Tenor

Der Bescheid vom 6. September 2012 wird aufgehoben.

Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen einen sog. Dublin-II-Bescheid der Beklagten.

2

Die Kläger, ein 41-jähriger Mann, seine 38 Jahre alte Ehefrau sowie ihre 15, 14 und zehn Jahre alten gemeinsamen Kinder, sind afghanische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) haben noch ein weiteres gemeinsames Kind, den am 2. Februar 1997 geborenen Zeugen ..., der seit dem Jahre 2001 in Hamburg lebt und seit 30. Juli 2013 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG ist.

3

Nach eigenen Angaben reisten die Kläger Mitte November 2011 ins Bundesgebiet ein und stellten am 17. November 2011 bei der Beklagten Asylanträge. Eine EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Ungarn (HU1...) mit Hinweis auf einen dort am 3. Oktober 2011 gestellten Asylantrag. Im Rahmen ihrer Anhörung gaben der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) an, sie hätten von 1997 bis 2000 in Tadschikistan gelebt, von 2000 bis 2007 in Afghanistan und von 2007 bis 2009 erneut in Tadschikistan. Von dort aus seien sie in die Ukraine gereist, wo sie sich von Mitte Januar 2010 bis Mitte September 2011 aufgehalten hätten, wobei sie zwischenzeitlich auch inhaftiert gewesen seien. Von der Ukraine aus hätten sie sich nach Ungarn begeben, wo sie gezwungen gewesen seien, einen Asylantrag zu stellen, weil sie ansonsten wieder in die Ukraine zurückgeschoben worden wären. Eigentlich hätten sie aber von Anfang an nach Deutschland zu ihrem Sohn kommen wollen, von dem sie bei einem Fluchtversuch aus Tadschikistan im Jahre 2000 getrennt worden seien.

4

Am 15. August 2012 richtete die Beklagte unter Bezugnahme auf Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (im Folgenden: Dublin-II-VO), ein Wiederaufnahmegesuch an den ungarischen Staat. Dem stimmte Ungarn mit Schreiben vom 30. August 2012 zu.

5

Mit Bescheid vom 6. September 2012, den Klägern persönlich zugestellt am 17. Dezember 2012, stellte die Beklagte fest, dass die Asylanträge der Kläger unzulässig seien und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Wegen der dort gestellten Asylanträge sei Ungarn für die Durchführung der Asylverfahren zuständig. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, um vom sog. Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, lägen nicht vor. Insbesondere herrschten in Ungarn keine systemischen Mängel im Asylsystem. Die Familieneinheit mit dem im Bundesgebiet lebenden Sohn müsse nicht gewahrt werden, weil die Familie zuvor schon seit dem Jahre 2000 getrennt voneinander gelebt hätte.

6

Die bis dato bestehende Vormundschaft für den Zeugen ... – Vormund war zuletzt die Schwester des Klägers zu 1) – wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 14. Dezember 2012 aufgehoben.

7

Gegen den Bescheid der Beklagten haben die Kläger am 17. Dezember 2012 die vorliegende Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (10 AE 1243/12) gestellt. Sie dürften schon deshalb nicht nach Ungarn abgeschoben werden, weil der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) inzwischen wieder die elterliche Sorge über ihren minderjährigen Sohn ... ausübten. Im Übrigen herrschten in Ungarn systemische Mängel im Asylsystem.

8

Mit Beschluss vom 18. Dezember 2012 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss (Bl. 34 ff. der Akte 10 AE 1242/12) Bezug genommen. Im Anschluss informierte die Beklagte das Dublin-Department in Ungarn darüber, dass eine Überstellung der Kläger wegen der Anordnung der aufschiebenden Wirkung derzeit nicht möglich sei.

9

In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger ihre Klage zurückgenommen, soweit sie auf Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und äußerst hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtet war.

10

Die Kläger beantragen nunmehr nur noch,

11

den Bescheid der Beklagten vom 6. September 2012 aufzuheben.

12

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

13

die Klage abzuweisen.

14

Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.

15

Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) sind in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Weiter hat das Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen ... Wegen der Angaben des Klägers zu 1), der Klägerin zu 2) sowie des Zeugen wird auf das Sitzungsprotokoll (Blatt 106 ff. d. A.) verwiesen. Die Asylakten der Beklagten sowie die Ausländerakten der Freien und Hansestadt Hamburg, jeweils auch betreffend den Zeugen, sowie die in der Verfügung vom 3. März 2014 bezeichneten Erkenntnisquellen haben dem Gericht vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

I.

16

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil sie mit der Ladung auf diese Folge des Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.

II.

17

Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt.

III.

18

Im Übrigen hat die Klage Erfolg. Sie ist zulässig (hierzu unter 1.) und begründet (hierzu unter 2.).

19

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft. Die Kläger begehren die Aufhebung des sie belastenden Bescheides vom 6. September 2012, in welchem die Beklagte ihre Asylanträge gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt hat. Der Erhebung einer vorrangigen Verpflichtungsklage – gerichtet auf das letztliche Rechtsschutzziel der Kläger, sie als Asylberechtigte anzuerkennen – bedarf es nicht (so auch Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand: 100. Erg.lieferg. Januar 2014, § 27a Rn. 21, § 34a Rn. 64 f.; VG Hamburg, Urt. v. 18.7.2013, 10 A 581/13, Rn. 18; VG Düsseldorf, Urt. v. 19.3.2013, 6 K 2643/12.A, Rn. 15 f.; Urt. v. 15.1.2010, 11 K 8136/09.A, S. 4; VG Giessen, Urt. v. 24.1.2013, 6 K 1329/12.GI.A, Rn. 16 f.; VG Stuttgart, Urt. v. 20.9.2012, A 11 K 2519/12, Rn. 15; VG Hamburg, Urt. v. 15.3.2012, 10 A 227/11, Rn. 16; VG Trier, Urt. v. 18.5.2011, 5 K 198/11.TR, Rn. 16; VG Karlsruhe, Urt. v. 3.3.2010, A 4 K 4052/08, S. 4; a. A. VGH Mannheim, Urt. v. 19.6.2013, A 2 S 1355/11, Rn. 30 – jeweils zitiert nach juris). Zwar ist bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde im Falle eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart mit der Konsequenz, dass das Gericht die Sache spruchreif zu machen hat und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage beschränken darf, die im Ergebnis einer Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gleichkäme (BVerwG, Urt. v. 7.3.1995, 9 C 264/94, Rn. 15 – zitiert nach juris). Dieser auch im Asylverfahren geltende Grundsatz kann jedoch auf behördliche Entscheidungen, die – wie hier – auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangen sind, keine Anwendung finden. Denn im Falle einer fehlerhaften Ablehnung des Asylantrags als unzulässig mangels Zuständigkeit ist der Antrag in der Sache von der zuständigen Behörde noch gar nicht geprüft worden. Wäre nunmehr das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen und durchzuentscheiden, ginge dem Kläger eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenderen Verfahrensgarantien ausgestattet ist. Das gilt sowohl für die Verpflichtung der Behörde zur persönlichen Anhörung (§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG) als auch zur umfassenden Sachaufklärung sowie der Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ohne die einmonatige Präklusionsfrist, wie sie für das Gerichtsverfahren in § 74 Abs. 2 AsylVfG in Verbindung mit § 87b Abs. 3 VwGO vorgesehen ist (vgl. zum vergleichbaren Fall der Verfahrenseinstellung nach § 33 AsylVfG: BVerwG, a. a. O., Rn. 16). Im Übrigen führte ein Durchentscheiden des Gerichts im Ergebnis dazu, dass das Gericht nicht eine Entscheidung der Behörde kontrollieren würde, sondern anstelle der Behörde selbst entschiede, was im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 GG zumindest bedenklich wäre (vgl. auch zu diesem Gedanken BVerwG, a. a. O., Rn. 15 m. w. Nachw.). Im Falle der Aufhebung eines auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangenen Bescheides ist daher das Asylverfahren durch die Beklagte weiterzuführen und das Asylbegehren von ihr in der Sache zu prüfen.

20

2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 6. September 2012 ist zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. HS AsylVfG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

21

a) Zu Unrecht hat die Beklagte festgestellt, dass die Asylanträge der Kläger unzulässig seien. Die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG, auf dessen Grundlage die von der Beklagten getroffene Feststellung ergangen ist, liegen nicht vor. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften u. a. der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Für die Durchführung der vorliegenden Asylverfahren ist indes nicht wie von der Beklagten angenommen der ungarische Staat, sondern nach Maßgabe der Vorschriften der Dublin-II-VO die Beklagte selbst zuständig.

22

Die Dublin-II-VO findet auf den vorliegenden Fall noch vollumfänglich Anwendung, obwohl sie inzwischen durch Art. 48 UAbs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-VO), aufgehoben worden ist. Die Dublin-III-VO ist indes (nur) auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden, und gilt – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – ab diesem Zeitpunkt (lediglich) für alle Gesuche um Aufnahme und Wiederaufnahme von Antragstellern, Art. 49 UAbs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO. Soweit Art. 49 UAbs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO normiert, dass für einen Antrag auf internationalen Schutz, der vor diesem Datum eingereicht wird, die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien der Dublin-II-VO erfolgt, kommt dieser Bestimmung bloß klarstellende Funktion zu (Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rn. 286). Die Kläger haben ihren ersten Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 3. Oktober 2011 in Ungarn gestellt. Das Übernahmeersuchen an den ungarischen Staat datiert vom 15. August 2012 und ist mithin ebenfalls vor dem maßgeblichen Stichtag ergangen.

23

Die Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger folgt aus dem Umstand, dass vorliegend das der Beklagten in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO eingeräumte Ermessen ausnahmsweise auf Null reduziert ist. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO kann jeder Mittgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Das Selbsteintrittsrecht ist an keine tatbestandlichen Voraussetzungen geknüpft und in das Ermessen des Mitgliedstaats gestellt (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, C-411/10 u. a., NVwZ 2012, 417, 418; Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rn. 174). Macht der Mitgliedstaat von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, wird er hierdurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-II-VO, vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO. Im Falle der Kläger gebietet es die Schutzwirkung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, dass die Beklagte ihr Selbsteintrittsrecht ausübt und die Asylverfahren der Kläger in eigener Zuständigkeit durchführt. Im Einzelnen gilt Folgendes:

24

Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet, verpflichtet aber den Staat, bei Entscheidungen, die zur Beendigung des Aufenthalts eines Ausländers führen, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen. Dies gilt auch im Rahmen des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nach der Dublin-II-VO. In diesem Zusammenhang führt die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie jedenfalls dann zu einer Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung ihres sog. Selbsteintrittsrechts, wenn besondere Umstände demjenigen Mitglied der familiären Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Nachfolgen des Familienmitglieds in den Mitgliedstaat, in den der Ausländer überstellt werden soll, unzumutbar machen. Handelt es sich bei diesem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (vgl. zu diesen Rechtsgedanken BVerfG, Beschl. v. 5.6.2013, 2 BvR 586/13, NVwZ 2013, 1207, 1208 m. w. Nachw.; BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15/12, Rn. 15 – zitiert nach juris).

25

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) die elterliche Sorge über den minderjährigen Zeugen ... ausüben und sie eine schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft bilden, die unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls nicht getrennt werden darf.

26

Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) haben im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung erklärt, seit Aufhebung der Vormundschaft mit Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 14. Dezember 2012, also seit nunmehr über 16 Monaten, wieder selbst die elterliche Sorge über ihren Sohn auszuüben. Hierzu haben sie angegeben, dass sie sich schon zu der Zeit, als sie noch im Asylbewerberheim lebten, im Rahmen des Möglichen um den Zeugen ... gekümmert hätten. Seit sie ihre Wohnung in B... hätten beziehen dürfen, also seit nunmehr einem guten Jahr, lebe ihr Sohn bei ihnen. Dies bedeute, dass er seine Zeit mit ihnen verbringe, bei ihnen esse und schlafe. Außerdem gestalteten sie auch ihre freie Zeit gemeinsam, guckten zusammen fern, grillten, gingen schwimmen oder in den Park, manchmal auch, um dort Fußball zu spielen. Die Geschwister hätten ein gutes Verhältnis zueinander. Der Zeuge ... gehe mit seinem Bruder zum Taekwondo und ins Fitness-Studio, im Übrigen helfe er seinen Geschwistern bei den Schularbeiten. Über den Ausbildungsstand des Zeugen ... zeigten sich der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) wohlinformiert. Auf seine weitere Zukunft wollten sie erzieherisch Einfluss nehmen, nachdem sie dies aufgrund der räumlichen Trennung jahrelang anderen Personen hätten überlassen müssen.

27

Die Auskünfte des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) waren auch glaubhaft. Ihre Angaben waren bei gleichbleibendem Informationsfluss detailreich und in sich widerspruchsfrei. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) vermochten dem Gericht anschaulich vom gemeinsamen Familienleben und ihren erzieherischen Vorstellungen zu berichten. Dabei wirkten sie auch – wie es bei der vorliegenden Thematik zu erwarten war – in angemessener Weise emotional berührt. Insbesondere die Klägerin zu 2) hat nachvollziehbar geschildert, dass sie die jahrelange Trennung von ihrem ältesten Sohn als sehr hart empfunden habe und dass die ganze Familie sehr froh sei, nunmehr wieder vereint mit ihm zusammenleben zu können. Die Schilderung der Klägerin zu 2) war in diesem Zusammenhang insbesondere deshalb besonders glaubhaft, weil sie auch die Schwierigkeiten nicht unerwähnt gelassen hat, die das familiäre Zusammenleben nach etwa elf Jahren Trennung zwangsläufig mit sich bringen muss, wenn man bedenkt, dass der Zeuge ... seine Eltern, den Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2), zuletzt als Kleinkind gesehen hatte und in der Zwischenzeit von seiner Großmutter und seiner Tante aufgezogen worden war.

28

Die Angaben des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) hat der Zeuge ... bestätigt und nachvollziehbar ergänzt. Auch der Zeuge hat erklärt, seit nunmehr einem guten Jahr bei seinen Eltern und Geschwistern in der gemeinsamen Wohnung in B... zu wohnen. Weiter hat der Zeuge bestätigt, dass seine Familie regelmäßig etwas zusammen unternehme, z. B. gemeinsame Ausflüge mache, schwimmen gehe, er mit seinem Bruder Sport treibe und insbesondere einer seiner Schwestern bei den Hausaufgaben helfe. Außerdem hat der Zeuge bekundet, nach Abschluss der Schule die Entscheidung über seine weitere Ausbildung nicht allein gefällt, sondern dies mit seinen Eltern besprochen zu haben. Dazu befragt, wie er sich seine weitere persönliche Zukunft vorstelle, hat der Zeuge angegeben, dass er wie zuletzt weiter mit seiner Familie zusammenleben wolle.

29

Auch die Angaben des Zeugen ... waren glaubhaft. Der Zeuge hat die Fragen des Gerichts frei von Brüchen im Aussageverhalten nachvollziehbar beantwortet. Dabei waren seine Angaben detailreich, in sich widerspruchsfrei und plausibel. Inhaltlich stimmten sie weitgehend mit den Angaben des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) überein. Das Gericht schenkt den Aussagen des Zeugen vor allen Dingen auch deshalb Glauben, weil er nicht nur einseitig die positiven Seiten des familiären Zusammenlebens geschildert, sondern auch die Schwierigkeiten nicht verschwiegen hat, die es zu Anfang gegeben habe, weil er seine Eltern und Geschwister praktisch gar nicht mehr gekannt habe.

30

Angesichts der engen familiären Bindung, die zwischen den Klägern und dem Zeugen ... seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet (wieder) besteht, ist es insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls jedenfalls bis zum Eintritt des Zeugen ... in die Volljährigkeit – was noch über neun Monate dauern wird – nicht zumutbar, dass die Familieneinheit getrennt wird. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem Inhalt der gesamten mündlichen Verhandlung steht fest, dass zwischen dem Zeugen und den Klägern eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung der Zeuge zu seinem Wohl angewiesen ist. Angesichts des Umstands, dass die Familie nach einer fluchtbedingt jahrelang andauernden Trennung nunmehr endlich wieder zueinander gefunden hat, würde sich nach dem Dafürhalten des Gerichts derzeit schon eine vorübergehende Trennung negativ auf die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl des Zeugen ... auswirken. Dass die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe u. U. auch von der im Bundesgebiet lebenden Großmutter oder der Tante des Zeugen erbracht werden könnte, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 5.6.2013, 2 BvR 586/13, a. a. O.).

31

Zu einer Trennung der Familieneinheit käme es indes, wenn die Kläger auf Grundlage des angefochtenen Bescheides nach Ungarn abgeschoben würden. Die Wahrung der Familieneinheit im Zielland der Abschiebung – hier Ungarn – wäre im vorliegenden Falle – anders als möglicherweise im Falle einer Abschiebung in das gemeinsame Herkunftsland – nicht möglich. Denn dem Zeugen ... ist es nicht zumutbar, seinen Eltern und Geschwistern zu diesem Zwecke nach Ungarn nachzufolgen. Der 17-jährige Zeuge lebt seit 13 Jahren im Bundesgebiet, ist also maßgeblich hier aufgewachsen und sozialisiert, ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, hat die Schule mit dem Hauptschulabschluss abgeschlossen und wird im Sommer eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann beginnen. Mit dem ungarischen Staat verbindet den Zeugen rein gar nichts. Zudem ist äußerst fraglich, ob der Zeuge überhaupt berechtigt wäre, sich für eine längere Dauer in Ungarn aufzuhalten. Seine Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG dürfte ihn nur zu einem 90-tägigen Aufenthalt je Zeitraum von 180 Tagen in Ungarn berechtigen, vgl. Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ). Für einen längeren Aufenthalt dürfte der Zeuge ein nationales ungarisches Visum benötigen (vgl. Art. 18 SDÜ), von dem völlig unklar ist, ob es ihm – selbst wenn er es beantragen würde – von den ungarischen Behörden erteilt würde.

32

b) Da für die Durchführung der Asylverfahren die Beklagte zuständig ist, entbehrt die Abschiebungsanordnung nach Ungarn jeder Grundlage und erweist sich damit ebenfalls als rechtswidrig.

33

c) Der rechtswidrige Bescheid verletzt die Kläger in ihren Rechten aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Zur weiteren Begründung wird auf obige Ausführungen Bezug genommen.

IV.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.

35

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

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(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24.10.2011 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten über die Unzulässigkeit des von ihm gestellten Asylantrags.
Der am 03.08.1987 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger. Er reiste mit einem ihm am 10.12.2010 ausgestellten ungarischen Visum am 24.01.2011 nach Ungarn ein. Ab dem 07.02.2011 studierte der Kläger an der Universität Budapest. Am 20.06.2011 reiste der Kläger in das Bundesgebiet ein und beantragte am 06.07.2011 die Gewährung von Asyl.
Auf ein entsprechendes Übernahmeersuchen der Beklagten stimmte Ungarn mit Schreiben vom 20.10.2011 einer Überstellung des Klägers nach Ungarn zu.
Mit Bescheid vom 24.10.2011 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag des Klägers sei unzulässig, da für das Asylverfahren Ungarn aufgrund der dem Kläger erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 9 Abs. 1 Dublin II-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Vom Selbsteintrittsrecht werde kein Gebrauch gemacht.
Dieser Bescheid wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 24.07.2012 zugestellt.
Am 01.08.2012 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, in Ungarn sei die ordnungsgemäße Durchführung eines Asylverfahrens nicht gewährleistet. Das Asylsystem in Ungarn sei defizitär. Die dortigen Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen genügten dem europäischen Mindeststandard nicht. Asylsuchende und Flüchtlinge würden in Ungarn rechtswidrig bis zu 12 Monate inhaftiert. Effektive Rechtsmittel gegen die Verhängung von Abschiebehaft bestünden nicht. Die in den Haftanstalten Untergebrachten seien regelmäßigen Misshandlungen seitens der ungarischen Polizeikräfte ausgesetzt. Diese Verhältnisse stellten eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 4 GRCh dar.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24.10.2011 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
10 
die Klage abzuweisen.
11 
Sie verweist auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
12 
Mit Beschluss vom 02.04.2012 - A 11 K 139/12 - hat das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung angeordnet, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Ungarn vorläufig auszusetzen.
13 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
14 
Mit dem Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
15 
Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft. Der Kläger begehrt die Aufhebung des ihn belastenden Bescheids vom 24.10.2011, in welchem die Beklagte seinen Asylantrag gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt hat. Für die Erhebung einer vorrangigen Verpflichtungsklage - gerichtet auf das eigentliche Rechtsschutzziel des Klägers, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen - besteht kein Raum. Zwar ist bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde im Falle eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart mit der Konsequenz, dass das Gericht die Sache spruchreif zu machen hat und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage beschränken darf, die im Ergebnis einer Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gleichkäme (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.02.1998 - 9 C 28/97 - BVerwGE 106, 171). Dieser auch im Asylverfahren geltende Grundsatz kann jedoch auf behördliche Entscheidungen, die - wie vorliegend - auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangen sind, keine Anwendung finden. Denn im Falle einer fehlerhaften Ablehnung des Asylantrags als unzulässig mangels Zuständigkeit ist der Antrag in der Sache von der zuständigen Behörde noch gar nicht geprüft worden. Wäre nunmehr das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen und durchzuentscheiden, ginge dem Kläger eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenderen Verfahrensgarantien ausgestattet ist. Das gilt sowohl für die Verpflichtung der Behörde zur persönlichen Anhörung (§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG) als auch zur umfassenden Sachaufklärung sowie der Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ohne die einmonatige Präklusionsfrist, wie sie für das Gerichtsverfahren in § 74 Abs. 2 AsylVfG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO vorgesehen ist. Außerdem führte ein Durchentscheiden des Gerichts im Ergebnis dazu, dass das Gericht nicht eine Entscheidung der Behörde kontrollieren würde, sondern anstelle der Behörde selbst entschiede, was im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 GG bedenklich wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.03.1995 - 9 C 264/94 - DVBl 1995, 857). Im Übrigen würde eine Verpflichtung des Gerichts zur Spruchreifmachung der Sache und zum Durchentscheiden die vom Gesetzgeber im Bemühen um Verfahrensbeschleunigung dem Bundesamt zugewiesenen Gestaltungsmöglichkeiten unterlaufen, wenn eine behördliche Sachentscheidung über das Asylbegehren noch nicht ergangen ist. Käme das Verwaltungsgericht zu der Auffassung, dass dem Asylantragsteller weder ein Anspruch auf Asylgewährung und Flüchtlingszuerkennung noch ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots zusteht, müsste die Behörde nachträglich eine Abschiebungsandrohung erlassen, was dem Beschleunigungsgedanken des Asylverfahrensgesetzes widerspricht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.03.1995 - 9 C 264/94 - a.a.O.). Demnach ist in Fällen des § 27a AsylVfG die Anfechtungsklage die statthafte Klageart (ebenso VG Wiesbaden, Urt. v. 17.06.2011 - 7 K 327/11.WI.A - juris -; VG Neustadt, Urt. v. 16.06.2009 - 5 K 1166/08.NW - juris -; VG Hamburg, Urt. v. 15.03.2012 - 10 A 227/11 - juris -; VG Trier, Urt. v. 30.05.2012 - 5 K 967/11.TR - juris -; VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 03.03.2010 - A 4 K 4052/08 - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 15.01.2010 - 11 K 8136/09.A - juris -; a. A. OVG Münster, Urt. v. 10.05.2010 - 3 A 133/10.A - juris -; VGH Mannheim, Urt. v. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 - juris -). Im Falle der Aufhebung eines auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangenen Bescheids ist daher das Asylverfahren durch die Beklagte weiterzuführen und das Asylbegehren des Klägers von ihr in der Sache zu prüfen.
16 
Die auch sonst zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
17 
Zu Unrecht hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
18 
Der Kläger ist am 24.01.2011 mit dem Flugzeug aus dem Iran nach Ungarn gereist und hat sich dort bis Juni 2011 zu Studienzwecken aufgehalten. Ein Asylantrag wurde in Ungarn bislang nicht gestellt. Am 20.06.2011 reiste der Kläger in das Bundesgebiet ein und beantragte hier am 06.07.2011 die Gewährung von Asyl. Da der Kläger mit einem gültigen ungarischen Visum eingereist ist, ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrags an sich zuständig (Art. 9 Abs. 2 Dublin II - VO). Die ungarischen Behörden haben auch mit Schreiben vom 20.10.2011 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags erklärt. Der Kläger wäre im Falle einer Überstellung nach Ungarn indes einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt.
19 
Es obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin II-Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - NVwZ 2012, 417). Wird aufgezeigt, dass systemische Störungen dazu führen, dass Asylanträge nicht einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden (Art. 8 Abs. 2 RL 2005/85/EG) sowie die nach Art. 10 RL 2005/85/EG gewährleisteten Verfahrensgarantien für Antragsteller und das Recht auf eine wirksame Überprüfung ablehnender Asylentscheidungen (Art. 23 RL 2005/85/EG) verletzt werden, handelt der Mitgliedstaat, der den Asylsuchenden gleichwohl an diesen Mitgliedstaat überstellt, Art. 4 GRCh zuwider. Sind den Behörden schwerwiegende Mängel des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund zuverlässiger Berichte internationaler und nichtstaatlicher Organisationen bekannt, darf dem Asylsuchenden nicht die vollständige Beweislast dafür auferlegt werden, dass das dortige Asylsystem nicht wirksam ist; unter diesen Umständen darf sich der ersuchende Mitgliedstaat nicht auf Zusicherungen des ersuchten Mitgliedstaates, dass dem Asylsuchenden dort keine konventionswidrige Behandlung drohen werde, verlassen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413). Nach diesen Grundsätzen umfasst die Darlegungslast des Asylsuchenden den Hinweis auf die zuverlässigen Quellen. Macht der Asylsuchende unter Hinweis auf Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen systemische Mängel im Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates geltend, ist der um Schutz gebetene Mitgliedstaat verpflichtet nachzuweisen, dass das dortige Asylverfahren wirksam und in der Lage ist, den Asylantrag nach Maßgabe unionsrechtlicher Vorgaben zu behandeln. Kann der um Prüfung des Asylantrags gebetene Mitgliedstaat dies nicht belegen und überstellt er gleichwohl den Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat, verletzt er Art. 4 GRCh.
20 
Nach diesen Grundsätzen ist das Gericht der Überzeugung, dass in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber bestehen.
21 
Der Leiter des österreichischen Büros des UNHCR hat in einer Stellungnahme vom 03.02.2012 an den österreichischen Asylgerichtshof ausgeführt, dass Asylsuchende, die - wie der Kläger - aufgrund der Dublin II-VO nach Ungarn überstellt werden, unmittelbar nach ihrer Überstellung regelmäßig eine Abschiebungsverfügung erhalten und darauf basierend in der Regel inhaftiert werden, so dass viel dafür spricht, dass Ungarn Art. 18 der Richtlinie 2005/85/EG nicht beachtet, wonach die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist. Eine derartige Praxis wird auch durch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 09.11.2011 an das VG Regensburg bestätigt. Darin ist ausgeführt, dass der dortige Kläger nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn im Dublin II-Verfahren zunächst in Györ und anschließend in Nyirbator in Gewahrsam genommen worden sei und sich Asylbewerber in der zuletzt genannten Gewahrsamseinrichtung täglich nur eine Stunde frei bewegen könnten.
22 
Derartige Praktiken werden außerdem in dem vom Kläger vorgelegten Bericht „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012“ von „Pro Asyl“ vom 15.03.2012 bestätigt. Nach diesem Bericht wird die Mehrheit der Asylsuchenden in Ungarn und der auf der Grundlage der Dublin II-Verordnung Überstellten in besonderen Haftzentren inhaftiert. De facto gebe es keine Möglichkeit, gegen die Inhaftierung ein effektives Rechtsmittel einzulegen. Nach dokumentierten Aussagen von inhaftierten Schutzsuchenden würden den Asylsuchenden in den Haftanstalten systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht. Außerdem sei bei Befragungen der Inhaftierten durch den UNHCR festgestellt worden, dass Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen an der Tagesordnung seien.
23 
Auch der UNHCR spricht in seinem neuesten Bericht zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn vom 24.04.2012 unter Darlegung von Einzelheiten von besorgniserregenden Entwicklungen und sieht Verbesserungen als dringend erforderlich an. Auch wenn er in diesem Bericht abschließend die Schritte Ungarns zur Verbesserung der Situation begrüßt, rechtfertigt dies angesichts seiner vorherigen Ausführungen gleichwohl nicht die Schlussfolgerung, dass die aufgezeigten Missstände beseitigt und in Zukunft nicht mehr zu befürchten sind.
24 
Bei dieser dargelegten Sachlage besteht auch im Falle des Klägers die tatsächliche Gefahr, im Falle einer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Denn gegen den Kläger wird nach einer Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ergehen und er wird infolge dessen in Haft genommen werden. In der Haft drohen ihm aber der Einsatz von Beruhigungsmitteln sowie Misshandlungen. Diese Maßnahmen stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.
25 
Da der Kläger mangels Zuständigkeit Ungarns aus rechtlichen Gründen nicht nach dorthin überstellt werden kann, erweist sich auch die auf der Grundlage von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG angeordnete Abschiebung als rechtswidrig.
26 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Gründe

 
14 
Mit dem Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
15 
Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft. Der Kläger begehrt die Aufhebung des ihn belastenden Bescheids vom 24.10.2011, in welchem die Beklagte seinen Asylantrag gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt hat. Für die Erhebung einer vorrangigen Verpflichtungsklage - gerichtet auf das eigentliche Rechtsschutzziel des Klägers, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen - besteht kein Raum. Zwar ist bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde im Falle eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart mit der Konsequenz, dass das Gericht die Sache spruchreif zu machen hat und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage beschränken darf, die im Ergebnis einer Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gleichkäme (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.02.1998 - 9 C 28/97 - BVerwGE 106, 171). Dieser auch im Asylverfahren geltende Grundsatz kann jedoch auf behördliche Entscheidungen, die - wie vorliegend - auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangen sind, keine Anwendung finden. Denn im Falle einer fehlerhaften Ablehnung des Asylantrags als unzulässig mangels Zuständigkeit ist der Antrag in der Sache von der zuständigen Behörde noch gar nicht geprüft worden. Wäre nunmehr das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen und durchzuentscheiden, ginge dem Kläger eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenderen Verfahrensgarantien ausgestattet ist. Das gilt sowohl für die Verpflichtung der Behörde zur persönlichen Anhörung (§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG) als auch zur umfassenden Sachaufklärung sowie der Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ohne die einmonatige Präklusionsfrist, wie sie für das Gerichtsverfahren in § 74 Abs. 2 AsylVfG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO vorgesehen ist. Außerdem führte ein Durchentscheiden des Gerichts im Ergebnis dazu, dass das Gericht nicht eine Entscheidung der Behörde kontrollieren würde, sondern anstelle der Behörde selbst entschiede, was im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 GG bedenklich wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.03.1995 - 9 C 264/94 - DVBl 1995, 857). Im Übrigen würde eine Verpflichtung des Gerichts zur Spruchreifmachung der Sache und zum Durchentscheiden die vom Gesetzgeber im Bemühen um Verfahrensbeschleunigung dem Bundesamt zugewiesenen Gestaltungsmöglichkeiten unterlaufen, wenn eine behördliche Sachentscheidung über das Asylbegehren noch nicht ergangen ist. Käme das Verwaltungsgericht zu der Auffassung, dass dem Asylantragsteller weder ein Anspruch auf Asylgewährung und Flüchtlingszuerkennung noch ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots zusteht, müsste die Behörde nachträglich eine Abschiebungsandrohung erlassen, was dem Beschleunigungsgedanken des Asylverfahrensgesetzes widerspricht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.03.1995 - 9 C 264/94 - a.a.O.). Demnach ist in Fällen des § 27a AsylVfG die Anfechtungsklage die statthafte Klageart (ebenso VG Wiesbaden, Urt. v. 17.06.2011 - 7 K 327/11.WI.A - juris -; VG Neustadt, Urt. v. 16.06.2009 - 5 K 1166/08.NW - juris -; VG Hamburg, Urt. v. 15.03.2012 - 10 A 227/11 - juris -; VG Trier, Urt. v. 30.05.2012 - 5 K 967/11.TR - juris -; VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 03.03.2010 - A 4 K 4052/08 - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 15.01.2010 - 11 K 8136/09.A - juris -; a. A. OVG Münster, Urt. v. 10.05.2010 - 3 A 133/10.A - juris -; VGH Mannheim, Urt. v. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 - juris -). Im Falle der Aufhebung eines auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangenen Bescheids ist daher das Asylverfahren durch die Beklagte weiterzuführen und das Asylbegehren des Klägers von ihr in der Sache zu prüfen.
16 
Die auch sonst zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
17 
Zu Unrecht hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
18 
Der Kläger ist am 24.01.2011 mit dem Flugzeug aus dem Iran nach Ungarn gereist und hat sich dort bis Juni 2011 zu Studienzwecken aufgehalten. Ein Asylantrag wurde in Ungarn bislang nicht gestellt. Am 20.06.2011 reiste der Kläger in das Bundesgebiet ein und beantragte hier am 06.07.2011 die Gewährung von Asyl. Da der Kläger mit einem gültigen ungarischen Visum eingereist ist, ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrags an sich zuständig (Art. 9 Abs. 2 Dublin II - VO). Die ungarischen Behörden haben auch mit Schreiben vom 20.10.2011 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags erklärt. Der Kläger wäre im Falle einer Überstellung nach Ungarn indes einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt.
19 
Es obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin II-Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - NVwZ 2012, 417). Wird aufgezeigt, dass systemische Störungen dazu führen, dass Asylanträge nicht einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden (Art. 8 Abs. 2 RL 2005/85/EG) sowie die nach Art. 10 RL 2005/85/EG gewährleisteten Verfahrensgarantien für Antragsteller und das Recht auf eine wirksame Überprüfung ablehnender Asylentscheidungen (Art. 23 RL 2005/85/EG) verletzt werden, handelt der Mitgliedstaat, der den Asylsuchenden gleichwohl an diesen Mitgliedstaat überstellt, Art. 4 GRCh zuwider. Sind den Behörden schwerwiegende Mängel des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund zuverlässiger Berichte internationaler und nichtstaatlicher Organisationen bekannt, darf dem Asylsuchenden nicht die vollständige Beweislast dafür auferlegt werden, dass das dortige Asylsystem nicht wirksam ist; unter diesen Umständen darf sich der ersuchende Mitgliedstaat nicht auf Zusicherungen des ersuchten Mitgliedstaates, dass dem Asylsuchenden dort keine konventionswidrige Behandlung drohen werde, verlassen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413). Nach diesen Grundsätzen umfasst die Darlegungslast des Asylsuchenden den Hinweis auf die zuverlässigen Quellen. Macht der Asylsuchende unter Hinweis auf Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen systemische Mängel im Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates geltend, ist der um Schutz gebetene Mitgliedstaat verpflichtet nachzuweisen, dass das dortige Asylverfahren wirksam und in der Lage ist, den Asylantrag nach Maßgabe unionsrechtlicher Vorgaben zu behandeln. Kann der um Prüfung des Asylantrags gebetene Mitgliedstaat dies nicht belegen und überstellt er gleichwohl den Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat, verletzt er Art. 4 GRCh.
20 
Nach diesen Grundsätzen ist das Gericht der Überzeugung, dass in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber bestehen.
21 
Der Leiter des österreichischen Büros des UNHCR hat in einer Stellungnahme vom 03.02.2012 an den österreichischen Asylgerichtshof ausgeführt, dass Asylsuchende, die - wie der Kläger - aufgrund der Dublin II-VO nach Ungarn überstellt werden, unmittelbar nach ihrer Überstellung regelmäßig eine Abschiebungsverfügung erhalten und darauf basierend in der Regel inhaftiert werden, so dass viel dafür spricht, dass Ungarn Art. 18 der Richtlinie 2005/85/EG nicht beachtet, wonach die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist. Eine derartige Praxis wird auch durch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 09.11.2011 an das VG Regensburg bestätigt. Darin ist ausgeführt, dass der dortige Kläger nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn im Dublin II-Verfahren zunächst in Györ und anschließend in Nyirbator in Gewahrsam genommen worden sei und sich Asylbewerber in der zuletzt genannten Gewahrsamseinrichtung täglich nur eine Stunde frei bewegen könnten.
22 
Derartige Praktiken werden außerdem in dem vom Kläger vorgelegten Bericht „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012“ von „Pro Asyl“ vom 15.03.2012 bestätigt. Nach diesem Bericht wird die Mehrheit der Asylsuchenden in Ungarn und der auf der Grundlage der Dublin II-Verordnung Überstellten in besonderen Haftzentren inhaftiert. De facto gebe es keine Möglichkeit, gegen die Inhaftierung ein effektives Rechtsmittel einzulegen. Nach dokumentierten Aussagen von inhaftierten Schutzsuchenden würden den Asylsuchenden in den Haftanstalten systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht. Außerdem sei bei Befragungen der Inhaftierten durch den UNHCR festgestellt worden, dass Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen an der Tagesordnung seien.
23 
Auch der UNHCR spricht in seinem neuesten Bericht zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn vom 24.04.2012 unter Darlegung von Einzelheiten von besorgniserregenden Entwicklungen und sieht Verbesserungen als dringend erforderlich an. Auch wenn er in diesem Bericht abschließend die Schritte Ungarns zur Verbesserung der Situation begrüßt, rechtfertigt dies angesichts seiner vorherigen Ausführungen gleichwohl nicht die Schlussfolgerung, dass die aufgezeigten Missstände beseitigt und in Zukunft nicht mehr zu befürchten sind.
24 
Bei dieser dargelegten Sachlage besteht auch im Falle des Klägers die tatsächliche Gefahr, im Falle einer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Denn gegen den Kläger wird nach einer Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ergehen und er wird infolge dessen in Haft genommen werden. In der Haft drohen ihm aber der Einsatz von Beruhigungsmitteln sowie Misshandlungen. Diese Maßnahmen stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.
25 
Da der Kläger mangels Zuständigkeit Ungarns aus rechtlichen Gründen nicht nach dorthin überstellt werden kann, erweist sich auch die auf der Grundlage von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG angeordnete Abschiebung als rechtswidrig.
26 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.

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Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Januar 2011 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Klägerin und die Beklagte haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen.

3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckungsfähigen Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Die am 3. Dezember 2010 in Deutschland geborene Klägerin, die nach Angaben ihrer Eltern somalische Staatsangehörige ist, wendet sich gegen eine Abschiebungsanordnung der Beklagten und begehrt außerdem die sachliche Prüfung eines von ihr in Deutschland gestellten Asylantrags.

2

Am 30. August 2010 stellten die sich zu dieser Zeit in der Aufnahmeeinrichtung Trier aufhaltenden Eltern der Klägerin bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Trier (Bundesamt) Asylanträge, die die Beklagte mit Bescheiden vom 11. November 2010 dahingehend beschied, dass die Asylanträge unzulässig seien, weil gemäß Art. 20 Abs. 1c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Italien seit dem 6. Oktober 2010 für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für eine Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 lägen nicht vor. Die sofort vollziehbare Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.

3

Gegen diese Bescheide haben die Eltern der Klägerin die unter den Aktenzeichen 5 K 1461/10.TR und 1462/10.TR geführten Klagen bei dem erkennenden Gericht erhoben, die mit Urteilen vom 18. Mai 2011 abgewiesen hat. In den Entscheidungsgründen dieser Urteile ist ausgeführt, dass die Klagen unzulässig seien, weil sie verfristet erhoben worden seien.

4

Für die Klägerin wurde mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 15. Dezember 2010, der am 16. Dezember 2010 der Beklagten zuging, ebenfalls ein Asylantrag gestellt. Zur Begründung dieses Asylantrags wird ausgeführt, dass der Asylantrag aus humanitären Gründen in Deutschland beschieden werden müsse, weil in Italien die Existenz der Klägerin nicht gesichert sei. Zwar sei ihren Eltern nach ihrer Ankunft in Italien dort ein Aufenthaltsstatus gewährt worden. Da ihre Eltern aber keine Unterkunft und keine Sozialleistungen erhalten hätten, seien sie nach Deutschland gekommen, um hier Asyl zu erhalten. Von daher könne auch sie selbst nicht auf ein Asylverfahren in Italien verwiesen werden. In Somalia drohe ihr - gegen den Willen ihrer Eltern - die Beschneidung durch die Großmutter mütterlicherseits.

5

Mit am 7. Februar 2011 zugestelltem Bescheid vom 10. Januar 2011 stellte das Bundesamt sodann fest, dass der bereits gemäß § 14a Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - kraft Gesetzes als gestellt geltende Asylantrag der Klägerin unzulässig sei, weil er untrennbar mit den Asylanträgen der Eltern verbunden sei und daher auch insoweit Italien für eine Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung der Klägerin innerhalb von sechs Monaten nach Zustimmung durchzuführen.

6

Am 15. Februar 2011 hat die Klägerin alsdann Klage erhoben, zu deren Begründung sie unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens vorträgt, dass in Italien nicht sichergestellt sei, dass die Familie zusammenbleiben und eine hinreichende Existenzgrundlage erhalten könne. Ihnen drohe Armut und Obdachlosigkeit, so dass das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen sei.

7

Die Klägerin beantragt,

8

den Bescheid der Beklagten vom 10. Januar 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Asylantrag der Klägerin nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VO/EG) Nr. 343/2003 in Deutschland zu prüfen.

9

Die Beklagte beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie ist der Auffassung, dass Italien für die Bearbeitung des gestellten Asylantrags zuständig und dort eine hinreichende Versorgung der Klägerin sichergestellt sei.

12

Mit Beschluss vom 25. Februar 2011 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, die die Klageverfahren der Eltern der Klägerin betreffenden Prozessakten 5 K 1461/10.TR und 1462/10.TR des erkennenden Gerichts sowie die sämtliche genannten Verfahren betreffenden Verwaltungsvorgänge, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

14

Die Klage ist insoweit, als sie auf Aufhebung des Bescheides vom 10. Januar 2011 gerichtet ist, als Anfechtungsklage zulässig und begründet, hinsichtlich des weitergehenden Verpflichtungsbegehrens ist die Klage unzulässig.

15

Rechtgrundlage für die Entscheidung der Beklagten über die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags ist in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich § 27a AsylVfG in Verbindung mit § 31 Abs. 1 AsylVfG, wobei eine mit diesem Ausspruch verbundene Abschiebungsanordnung regelmäßig ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 AsylVfG findet. Nach der zuerst genannten Bestimmungen ist ein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

16

Dabei ist ein isoliertes Aufhebungsbegehren gegen die Unzulässigkeitsentscheidung statthaft, da die Entscheidungen nach §§ 27a und 34a Abs. 1 AsylVfG Verwaltungsakte im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO darstellen, wobei bei dem Verfahrenshindernis des § 27a AsylVfG die im Fall eines Verpflichtungsbegehrens ansonsten nicht zulässige isolierte Aufhebung ausnahmsweise ausreichend ist, weil schon ihre Beseitigung grundsätzlich zur formellen und materiellen Prüfung des gestellten Antrags führt (vgl. VG Karlsruhe Urteil vom 3. März 2010 - A 4 K 4052/08 - unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 -, beide veröffentlicht bei juris).

17

Vorliegend hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 10. Januar 2011 zwar zutreffend festgestellt, dass Italien der für die Bearbeitung des Asylverfahrens der Klägerin zuständige Staat ist, denn gemäß Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist die Situation eines in Deutschland geborenen und noch minderjährigen Kindes eines Asylbewerbers untrennbar mit der seiner Eltern verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaates, der für die Prüfung des Asylantrags der Eltern zuständig ist. Für die Prüfung von Asylanträgen der Eltern der Klägerin war zunächst gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Italien zuständig, da die Eltern dort erstmals die Grenzen eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft illegal überschritten haben. Auch hat ihnen Italien in der Folgezeit - wie die Eltern in der mündlichen Verhandlung vor Gericht ausgeführt haben - Aufenthaltspapiere ausgestellt, so dass Italien gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 auch für eine Bearbeitung der von ihnen unter dem 30. August 2010 in Deutschland gestellten Asylanträge zuständig war.

18

Allerdings entspricht der Bescheid vom 10. Januar 2011 nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 und stellt sich von daher als insgesamt rechtswidrig dar. Nach der genannten Bestimmung hat die Beklagte die Entscheidung, einen Asylantrag nicht zu prüfen und den Asylbewerber an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, zu begründen und die Frist für die Durchführung der Überstellung anzugeben. Vorliegend hat die Beklagte in ihrem Bescheid zwar die Nichtprüfung des Asylverfahrens begründet, indessen keine konkrete Frist für die Überstellung der Klägerin nach Italien angegeben. Vielmehr wird lediglich ausgeführt, die Überstellung der Klägerin sei innerhalb von sechs Monaten nach Zustimmung durchzuführen. Diese Angaben sind indessen zum einen zu unbestimmt. Sie lassen nämlich nicht erkennen, auf welche Zustimmung abgestellt wird und wann sie erteilt wurde, so dass die Klägerin dem Bescheid nicht entnehmen kann, ab welchem datumsmäßig zu bezeichnenden Zeitpunkt die Sechsmonatsfrist laufen soll. Zum anderen wäre eine Frist von sechs Monaten nach Zustimmung nur dann mit der in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 normierten Untrennbarkeit der Situation der Klägerin von derjenigen ihrer Eltern zu vereinbaren, wenn auf die Zustimmung in Bezug auf eine Überstellung der Eltern abgestellt worden wäre, was indessen dem Bescheid - wie bereits ausgeführt - ebenfalls nicht zu entnehmen ist. Hinzu kommt, dass Art. 4 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ausdrücklich vorsieht, dass für Kinder in der Situation der Klägerin kein neues Zuständigkeitsverfahren eingeleitet werden muss, so dass auch von daher nicht ersichtlich ist, ab wann die Frist berechnet werden soll.

19

All dies hat zur Folge, dass sich die Unzulässigkeitsentscheidung und auch die Abschiebungsanordnung der Beklagten als insgesamt rechtswidrig darstellen, denn die Fristbestimmung ist zwingende Voraussetzung für die Unzulässigkeitsentscheidung und die sich aus ihr ergebende Abschiebungsanordnung. Da gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 die Zuständigkeit zur Bearbeitung eines Asylantrags wieder auf den Mitgliedstaat übergeht, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer nach Art. 19 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zu berechnenden Frist von sechs Monaten erfolgt ist, kann die Unzulässigkeitsentscheidung nicht von der Überstellung und damit auch der Abschiebungsanordnung getrennt werden, so dass die Entscheidungen rechtlich als Einheit betrachtet werden müssen.

20

Von daher ist die Klage insoweit begründet, als die Klägerin die Aufhebung des ergangenen Bescheides erstrebt.

21

Keinen Erfolg kann die Klage indessen insoweit haben, als die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten zur sachlichen Prüfung ihres Asylantrags begehrt, denn insoweit steht ihr von vornherein kein Rechtsschutzinteresse für ihr diesbezügliches Begehren zur Seite.

22

Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob Italien auch heute noch für eine Bearbeitung des Asylverfahrens der Eltern der Klägerin - und damit auch ihres eigenen Asylantrags - zuständig ist oder ob insoweit die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wieder auf Deutschland übergegangen ist. Dies erscheint deshalb problematisch, weil zwischenzeitlich zwar die Sechsmonatsfrist des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 verstrichen ist, die Beklagte aber ihre erneute Zuständigkeit bestreitet und die Frage, ob gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 aufgrund einer von der Beklagten behaupteten "Flüchtigkeit" der Eltern eine Fristverlängerung eingetreten ist, bereits deshalb fraglich erscheint, weil eine "Flüchtigkeit" der Eltern jedenfalls bislang wohl kaum nachgewiesen ist. Hinzu kommt, dass die Frage, durch welche Verfahrenshandlungen eine Fristverlängerung bewirkt wird, in der Rechtsprechung divergierend beantwortet wird (vgl. zu letzterem: VG Berlin, Beschluss vom 13. Januar 2011 - 33 L 530.10 A - mit weiteren Nachweisen, juris). Die Problematik muss indessen im vorliegenden Verfahren nicht beantwortet werden, denn aufgrund der in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 normierten Untrennbarkeit der Situation der Klägerin von der ihrer Eltern kommt bei ihr von vornherein kein eigenständiger Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Betracht. Vielmehr kann sie nur dann eine sachliche Prüfung eines Asylantrags in Deutschland verlangen, wenn ihre Eltern ebenfalls einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland haben. Dies ist indessen im vorliegenden Verfahren nicht inzident zu prüfen. Vielmehr muss sich die Klägerin insoweit darauf verweisen lassen, dass sie aufgrund der europarechtlichen Vorgaben am asylrechtlichen Schicksal ihrer Eltern teil hat, so dass für sie nur dann in Deutschland ein Asylverfahren durchzuführen ist, wenn ihre Eltern für sich einen entsprechenden Anspruch mit Erfolg geltend machen.

23

Von daher kann die Klage in Bezug auf das Verpflichtungsbegehren keinen Erfolg haben.

24

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

25

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung - ZPO -.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. September 2009 - A 6 K 3484/08 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Der Kläger, ein nach seinen Angaben am ...1985 in Sheikhan geborener irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens, reiste am 3.2.2008 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung machte er geltend, er stamme aus dem im Sheikhan gelegenen Dorf Essya (gemeint wohl Esyan). Seine Familie, zu der außer seinen Eltern sieben Brüder und sechs Schwestern gehörten, lebe noch mit Ausnahme eines Bruders im Sheikhan. Er habe den Irak im Dezember 2004 verlassen und sich zunächst einige Monate in Griechenland aufgehalten. Er sei dann nach Holland geflogen und habe dort einen Asylantrag gestellt. Die holländischen Behörden hätten den Antrag im Mai 2006 abgelehnt und ihn zurück nach Griechenland geschickt, wo er zunächst in Abschiebehaft genommen worden sei. Nach seiner Freilassung sei er in den Irak zurückgekehrt. Am 22.1.2008 habe er den Irak wieder verlassen und sei über die Türkei nach Deutschland gereist. Der Grund dafür sei, dass er als Yezide von den Leuten merkwürdig angeschaut worden sei. Er habe auch schon gehört, dass in anderen yezidischen Dörfern Leute überfallen worden seien. Er selbst sei aber weder bedroht noch in anderer Weise behelligt worden.
Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) festgestellt hatte, dass der Kläger bereits am 23.5.2006 einen Asylantrag in Griechenland gestellt hatte, ersuchte es mit Schreiben vom 10.4.2008 die griechischen Behörden um Aufnahme des Klägers. Das Ersuchen blieb trotz einer mit Schreiben vom 14.5.2008 erfolgten Erinnerung unbeantwortet.
Das Bundesamt lehnte daraufhin mit Bescheid vom 8.9.2008 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Griechenland an. Zur Begründung führte es aus, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Griechenland aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO für die Behandlung des Antrags zuständig sei.
Der Kläger hat am 9.9.2008 beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 8.9.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 7 S. 2 AufenthG festzustellen, weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen. Der Kläger hat ferner am gleichen Tag einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, auf den das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Beschluss vom 16.10.2008 durch eine einstweilige Anordnung verpflichtet hat, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen und für den Fall, dass die zuständige Ausländerbehörde von der Abschiebungsanordnung bereits in Kenntnis gesetzt worden sei, dieser mitzuteilen, dass eine Abschiebung nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten nicht durchgeführt werden dürfe.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Mit Urteil vom 29.9.2009 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts vom 8.9.2008 aufgehoben und die Beklagte zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, der Asylantrag des Klägers sei nicht mehr gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da die Beklagte inzwischen für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden sei. Zwar sei ursprünglich Griechenland für das Asylverfahren des Klägers zuständig gewesen, da der Kläger bereits am 23.5.2006 auf dem Flughafen von Athen einen Asylantrag gestellt habe. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers sei jedoch gemäß Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO von Griechenland auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergangen, da der Kläger nicht innerhalb der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist an Griechenland überstellt worden sei. Zwar habe die erkennende Kammer die Beklagte mit Beschluss vom 16.10.2008 durch eine einstweilige Anordnung verpflichtet, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen. Diese einstweilige Anordnung stelle jedoch keinen Rechtsbehelf dar, der aufschiebende Wirkung habe. Der Beschluss habe daher keinen Einfluss auf den Ablauf der für die Überstellung geltenden Frist. Der zulässig gewordene Asylantrag des Klägers sei auch begründet, da dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak eine religiös motivierte Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 Buchst. c AufenthG drohe. Die Beklagte gehe bei Yeziden, soweit sie aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes stammten, grundsätzlich von einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure aus. Nach dem Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom 26.5.2008 liege das Sheikhan-Gebiet im Grenzgebiet zwischen Zentral- und Nordirak. Es gehöre verwaltungstechnisch und rechtlich zur Provinz Niniwe/Mosul und stehe damit de jure unter zentralirakischer Verwaltung. Mithin treffe die von der Beklagten für Yeziden aus dem Zentralirak angenommene Gruppenverfolgung auch für die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden zu.
Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts richtet sich die vom Senat mit Beschluss vom 2.2.2010 zugelassene Berufung der Beklagten. Auf Antrag der Beteiligten hat der Senat mit Beschluss vom 29.6.2010 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Die Beklagte hat das Verfahren am 25.3.2011 wieder angerufen.
Die Beklagte macht geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht der Ansicht, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers gemäß Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO von Griechenland auf Deutschland übergangen sei. Die sechsmonatige Frist für den Übergang der Zuständigkeit beginne erst ab dem Zeitpunkt zu laufen, ab dem die Behörde den Bescheid auch vollziehen könne und sich dabei ausschließlich den technischen Problemen der Überstellung widmen könne. Unabhängig davon halte das Verwaltungsgericht den Asylantrag auch zu Unrecht für in der Sache begründet. Nach dem Vorbringen des Klägers sei nicht ersichtlich, dass dieser den Irak unter dem Druck individuell erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen habe. Eine gruppenspezifische Gefährdung der Yeziden im Irak lasse sich nicht feststellen.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. September 2009 - A 6 K 3484/08 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
12 
Der Kläger beantragt,
13 
die Berufung zurückzuweisen.
14 
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
15 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des Verwaltungsgerichts sowie auf die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
16 
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Hauptantrag des Klägers zu Unrecht entsprochen. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen entgegen seiner Ansicht nicht vor (unten I). Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 S. 2 AufenthG bzw. § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben, so dass die Klage auch mit den vom Kläger gestellten Hilfsanträgen keinen Erfolg haben kann (unten II).
I.
17 
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
18 
1. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die beklagte Bundesrepublik Deutschland sei für das Asylverfahren des Klägers zuständig, auch wenn der Kläger zuvor einen Asylantrag in Griechenland gestellt habe. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.
19 
a) Der Kläger hat am 23.5.2006 in Griechenland einen ersten und nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr in den Irak am 3.2.2008 einen weiteren Asylantrag in Deutschland gestellt. Wegen des zuvor in Griechenland durchgeführten Asylverfahrens hat das Bundesamt mit Schreiben vom 10.4.2008 ein Aufnahmeersuchen an Griechenland gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, (im Folgenden: Dublin II-VO) gestellt, auf das Griechenland nicht innerhalb von zwei Monaten geantwortet hat. Nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO ist in einem solchen Fall davon auszugehen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Wiederaufnahme des Asylbewerbers akzeptiert, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.
20 
Das hat auch das Verwaltungsgericht seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Es hat gleichwohl angenommen, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers gemäß Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO von Griechenland auf die Beklagte übergangen sei, da der Kläger nicht innerhalb der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist an Griechenland überstellt worden sei. Den Umstand, dass die erkennende Kammer die Beklagte mit Beschluss vom 16.10.2008 durch eine einstweilige Anordnung verpflichtet hat, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen, hat das Verwaltungsgericht dabei für unerheblich erklärt, da diese Anordnung keinen Rechtsbehelf darstelle, der aufschiebende Wirkung habe. Der Beschluss habe daher keinen Einfluss auf den Ablauf der für die Überstellung geltenden Frist. Das steht, wie die Beklagte zu Recht beanstandet, mit Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO nicht in Einklang.
21 
aa) Die Überstellung des Asylbewerbers von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, „sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch den anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat“ (Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde (Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO).
22 
Nach der im deutschen (nationalen) Recht geltenden Regelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG darf die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Das Gleiche gilt nach der Neufassung dieser Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 für die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat. Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 - (BVerfGE 94, 49) hat sich das Verwaltungsgericht trotz dieser Regelung für berechtigt gehalten, die Abschiebung des Klägers nach Griechenland auf dessen Antrag auszusetzen, da nach den vorliegenden Erkenntnisquellen zur Situation und Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland davon auszugehen sei, dass dem Kläger dort kein Asylverfahren offen stehe, das die Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß der Europäischen Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 einhalte. Ebenso wenig sei gewährleistet, dass in Griechenland die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern gemäß der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003 eingehalten würden. Die Verletzung der genannten Normen und die damit einher gehenden Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen seien als Sonderfall anzusehen, in dem § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht anzuwenden sei.
23 
bb) Mit dieser Entscheidung ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts der Lauf der Frist für die Überstellung des Klägers an Griechenland gehemmt worden.
24 
Die in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehene Frist berücksichtigt die organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung der Überstellung verbunden sind, und verfolgt das Ziel, es den beiden betroffenen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen, und es insbesondere dem ersuchenden Mitgliedstaat zu erlauben, die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln, die nach den nationalen Rechtsvorschriften dieses letztgenannten Staates erfolgt. Das gilt auch für den in der Vorschrift genannten Fall, dass der ersuchende Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht dieses Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt, da auch in diesem Fall jeder der beiden betroffenen Mitgliedstaaten bei der Organisation der Überstellung den gleichen praktischen Schwierigkeiten gegenübersteht und deshalb über die gleiche Frist von sechs Monaten verfügen soll, um die Überstellung des Asylbewerbers zu bewerkstelligen. Der Lauf der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist beginnt daher in dem genannten Fall nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die der Durchführung dieses Verfahrens nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urt. v. 29.1.2009 - C-19/08 - NVwZ 2009, 639).
25 
Für den Beginn der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist kann es danach entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht auf den in den §§ 80, 123 VwGO gemachten Unterschied zwischen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs und einer einstweiligen Anordnung ankommen. Dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 16.10.2008 liegt die Auffassung zu Grunde, dass das deutsche (nationale) Recht es unter bestimmten, vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall bejahten Voraussetzungen gestattet, die Abschiebung eines Asylbewerbers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat und damit die Durchführung des in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vorgesehenen Überstellungsverfahrens auszusetzen. Damit greift die genannte Überlegung, wonach die betroffenen Mitgliedstaaten auch für den Fall, dass der ersuchende Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht dieses Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt, eine Frist von sechs Monaten verfügen sollen, um die Überstellung des Asylbewerbers zu bewerkstelligen. Ob die Durchführung des Überstellungsverfahrens in Folge einer nach § 80 VwGO oder in Folge einer nach § 123 VwGO getroffenen gerichtlichen Entscheidung ausgesetzt ist, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.
26 
b) Die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ergibt sich jedoch aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO.
27 
Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist, und wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung. Ob der Mitgliedstaat von dieser Befugnis Gebrauch macht, steht grundsätzlich in seinem Ermessen, dessen Ausübung integraler Bestandteil des im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - NVwZ 2012, 417). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 21.12.2011, aaO) lässt dieses Asylsystem die Annahme zu, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Sie ist widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
28 
Nach dem in Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21.1.2011 (M.S.S./Belgien und Griechenland) ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21.12.2011 (aaO) ist davon auszugehen, dass die große Zahl von Asylbewerbern, die in den letzten Jahren über Griechenland in die Union gelangt sind, es den griechischen Behörden unmöglich gemacht hat, diesen Zustrom zu bewältigen. Der Europäische Gerichtshof ist deshalb der Meinung, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Die Beklagte hätte danach den Asylantrag des Klägers nicht als unzulässig abweisen dürfen, sondern den Antrag sachlich prüfen müssen.
29 
2. Das Verwaltungsgericht hat die somit notwendige sachliche Prüfung des Asylantrags des Klägers selbst vorgenommen. Das entspricht der Rechtslage.
30 
Nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO spricht das Gericht, soweit die Ablehnung oder Unterlassung des begehrten begünstigenden Verwaltungsaktes rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zum Erlass dieses Verwaltungsakts aus, wenn die Sache spruchreif ist. Nach § 86 Abs. 1 VwGO hat das Gericht im Rahmen des Klagebegehrens alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen. Das Gericht muss danach die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif machen. Es ist deshalb grundsätzlich nicht zulässig, dass das Verwaltungsgericht bei rechtswidriger Verweigerung des begehrten Verwaltungsakts lediglich die Ablehnung aufhebt und der Behörde mit gewissermaßen zurückverweisender Wirkung die Prüfung und Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen aufgibt. Vielmehr hat es die notwendigen Prüfungen und Feststellungen selbst vorzunehmen und sodann abschließend in der Sache zu entscheiden (stRspr, vgl. BVerwG, Urt. v. 10.2.1998 - 9 C 28.97 - BVerwGE 106, 171 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Die Pflicht des Gerichts, die Streitsache spruchreif zu machen, gilt auch in Verfahren, in denen das Bundesamt - wie hier - einen Asylantrag zu Unrecht als unzulässig abgewiesen hat.
31 
3. Das Verwaltungsgericht ist jedoch bei seiner Prüfung zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kläger gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen liegen entgegen seiner Ansicht nicht vor.
32 
a) Nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Anders als im Anwendungsbereich des Art. 16a Abs. 1 GG, der grundsätzlich nur Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt, kann eine Verfolgung in diesem Sinne gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von (a) dem Staat, (b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder (c) „nichtstaatlichen Akteuren“, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten „Akteure“ einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Für die Feststellung, ob eine solche Verfolgung vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU 2004 Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden.
33 
Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind auch auf die private Verfolgung durch „nichtstaatliche Akteure“ übertragbar (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237).
34 
b) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG mit der Begründung bejaht, dass die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien. Es hat dazu näher ausgeführt, die Beklagte gehe bei Yeziden, soweit sie aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes stammten, von einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure aus. Nach dem Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 26.5.2008 liege das Sheikhan-Gebiet im Grenzgebiet zwischen Zentral- und Nordirak. Es gehöre verwaltungstechnisch und rechtlich zur Provinz Niniwe/Mosul und stehe damit de jure unter zentralirakischer Verwaltung. Mithin treffe die von der Beklagten für Yeziden aus dem Zentralirak angenommene Gruppenverfolgung auch für die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden zu.
35 
Das reicht als Begründung schon für sich genommen nicht aus. Das Verwaltungsgericht hat zum einen nicht geprüft, ob die Annahme der Beklagten zutrifft, dass Yeziden, soweit sie aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes stammten, einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind, sondern hat diese Annahme ohne weiteres als feststehende Tatsache übernommen. Es hat zum anderen hieraus geschlossen, dass auch die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien, da das Sheikhan-Gebiet de jure unter zentralirakischer Verwaltung stehe, ohne der sich aufdrängenden Frage nachzugehen, ob eine de jure bestehende Verwaltungshoheit auch bedeutet, dass die betreffenden Gebiete de facto unter zentralirakischer Verwaltung stehen. Das ist umso weniger zu verstehen, als in dem auch vom Verwaltungsgericht zitierten Gutachten des EZKS vom 26.5.2008 ausführlich auf diesen Unterschied eingegangen wird.
36 
c) Die Begründung des Verwaltungsgericht trifft davon abgesehen auch in der Sache nicht zu.
37 
aa) Das EZKS unterscheidet in seinen Gutachten vom 26.5.2008 und 17.2.2010 zur Gefährdung der im Irak lebenden Yeziden zwischen verschiedenen Gebieten, nämlich zum einen den de jure (und de facto) von der Kurdischen Regionalverwaltung verwalteten Gebieten, d.h. den - aus Teilen der Provinzen Dohuk, Erbil, Suleymaniya, Kirkuk, Diyala und Niniveh zusammengesetzten - Gebieten, die bereits im Zeitpunkt des Einmarschs der alliierten Truppen in den Irak (19.3.2003) von den damals noch zwei kurdischen Regionalregierungen kontrolliert wurden, sowie den „umstrittenen Gebieten“, d.h. den Gebieten, die sowohl von der Kurdischen Regionalverwaltung als auch der irakischen Zentralregierung beansprucht werden. Was die zuletzt genannten Gebiete betrifft, wird weiter unterschieden zwischen de facto von der Kurdischen Regionalverwaltung verwalteten Gebieten, d.h. Gebieten, in denen bestimmte Verwaltungs- bzw. Schutzaufgaben von der Kurdischen Regionalverwaltung bzw. den kurdischen Parteien KDP und PUK übernommen werden, sowie Gebieten, in denen dies nicht der Fall ist und die somit nicht nur de jure, sondern auch de facto von der irakischen Zentralregierung verwaltet werden.
38 
Eine exakte Benennung der Gebiete, die de facto von der Kurdischen Regionalverwaltung verwaltet werden, ist nach den Ausführungen des EZKS nur mit großen Schwierigkeiten möglich. Nach dem Gutachten vom 17.2.2010 kann jedoch als sicher gelten, dass die Distrikte Sheikhan und al-Sheikhan insgesamt de facto unter kurdischer Kontrolle stehen (Gutachten, S. 12).
39 
bb) Zu der Frage, ob und inwieweit im Sheikhan-Gebiet lebende Yeziden durch andere Bevölkerungsgruppen gefährdet sind, heißt es im Gutachten des EZKS vom 17.2.2010 (S. 23), die Sicherheitslage im Sheikhan sei insbesondere wegen seiner direkten Verbindung zu den de jure kurdisch verwalteten Gebieten grundsätzlich besser als im Sindjar. Auch der Bericht der UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq) zur Lage in den umstrittenen Gebieten bezeichne die Sicherheitslage im Sheikhan als vergleichsweise stabil. Für die Zeit zwischen Februar 2007 und September 2008 würden in diesem Bericht nur fünf registrierte Sicherheitsvorfälle genannt. Auch in den diversen Menschenrechtsberichten etc. fänden sich keine Hinweise darauf, dass es im Sheikhan Übergriffe sunnitischer Extremisten auf Yeziden oder Christen gegeben habe. Auch zu Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und yezidischen Kurden wie am 15.2.2007 in Ain Sifni im Anschluss an einen Konflikt zwischen Eheleuten solle es seither nicht mehr gekommen sein. Übergriffe gegenüber Yeziden, die in Opposition zur Politik der kurdischen Allianz stünden, seien ebenfalls nicht dokumentiert. In dem genannten Gutachten werden lediglich Klagen einzelner Yeziden zitiert, nach denen sie von den Kurden aus Dohuk, Erbil und Suleymaniya wie Bürger zweiter Klasse behandelt würden. Von yezidischer Seite werde ferner kritisiert, dass Yeziden innerhalb der Sicherheitskräfte (Peschmerga, Polizei, Geheimdienst) nicht hinreichend repräsentiert seien. Darüber hinaus hätten sich Mitglieder der antikurdischen Yezidischen Bewegung darüber beklagt, dass sie in Sheikhan kein Parteibüro eröffnen dürften (S. 23 f.).
40 
Von einer der aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden drohenden Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure kann danach offensichtlich keine Rede sein, da es an der dafür erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt (im Ergebnis ebenso OVG Saarland, Urt. v. 29.3.2012 - 3 A 456/11 - Juris; OVG NRW, Beschl. v. 28.3.2011 - 9 A 2563/10.A - Juris).
II.
41 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das bedarf, was die in § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG geregelten Abschiebungsverbote betrifft, keiner näheren Begründung. In Betracht zu ziehen ist allein das Bestehen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 2 oder § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.
42 
1. Nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG, mit dem die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
43 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben „im Rahmen“ dieses Konflikts ausgesetzt ist. Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht gegeben.
44 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers sind nach den oben gemachten Ausführungen zu verneinen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden allgemeinen Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen lässt sich jedoch für die Gegend des Sheikhan, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in diesem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, nicht feststellen.
45 
2. Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar.
46 
Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das oben Ausgeführte nicht.
47 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
48 
Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Gründe

 
16 
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Hauptantrag des Klägers zu Unrecht entsprochen. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen entgegen seiner Ansicht nicht vor (unten I). Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 S. 2 AufenthG bzw. § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben, so dass die Klage auch mit den vom Kläger gestellten Hilfsanträgen keinen Erfolg haben kann (unten II).
I.
17 
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
18 
1. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die beklagte Bundesrepublik Deutschland sei für das Asylverfahren des Klägers zuständig, auch wenn der Kläger zuvor einen Asylantrag in Griechenland gestellt habe. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.
19 
a) Der Kläger hat am 23.5.2006 in Griechenland einen ersten und nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr in den Irak am 3.2.2008 einen weiteren Asylantrag in Deutschland gestellt. Wegen des zuvor in Griechenland durchgeführten Asylverfahrens hat das Bundesamt mit Schreiben vom 10.4.2008 ein Aufnahmeersuchen an Griechenland gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, (im Folgenden: Dublin II-VO) gestellt, auf das Griechenland nicht innerhalb von zwei Monaten geantwortet hat. Nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO ist in einem solchen Fall davon auszugehen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Wiederaufnahme des Asylbewerbers akzeptiert, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.
20 
Das hat auch das Verwaltungsgericht seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Es hat gleichwohl angenommen, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers gemäß Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO von Griechenland auf die Beklagte übergangen sei, da der Kläger nicht innerhalb der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist an Griechenland überstellt worden sei. Den Umstand, dass die erkennende Kammer die Beklagte mit Beschluss vom 16.10.2008 durch eine einstweilige Anordnung verpflichtet hat, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen, hat das Verwaltungsgericht dabei für unerheblich erklärt, da diese Anordnung keinen Rechtsbehelf darstelle, der aufschiebende Wirkung habe. Der Beschluss habe daher keinen Einfluss auf den Ablauf der für die Überstellung geltenden Frist. Das steht, wie die Beklagte zu Recht beanstandet, mit Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO nicht in Einklang.
21 
aa) Die Überstellung des Asylbewerbers von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, „sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch den anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat“ (Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde (Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO).
22 
Nach der im deutschen (nationalen) Recht geltenden Regelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG darf die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Das Gleiche gilt nach der Neufassung dieser Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 für die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat. Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 - (BVerfGE 94, 49) hat sich das Verwaltungsgericht trotz dieser Regelung für berechtigt gehalten, die Abschiebung des Klägers nach Griechenland auf dessen Antrag auszusetzen, da nach den vorliegenden Erkenntnisquellen zur Situation und Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland davon auszugehen sei, dass dem Kläger dort kein Asylverfahren offen stehe, das die Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß der Europäischen Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 einhalte. Ebenso wenig sei gewährleistet, dass in Griechenland die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern gemäß der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003 eingehalten würden. Die Verletzung der genannten Normen und die damit einher gehenden Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen seien als Sonderfall anzusehen, in dem § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht anzuwenden sei.
23 
bb) Mit dieser Entscheidung ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts der Lauf der Frist für die Überstellung des Klägers an Griechenland gehemmt worden.
24 
Die in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehene Frist berücksichtigt die organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung der Überstellung verbunden sind, und verfolgt das Ziel, es den beiden betroffenen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen, und es insbesondere dem ersuchenden Mitgliedstaat zu erlauben, die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln, die nach den nationalen Rechtsvorschriften dieses letztgenannten Staates erfolgt. Das gilt auch für den in der Vorschrift genannten Fall, dass der ersuchende Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht dieses Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt, da auch in diesem Fall jeder der beiden betroffenen Mitgliedstaaten bei der Organisation der Überstellung den gleichen praktischen Schwierigkeiten gegenübersteht und deshalb über die gleiche Frist von sechs Monaten verfügen soll, um die Überstellung des Asylbewerbers zu bewerkstelligen. Der Lauf der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist beginnt daher in dem genannten Fall nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die der Durchführung dieses Verfahrens nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urt. v. 29.1.2009 - C-19/08 - NVwZ 2009, 639).
25 
Für den Beginn der in Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO vorgesehenen Frist kann es danach entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht auf den in den §§ 80, 123 VwGO gemachten Unterschied zwischen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs und einer einstweiligen Anordnung ankommen. Dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 16.10.2008 liegt die Auffassung zu Grunde, dass das deutsche (nationale) Recht es unter bestimmten, vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall bejahten Voraussetzungen gestattet, die Abschiebung eines Asylbewerbers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat und damit die Durchführung des in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vorgesehenen Überstellungsverfahrens auszusetzen. Damit greift die genannte Überlegung, wonach die betroffenen Mitgliedstaaten auch für den Fall, dass der ersuchende Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht dieses Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt, eine Frist von sechs Monaten verfügen sollen, um die Überstellung des Asylbewerbers zu bewerkstelligen. Ob die Durchführung des Überstellungsverfahrens in Folge einer nach § 80 VwGO oder in Folge einer nach § 123 VwGO getroffenen gerichtlichen Entscheidung ausgesetzt ist, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.
26 
b) Die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ergibt sich jedoch aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO.
27 
Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist, und wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung. Ob der Mitgliedstaat von dieser Befugnis Gebrauch macht, steht grundsätzlich in seinem Ermessen, dessen Ausübung integraler Bestandteil des im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - NVwZ 2012, 417). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 21.12.2011, aaO) lässt dieses Asylsystem die Annahme zu, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Sie ist widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
28 
Nach dem in Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21.1.2011 (M.S.S./Belgien und Griechenland) ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21.12.2011 (aaO) ist davon auszugehen, dass die große Zahl von Asylbewerbern, die in den letzten Jahren über Griechenland in die Union gelangt sind, es den griechischen Behörden unmöglich gemacht hat, diesen Zustrom zu bewältigen. Der Europäische Gerichtshof ist deshalb der Meinung, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Die Beklagte hätte danach den Asylantrag des Klägers nicht als unzulässig abweisen dürfen, sondern den Antrag sachlich prüfen müssen.
29 
2. Das Verwaltungsgericht hat die somit notwendige sachliche Prüfung des Asylantrags des Klägers selbst vorgenommen. Das entspricht der Rechtslage.
30 
Nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO spricht das Gericht, soweit die Ablehnung oder Unterlassung des begehrten begünstigenden Verwaltungsaktes rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zum Erlass dieses Verwaltungsakts aus, wenn die Sache spruchreif ist. Nach § 86 Abs. 1 VwGO hat das Gericht im Rahmen des Klagebegehrens alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs in eigener Verantwortung festzustellen. Das Gericht muss danach die Streitsache im Sinne des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO in vollem Umfang spruchreif machen. Es ist deshalb grundsätzlich nicht zulässig, dass das Verwaltungsgericht bei rechtswidriger Verweigerung des begehrten Verwaltungsakts lediglich die Ablehnung aufhebt und der Behörde mit gewissermaßen zurückverweisender Wirkung die Prüfung und Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen aufgibt. Vielmehr hat es die notwendigen Prüfungen und Feststellungen selbst vorzunehmen und sodann abschließend in der Sache zu entscheiden (stRspr, vgl. BVerwG, Urt. v. 10.2.1998 - 9 C 28.97 - BVerwGE 106, 171 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Die Pflicht des Gerichts, die Streitsache spruchreif zu machen, gilt auch in Verfahren, in denen das Bundesamt - wie hier - einen Asylantrag zu Unrecht als unzulässig abgewiesen hat.
31 
3. Das Verwaltungsgericht ist jedoch bei seiner Prüfung zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kläger gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen liegen entgegen seiner Ansicht nicht vor.
32 
a) Nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Anders als im Anwendungsbereich des Art. 16a Abs. 1 GG, der grundsätzlich nur Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt, kann eine Verfolgung in diesem Sinne gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von (a) dem Staat, (b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder (c) „nichtstaatlichen Akteuren“, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten „Akteure“ einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Für die Feststellung, ob eine solche Verfolgung vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU 2004 Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden.
33 
Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind auch auf die private Verfolgung durch „nichtstaatliche Akteure“ übertragbar (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237).
34 
b) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG mit der Begründung bejaht, dass die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien. Es hat dazu näher ausgeführt, die Beklagte gehe bei Yeziden, soweit sie aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes stammten, von einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure aus. Nach dem Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 26.5.2008 liege das Sheikhan-Gebiet im Grenzgebiet zwischen Zentral- und Nordirak. Es gehöre verwaltungstechnisch und rechtlich zur Provinz Niniwe/Mosul und stehe damit de jure unter zentralirakischer Verwaltung. Mithin treffe die von der Beklagten für Yeziden aus dem Zentralirak angenommene Gruppenverfolgung auch für die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden zu.
35 
Das reicht als Begründung schon für sich genommen nicht aus. Das Verwaltungsgericht hat zum einen nicht geprüft, ob die Annahme der Beklagten zutrifft, dass Yeziden, soweit sie aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes stammten, einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind, sondern hat diese Annahme ohne weiteres als feststehende Tatsache übernommen. Es hat zum anderen hieraus geschlossen, dass auch die aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien, da das Sheikhan-Gebiet de jure unter zentralirakischer Verwaltung stehe, ohne der sich aufdrängenden Frage nachzugehen, ob eine de jure bestehende Verwaltungshoheit auch bedeutet, dass die betreffenden Gebiete de facto unter zentralirakischer Verwaltung stehen. Das ist umso weniger zu verstehen, als in dem auch vom Verwaltungsgericht zitierten Gutachten des EZKS vom 26.5.2008 ausführlich auf diesen Unterschied eingegangen wird.
36 
c) Die Begründung des Verwaltungsgericht trifft davon abgesehen auch in der Sache nicht zu.
37 
aa) Das EZKS unterscheidet in seinen Gutachten vom 26.5.2008 und 17.2.2010 zur Gefährdung der im Irak lebenden Yeziden zwischen verschiedenen Gebieten, nämlich zum einen den de jure (und de facto) von der Kurdischen Regionalverwaltung verwalteten Gebieten, d.h. den - aus Teilen der Provinzen Dohuk, Erbil, Suleymaniya, Kirkuk, Diyala und Niniveh zusammengesetzten - Gebieten, die bereits im Zeitpunkt des Einmarschs der alliierten Truppen in den Irak (19.3.2003) von den damals noch zwei kurdischen Regionalregierungen kontrolliert wurden, sowie den „umstrittenen Gebieten“, d.h. den Gebieten, die sowohl von der Kurdischen Regionalverwaltung als auch der irakischen Zentralregierung beansprucht werden. Was die zuletzt genannten Gebiete betrifft, wird weiter unterschieden zwischen de facto von der Kurdischen Regionalverwaltung verwalteten Gebieten, d.h. Gebieten, in denen bestimmte Verwaltungs- bzw. Schutzaufgaben von der Kurdischen Regionalverwaltung bzw. den kurdischen Parteien KDP und PUK übernommen werden, sowie Gebieten, in denen dies nicht der Fall ist und die somit nicht nur de jure, sondern auch de facto von der irakischen Zentralregierung verwaltet werden.
38 
Eine exakte Benennung der Gebiete, die de facto von der Kurdischen Regionalverwaltung verwaltet werden, ist nach den Ausführungen des EZKS nur mit großen Schwierigkeiten möglich. Nach dem Gutachten vom 17.2.2010 kann jedoch als sicher gelten, dass die Distrikte Sheikhan und al-Sheikhan insgesamt de facto unter kurdischer Kontrolle stehen (Gutachten, S. 12).
39 
bb) Zu der Frage, ob und inwieweit im Sheikhan-Gebiet lebende Yeziden durch andere Bevölkerungsgruppen gefährdet sind, heißt es im Gutachten des EZKS vom 17.2.2010 (S. 23), die Sicherheitslage im Sheikhan sei insbesondere wegen seiner direkten Verbindung zu den de jure kurdisch verwalteten Gebieten grundsätzlich besser als im Sindjar. Auch der Bericht der UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq) zur Lage in den umstrittenen Gebieten bezeichne die Sicherheitslage im Sheikhan als vergleichsweise stabil. Für die Zeit zwischen Februar 2007 und September 2008 würden in diesem Bericht nur fünf registrierte Sicherheitsvorfälle genannt. Auch in den diversen Menschenrechtsberichten etc. fänden sich keine Hinweise darauf, dass es im Sheikhan Übergriffe sunnitischer Extremisten auf Yeziden oder Christen gegeben habe. Auch zu Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und yezidischen Kurden wie am 15.2.2007 in Ain Sifni im Anschluss an einen Konflikt zwischen Eheleuten solle es seither nicht mehr gekommen sein. Übergriffe gegenüber Yeziden, die in Opposition zur Politik der kurdischen Allianz stünden, seien ebenfalls nicht dokumentiert. In dem genannten Gutachten werden lediglich Klagen einzelner Yeziden zitiert, nach denen sie von den Kurden aus Dohuk, Erbil und Suleymaniya wie Bürger zweiter Klasse behandelt würden. Von yezidischer Seite werde ferner kritisiert, dass Yeziden innerhalb der Sicherheitskräfte (Peschmerga, Polizei, Geheimdienst) nicht hinreichend repräsentiert seien. Darüber hinaus hätten sich Mitglieder der antikurdischen Yezidischen Bewegung darüber beklagt, dass sie in Sheikhan kein Parteibüro eröffnen dürften (S. 23 f.).
40 
Von einer der aus dem Sheikhan-Gebiet stammenden Yeziden drohenden Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure kann danach offensichtlich keine Rede sein, da es an der dafür erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt (im Ergebnis ebenso OVG Saarland, Urt. v. 29.3.2012 - 3 A 456/11 - Juris; OVG NRW, Beschl. v. 28.3.2011 - 9 A 2563/10.A - Juris).
II.
41 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das bedarf, was die in § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG geregelten Abschiebungsverbote betrifft, keiner näheren Begründung. In Betracht zu ziehen ist allein das Bestehen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 2 oder § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.
42 
1. Nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG, mit dem die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).
43 
Die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, dürfte hiervon ausgehend zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben „im Rahmen“ dieses Konflikts ausgesetzt ist. Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht gegeben.
44 
Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.7.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers sind nach den oben gemachten Ausführungen zu verneinen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden allgemeinen Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen lässt sich jedoch für die Gegend des Sheikhan, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in diesem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, nicht feststellen.
45 
2. Auch ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist im Falle des Klägers nicht erkennbar.
46 
Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO). Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger im Hinblick auf das oben Ausgeführte nicht.
47 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
48 
Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

(1) Der Vorsitzende oder der Berichterstatter kann dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. Die Fristsetzung nach Satz 1 kann mit der Fristsetzung nach § 82 Abs. 2 Satz 2 verbunden werden.

(2) Der Vorsitzende oder der Berichterstatter kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen

1.
Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,
2.
Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist.

(3) Das Gericht kann Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn

1.
ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2.
der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
3.
der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Der Entschuldigungsgrund ist auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen. Satz 1 gilt nicht, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln.

(4) Abweichend von Absatz 3 hat das Gericht in Verfahren nach § 48 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 bis 15 und § 50 Absatz 1 Nummer 6 Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückzuweisen und ohne weitere Ermittlungen zu entscheiden, wenn der Beteiligte

1.
die Verspätung nicht genügend entschuldigt und
2.
über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.
Absatz 3 Satz 2 und 3 gilt entsprechend.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Tenor

Den Beschwerdeführern wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 6. November 2012 - VG 5 K 23/11.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Cottbus zurückverwiesen.

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2013 - OVG 3 N 5.13 - wird damit gegenstandslos.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000,- € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG zugunsten einer afghanischen Familie.

2

1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der 1981 geborene Beschwerdeführer zu 1. und die 1987 geborene Beschwerdeführerin zu 2. reisten im Jahr 2009 in das Bundesgebiet ein, die im März 2011 geborene Beschwerdeführerin zu 3. ist ihr gemeinsames Kind. Die Asylanträge der miteinander verheirateten Beschwerdeführer zu 1. und 2. wurden als unbegründet abgelehnt.

3

2. Mit ihren hiergegen gerichteten Klagen machten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. geltend, in Kandahar von den Taliban mit dem Tode bedroht worden zu sein. Weder in ihrer Heimatregion Kandahar noch in einer sonstigen Provinz Afghanistans könne derzeit eine Familie mit Kleinkind ihre Existenz sichern, wenn sie nicht durch einen Familienverband abgesichert und aufgefangen werde. Auch litten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. an Erkrankungen, die in Deutschland behandelt werden müssten.

4

3. Das Verwaltungsgericht Cottbus wies die Klagen durch Urteil vom 6. November 2012 zurück. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. hätten keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Beschwerdeführer zu 1. könne hinsichtlich der geltend gemachten Verfolgung durch die Taliban auf Kabul als inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Von ihm könne vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Kabul aufhalte, da davon auszugehen sei, dass er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde und insbesondere das Existenzminimum gesichert sei. Für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige bestehe auch ohne familiären Rückhalt die Möglichkeit, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Der Beschwerdeführer zu 1. gehöre zu dieser Personengruppe, da er sich um den Lebensunterhalt der Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. nicht kümmern müsse. Diese könnten in die Heimatregion Kandahar zurückkehren, da ihnen dort keine Verfolgung oder sonst zu berücksichtigende Gefahr drohe. Denn die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. verfügten in Kandahar über familiären Rückhalt, der insoweit an die Stelle des Beschwerdeführers zu 1. treten könne. Es sei auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass sich die vorgetragenen Erkrankungen der Beschwerdeführer zu 1. und 2. im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund zielstaatsbezogener Umstände wesentlich verschlimmern würden.

5

4. Im Berufungszulassungsverfahren rügten die Beschwerdeführer zu 1. und 2., das Verwaltungsgericht habe gegen den in Art. 23 der so genannten Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) niedergelegten Grundsatz der Wahrung des Familienverbandes verstoßen, indem es den Beschwerdeführern zumute, dauerhaft voneinander getrennt in Kabul und Kandahar leben zu müssen. Auch habe das Verwaltungsgericht seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts verletzt, indem es unterstellt habe, die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. könnten ohne Probleme nach Kandahar zurückkehren und würden dort von den Eltern der Beschwerdeführerin zu 2. aufgenommen. Weder habe das Verwaltungsgericht entsprechende Fragen an die Beschwerdeführer gerichtet, noch hätten diese von sich aus darauf eingehen müssen, da die vom Verwaltungsgericht im Urteil zugrundegelegte Trennung der Beschwerdeführer überraschend gewesen sei. Auch die Ablehnung der Beweisanträge hinsichtlich der geltend gemachten Erkrankungen verstoße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.

6

5. Mit Beschluss vom 24. Januar 2013 lehnte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Dass das Verwaltungsgericht Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie nicht berücksichtigt habe, weise höchstens auf eine materiell unrichtige Entscheidung hin, lasse jedoch nicht erkennen, warum die Vorschrift bei der Entscheidung über ein Abschiebungsverbot für eine Familie mit Kleinkind über den Einzelfall hinaus bedeutsam sei und ihre Reichweite im Interesse der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfe. Der von den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf der ungenügenden Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht werde vom Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG nicht erfasst. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beschwerdeführer könnten sich trennen, sei keine unzulässige Überraschungsentscheidung. Es gebe auch keine Anhaltspunkte, dass die Ablehnung der erstinstanzlich gestellten Beweisanträge nicht vom Prozessrecht gedeckt sei.

7

6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG geltend, weil das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Zulassung der Berufung überspannt habe. Es stelle sowohl im Hinblick auf Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie als auch hinsichtlich Art. 6 GG und Art. 8 EMRK eine abstrakte Frage dar, ob eine aufenthaltsbeendende Entscheidung in Kauf nehmen dürfe, dass eine Familie dauerhaft getrennt leben müsse. Das Verwaltungsgericht habe gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen, indem es in seinem Urteil von der Zumutbarkeit einer Trennung der Beschwerdeführer ausgegangen sei, ohne vorab auf diese Rechtsansicht hinzuweisen. Dadurch hätten die Beschwerdeführer keine Gelegenheit gehabt, eingehender zu ihrer familiären Situation vorzutragen und gegebenenfalls Beweisanträge zu einzelnen Fragen des Überlebens alleinstehender Frauen in Kandahar zu stellen. Mit ihren Entscheidungen verstießen die Gerichte schließlich gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Bei einer Abschiebung, die eine dauerhafte Trennung der Beschwerdeführer zur Folge habe, hätte eine Abwägung mit ihren familiären Belangen stattfinden müssen. Daran fehle es.

8

7. Das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

10

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, obwohl sie nicht innerhalb der in § 93 Abs. 1 BVerfGG geregelten Monatsfrist eingelegt und begründet worden ist. Den Beschwerdeführern war insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu gewähren. Sie haben innerhalb der Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG glaubhaft gemacht, dass sie das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post gegeben haben, dass es bei normalem Verlauf der Dinge das Bundesverfassungsgericht fristgerecht hätte erreichen können. Die Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG darf den Beschwerdeführern nicht als Verschulden zugerechnet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Januar 2003 - 2 BvR 447/02 -, NJW 2003, S. 1516).

11

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG.

12

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 <396 f.>; 76, 1 <47>; 80, 81 <93>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Be-schluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, S. 171 <173>; BVerfGK 2, 190 <194>), auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, S. 67 <68>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

13

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

14

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>).

15

b) Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Bei der nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu erstellenden Gefahrenprognose ist das Verwaltungsgericht von getrennten Aufenthaltsorten der Beschwerdeführer in Afghanistan ausgegangen. Es hat den Beschwerdeführer zu 1. der Personengruppe der alleinstehenden, arbeitsfähigen Männer zugeordnet, denen Kabul als inländische Fluchtalternative offensteht, während es für die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. eine Rückkehr in die Heimatprovinz Kandahar als zumutbar erachtet hat. Obwohl das Verwaltungsgericht damit seiner Entscheidung zugrunde legt, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan ihr künftiges Leben getrennt voneinander führen müssen, fehlt in dem Urteil jede Auseinandersetzung mit den aus Art. 6 GG folgenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an staatliche Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Dies zeigt, dass sich das Verwaltungsgericht des Einflusses des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie auf die Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerwGE 90, 364 <369 f.>, zur vergleichbaren früheren Rechtslage) nicht bewusst gewesen ist.

16

c) Das angegriffene Urteil beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 6 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, den Beschwerdeführern günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das angegriffene Urteil auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts gegenstandslos. Seiner Aufhebung bedarf es nicht, weil von ihm insoweit keine selbstständige Beschwer ausgeht (vgl. BVerfGE 14, 320 <324>; 76, 143 <170>). Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Verfassungsverstöße kommt es nicht an.

III.

17

Mit dieser Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

IV.

18

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Tatbestand

1

Der 1973 geborene Kläger ist ghanaischer Staatsangehöriger. Er reiste 2007 ohne Visum erstmals nach Deutschland ein. Mit seiner 1987 geborenen ghanaischen Lebensgefährtin hat er zwei 2008 bzw. 2010 geborene Töchter, die ebenfalls ghanaische Staatsangehörige sind. Für beide Kinder übt er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin die elterliche Sorge aus. Seine Lebensgefährtin hat eine weitere Tochter (R.), die sowohl die ghanaische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und für die sie allein personensorgeberechtigt ist; diese Tochter lebt ebenfalls im Haushalt des Klägers und seiner Lebensgefährtin. Die Lebensgefährtin ist in einer Teilzeitbeschäftigung erwerbstätig. Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die gemeinsamen Töchter haben Aufenthaltstitel nach § 33 AufenthG.

2

Im Mai und Juli 2008 sowie im Juli 2010 beantragte der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin und den beiden gemeinsamen Töchtern. Auf eine von ihm erstattete Selbstanzeige wegen mehrfacher Einreise ohne Visum erging ein Strafbefehl, durch den eine Geldstrafe festgesetzt wurde. Durch Bescheid vom 24. Januar 2011 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Ziff. 1), forderte ihn zur Ausreise auf (Ziff. 2) und drohte ihm für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise die Abschiebung nach Ghana an (Ziff. 3).

3

Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 36 Abs. 2 AufenthG, hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG, abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung mit Urteil vom 18. April 2012 stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG zu erteilen. Dies sei zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich. Zwischen dem Kläger und seinen Töchtern bestehe eine von Art. 6 GG geschützte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Der Kläger übe die Personensorge tatsächlich aus und betreue die Kinder während der Abwesenheit ihrer Mutter allein. Diese Lebensgemeinschaft könne nur im Bundesgebiet fortgesetzt werden. Denn weitere, ebenso geschützte Gemeinschaften bestünden nicht nur zwischen den Töchtern des Klägers und ihrer Mutter, sondern auch zwischen dieser und ihrer Tochter R. Eine Aufenthaltsbeendigung des Klägers werde zwangsläufig die familiäre Gemeinschaft mit seinen Töchtern aufheben, sofern ihn jene nicht nach Ghana begleiteten. Dies werde jedoch die Aufhebung der Lebensgemeinschaft der gemeinsamen Töchter mit ihrer Mutter zur Folge haben, sollte diese mit ihrer Tochter R. im Bundesgebiet bleiben wollen. Sollte sie hingegen mit dem Kläger und den gemeinsamen Töchtern nach Ghana zurückkehren, müsse sie entweder die Lebensgemeinschaft mit R. aufgeben oder sie mitnehmen. Als deutsche Staatsangehörige besitze R. aber ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Selbst wenn die Annahme zutreffe, die Aufenthaltsbeendigung zu Lasten des Klägers verstoße nicht gegen Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, stünden jedenfalls Art. 20 AEUV und die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) einer Aufenthaltsbeendigung entgegen. Der Anspruch des Klägers scheitere auch nicht am Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen. Hinsichtlich des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhalts) liege aus den genannten Gründen ein Ausnahmefall vor, der die Anwendung dieser nur im Regelfall geltenden Erteilungsvoraussetzung ausschließe. Durch seine mehrfache Einreise ohne Visum habe der Kläger zwar einen Ausweisungsgrund erfüllt, doch müsse von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im vorliegenden Fall abgesehen werden. Schließlich sei dem Kläger auch nicht die nachträgliche Durchführung eines Visumverfahrens zuzumuten, weil dieses wegen der ablehnenden Haltung der Beklagten voraussichtlich sehr lange dauern werde (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG).

4

Ihre rechtzeitig eingelegte Revision begründet die Beklagte damit, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zustehe. Es fehle an einer außergewöhnlichen Härte. Die familiäre Lebenshilfe, die der Kläger seinen beiden minderjährigen Kindern schulde, müsse nicht im Bundesgebiet erbracht werden, weil die Lebensgemeinschaft mit der Lebensgefährtin des Klägers sowie ihrer Tochter R. auch in Ghana fortgeführt werden könne. Zwar stehe dieser Tochter aus ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik zu. Sie dürfe aber auf Grund ihrer zweiten Staatsangehörigkeit auch nach Ghana einreisen, wo der familiären Lebensgemeinschaft ein vergleichbarer verfassungsrechtlicher Schutz zustehe wie in der Bundesrepublik Deutschland. Soweit sich das Berufungsgericht auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 20 AEUV stütze, verkenne es, dass der vorliegende Sachverhalt mit dem vom EuGH entschiedenen Fällen nicht vergleichbar sei.

5

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und hebt hervor, dass ein Härtefall im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG nicht vorliege; der Gesetzgeber habe sich ausdrücklich gegen ein allgemeines Nachzugsrecht entschieden.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Begründung des Berufungsgerichts für die Annahme, die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels sei zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich, verletzt durch die Wahl eines unzutreffenden Entscheidungsmaßstabs revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen zu den für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte maßgeblichen Umständen fehlt, kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden. Der Rechtsstreit muss daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur weiteren Aufklärung und erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Deshalb bedarf es einer Entscheidung über den auch in der Revisionsinstanz angefallenen Hilfsantrag des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG derzeit nicht.

7

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 = Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 4 jeweils Rn. 10). Während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 = Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 9 jeweils Rn. 12 m.w.N.). Der Entscheidung sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Kroatien zur Europäischen Union vom 17. Juni 2013 (BGBl I S. 1555), zu Grunde zu legen. Hierdurch hat sich die Rechtslage hinsichtlich der entscheidungserheblichen Bestimmungen im vorliegenden Fall aber nicht geändert.

8

1. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG vorliegen, kann auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen nicht entschieden werden.

9

1.1 Das Aufenthaltsgesetz ist anwendbar. Es wird nicht durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) verdrängt (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), da dieses Gesetz auf den Kläger keine Anwendung findet. Nach § 1 FreizügG/EU regelt dieses Gesetz nur die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie, unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU), ihrer Familienangehörigen. Der Kläger ist jedoch kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers, da er mit der ältesten Tochter seiner Lebensgefährtin nicht verwandt ist; außerdem wird ihm von ihr kein Unterhalt gewährt.

10

1.2 Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) müssen grundsätzlich ebenfalls vorliegen.

11

Das Aufenthaltsgesetz behandelt im sechsten Abschnitt des zweiten Kapitels den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland aus familiären Gründen. Dabei regeln die §§ 28 bis 30, 32, 33 und 36 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern und unterscheiden zusätzlich danach, ob das in Deutschland lebende Familienmitglied die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Demgegenüber erstreckt § 36 Abs. 2 AufenthG die Möglichkeit einer Familienzusammenführung zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG (vgl. § 27 Abs. 1 AufenthG) auch auf sonstige Familienangehörige, die von den vorgenannten Normen nicht erfasst werden; die Vorschrift ist auf sonstige Familienangehörige von Deutschen entsprechend anzuwenden (vgl. § 28 Abs. 4 AufenthG). Allerdings ist der Nachzug sonstiger Familiengehöriger auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte, das heißt auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre.

12

Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (Urteil vom 10. März 2011 - BVerwG 1 C 7.10 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 5 Rn. 10; ebenso zur Vorgängervorschrift in § 22 AuslG: Beschluss vom 25. Juni 1997 - BVerwG 1 B 236.96 - Buchholz 402.240 § 22 AuslG 1990 Nr. 4). Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (vgl. Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9.12 - InfAuslR 2013, 331 Rn. 23).

13

Die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe in Deutschland als Voraussetzung für den Nachzug sonstiger Familienangehöriger stellt eine höhere Hürde dar als die in den §§ 28 bis 30, 32, 33 und 36 Abs. 1 AufenthG geregelten Voraussetzungen für den Nachzug von Kindern, Eltern oder Ehegatten, weil sie eine gesonderte Begründung dafür verlangt, dass die Herstellung der Familieneinheit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland unzumutbar wäre (vgl. Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 10.12 - juris Rn. 37 - 39). Dies folgt im Übrigen auch aus dem Umstand, dass bei dem Ehegatten- und Kindernachzug (§ 30 Abs. 2 und § 31 Abs. 2 bzw. § 32 Abs. 4 AufenthG) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Fällen, in denen die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Norm nicht erfüllt sind, schon zur Vermeidung einer besonderen Härte, also bei drohender erheblicher Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), in Betracht kommt. Das Berufungsgericht hat den Prüfungsmaßstab des § 36 Abs. 2 AufenthG verfehlt, indem es eine außergewöhnliche Härte schon angenommen hat, wenn die Umstände des Einzelfalles eine im Vergleich zum Nachzug von Eltern, Kindern oder Ehegatten nur vergleichbare Dringlichkeit im Sinne einer besonderen Härte begründen.

14

1.3 Der Kläger ist im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sonstiger Familienangehöriger seiner leiblichen Töchter A. B. und T., denn er ist als nicht mit der Mutter der Kinder verheirateter Vater keinem der sonst in Betracht kommenden Tatbestände des Familiennachzugs zuzuordnen. Der Senat kann jedoch nicht abschließend entscheiden, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem zuvor benannten Entscheidungsmaßstab zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist, da notwendige Feststellungen zu den relevanten Umständen des Einzelfalles fehlen. Zwar sind die Kinder A. B. und T. auf Grund ihres Alters von zwei bzw. vier Jahren außerstande, ein eigenständiges Leben zu führen; sie bedürfen vielmehr als Kleinkinder ständiger Pflege und Betreuung und deshalb der Einbindung in die familiäre Lebensgemeinschaft. Ob allerdings diese familiäre Lebenshilfe für A. B. und T. in zumutbarer Weise nur in Deutschland geleistet werden kann, hängt maßgeblich davon ab, wie sich eine Fortführung der Familiengemeinschaft außerhalb Deutschlands voraussichtlich auf das Kind R. auswirken würde. Dies ergibt sich aus Folgendem:

15

Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gewährt keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch, verpflichtet die Ausländerbehörden jedoch, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt einwanderungspolitische Belange erst dann zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil besondere Umstände demjenigen Mitglied dieser Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Verlassen des Bundesgebiets unzumutbar machen. Handelt es sich bei diesem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (BVerfG, Beschlüsse vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81 <93>, vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83, 101, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <46 ff.>, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - AuAS 2013, 160, vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347 und vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320). Die Besonderheiten, die sich aus einer als "Patchwork-Familie" bezeichneten familiären Konstellation ergeben, müssen sorgfältig ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Auch die außerhalb der "Patchwork-Familie" stehenden leiblichen Elternteile der minderjährigen Familienangehörigen sind in die Betrachtung einzubeziehen.

16

Nach diesem Maßstab wäre es dem Kläger und seinen leiblichen Töchtern A. B. und T. sowie deren Mutter, der Lebensgefährtin des Klägers, bei isolierter Betrachtung ohne Berücksichtigung des Kindes R. zumutbar, die zwischen ihnen bestehende familiäre Lebensgemeinschaft außerhalb Deutschlands weiterzuführen. Sie besitzen ausschließlich die ghanaische Staatsangehörigkeit; besondere Umstände, die eine Verwurzelung in Deutschland nahe legen würden (Art. 8 EMRK), sind nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Verfahren weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Im Hinblick auf das Alter der Kinder von nur zwei bzw. vier Jahren bestand für das Berufungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung insofern auch kein Anlass zu weiterer Aufklärung. Ob dies im Zeitpunkt der erneuten Verhandlung und Entscheidung nach Zurückverweisung noch in gleicher Weise zutrifft, kann offenbleiben.

17

In den durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der gelebten Familiengemeinschaft, der der Kläger angehört, ist nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts jedoch auch die älteste Tochter der Lebensgefährtin des Klägers, die im Jahre 2006 geborene R., einbezogen. Aus diesem Grunde müssen die Auswirkungen einer Ausreise des Klägers, seiner leiblichen Töchter und seiner Lebensgefährtin auf R. berücksichtigt werden. Zwar ist sie, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, als deutsche Staatsangehörige vor behördlichen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen geschützt. Aus ihrer deutschen Staatsangehörigkeit folgt für sich genommen allerdings nicht, dass ihr eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland ohne Hinzutreten besonderer Umstände stets unzumutbar wäre. Dasselbe gilt auch für den durch Art. 8 EMRK vermittelten Schutz (vgl. Urteil vom 13. Juni 2013 - BVerwG 10 C 16.12 - juris Rn. 22 f. mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EGMR). Ob ein Fall der Unzumutbarkeit vorliegt, hängt vielmehr davon ab, welche Folgen eine - ggf. bis zur Volljährigkeit andauernde, aber jedenfalls vorübergehende - Fortführung der Familiengemeinschaft mit ihrer Mutter, ihren Halbschwestern und dem Kläger im Ausland für sie hätte, ob und ggf. welche Alternativen denkbar wären (stRspr, BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2008 a.a.O. und vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 - BVerfGK 14, 458 Rn. 27) und wie sich ein derartiger Aufenthalt im Ausland ggf. auf ihre - rechtlich gesicherte - Möglichkeit einer späteren Rückkehr und Reintegration in Deutschland auswirken würde (Urteil vom 13. Juni 2013 a.a.O. Rn. 27).

18

Sollte sich aus derartigen Umständen - die bisher nicht hinreichend aufgeklärt sind - ergeben, dass R. die Fortführung der familiären Gemeinschaft außerhalb Deutschlands nicht zuzumuten ist, spräche Überwiegendes dafür, dass der Kläger zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte einen Aufenthaltstitel beanspruchen könnte. Denn auch wenn der Kläger mit R. nicht verwandt ist und auch sonst in keiner rechtlichen Beziehung zu ihr steht, so steht die Beziehung R.s zu ihrer leiblichen Mutter - der Lebensgefährtin des Klägers, die zudem das alleinige Sorgerecht für sie ausübt - ebenso unter dem rechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG wie die Beziehung der Lebensgefährtin des Klägers zu den gemeinsamen Kindern A. B. und T. Eine behördlich verfügte Aufenthaltsbeendigung des Klägers würde je nachdem, welche Entscheidung der Kläger und seine Lebensgefährtin über den Verbleib der übrigen Mitglieder der "Patchwork-Familie" treffen, dazu führen, dass entweder R. die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit der Familiengemeinschaft verlassen würde oder dass verfassungsrechtlich geschützte familiäre Bindungen zwischen den Mitgliedern der "Patchwork-Familie" beeinträchtigt oder zerstört würden. Die sich hieraus ergebenden konkreten Folgen für das Kind R. sind im Verfahren bisher weder unter dem Aspekt des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG noch unter demjenigen des Art. 8 EMRK hinreichend ermittelt worden, so dass die Frage, ob die Verweigerung eines Aufenthaltstitels zu Lasten des Klägers eine Handlungsmöglichkeit offenlässt, in der R. die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar wäre, nicht beantwortet werden kann.

19

1.4 Das Berufungsgericht wird daher aufzuklären haben, ob es besondere Umstände gibt, die einen Verbleib des Kindes R. in Deutschland als einzige dem Kind zumutbare Alternative erscheinen lassen. Derartige Umstände können sich etwa aus dem Verhältnis R.s zu ihrem leiblichen Vater ergeben, insbesondere dann, wenn zwischen ihnen bereits bestehende oder gewünschte Kontakte durch die Fortführung der Familiengemeinschaft im Ausland unmöglich gemacht würden. Auch wenn bisher derartige Umstände im Verfahren nicht deutlich zu Tage getreten sind, drängt sich eine weitere Aufklärung im Hinblick auf das Recht eines Kindes auf Umgang mit beiden Eltern auf. Aufzuklären ist auch, ob die Lebensumstände in Deutschland dazu führen können, dass R. eine Beendigung ihres Aufenthalts nicht verarbeiten könnte, ohne Schaden zu nehmen. Ob dies der Fall sein kann, dürfte auch davon abhängen, wie sich ihre Lebensumstände bei einer Verlagerung der Familieneinheit nach Ghana voraussichtlich darstellen würden. Weiter wird eine Prognose darüber zu treffen sein, ob durch einen Umzug der Familie nach Ghana die ihr auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit zustehende Rückkehrmöglichkeit beeinträchtigt oder gar entwertet würde, etwa durch eine Erschwerung der Reintegration aus sprachlichen Gründen oder als Folge einer Sozialisation in Ghana. Schließlich muss geprüft werden, ob es Alternativen zu einer Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft aller Mitglieder der "Patchwork-Familie" im Ausland gibt. In diesem Zusammenhang dürfte es darauf ankommen, wie das Verhältnis des Kindes R. zum Kläger, zu ihrem leiblichen Vater, ihren Halbgeschwistern und ihrer Mutter zu bewerten ist. Maßgeblicher Bezugspunkt für diese Prüfung wird der Zeitpunkt der erneuten Entscheidung des Berufungsgerichts sein.

20

1.5 Ohne weitere Sachaufklärung lässt sich auch die Frage nicht beantworten, ob die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gegeben sind oder nicht.

21

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt des Klägers ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen nicht gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG); zudem liegt der Ausweisungsgrund der mehrfachen illegalen Einreise (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, § 95 Abs. 1 Nr. 3, § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) vor; schließlich ist der Kläger ohne Visum eingereist (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG).

22

1.5.1 Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist; dies gilt allerdings nicht in atypischen Ausnahmefällen. Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsverstoß davon ausgegangen, dass ein solcher Ausnahmefall anzunehmen ist, wenn sich ergeben sollte, dass die Verweigerung eines Aufenthaltstitels eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG darstellt, weil die Fortführung der Familieneinheit im Ausland unzumutbar wäre und deshalb eine Verletzung von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK anzunehmen wäre. Ob dies der Fall ist, kann jedoch - wie ausgeführt - erst nach Aufklärung der vorgenannten maßgeblichen Umstände beantwortet werden.

23

1.5.2 Ebenfalls ohne Verstoß gegen revisibles Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass im vorliegenden Fall das Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht. Nach dieser Vorschrift darf in der Regel kein Ausweisungsgrund vorliegen. Zwar verstößt die mehrfache Einreise des Klägers ohne Aufenthaltstitel gegen § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und stellt zugleich eine Straftat (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) und damit einen Ausweisungsgrund (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) dar. Im vorliegenden Fall spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessenswege von dieser Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden muss. Denn die eingetretene Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist im Hinblick auf den Zweck seiner Einreise, seine nachfolgende Selbstanzeige und die inzwischen erteilte Duldung von geringem Gewicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347 a.E.). Einer weiteren Sachaufklärung bedarf es hierzu nicht.

24

1.5.3 Ob schließlich der Umstand, dass der Kläger ohne das erforderliche Visum eingereist ist, einem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegensteht, kann erst nach weiterer Sachaufklärung entschieden werden. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Von diesem Erfordernis kann etwa dann abgesehen werden, wenn es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles unzumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.

25

Das Berufungsgericht hat das Vorliegen eines solchen Falles ohne hinreichend breite Tatsachengrundlage damit begründet, dass von einer langen Dauer des nachzuholenden Visumverfahrens auszugehen sei, weil der Kläger voraussichtlich den Rechtsweg gegen eine zunächst ablehnende Entscheidung werde beschreiten müssen. Mit dieser Begründung geht das Berufungsgericht zu Unrecht von der Annahme aus, die zuständige Behörde werde trotz einer gerichtlichen Entscheidung, in der ein Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 36 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich bejaht wird, durch Verweigerung des Visums rechtswidrig handeln; zudem hat es versäumt, die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes durch eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO in seine Prognose einzubeziehen (vgl. Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9.12 - InfAuslR 2013, 331 Rn. 22).

26

Für die im Rahmen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG anzustellende Prognose muss vielmehr konkret ermittelt werden, wie lange der familiären Gemeinschaft des Klägers, seiner Lebensgefährtin und der drei Kinder eine Abwesenheit des Klägers zugemutet werden kann. Hierfür kommt es insbesondere darauf an, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und ggf. unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen eine vorübergehende Ausreise des Klägers für die Familie hätte, insbesondere, ob die noch sehr kleinen Kinder auch durch eine verfahrensbedingte Abwesenheit des Klägers von nur wenigen Monaten emotional unzumutbar belastet würden. Die hierfür maßgeblichen tatsächlichen Feststellungen sind bisher nicht getroffen worden.

27

2. Sollte das Berufungsgericht auf der Grundlage der noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen eine negative Entscheidung über einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG treffen, wird diese Entscheidung am Recht der Europäischen Union zu messen sein.

28

2.1 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Unionsbürgerrichtlinie) ist auf den Kläger nicht anwendbar. Sie regelt die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten wahrnehmen können, das Recht dieser Personen auf Daueraufenthalt sowie die Beschränkung dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit und gilt für jeden Unionsbürger, der sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat, sowie seine Familienangehörigen. Der Kläger ist jedoch nicht Familienangehöriger im Sinne der Richtlinie, da er mit dem Kind deutscher Staatsangehörigkeit R. nicht verwandt ist; zudem hat diese von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht und gewährt dem Kläger keinen Unterhalt.

29

Auch die Richtlinie 2003/86/EG des Rates (Familienzusammenführungsrichtlinie) findet keine Anwendung. Zwar sind die Lebensgefährtin des Klägers und seine leiblichen Kinder Drittstaatsangehörige, so dass sie grundsätzlich als Zusammenführende in Betracht kämen. Doch der Kläger zählt nicht zum Kreis der Nachzugsberechtigten, weil er nicht der Ehegatte seiner Lebensgefährtin ist (vgl. Art. 4 Abs. 1a der Richtlinie); die Optionen für den Nachzug nichtehelicher Partner und von Verwandten in gerader aufsteigender Linie, denen von den zusammenführenden Familienangehörigen Unterhalt gewährt wird (vgl. Art. 4 Abs. 2a und Abs. 3 der Richtlinie) sind im deutschen Aufenthaltsrecht nicht genutzt worden.

30

2.2 Als unionsrechtlicher Maßstab kommen im vorliegenden Falle vielmehr allein Art. 20 und 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Betracht.

31

Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser umfasst nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2a, Art. 21 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht dieser grundlegende Status der Unionsbürger nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Dies gilt auch für minderjährige Unionsbürger. Solange sie sich in einer Situation befinden, die durch eine rechtliche, wirtschaftliche oder affektive Abhängigkeit von Drittstaatsangehörigen bestimmt ist, darf auch durch - insbesondere aufenthaltsrechtliche - Maßnahmen gegen diese nicht bewirkt werden, dass sich der minderjährige Unionsbürger rechtlich oder faktisch gezwungen sieht, das Unionsgebiet zu verlassen. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob sich die Maßnahme nur gegen einen Elternteil oder gegen beide Eltern des Unionsbürgers oder gegen andere Bezugspersonen richtet. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Unionsbürger sein Freizügigkeitsrecht bereits ausgeübt hat oder nicht. Allerdings reicht der bloße Wunsch, die Familiengemeinschaft mit allen Familienangehörigen im Unionsgebiet aufrecht zu erhalten, nicht aus. Verhindert werden soll nämlich eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv vollkommen abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen bzw. sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen. Lebt er hingegen mit einem sorgeberechtigten Drittstaatsangehörigen zusammen, der über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und eine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit hat, so spricht dies dagegen, dass eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme gegen einen anderen Drittstaatsangehörigen einen unionsrechtswidrigen Zwang zur Ausreise auslösen könnte (vgl. EuGH, Urteile vom 19. Oktober 2004 - Rs. C-200/02, Zhu und Chen - Slg. 2004, I-9925 Rn. 25 ff.; vom 8. März 2011 - Rs. C-34/09, Zambrano - Slg. 2011, I-1177 Rn. 41 ff.; vom 5. Mai 2011 - Rs. C-434/09, McCarthy - Slg. 2011, I-3375 Rn. 44 ff.; vom 15. November 2011 - Rs. C-256/11, Dereci - NVwZ 2012, 97 Rn. 59 - 69; vom 8. November 2012 - Rs. C-40/11, Iida - NVwZ 2013, 357 Rn. 66 ff.; vom 6. Dezember 2012 - Rs. C-356/11, O. und S. - NVwZ 2013, 419 Rn. 52 ff. mit dem Hinweis auf Rn. 44 der Anträge des Generalanwalts in dieser Sache und vom 8. Mai 2013 - Rs. C-87/12, Ymeraga - InfAuslR 2013, 259 Rn. 34 ff.).

32

Nach diesen Grundsätzen muss sich jede nationale Maßnahme eines Mitgliedstaats gegen drittstaatsangehörige Bezugspersonen minderjähriger Unionsbürger an dem Verbot messen lassen, einen rechtlichen oder faktischen Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets auszulösen und die Unionsbürgerschaft dadurch ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben. Die Berufung auf Art. 20 und 21 AEUV ist allerdings auf seltene Ausnahmefälle beschränkt (EuGH, Urteil vom 8. November 2012 a.a.O. Rn. 71). Zu prüfen sind jeweils alle Umstände des konkreten Falles (EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 53). Ob eine nationale Maßnahme den Kernbestand der Unionsbürgerschaft in diesem Sinne beeinträchtigt, hat das mitgliedstaatliche Gericht zu entscheiden.

33

Lebt der schutzbedürftige minderjährige Unionsbürger in einer "Patchwork-Familie", so sind die sich aus den Besonderheiten dieser familiären Lebensgemeinschaft ergebenden Umstände in die Betrachtung einzubeziehen. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, ob zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den das Aufenthaltsrecht beantragt wird, und dem minderjährigen Unionsbürger eine biologische Beziehung besteht; maßgeblich ist vielmehr, ob der Unionsbürger von dem Drittstaatsangehörigen in finanzieller, rechtlicher oder affektiver Hinsicht im vorerwähnten Sinne abhängig ist. Auch ist es von erheblicher Bedeutung, ob ein faktischer Zwang zur Ausreise den minderjährigen Unionsbürger an der Fortführung eines bestehenden Kontakts zu einem leiblichen Vater oder einer leiblichen Mutter hindert, der bzw. die außerhalb der "Patchwork-Familie" lebt. Schließlich ist zu berücksichtigten, wer das Sorgerecht für den minderjährigen Unionsbürger innehat und ausübt (EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 51, 55).

34

2.3 Diese Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall anwendbar. Ob allerdings die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegenüber dem Kläger unionsrechtlichen Anforderungen genügen würde, kann ohne eine im Falle einer derartigen Entscheidung zu § 36 Abs. 2 AufenthG erforderlich werdenden weiteren Sachaufklärung nicht entschieden werden.

35

Das Berufungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass unabhängig von der Annahme eines außergewöhnlichen Härtefalls im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ein Anspruch des Klägers auf einen Aufenthaltstitel jedenfalls aus Art. 20 AEUV folge, weil die Verweigerung eines Aufenthaltstitels dazu führen werde, dass sowohl seine Lebensgefährtin als auch ihre älteste Tochter R. Deutschland verlassen würden. Diese Annahme beruht auf einem Entscheidungsmaßstab, der der vorzitierten Rechtsprechung des EuGH nicht entspricht. Denn das Berufungsgericht lässt außer Acht, dass R.s Mutter - die Lebensgefährtin des Klägers - über ein Aufenthaltsrecht verfügt, das wegen seiner Bindung an die Minderjährigkeit R.s einem Daueraufenthaltsrecht gleichkommt und dass bereits dieser Umstand der Annahme eines unionsrechtswidrigen faktischen Zwangs zum Verlassen des Unionsgebiets entgegensteht. Gegen einen solchen Zwang spricht auch, dass die Lebensgefährtin des Klägers das alleinige Sorgerecht für R. innehat, so dass diese jedenfalls nicht in einem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis zum Kläger steht. Schließlich hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Lebensgefährtin des Klägers - nicht aber dieser selbst - durch Erwerbstätigkeit zum Unterhalt der Familiengemeinschaft beiträgt, so dass auch nichts für eine wirtschaftliche Abhängigkeit R.s vom Kläger spricht; Unterhaltspflichten hat er ihr gegenüber nicht.

36

Ob die übrigen nach der vorzitierten Rechtsprechung des EuGH maßgeblichen Kriterien gegeben sind oder nicht, lässt sich ohne zusätzliche Sachverhaltsaufklärung allerdings nicht feststellen. Insbesondere liegen keine aussagekräftigen Feststellungen dazu vor, ob zwischen R. und dem Kläger ein affektives Abhängigkeitsverhältnis besteht, dessen Intensität trotz der festgestellten Umstände - insbesondere der wirtschaftlichen, rechtlichen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch affektiven Bindung R.s an ihre Mutter - für das Vorliegen eines unionsrechtswidrigen Zwangs zum Verlassen des Unionsgebiets sprechen könnte. Hinreichende Feststellungen fehlen auch zu der weiteren Frage, ob eine emotionale Beziehung zwischen R. und ihrem leiblichen Vater festgestellt werden kann, die eine möglicherweise bestehende affektive Abhängigkeit R.s vom Kläger relativieren würde. Erst wenn diese Aspekte hinreichend geklärt sind, kann ggf. entschieden werden, ob die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts gegenüber dem Kläger mit Art. 20 AEUV und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH im Einklang stünde.

Tenor

Den Beschwerdeführern wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 6. November 2012 - VG 5 K 23/11.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Cottbus zurückverwiesen.

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2013 - OVG 3 N 5.13 - wird damit gegenstandslos.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000,- € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG zugunsten einer afghanischen Familie.

2

1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der 1981 geborene Beschwerdeführer zu 1. und die 1987 geborene Beschwerdeführerin zu 2. reisten im Jahr 2009 in das Bundesgebiet ein, die im März 2011 geborene Beschwerdeführerin zu 3. ist ihr gemeinsames Kind. Die Asylanträge der miteinander verheirateten Beschwerdeführer zu 1. und 2. wurden als unbegründet abgelehnt.

3

2. Mit ihren hiergegen gerichteten Klagen machten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. geltend, in Kandahar von den Taliban mit dem Tode bedroht worden zu sein. Weder in ihrer Heimatregion Kandahar noch in einer sonstigen Provinz Afghanistans könne derzeit eine Familie mit Kleinkind ihre Existenz sichern, wenn sie nicht durch einen Familienverband abgesichert und aufgefangen werde. Auch litten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. an Erkrankungen, die in Deutschland behandelt werden müssten.

4

3. Das Verwaltungsgericht Cottbus wies die Klagen durch Urteil vom 6. November 2012 zurück. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. hätten keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Beschwerdeführer zu 1. könne hinsichtlich der geltend gemachten Verfolgung durch die Taliban auf Kabul als inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Von ihm könne vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Kabul aufhalte, da davon auszugehen sei, dass er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde und insbesondere das Existenzminimum gesichert sei. Für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige bestehe auch ohne familiären Rückhalt die Möglichkeit, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Der Beschwerdeführer zu 1. gehöre zu dieser Personengruppe, da er sich um den Lebensunterhalt der Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. nicht kümmern müsse. Diese könnten in die Heimatregion Kandahar zurückkehren, da ihnen dort keine Verfolgung oder sonst zu berücksichtigende Gefahr drohe. Denn die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. verfügten in Kandahar über familiären Rückhalt, der insoweit an die Stelle des Beschwerdeführers zu 1. treten könne. Es sei auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass sich die vorgetragenen Erkrankungen der Beschwerdeführer zu 1. und 2. im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund zielstaatsbezogener Umstände wesentlich verschlimmern würden.

5

4. Im Berufungszulassungsverfahren rügten die Beschwerdeführer zu 1. und 2., das Verwaltungsgericht habe gegen den in Art. 23 der so genannten Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) niedergelegten Grundsatz der Wahrung des Familienverbandes verstoßen, indem es den Beschwerdeführern zumute, dauerhaft voneinander getrennt in Kabul und Kandahar leben zu müssen. Auch habe das Verwaltungsgericht seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts verletzt, indem es unterstellt habe, die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. könnten ohne Probleme nach Kandahar zurückkehren und würden dort von den Eltern der Beschwerdeführerin zu 2. aufgenommen. Weder habe das Verwaltungsgericht entsprechende Fragen an die Beschwerdeführer gerichtet, noch hätten diese von sich aus darauf eingehen müssen, da die vom Verwaltungsgericht im Urteil zugrundegelegte Trennung der Beschwerdeführer überraschend gewesen sei. Auch die Ablehnung der Beweisanträge hinsichtlich der geltend gemachten Erkrankungen verstoße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.

6

5. Mit Beschluss vom 24. Januar 2013 lehnte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Dass das Verwaltungsgericht Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie nicht berücksichtigt habe, weise höchstens auf eine materiell unrichtige Entscheidung hin, lasse jedoch nicht erkennen, warum die Vorschrift bei der Entscheidung über ein Abschiebungsverbot für eine Familie mit Kleinkind über den Einzelfall hinaus bedeutsam sei und ihre Reichweite im Interesse der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfe. Der von den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf der ungenügenden Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht werde vom Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG nicht erfasst. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beschwerdeführer könnten sich trennen, sei keine unzulässige Überraschungsentscheidung. Es gebe auch keine Anhaltspunkte, dass die Ablehnung der erstinstanzlich gestellten Beweisanträge nicht vom Prozessrecht gedeckt sei.

7

6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG geltend, weil das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Zulassung der Berufung überspannt habe. Es stelle sowohl im Hinblick auf Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie als auch hinsichtlich Art. 6 GG und Art. 8 EMRK eine abstrakte Frage dar, ob eine aufenthaltsbeendende Entscheidung in Kauf nehmen dürfe, dass eine Familie dauerhaft getrennt leben müsse. Das Verwaltungsgericht habe gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen, indem es in seinem Urteil von der Zumutbarkeit einer Trennung der Beschwerdeführer ausgegangen sei, ohne vorab auf diese Rechtsansicht hinzuweisen. Dadurch hätten die Beschwerdeführer keine Gelegenheit gehabt, eingehender zu ihrer familiären Situation vorzutragen und gegebenenfalls Beweisanträge zu einzelnen Fragen des Überlebens alleinstehender Frauen in Kandahar zu stellen. Mit ihren Entscheidungen verstießen die Gerichte schließlich gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Bei einer Abschiebung, die eine dauerhafte Trennung der Beschwerdeführer zur Folge habe, hätte eine Abwägung mit ihren familiären Belangen stattfinden müssen. Daran fehle es.

8

7. Das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

10

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, obwohl sie nicht innerhalb der in § 93 Abs. 1 BVerfGG geregelten Monatsfrist eingelegt und begründet worden ist. Den Beschwerdeführern war insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu gewähren. Sie haben innerhalb der Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG glaubhaft gemacht, dass sie das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post gegeben haben, dass es bei normalem Verlauf der Dinge das Bundesverfassungsgericht fristgerecht hätte erreichen können. Die Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG darf den Beschwerdeführern nicht als Verschulden zugerechnet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Januar 2003 - 2 BvR 447/02 -, NJW 2003, S. 1516).

11

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG.

12

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 <396 f.>; 76, 1 <47>; 80, 81 <93>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Be-schluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, S. 171 <173>; BVerfGK 2, 190 <194>), auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, S. 67 <68>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

13

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

14

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>).

15

b) Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Bei der nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu erstellenden Gefahrenprognose ist das Verwaltungsgericht von getrennten Aufenthaltsorten der Beschwerdeführer in Afghanistan ausgegangen. Es hat den Beschwerdeführer zu 1. der Personengruppe der alleinstehenden, arbeitsfähigen Männer zugeordnet, denen Kabul als inländische Fluchtalternative offensteht, während es für die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. eine Rückkehr in die Heimatprovinz Kandahar als zumutbar erachtet hat. Obwohl das Verwaltungsgericht damit seiner Entscheidung zugrunde legt, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan ihr künftiges Leben getrennt voneinander führen müssen, fehlt in dem Urteil jede Auseinandersetzung mit den aus Art. 6 GG folgenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an staatliche Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Dies zeigt, dass sich das Verwaltungsgericht des Einflusses des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie auf die Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerwGE 90, 364 <369 f.>, zur vergleichbaren früheren Rechtslage) nicht bewusst gewesen ist.

16

c) Das angegriffene Urteil beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 6 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, den Beschwerdeführern günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das angegriffene Urteil auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts gegenstandslos. Seiner Aufhebung bedarf es nicht, weil von ihm insoweit keine selbstständige Beschwer ausgeht (vgl. BVerfGE 14, 320 <324>; 76, 143 <170>). Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Verfassungsverstöße kommt es nicht an.

III.

17

Mit dieser Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

IV.

18

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Die Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt kann für jeweils längstens drei Jahre erteilt und verlängert werden, in den Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 jedoch für längstens sechs Monate, solange sich der Ausländer noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Asylberechtigten und Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt worden ist, wird die Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre. Ausländern, die die Voraussetzungen des § 25 Absatz 3 erfüllen, wird die Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr erteilt. Die Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 1 und Absatz 4b werden jeweils für ein Jahr, Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 4a Satz 3 jeweils für zwei Jahre erteilt und verlängert; in begründeten Einzelfällen ist eine längere Geltungsdauer zulässig.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.

(3) Einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn

1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
sein Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist,
4.
er über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
§ 9 Absatz 2 Satz 2 bis 6, § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 finden entsprechend Anwendung; von der Voraussetzung in Satz 1 Nummer 3 wird auch abgesehen, wenn der Ausländer die Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 oder § 235 Absatz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erreicht hat. Abweichend von Satz 1 und 2 ist einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder 2 Satz 1 erste Alternative besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn
1.
er die Aufenthaltserlaubnis seit drei Jahren besitzt, wobei die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Absatz 3 des Asylgesetzes auf die für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird,
2.
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nach § 73b Absatz 3 des Asylgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen,
3.
er die deutsche Sprache beherrscht,
4.
sein Lebensunterhalt weit überwiegend gesichert ist und
5.
die Voraussetzungen des § 9 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 bis 6, 8 und 9 vorliegen.
In den Fällen des Satzes 3 finden § 9 Absatz 3 Satz 1 und § 9 Absatz 4 entsprechend Anwendung. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für einen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4 besitzt, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahme vor.

(4) Im Übrigen kann einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylgesetzes auf die Frist angerechnet. Für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann § 35 entsprechend angewandt werden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.