können.

9

Gegen das den Klägern am 4. April 2013 zugestellte Urteil haben diese am 6. Mai 2013 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Das Sozialgericht habe das Vorliegen der Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG zu Unrecht angenommen. Sachliche Anhaltspunkte für einen nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Wegfall des Rechtschutzinteresses im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung habe das erstinstanzliche Gericht nicht festgestellt. Vielmehr habe das Sozialgericht sie grundlos dazu aufgefordert, die bereits übermittelten Unterlagen erneut vorzulegen. Zudem seien Unterlagen angefordert worden, die zur Klärung des Verfahrensgegenstandes nicht erforderlich seien. Das Gericht habe es stattdessen versäumt, sich mit dem "Charakter des Mietvertrages" auseinander zu setzen.

10

Die Kläger beantragen,

11

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 5. März 2013 aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit S 45 AS 90220/10 nicht durch die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG beendet ist.

12

Der Beklagte beantragt,

13

die Berufung zurückzuweisen.

14

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

15

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Kläger hat Erfolg.

17

I. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist nach § 143 SGG statthaft. Die Berufungsfrist ist gewahrt, weil diese trotz Zustellung des Urteils am 4. April 2013 erst am 6. Mai 2013 endete. Der 4. Mai 2013 war ein Sonnabend, weshalb die Frist erst mit Ablauf des nächsten Werktages, das ist Montag der 6. Mai 2013, endete (§ 151 Abs. 1 SGG iVm § 64 Abs. 2 und 3 SGG).

18

Die Regelung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die Geld-, Dienst- oder Sachleistungen oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 EUR nicht übersteigt. Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Beschränkung der Berufung in Verfahren, in denen die Beteiligten darüber streiten, ob ein Klageverfahren durch die Fiktion der Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG beendet worden ist, überhaupt Anwendung findet (verneinend: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 – L 2 AS 132/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013 – L 5 KR 605/12; LSG RhPf, Urteil vom 21. August 2012 – L 3 AS 133/12; bejahend: SächsLSG, Urteil vom 01. Dezember 2010 – L 7 AS 524/09). Denn allein unter Berücksichtigung der beanspruchten Mehrleistung bei den KdUH iHv 411,76 EUR/Monat für den streitigen Leistungszeitraum von sechs Monaten liegt der Wert des Beschwerdegegenstandes über 750 EUR.

19

II. Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass das Verfahren S 45 AS 90220/10 (das Sozialgericht hat im Tenor das Aktenzeichen S 5 AS 220/10 angegeben) durch Fiktion der Klagerücknahme beendet sei. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG liegen nicht vor. Das Klageverfahren ist noch anhängig und vom Sozialgericht fortzuführen.

20

Nach § 102 Abs. 2 SGG wird eine Klagerücknahme fingiert, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG ist der Kläger auf die eintretenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

21

Die Fiktion einer Klagerücknahme ist für die Fälle eingeführt worden, in denen Anhaltspunkte für ein Desinteresse der klägerischen Partei an der Fortführung des Rechtsstreits bestehen. Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S. 19 zu Nr. 17 § 102; BSG, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R). Die Vorschrift soll die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzbedürfnisses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11; BT-Drucks. 13/3993, S. 12 zu § 81 AsylVfG). Anwendung findet sie als vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.September 2012 – 1 BVR 2254/11; BT-Drucks 12/2062, S. 42).

22

Bei der Auslegung und Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG ist der strenge Ausnahmecharakter der Norm zu beachten (BT-Drucks. 16/7716 S. 19 zu Nr. 17 § 102; BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R). Die Regelung des § 102 SGG ist an § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I 1996, 1626) eingefügt wurde und § 81 Asylverfahrensgesetz (AslyVfgG) nachgebildet ist (vgl. BR-Drucks. 820/07, S. 23). Der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 VwGO sollte in das SGG "übernommen" werden (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R). Auf die hierzu ergangene Rechtsprechung kann folglich zurückgegriffen werden (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10).

23

Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht im Einzelfall nur dann ausgehen, wenn das Verfahren eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels eines Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95; BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11). Hiernach müssen zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95; BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84). Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr betrieben, wenn er innerhalb der Drei-Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1987 – 9 C 259/86; BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05). Nur wenn beide Voraussetzungen vorliegen, kann von einer willkürfreien, durch Sachgründe gerechtfertigten Beschränkung des Zugangs zum weiteren Verfahren gesprochen werden (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10).

24

Eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers kann Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses liefern und tut dies in der Regel dann, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R; BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00). Die Betreibensaufforderung muss sich dabei hinreichend konkret auf bestimmte verfahrensfördernde Handlungen beziehen, die der Kläger vorzunehmen hat (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Dezember 2009 - L 5 R 884/09). Stets muss sich daraus aber auch der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00). § 102 Abs. 2 SGG ist kein Hilfsmittel zur "bequemen Erledigung lästiger Verfahren" oder zur Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Oktober 2005 - 1 L 40/05, zu § 92 VwGO; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10). Namentlich darf die Rücknahmefiktion nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11). Das Gericht kann insbesondere Anlass haben, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses ernsthaft zu zweifeln, wenn der Prozessgegner die Richtigkeit des Vorbringens des Rechtsschutzsuchenden in Frage stellt und dieser sich dazu nicht äußert (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11). An einem Nichtbetreiben des Verfahrens fehlt es jedoch, wenn die Motivation des Rechtsmittelführers, an der Verfolgung seines Rechtsschutzzieles festzuhalten, eindeutig auf der Hand liegt (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11). Hat der Rechtsmittelführer seine Klage bereits begründet und Beweis für die von ihm vorgebrachten Tatsachenbehauptungen angeboten, ist es Aufgabe des zur Amtsermittlung verpflichteten Gerichts, den Sachverhalt durch eine Beweisaufnahme aufzuklären und danach zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11). Der Weg, aufgrund einer vorweggenommenen Beweiswürdigung auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu schließen und auf diese Weise das Verfahren ohne mündliche Verhandlung und ggf ohne Beweisaufnahme zu beenden, ist dem Gericht verwehrt (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 – 1 BVR 2254/11).

25

Für die Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG ist vor allem dann kein Raum, wenn von einem Kläger Mitwirkungshandlungen verlangt werden, die dieser bereits erfüllt hat oder nicht erfüllen kann (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10). Allein die Nichtvorlage von Nachweisen rechtfertigt die Annahme eines Wegfalls seines Rechtsschutzinteresses grundsätzlich nicht. Denn das Gericht hat die Möglichkeit, einen Kläger unter Fristsetzung nach § 106a SGG aufzufordern, die Unterlagen einzureichen. Die Amtsermittlungspflicht des Gerichts verringert sich, wenn die Partei ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt für ihn günstige Rechtsfolgen herleitet, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 1 KN 3/08 KR R). Der Kläger bleibt in einem solchen Fall für die Voraussetzungen seiner Hilfebedürftigkeit darlegungs- und beweisfällig (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10). Auch eine "Teilerfüllung" der gerichtlichen Auflagen schließt die Annahme, das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage sei entfallen, grundsätzlich aus (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Juni 2001 – 2 L 465/00; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10). Aus dem Ausnahmecharakter des § 102 Abs. 2 SGG folgt zudem, dass bereits der Protest gegen die geforderte Mitwirkungshandlung ausreicht, die Vermutungswirkung auszuschließen (Wehrhahn, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Auflage 2014, § 102 Rn 12).

26

Bei Rechtstreitigkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist zudem zu berücksichtigen, dass wegen der existenzsichernden Bedeutung dieser Leistungen nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse eines Klägers geschlossen werden kann (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 zu vermögensrechtlichen Streitigkeiten).

27

Gemessen an diesen Grundsätzen lässt sich im vorliegenden Falle das Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht feststellen. Es lagen im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung keine hinreichenden Tatsachen vor, welche die Annahme rechtfertigten, dass das Rechtsschutzinteresse der Kläger an der Fortführung der Klage entfallen und ihnen an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen war. Auf die Frage, ob die Kläger das Verfahren innerhalb der ihnen gesetzten Frist nicht betrieben haben, kommt es damit nicht an.

28

Es ist bereits zweifelhaft, ob die Betreibensaufforderung das von den Klägern Verlangte hinreichend konkret zum Ausdruck gebracht hat. Mit dem Schreiben vom 8. Juni 2010, das der Betreibensaufforderung vom 18. Februar 2011 zugrunde lag und auf deren Nichterfüllung das Vorgehen nach § 102 Abs 2 SGG gestützt worden ist, hat das Sozialgericht die Kläger aufgefordert, sämtliche KdUH im streitigen Zeitraum nachzuweisen und die Klage zu begründen. Bereits vor Zustellung der Betreibensaufforderung hatten die Kläger jedoch mit Schriftsatz vom 17. Februar 2011 darauf hingewiesen, dass mit der Klage die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der KdUH gemäß dem in der Akte befindlichen Mietvertrag begehrt werde, aus dem sich die Aufwendungen nach Ansicht der Kläger im Einzelnen ergäben. Letztlich betrafen die im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen, auf die sich die Kläger im Schriftsatz vom 17. Februar 2011 bezogen haben – abgesehen davon, dass nicht die angeforderten Originale eingereicht wurden – die von ihnen geltend gemachten Ansprüche. Denn mit der Klage begehrten die Kläger gerade die Gewährung von KdUH auf der Grundlage des (streitigen) Mietvertrages nebst der geänderten Vorauszahlung für Betriebskosten und Heizkosten. Insoweit hatten die Kläger die gerichtliche Auflage bereits erfüllt oder doch zumindest teilweise erfüllt. Soweit das Sozialgericht die Angabe und Vorlage von Nachweisen der der Klägerin als Eigentümerin entstandenen Kosten gemeint haben dürfte, ist dies der Betreibensaufforderung nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen. Genaue Angaben dazu, welche Handlungen das Gericht von den Klägern erwartete, sind erst dem angefochtenen Urteil vom 5. März 2013 zu entnehmen. Auch das Schreiben des Sozialgerichts vom 1. März 2011, in dem dieses die Kläger darauf hingewiesen hat, dass es die vorgelegten Unterlagen für nicht ausreichend erachtet, ersetzt eine ausreichende Betreibensaufforderung nicht.

29

Auch wenn das Sozialgericht letztlich möglicherweise zu Recht davon ausgegangen sein mag, dass die Klage im Ergebnis nur dann Erfolg haben kann, wenn die Kläger die unabhängig vom Mietvertrag entstandenen KdUH darlegen und nachweisen können, so berechtigt dies jedoch nicht zur Annahme einer Verletzung einer prozessualen Mitwirkungsobliegenheit, die auf ein Desinteresse der Kläger an der weiteren Verfolgung ihres Begehrens schließen lässt. Nach Rechtsansicht der Kläger sollte sich der geltend gemachte Anspruch auf höhere KdUH gerade aus einem (geänderten) Mietvertrag ergeben. Die Wirksamkeit dieses Vertrages ist zwar zwischen den Beteiligten streitig und die Frage, ob auf diesen ein sozialrechtlicher Leistungsanspruch gestützt werden kann, durchaus problematisch. Dies kann jedoch abschließend erst auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung und ggf. einer Beweisaufnahme beurteilt werden. Dass das Gericht ohne die verlangte Mitwirkung der Kläger an einer Entscheidung in der Sache, ggf. auch nach Beweislastgrundsätzen, gehindert wäre oder die Kläger an einer solchen kein Interesse mehr hatten, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses an der Fortführung des Verfahrens nicht damit begründet werden, dass die Kläger eine – nach Rechtsansicht des Gerichts erforderliche – Mitwirkung unterlassen haben, wenn der Anspruch nach ihrer Rechtsauffassung davon nicht abhängt. Dies liefe auf eine Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG unter Vorwegnahme der Beweiswürdigung hinaus.

30

Eine entsprechende Klagebegründung, die vorliegend trotz ihrer Kürze jedenfalls nach Konkretisierung des Begehrens durch den Schriftsatz der Kläger vom 17. Februar 2011 den geltend gemachten Anspruch hinreichend deutlich machte, impliziert grundsätzlich bereits einen Protest gegen die geforderte Mitwirkungshandlung, welcher der Rücknahmefiktion entgegensteht. Die Beendigung des Verfahrens nach § 102 Abs. 2 SGG wäre in der Sache lediglich eine unzulässige Sanktion für einen Verstoß gegen eine nach der vorläufigen Rechtsansicht des Gerichts gebotene Mitwirkungsobliegenheit eines Klägers. Die Motivation der Kläger zur Fortführung des Verfahrens lag hier schon deshalb nicht erkennbar fern, weil sie ihre Rechtsauffassung bereits bei Klageerhebung zum Ausdruck gebracht haben und ihr Begehren maßgebend auf die Wirksamkeit des Mietvertrages stützen. Es ist auch sonst nicht zu erkennen, dass die Kläger ihr Interesse an der Durchsetzung der beanspruchten Grundsicherungsleistungen aufgegeben haben könnten.

31

Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts kann aus diesen Gründen keinen Bestand haben und ist auf die Berufung der Kläger hin aufzuheben. Das Klageverfahren ist mangels Eintritts der Klagerücknahmefiktion noch beim Sozialgericht Magdeburg anhängig und durch dieses fortzuführen. Einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 SGG bedarf es nicht (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 – L 2 AS 132/12; eingehend hierzu: SächsLSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – L 7 AS 523/09). Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Kinder der Kläger ebenfalls am Rechtsstreit beteiligt sind.

32

Die Kostenentscheidung bleibt der erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten, da der Fortsetzungsstreit kein Rechtsmittel ist, sondern ein Zwischenstreit im eigentlichen Streitverfahren (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 – L 2 AS 132/12; SächsLSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – L 7 AS 523/09; abweichend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013 – L 5 KR 605/12).

33

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache rechtshängig. In Verfahren nach dem Siebzehnten Titel des Gerichtsverfassungsgesetzes wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens wird die Streitsache erst mit Zustellung der Klage rechtshängig.

(1) Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn

1.
dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,
2.
das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

(2) Das Sozialgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.