Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil, 13. Okt. 2011 - L 5 KR 12/11
Gericht
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 15.12.2010 und der Bescheid der Beklagten vom 17.07.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.07.2008 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten der Krankenhausbehandlung vom 25.10.2010 bis 29.10.2010 im St. V -Krankenhaus H zur Durchführung der Magenbypassoperation in Höhe von 7.256,72 € zu erstatten.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand
- 1
Streitig ist die Erstattung der Kosten einer Magenbypassoperation in Höhe von 7.256,72 €.
- 2
Die 1960 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin wog im Mai 2007 bei einer Körpergröße von 165 cm 173 kg, der Body-Mass-Index (BMI) betrug 63,5 kg/qm. Neben der seinerzeit schon seit mehr als 20 Jahren bestehenden Adipositas leidet die Klägerin an einem Zustand nach Lungenkrebserkrankung 1997 sowie arthrotischen Beschwerden des gesamten Bewegungsapparats, einem Asthma bronchiale sowie Depressionen. Zur Gewichtsabnahme durchgeführte ambulante Therapieversuche sowie Kurmaßnahmen in den Jahren 1983, 1987 und 2003, Weight-Watchers-Diäten 1992 und 1998 sowie von März 2001 bis Juli 2003, psychologische Behandlungen 2003 bis 2004 und zuletzt die Teilnahme an einem Intensivkurs zur Ernährungsumstellung mit Betreuung (Wake up/Trennkost) blieben ohne dauerhaften Erfolg. Gestützt auf Atteste ihres Hausarztes Dr. W vom 11.05.2007, des Internisten W vom 29.01.2007, des Nervenarztes Dr. W vom 13.03.2007 und eines ärztlichen Antragsschreibens von Prof. Dr. W , Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses S und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie der Adipositas, vom 03.05.2007 beantragte die Klägerin im Mai 2007 bei der Beklagten die Gewährung einer Krankenhausbehandlung zur laparoskopischen Magenbypassoperation. Mit dieser Operationsmethode wird das effektive Magenvolumen verkleinert und der zur vollständigen Verdauung zur Verfügung stehende Weg durch den Dünndarm verkürzt. Auf diese Weise soll die aufgenommene Nahrungsmenge verringert werden und die Fettverdauung im Dünndarm reduziert werden. Gestützt auf ein Gutachten des Dr. S vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 29.06.2007, der im Hinblick insbesondere auf die generellen Operationsrisiken und einen bisher fehlenden Wirksamkeitsnachweis bariatrischer Operationen die Maßnahme nicht befürwortete, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.07.2007 den Antrag ab.
- 3
Im Widerspruchsverfahren verwies die Klägerin auf ihre zahlreichen erfolglos gebliebenen konservativen Abnehmversuche bei nach Verlust eines Lungenflügels und auf Grund des hohen Gewichts eingeschränkter körperlicher Bewegungsfähigkeit. Die Beklagte zog eine ergänzende Stellungnahme von Dr. S vom 17.08.2007 bei sowie Auskünfte des Dr. W vom 28.09.2007, von Prof. Dr. W vom 08.10.2007 und des Internisten W vom 07.01.2008. Dr. W bejahte eine dringende OP-Indikation, Prof. Dr. W betonte, dass alternative Behandlungsmethoden nicht mehr Erfolg versprechend seien und trotz der Begleiterkrankungen der Klägerin, insbesondere der Oberlappenresektion der linken Lunge 1997, keine absolute Kontraindikation für die operative Maßnahme bestehe. Mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.2008 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zwar sei die Grundvoraussetzung für eine Operation angesichts eines BMI von 63,5 gegeben, auch die Möglichkeit der lebenslangen Nachsorge werde von Prof. Dr. W bestätigt. Dieser bezeichne auch das OP-Risiko als tolerabel, allerdings sehe der MDK dies wohl anders, ohne dass aus dem Gutachten ganz klar werde, ob der MDK die Adipositas als solche oder die Begleiterkrankungen berücksichtige. Gegenindikationen seien allerdings die Depressionen, derentwegen sich die Klägerin in ärztlicher Behandlung befinde, auch seien die konservativen Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft, weil die Klägerin bisher nicht an einem leitliniengerechten sechs- bis zwölfmonatigen strukturierten Therapieprogramm teilgenommen habe. Auch die Motivation der Klägerin sei nicht ausreichend belegt. Hiervon könne erst ausgegangen werden, wenn die konservative Therapie durchgehalten worden sei.
- 4
Am 22.07.2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Koblenz (SG) erhoben. Das SG hat von Dr. W einen Befundbericht vom 24.09.2008 eingeholt, wonach bei der Klägerin sei Mitte 2002 die Entwicklung eines zunehmenden psychophysischen Erschöpfungszustands mit depressiver Verstimmung eingetreten sei. Die Klägerin hat Atteste des Dr. W vom 14.11.2008 und 09.12.2008 vorgelegt; in letztgenannter Bescheinigung hat dieser ausgeführt, seines Wissens habe die Klägerin bisher nicht an einem ärztlich geleiteten Adipositas-Programm teilgenommen. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG ein internistisches Gutachten von Dr. K vom 25.05.2009 eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, bei der Klägerin sei aktuell im Mai 2009 im Rahmen einer stationären Untersuchung mittels Linksherzkatheter eine koronare Herzerkrankung ausgeschlossen worden, es habe sich jedoch die Diagnose einer Kardiomyopathie mit linksventrikulärer Funktionsstörung ergeben. Das extreme Übergewicht erhöhe das Risiko einer rezidivierenden kardialen Dekompensation. Eine entsprechende operative Intervention sei zur Reduzierung des kardialen Risikos dringend indiziert. Weiter abklärungsbedürftig sei der Verdacht auf ein Rezidiv der Neoplasie, eine laborchemisch ausgeprägte entzündliche Konstellation sei mit der Diagnose einer Pneumonie vereinbar. Erstmals sei nunmehr die Diagnose eines Typ II Diabetes mellitus zu stellen. Die Klägerin leide ferner infolge des Übergewichts an seit längerem zunehmenden Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie beider Kniegelenke. Der einzig sinnvolle Therapieansatz sei für die Klägerin eine Gewichtsreduktion um etwa 80 kg, welche nur durch eine entsprechende operative Intervention mit Reduzierung der Magengröße zu erreichen sei. Die Beklagte hat eingewandt, den Gutachten des Dr. K könne sie die Prognose von mit Sicherheit eintretenden schweren Schäden bei Abwarten einer Therapiedauer von 6 bis 12 Monaten für eine leitlinienkonforme konventionelle Therapie nicht entnehmen. Die Klägerin hat nachfolgend den Arztbrief von Dr. V , Chefarzt des Bereiches Allgemein- und Viszeralchirurgie der chirurgischen Abteilung des St. V -Krankenhaus H vom 01.09.2010 vorgelegt. Danach lag bei einer ärztlichen Untersuchung der Klägerin am 31.08.2010 bei einer Körpergröße von 166 cm ein aktuelles Gewicht von 177 kg vor, entsprechend einem BMI von 56 (richtig: 64,2) kg/qm vor. Es bestehe eine klare Indikation zur operativen Behandlung des krankhaften Übergewichtes, Daten aus der Weltliteratur, die Erfolge konservativer Behandlungen bei einem solchen BMI zeigten, seien nicht bekannt. Zuvor müssten eine intensive kardiologische Untersuchung, eine Lungenfunktionsprüfung sowie ein Komplettlabor durchgeführt werden. Über die Notwendigkeit der begleitenden Nachsorge durch die operierende Klinik sei die Klägerin informiert. Die Klägerin hat im Rahmen einer stationären Behandlung im St. V -Krankenhaus H vom 25.10.2010 bis 29.10.2010 den Eingriff durchführen lassen und hierfür gemäß DRG-Abrechnung der Klinik vom 02.11.2010 7.256,72 € selbst bezahlt. Laut Attest des Dr. W vom 08.12.2010 hat sie bisher 25 kg an Gewicht verloren. In der mündlichen Verhandlung des Sozialgerichts hat sie erklärt, seit der Operation habe sie ihr Hungergefühl im Griff, insgesamt habe sich ihre Situation verbessert, so dass sie schon wieder spazieren gehen könne. Ab Januar 2011 beabsichtige sie die Aufnahme von Reha-Sport.
- 5
Durch Urteil vom 15.12.2010 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die engen Voraussetzungen für eine Einstandspflicht der Beklagten hinsichtlich der Kosten für eine mittelbare Behandlung des krankhaften Übergewichts der Klägerin durch einen operativen Eingriff am gesunden Magen lägen nicht vor. Nach der evidenzbasierten Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas", Version 2007, solle eine chirurgische Therapie der Adipositas nur erfolgen, wenn zuvor eine wenigstens sechs- bis zwölfmonatige konservative Behandlung nach definierten Qualitätskriterien stattgefunden habe. Diesen Anforderungen würden die zahlreichen von der Klägerin bis zur Operation durchgeführten Maßnahmen jedoch nicht gerecht. Hieran ändere auch das Ergebnis des auf Antrag der Klägerin eingeholten Gutachtens des Dr. K nichts.
- 6
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 08.01.2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.01.2011 Berufung eingelegt. Sie verweist darauf, dass anderen Betroffenen auch ohne Durchführung eines entsprechenden langfristigen Therapieprogramms die Operationskosten erstattet worden seien.
- 7
Die Klägerin beantragt,
- 8
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 15.12.2010 und den Bescheid der Beklagten vom 17.07.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.07.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten der im Oktober 2010 durchgeführten Magenbypassoperation in Höhe von 7.256,72 € zu erstatten.
- 9
Die Beklagte beantragt,
- 10
die Berufung zurückzuweisen,
- 11
hilfsweise,
- 12
die Revision zuzulassen.
- 13
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 14
Auf Veranlassung des Senats unter Hinweis auf die überarbeiteten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie - Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie (CA-ADIP) "Chirurgie der Adipositas" (Stand April 2010, zitiert nach www.uni-duesseldorf.de/AWMF/II/088-001.htm) hat die Beklagte ein MDK-Gutachten von Dr. L /Arzt S vom 03.06.2011 vorgelegt, die betonen, bereits nach dem aktuellen Begutachtungsleitfaden des MDK sei bei Vorliegen eines BMI größer/= 60 kg/qm von einer ausnahmsweisen Indikation der chirurgischen Maßnahme auszugehen, weil nach der aktuell verfügbaren Literatur eine relevante Gewichtsbeeinflussung auch unter multimodaler Therapie nicht zu erwarten sei. In dieser Konstellation sei nur sicherzustellen, dass keine Kontraindikation oder keine vorrangig zu behandelnden Grunderkrankungen vorliegen und dass eine ernährungsmedizinische Betreuung als Vorbereitung auf die postoperative Phase stattgefunden habe. Im Nachhinein entspreche die von Dr. V im Oktober 2010 durchgeführte Magenbypassoperation sowohl den aktualisierten Leitlinien als auch der bereits vor der Operation eingeführten neuen Begutachtungsrichtlinie des MDK. Befunde, die vor der Operation als Kontraindikationen zu werten gewesen bzw. einer entsprechenden näheren Abklärung bedurft hätten, seien damals falsch eingeschätzt worden. Das St. V -Krankenhaus gehöre allerdings nicht zu den 12 bislang zertifizierten Kompetenz- und Referenzzentren für Adipositas und metabolische Chirurgie, wobei aus MDK-Sicht nur in diesen eine entsprechende Operation erfolgen sollte.
- 15
Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, der revidierten Beurteilung des MDK könne sie nicht folgen, sie sei ausschließlich auf Grund generalisierender Erwägungen erfolgt und könne keine Betrachtung im Einzelfall ersetzen, wie das LSG Stuttgart in seiner Entscheidung vom 20.06.2011 (L 5 KLAR 297/09) ausgeführt habe. Zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin selbst von früheren erheblichen Gewichtsabnahmen von 20 bis 50 kg auf Grund unstrukturierter Eigenbemühungen berichtet habe. Zudem sei nicht ersichtlich, dass die Indikationsstellung entsprechend der aktuellen Leitlinie durch einen in der Adipositas-Therapie qualifizierten Arzt erfolgt sei, da weder Dr. W (Attest vom 20.01.2008), Dr. W (Atteste vom 11.05.2007 und 14.11.2008) noch Dr. K (Gutachten vom 25.05.2009) ersichtlich über eine solche Qualifizierung verfügten. Die Klägerin stimmt der Beurteilung des MDK im Gutachten vom 03.06.2011 ausdrücklich zu.
- 16
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Akteninhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Entscheidungsgründe
- 17
Die nach §§ 143 4, 151 SGG zulässige Berufung ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Magenbypassoperation.
- 18
Die Klage ist zulässig. Die Umstellung des Klageantrags von der ursprünglich geforderten Sachleistung auf Kostenerstattung ist nach Durchführung der Magenbypassoperation sachgerecht und nach § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG nicht als Klageänderung zu werten.
- 19
Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch der Klägerin ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach sind, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin erfüllt. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Starkes Übergewicht (im Allgemeinen ab einem BMI größer/= 30) stellt eine Krankheit dar. Dabei kann dahinstehen, ob bereits der Adipositas als solcher Krankheitswert zukommt. Jedenfalls besteht bei einem solchen Übergewicht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerkrankungen, dass eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich macht (BSG 19.02.2003 - B 1 KR 1/02 R, SozR 4 - 2500 § 137 c Nr. 1).
- 20
Eine mittelbare Krankenbehandlung durch chirurgische Operation eines funktionell intakten Organs zur Behandlung einer anderweitigen krankhaften Funktionsstörung bedarf jedoch einer speziellen Rechtfertigung. Die bei der Klägerin durchgeführte Magenbypassoperation stellt eine solche mittelbare Krankenbehandlung dar. Denn Ursache für das Übergewicht der Klägerin ist deren krankhaftes Essverhalten. Der chirurgische Eingriff am funktionell intakten Magen soll lediglich mittelbar dieses krankhafte Essverhalten beeinflussen. Eine solche mittelbare Krankenbehandlung ist nur dann ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V), wenn sie nach Art und Schwere der Erkrankung, Dringlichkeit der Intervention sowie nach Abwägung der Risiken und des zu erwartenden Nutzens der Therapie sowie etwaiger Folgekosten für die Krankenversicherung gerechtfertigt ist (BSG, a.a.O.).
- 21
Nach diesen Maßstäben kommt eine chirurgische Behandlung der extremen Adipositas zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nur in Betracht, wenn nach dem zum maßgeblichen Zeitpunkt der Durchführung der Operation aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für einen chirurgischen Eingriff in ein gesundes Körperorgan gegeben waren. Die chirurgische Adipositastherapie kommt grundsätzlich nur als ultima ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI ≥ 40 oder ≥ 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen; Erschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten; tolerables Operationsrisiko; ausreichende Motivation; keine manifeste psychiatrische Erkrankung; Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung; BSG, a.a.O.; BSG 16.012.2008 - B 1 KR 2/08 R Rn. 23, SozR 4 - 2500 § 13 Nr. 20). Nach der einschlägigen überarbeiteten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie - Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie (CA-ADIP) "Chirurgie der Adipositas" (Stand April 2010, Seite 13), die den zum Zeitpunkt der Durchführung der Operation im Oktober 2010 aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wiedergibt, ist eine Operation am Magen nur indiziert, wenn alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Das ist der Fall, wenn durch eine multimodale konservative Therapie innerhalb von mindestens sechs Monaten das Therapieziel nicht erreicht und gehalten wurde. Die Möglichkeiten zur Ernährungstherapie sind erst dann erschöpft, wenn mittels einer energiereduzierten Mischkost und einer weiteren ernährungsmedizinischen Maßnahme (z.B. Formula-Diät, weitere Form einer energiereduzierten Mischkost) das Therapieziel nicht erreicht wurde. Zusätzlich ist, soweit keine Barrieren bestehen, mindestens zwei Stunden wöchentlich eine Ausdauer- und/oder Kraftausdauersportart sowie eine ambulante oder stationäre Psychotherapie (Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie) durchzuführen. Diese Voraussetzungen waren zwar bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Operation nicht in vollem Umfang erfüllt, wie das SG im Einzelnen ausgeführt hat. Gleichwohl war jedoch im vorliegenden Ausnahmefall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Sachverhalts eine Magenbypassoperation als ultima ratio gerechtfertigt.
- 22
Die überarbeiteten Leitlinien (a.a.O., Seite 13) sehen nunmehr ausdrücklich eine ausnahmsweise primäre Operationsindikation vor. Lassen Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch primär eine chirurgische Therapie durchgeführt werden. Bei der Klägerin, die zum Operationszeitpunkt nach dem Bericht des Dr. V vom 01.09.2010 bei einer Körpergröße von 166 cm 177 kg wog, was einem BMI von 64,2 kg/qm entspricht, war eine konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg. Nicht nur Dr. V hat betont, dass ihm bei einem solchen BMI - wobei er fälschlich von einem Wert von nur 56 kg/qm ausgegangen ist - Erfolge konservativer Behandlungen aus der Weltliteratur nicht bekannt sind. Auch die Ärzte im MDK Dr. L /S haben im Gutachten vom 03.06.2011 hervorgehoben, dass nach der aktuell verfügbaren Literatur eine relevante Gewichtsbeeinflussung auch unter multimodaler Therapie bei Vorliegen eines BMI größer/= 60 kg/qm nicht zu erwarten sei, so dass der aktuelle Begutachtungsleitfaden des MDK bei einem solchen Ausmaß der Adipositas ausnahmsweise eine primäre Indikation für eine chirurgische Adipositastherapie vorsieht. Der Magenbypass stellt dann auch nach dem Ergebnis der zuletzt gehörten MDK-Gutachter ein anerkanntes Verfahren dar. Eine Ernährungsberatung war bei der Klägerin erfolgt, "psychiatrische Bedenken" haben die Gutachter des MDK ebenfalls verneint und die zunächst als Kontraindikationen gesehenen Befunde haben sich im Nachhinein als falsch eingeschätzt herausgestellt. Die Operation ist in einem zugelassenen Krankenhaus im Bereich Allgemein- und Viszeralchirurgie erfolgt. Dass dieses nach dem MDK-Gutachten von Dr. L /Arzt S nicht zu den 12 bislang zertifizierten Kompetenz- und Referenz-Zentren für Adipositas- und metabolische Chirurgie gehört, schließt die Einstandspflicht der Beklagten nicht aus; zudem hat die Beklagte in Kenntnis der beabsichtigten Operation in ihrem im Klageverfahren eingereichten Schriftsatz vom 20.09.2010 diesbezügliche Bedenken an den von der Klägerin ausgewählten Leistungserbringern nicht geäußert.
- 23
Die von der Beklagten geäußerten Bedenken an der zuletzt vom MDK abgegebenen Beurteilung vermag der Senat nicht zu teilen. Der MDK bejaht im Gutachten vom 03.06.2011 die primäre Operationsindikation nicht ausschließlich auf Grund generalisierter Erwägungen, sondern berücksichtigt das konkret bei der Klägerin gegebene Ausmaß der Adipositas sowie die bei ihr vorliegenden Begleiterkrankungen bei seiner Einschätzung. Bei der Klägerin bestand zum Operationszeitpunkt insbesondere ein Zustand nach Verlust eines Lungenflügels, ein psychophysischer Erschöpfungszustand (Bericht des Dr. W vom 24.09.2008) sowie die von Dr. K im Gutachten vom 24.05.2009 festgestellte Kardiomyopathie mit linksventrikulärer Funktionsstörung, durch das extreme Übergewicht ein erhöhtes Risiko einer rezidivierenden kardialen Dekompensation, ein Diabetes mellitus Typ II sowie Lendenwirbelsäulen- und Kniegelenksbeschwerden. Der Hinweis auf das Urteil des LSG Stuttgart vom 20.06.2001 (L 5 KR 297/09) führt nicht weiter. Nach den Feststellungen des LSG Stuttgart war im von diesem Gericht entschiedenen Fall eine Versicherte mit einem BMI von 43,1 betroffen, mithin mit einem wesentlich geringer ausgeprägten Ausmaß der Adipositas als im Fall der Klägerin. Die vom LSG Stuttgart im Urteil vom 20.06.2011 (a.a.O.) erfolgte Verneinung einer primären OP-Indikation lässt sich mithin auf die Konstellation der Klägerin gerade nicht übertragen. Entgegen der Auffassung der Beklagten haben vorliegend an der Indikationsstellung nicht nur die behandelnden (Haus-)Ärzte der Klägerin mitgewirkt, sondern bereits im ärztlichen Antragsschreiben vom 03.05.2007 mit Prof. Dr. W , dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie der Adipositas, ein in der Adipositastherapie besonders qualifizierter Arzt.
moreResultsText
Annotations
Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.
Bei jedem Gericht wird eine Geschäftsstelle eingerichtet, die mit der erforderlichen Zahl von Urkundsbeamten besetzt wird. Das Nähere bestimmen für das Bundessozialgericht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, für die Sozialgerichte und Landessozialgerichte die nach Landesrecht zuständigen Stellen.
(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.
(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
(1) Eine Änderung der Klage ist nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält.
(2) Die Einwilligung der Beteiligten in die Änderung der Klage ist anzunehmen, wenn sie sich, ohne der Änderung zu widersprechen, in einem Schriftsatz oder in einer mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen haben.
(3) Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrunds
- 1.
die tatsächlichen oder rechtlichen Ausführungen ergänzt oder berichtigt werden, - 2.
der Klageantrag in der Hauptsache oder in bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird, - 3.
statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird.
(4) Die Entscheidung, daß eine Änderung der Klage nicht vorliege oder zuzulassen sei, ist unanfechtbar.
(1) Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt
- 1.
Ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, - 2.
zahnärztliche Behandlung, - 2a.
Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen, - 3.
Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln sowie mit digitalen Gesundheitsanwendungen, - 4.
häusliche Krankenpflege, außerklinische Intensivpflege und Haushaltshilfe, - 5.
Krankenhausbehandlung, - 6.
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen.
(1a) Spender von Organen oder Geweben oder von Blut zur Separation von Blutstammzellen oder anderen Blutbestandteilen (Spender) haben bei einer nach den §§ 8 und 8a des Transplantationsgesetzes erfolgenden Spende von Organen oder Geweben oder im Zusammenhang mit einer im Sinne von § 9 des Transfusionsgesetzes erfolgenden Spende zum Zwecke der Übertragung auf Versicherte (Entnahme bei lebenden Spendern) Anspruch auf Leistungen der Krankenbehandlung. Dazu gehören die ambulante und stationäre Behandlung der Spender, die medizinisch erforderliche Vor- und Nachbetreuung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie die Erstattung des Ausfalls von Arbeitseinkünften als Krankengeld nach § 44a und erforderlicher Fahrkosten; dies gilt auch für Leistungen, die über die Leistungen nach dem Dritten Kapitel dieses Gesetzes, auf die ein Anspruch besteht, hinausgehen, soweit sie vom Versicherungsschutz des Spenders umfasst sind. Zuzahlungen sind von den Spendern nicht zu leisten. Zuständig für Leistungen nach den Sätzen 1 und 2 ist die Krankenkasse der Empfänger von Organen, Geweben oder Blutstammzellen sowie anderen Blutbestandteilen (Empfänger). Im Zusammenhang mit der Spende von Knochenmark nach den §§ 8 und 8a des Transplantationsgesetzes, von Blutstammzellen oder anderen Blutbestandteilen nach § 9 des Transfusionsgesetzes können die Erstattung der erforderlichen Fahrkosten des Spenders und die Erstattung der Entgeltfortzahlung an den Arbeitgeber nach § 3a Absatz 2 Satz 1 des Entgeltfortzahlungsgesetzes einschließlich der Befugnis zum Erlass der hierzu erforderlichen Verwaltungsakte auf Dritte übertragen werden. Das Nähere kann der Spitzenverband Bund der Krankenkassen mit den für die nationale und internationale Suche nach nichtverwandten Spendern von Blutstammzellen aus Knochenmark oder peripherem Blut maßgeblichen Organisationen vereinbaren. Für die Behandlung von Folgeerkrankungen der Spender ist die Krankenkasse der Spender zuständig, sofern der Leistungsanspruch nicht nach § 11 Absatz 5 ausgeschlossen ist. Ansprüche nach diesem Absatz haben auch nicht gesetzlich krankenversicherte Personen. Die Krankenkasse der Spender ist befugt, die für die Leistungserbringung nach den Sätzen 1 und 2 erforderlichen personenbezogenen Daten an die Krankenkasse oder das private Krankenversicherungsunternehmen der Empfänger zu übermitteln; dies gilt auch für personenbezogene Daten von nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz Krankenversicherungspflichtigen. Die nach Satz 9 übermittelten Daten dürfen nur für die Erbringung von Leistungen nach den Sätzen 1 und 2 verarbeitet werden. Die Datenverarbeitung nach den Sätzen 9 und 10 darf nur mit schriftlicher Einwilligung der Spender, der eine umfassende Information vorausgegangen ist, erfolgen.
(2) Versicherte, die sich nur vorübergehend im Inland aufhalten, Ausländer, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt wurde, sowie
- 1.
asylsuchende Ausländer, deren Asylverfahren noch nicht unanfechtbar abgeschlossen ist, - 2.
Vertriebene im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 des Bundesvertriebenengesetzes sowie Spätaussiedler im Sinne des § 4 des Bundesvertriebenengesetzes, ihre Ehegatten, Lebenspartner und Abkömmlinge im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes haben Anspruch auf Versorgung mit Zahnersatz, wenn sie unmittelbar vor Inanspruchnahme mindestens ein Jahr lang Mitglied einer Krankenkasse (§ 4) oder nach § 10 versichert waren oder wenn die Behandlung aus medizinischen Gründen ausnahmsweise unaufschiebbar ist.
(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.
(1a) Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.
(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen. Die Leistungen werden auf Antrag durch ein Persönliches Budget erbracht; § 29 des Neunten Buches gilt entsprechend. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.
(3) Bei der Auswahl der Leistungserbringer ist ihre Vielfalt zu beachten. Den religiösen Bedürfnissen der Versicherten ist Rechnung zu tragen.
(4) Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte haben darauf zu achten, daß die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden.
(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
(2) Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag.
(3) Hat die Krankenkasse Leistungen ohne Rechtsgrundlage oder entgegen geltendem Recht erbracht und hat ein Vorstandsmitglied hiervon gewußt oder hätte es hiervon wissen müssen, hat die zuständige Aufsichtsbehörde nach Anhörung des Vorstandsmitglieds den Verwaltungsrat zu veranlassen, das Vorstandsmitglied auf Ersatz des aus der Pflichtverletzung entstandenen Schadens in Anspruch zu nehmen, falls der Verwaltungsrat das Regreßverfahren nicht bereits von sich aus eingeleitet hat.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.