Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 18. Feb. 2015 - L 7 R 292/11

bei uns veröffentlicht am18.02.2015

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts A-Stadt vom 05.09.2011 aufgehoben.

Der Rechtsstreit ist weiterhin vor dem Sozialgericht A-Stadt anhängig.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten inhaltlich darüber, ob die Entgelte, die der Kläger in der Zeit seiner Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR erzielt hat, in voller Höhe oder lediglich bis zur Höhe der jeweiligen Beiträge der Anlage 6 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) zu berücksichtigen sind. Streitgegenstand ist jedoch allein, ob der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht A-Stadt durch den Eintritt der gesetzlichen Klagrücknahmefiktion beendet wurde.

2

Der am 29. Oktober 1937 geborene Kläger beantragte am 18. Juli 2000 eine Altersrente für langjährig Versicherte ab Vollendung des 63. Lebensjahres.

3

Mit Bescheid vom 29. August 2000 bewilligte die Beklagte ihm die Altersrente mit Rentenbeginn am 1. November 2000.

4

Dagegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 15. September 2000, dem die Beklagte teilweise dadurch abhalf, dass der Rentenbescheid vom 29. August 2000 nunmehr als vorläufiger Bescheid gemäß § 42 SGB I behandelt wurde. Der Kläger erklärte daraufhin mit anwaltlichen Schreiben vom 4. Dezember 2000 das Widerspruchsverfahren für erledigt. Mit dem von ihm selbst gefertigtem Schreiben vom 24. Juni 2002 teilte der Kläger mit, dass „der Widerspruch fortgeführt wird" und verwies zur weiteren Begründung auf das Urteil des BSG vom 20. Dezember 2001, Az.: B 4 RA 6/01 R.

5

Die Beklagte gab (unter ihrer früheren Bezeichnung LVA - Landesversicherungsanstalt Mecklenburg-Vorpommern) mit Schreiben vom 4. November 2003 eine Übernahmeerklärung ab. Danach entscheide nicht der Versorgungsträger i. S. d. AAÜG, sondern sie allein als zuständiger Rentenversicherungsträger über die Höhe der der Rentenberechnung zugrunde zu legenden Arbeitsverdienste sowie den Zeitpunkt etwaiger Änderungen.

6

Den Widerspruch des Klägers vom 15. September 2000 wies die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 17. November 2005 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass sich der Widerspruch gegen die Feststellung der Verdienste des Klägers in der Zeit der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem MfS/AfNS lediglich bis zur Höhe der jeweiligen Beträge der Anlage 6 zum AAÜG in der Fassung des 2. AAÜG - Änderungsgesetzes vom 27. Juli 2001 (Durchschnittsentgelt aller Versicherten) richte. Laut Mitteilung des Bundesverwaltungsamtes gehörte der Kläger in der Zeit vom 1. März 1965 bis 28. Februar 1990 dem Sonderversorgungssystem Nr. 4 der Anlage 2 zum AAÜG (Sonderversorgung der Angehörigen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit) an. Nach Ansicht der Beklagten gehöre der Kläger damit zu dem Personenkreis, der von der Regelung des § 7 Abs 1 Satz 1 (i. V. m. Anlage 6) des AAÜG i. d. F. des 2. AAÜG-ÄndG vom 27. Juli 2001 erfasst werde. Damit sei sein in der Zeit der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem erzieltes Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen höchstens bis zum jeweiligen Betrag der Anlage 6 zum AAÜG (Durchschnittsentgelt aller Versicherten) zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von § 7 Abs. 1 AAÜG i. d. F. des 2. AAÜG-ÄndG verwies sie auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 22. Juni 2004. Eine Verfassungsbeschwerde (Az.: 1 BvR 1070/02) sei einstimmig nicht zur Entscheidung angenommen worden. Das BVerfG verwies seinerseits auf die Urteile vom 28. April 1999 (u. a. BvL 11/94). Danach sei die Berücksichtigung der Verdienste von Angehörigen des Sonderversorgungssystems MfS/ AfNS lediglich bis zur Höhe der Durchschnittsverdienste verfassungsrechtlich zulässig, was vom Gesetzgeber mit dem 2. AAÜG-ÄndG vollständig umgesetzt worden sei.

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Die Beklagte führte im Widerspruchsbescheid weiter aus, dass sie als Rentenversicherungsträger gemäß § 149 Abs. 1 Satz 2 SGB VI verpflichtet sei, im Versicherungskonto die Daten zu speichern, die entsprechend dem jeweils geltenden Recht für die Feststellung und Erbringung von Leistungen erforderlich seien. Es werde für den o. g. Zeitraum das vom Kläger erzielte Arbeitsentgelt nur bis zu dem laut Anlage 6 zum AAÜG jeweils berücksichtigungsfähigen Betrag vorgemerkt.

8

Der Kläger hat am 2. Dezember 2005 Klage beim Sozialgericht A-Stadt erhoben. Damit hat er sich gegen die Berechnung der Höhe seiner Altersrente unter Wiederholung seiner bereits im Widerspruchsverfahren vorgebrachten Argumente gewandt. Die erfolgte „Rentenkürzung“ sei seiner Ansicht nach verfassungswidrig und diskriminiere ihn.

9

Mit der gerichtlichen Verfügung vom 11. März 2010 hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass zum damaligen Zeitpunkt beim Bundessozialgericht (künftig: BSG) zur Frage der Rechtmäßigkeit des § 7 AAÜG zwei Musterverfahren (Az.: B 13 R 80/09 R und B 13 R 81/09 R) anhängig seien. Das Sozialgericht hat angeregt, den Rechtsstreit bis zu einer Entscheidung des BSG ruhen zu lassen und die Beteiligten um Stellungnahme gebeten. Die Beklagte hat sich mit dem Schreiben vom 17. März 2010 ausdrücklich mit dem Ruhen des Verfahrens einverstanden erklärt. Der Kläger hat seinerseits mit Schreiben vom 7. April 2010 mitgeteilt, dass er den Rechtsstreit aufrechterhalten wolle. Sinngemäß hat er vorgetragen, sich in finanziellen Nöten zu befinden. Hierauf hat das Sozialgericht mit Verfügung vom 15. April 2010 (abgesandt am 21. April 2010) erläutert, dass mit dem vorgeschlagenen Ruhen des Verfahrens keine Beendigung des Rechtsstreits verbunden sei. Weiter wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass ein Ruhen des Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt als sachdienlich erachtet werde, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass es zu einer abweichenden Entscheidung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommen könnte. Der Kläger ist nochmals gebeten worden, dem Gericht mitzuteilen, ob er dem Ruhen des Verfahrens zustimmen wolle. Ihm ist Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen gegeben worden. Hierauf hat der Kläger nicht reagiert. Mit Schreiben vom 3. Juni 2010 hat das Sozialgericht den Kläger im Ergebnis erfolglos an die erbetene Stellungnahme erinnert.

10

Mit gerichtlicher Verfügung vom 21. Juni 2010 hat es den Kläger erneut aufgefordert, das Verfahren zu betreiben und binnen drei Monaten ab Zustellung zur gerichtlichen Verfügung vom 21. April 2010 Stellung zu nehmen. Die Betreibensaufforderung hat weiter den Hinweis enthalten, dass für den Fall, dass innerhalb der benannten Frist keine bzw. nur eine unzureichende Äußerung erfolge, die Klage als zurückgenommen gelten würde. Die Betreibensaufforderung hat der Vorsitzende der damals zuständigen 18. Kammer des Sozialgerichts A-Stadt mit vollem Namenszug unterzeichnet. Das Sozialgericht hat die Betreibensaufforderung sodann in der Beglaubigung ausgefertigt und dem Kläger mittels Postzustellungsurkunde zugestellt. Die Zustellung erfolgte ausweislich der in der Gerichtsakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 24. Juni 2010 durch Einlegung in einen zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten. Der Kläger hat in der gesetzten Frist keine Erklärung abgegeben.

11

Mit der Abschlussverfügung der Kammer vom 26. Oktober 2010 hat das Sozialgericht das Verfahren als erledigt durch Rücknahme bzw. Rücknahmefiktion ausgetragen.

12

Am 10. November 2010 ist der Kläger in der Geschäftsstelle des Sozialgerichtes A-Stadt erschienen und hat zu Protokoll angegeben, er habe die Schreiben vom 21. April 2010 und 21. Juni 2010 nicht erhalten. Er sei von April bis Juni 2010 in Ungarn gewesen. Daraufhin hat das Sozialgericht mit dem Schreiben vom 12. November 2010 dem Kläger mitgeteilt, dass nicht nachvollzogen werden könne, dass ihm die Betreibensaufforderung nicht zugegangen sei, da ihm in einem anderen Verfahren mit dem gerichtlichen Aktenzeichen S 7 R 293/08 ebenfalls eine Betreibensaufforderung vom gleichen Tage mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden und ihm auch tatsächlich zugegangen sei. Das Sozialgericht gehe deshalb weiter davon aus, dass das gerichtliche Verfahren erledigt sei. Der Kläger ist am 18. November 2010 erneut in der Geschäftsstelle des Sozialgerichtes erschienen und hat mitgeteilt, dass sein Schwiegersohn in der Zeit seiner Abwesenheit - er habe sich im Zeitraum von April bis Juni 2010 in einer Klinik in Ungarn aufgehalten - seinen Briefkasten geleert habe. Die gerichtlichen Schreiben seien ihm erst jetzt durch seinen Schwiegersohn übergeben worden, nachdem er diesen danach befragt habe. Hierauf hat die Kammer mit Schreiben vom 7. Dezember 2010 erklärt, dass es auch in Ansehung des klägerischen Vortrags vom 18. November 2010 bei der Erledigung des Verfahrens bleibe. Eine erneute Antragstellung bzw. Überprüfung bei der Beklagten bliebe hiervon unberührt.

13

Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2011 hat der Kläger ausdrücklich die „Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt und erklärt, dass die Klage aufrechterhalten werde.

14

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

15

festzustellen, dass das Verfahren weiter vor dem Sozialgericht A-Stadt rechtshängig ist.

16

Die Beklagte hat sinngemäß beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

18

Das Sozialgericht hat die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG angehört. Mit dem nachfolgenden Gerichtsbescheid vom 5. September 2011, der dem Kläger am 10. September 2011 zugestellt wurde, hat die Kammer entscheiden, dass die Klage als zurückgenommen gelten würde.

19

Mit seinem an das Landesozialgericht Mecklenburg-Vorpommern gerichteten Schreiben vom 28. September 2011 (Eingang beim Sozialgericht am 29. September 2011), verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er könne in keiner Weise sein Einverständnis mit dem Sachstand erklären. Dem Gerichtsbescheid entnehme er, dass er weiter auf seine 100%ige Altersrente warten müsse. Er müsse als Alleinstehender schon seit 11 Jahren mit bisher knapp 1.000,00 € monatlich auskommen. Menschenrechte, Verfassungsrecht, Eigentumsrechte würden ihm gegenüber weiter missbraucht, um die politische Diskriminierung und Verfolgung fortzusetzen. Aus den genannten Gründen müsse er die erneute Klage gegen dieses Unrecht fortsetzen. Er bitte die Klage gegen die B. fortzuführen, da - sinngemäß - dieses Unrecht nicht Bestand haben dürfe.

20

Der Kläger beantragt sinngemäß,

21

den Gerichtsbescheid aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit weiter vor dem Sozialgericht A-Stadt anhängig ist.

22

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

24

Der frühere Berichterstatter hat mit Verfügung vom 27. August 2014 u. a. den Hinweis erteilt, dass die Entgeltbegrenzung des § 7 i. V. m. Anlage 6 AAÜG nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (zuletzt 5. Senat; Urteil vom 14. Dezember 2011 Az.: B 5 R 2/10 R) sowie des Bundesverfassungsgerichts (22. Juni 2004, Az.: 1 BvR 1070/02) keinerlei verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, die Klage mithin selbst dann ohne jede Aussicht auf Erfolg gewesen wäre, wenn sie nicht ohnehin als zurückgenommen gelten würde.

25

Mit Schreiben vom 25. September 2014 hat der Kläger mitgeteilt, dass er an seinem Begehren festhalte.

26

Der Senat hat mit seinem an beide Beteiligte gerichteten Schreiben vom 29. Januar 2015 den o. g. Hinweis insoweit modifiziert, dass nicht mehr daran festgehalten werde, dass der Gerichtsbescheid rechtmäßig sei. Es sei auch nicht mehr beabsichtigt, Verschuldenskosten gegen den Kläger festzusetzen.

Entscheidungsgründe

27

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist hier allein die Rechtsfrage, ob das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 5. September 2011 zu Recht festgestellt hat, dass die Klage als zurückgenommen gilt (vgl. für einen ähnlichen Fall LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 - L 2 AS 132/12; Bayerisches LSG, Urteil vom 2. Februar 2012 - L 11 AS 339/11). Deshalb ist der Rechtsstreit in der Sache nicht zur Entscheidung bei dem 7. Senat anhängig geworden, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG tatsächlich vorliegen oder nicht.

28

Denn soweit das erstinstanzlich zuständige Sozialgericht die Voraussetzungen dieses besonderen Tatbestandes der Erledigung des Prozessrechtsverhältnis zu Unrecht angenommen und rechtsirrig die Erledigung des Rechtsstreits festgestellt hat, führt das nicht dazu, dass das Klageverfahren kraft Gesetzes gemäß § 102 Absatz 2 SGG beendet ist. Etwas Anderes würde nur dann gelten, wenn eine solchermaßen rechtsirrige Entscheidung nicht angegriffen und dann bestandskräftig werden würde. Denn nur dann würde die prozessuale Lage durch die feststellende Wirkung des Urteils bzw. des Gerichtsbescheides vom Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft an verbindlich festgestellt werden. Sofern die Entscheidung aber wie im vorliegenden Fall angegriffen wird, bleibt das Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt in der Sache beim Sozialgericht anhängig (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 12. Juli 2011 - Az.: L 11 AS 582/10). Denn wenn sich die Entscheidung auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Prozessrechtsverhältnisses (in der Hauptsache) als solches bezieht, wird mit ihr innerhalb dieses Klageverfahrens keine Entscheidung in der Sache getroffen. Das Berufungsgericht kann daher allein über die Richtigkeit dieser Feststellung als verfahrensrechtliche Vorfrage entscheiden (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. August 2012 - L 3 AS 133/12), nicht aber über den nach wie vor in erster Instanz anhängigen Rechtsstreit in der Sache.

29

Die Berufung hat allein insoweit Erfolg. Das Verfahren S 7 R 632/05 vor dem Sozialgericht A-Stadt ist nicht durch Klagrücknahmefiktion gemäß § 102 Absatz 2 SGG erledigt worden. Nach dieser Vorschrift gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

30

Zweifelhaft ist bereits, ob die streitgegenständliche Betreibensaufforderung hinreichend bestimmt ist. Die Anforderungen an den Inhalt der Betreibensaufforderung sind insoweit strenger als die an die Feststellungen zum Wegfall des Rechtsschutzinteresses (Bienert NZS, 2009, 554, 555). Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass die Betreibensaufforderung deutlich und in den Handlungsaufträgen klar sein muss (BR-Drs. 820/07, Seite 24). Eine Aufforderung allgemein zur Förderung bzw. zum Betreiben des Verfahrens reicht nicht aus (Roller in HK-SGG, 4. Auflage, 2012, Rn. 20 zu § 102; Kopp/ Schenke, VwGO, 12. Auflage, 2012, Rn. 20 zur Parallelregelung des § 92 Absatz 2 VwGO). Das Sozialgericht hätte im vorliegenden Fall in der Betreibensaufforderung angeben müssen, welche Mitwirkungshandlungen des Klägers noch erwartet werden, damit das Verfahren sachgerecht gefördert werden kann. Die Begründung der Betreibensaufforderung allein damit, dass der Kläger nicht substantiiert zur gerichtlichen Verfügung vom 21. April 2010 Stellung genommen habe, dürfte dagegen diesen Anforderungen nicht genügen. Das Sozialgericht hat den Kläger überhaupt nicht zu einer konkreten Handlung aufgefordert, sondern allein dazu, das Verfahren zu betreiben (sinngemäß durch Zustimmung zur Ruhensanordnung!). Letztlich kann diese Frage aber dahin stehen.

31

Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen des § 102 Absatz 2 SGG nicht vor. Hierbei handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, deren Tatbestandsvoraussetzungen eng auszulegen sind. Der Gesetzgeber geht von der normierten Vermutung aus, dass das Rechtsschutzinteresse des jeweiligen Klägers weggefallen ist, wofür unter Beachtung des in der Verfassung verankerten Rechtsschutzprinzips (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung bestimmte sachlich begründete Anhaltspunkte bestanden haben müssen, die hier nicht vorliegen.

32

Denn der Wegfall des Rechtsschutzinteresses (ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Klagerücknahmefiktion, vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95) kann zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung vom 21. Juni 2010 nicht festgestellt werden.

33

Anhaltspunkte hierfür können sich beispielsweise aus der Verletzung von Mitwirkungspflichten im sozialgerichtlichen Verfahren ergeben. Allerdings ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Mitwirkungshandlungen erheblich, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam sind, die also für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - Az.: B 13 R 74/09 R, Rn. 52, zitiert nach juris).

34

Der Umstand, dass der Kläger auf die Aufforderung des Sozialgerichts keinen Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrensgemäß § 251 ZPO i. V. m. 202 ZPO gestellt hat, ist jedenfalls kein hinreichender Anhaltspunkt für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, was schon aus § 251 ZPO i. V. m. § 202a SGG folgt. Denn nach dieser gesetzlichen Regelung hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens (nur) anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Dieses Antragserfordernis wird konterkariert, wenn durch die „Androhung" des Eintritts der gesetzlich fingierten Klagrücknahme faktisch Druck auf die klagende Partei ausgeübt wird, einen solchen Antrag zu stellen. Das Sozialgericht verkennt, dass die vorgenannte gesetzliche Regelung keinen Sanktionscharakter hat. Es erschließt sich dem Senat zudem nicht, weshalb das Rechtschutzbedürfnis hier entfallen sein soll, nur weil der Kläger keinen solchen Antrag gestellt, sondern im Gegenteil ausdrücklich und ggf. auch prozessunökonomisch darauf beharrt hat, dass sein Verfahren weiter betrieben werden soll. Der Kläger hat dadurch vielmehr im Gegenteil zu erkennen gegeben, dass er eine Entscheidung in der Sache wünscht und das Verfahren fortgesetzt werden soll.

35

Deshalb ist der Gerichtsbescheid aufzuheben und die sinngemäß beantragte Feststellung zu treffen.

36

Das Sozialgericht wird im Rahmen des noch anhängigen Verfahrens nach § 193 SGG auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben, das der Sache nach nur einen prozessualen Zwischenstreit darstellt.

37

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Absatz 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

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Das Gericht hat das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Die Anordnung hat auf d

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(1) Besteht ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach und ist zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich, kann der zuständige Leistungsträger Vorschüsse zahlen, deren Höhe er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er hat Vorschüsse nach Satz 1 zu zahlen, wenn der Berechtigte es beantragt; die Vorschußzahlung beginnt spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags.

(2) Die Vorschüsse sind auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit sie diese übersteigen, sind sie vom Empfänger zu erstatten. § 50 Abs. 4 des Zehnten Buches gilt entsprechend.

(3) Für die Stundung, Niederschlagung und den Erlaß des Erstattungsanspruchs gilt § 76 Abs. 2 des Vierten Buches entsprechend.

(1) Das während der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit bis zum 17. März 1990 maßgebende Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen wird höchstens bis zu dem jeweiligen Betrag der Anlage 6 zugrunde gelegt. Satz 1 gilt auch für das während einer verdeckten Tätigkeit als hauptberuflicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit bezogene Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, wenn während der Zeit der verdeckten Tätigkeit eine Zugehörigkeit zu dem Sonderversorgungssystem nach Anlage 2 Nr. 4 nicht bestand.

(2) Hauptberufliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die als Offiziere der Staatssicherheit im besonderen Einsatz oder in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zu dem Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit verdeckt tätig gewesen sind.

(3) Als Zeiten der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit oder als Zeiten einer Tätigkeit als hauptberuflicher Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit gelten auch Zeiten der Tätigkeit im Staatssekretariat für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern, nicht jedoch Zeiten der vorübergehenden Zuordnung der Deutschen Grenzpolizei, der Transportpolizei und der Volkspolizei-Bereitschaften zum Ministerium für Staatssicherheit oder zum Staatssekretariat für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern.

(1) Der Träger der Rentenversicherung führt für jeden Versicherten ein Versicherungskonto, das nach der Versicherungsnummer geordnet ist. In dem Versicherungskonto sind die Daten, die für die Durchführung der Versicherung sowie die Feststellung und Erbringung von Leistungen einschließlich der Rentenauskunft erforderlich sind, zu speichern. Ein Versicherungskonto darf auch für Personen geführt werden, die nicht nach den Vorschriften dieses Buches versichert sind, soweit es für die Feststellung der Versicherungs- oder Beitragspflicht und für Prüfungen bei Arbeitgebern (§ 28p des Vierten Buches) erforderlich ist.

(2) Der Träger der Rentenversicherung hat darauf hinzuwirken, dass die im Versicherungskonto gespeicherten Daten vollständig und geklärt sind. Die Daten sollen so gespeichert werden, dass sie jederzeit abgerufen und auf maschinell verwertbaren Datenträgern oder durch Datenübertragung übermittelt werden können. Stellt der Träger der Rentenversicherung fest, dass für einen Beschäftigten mehrere Beschäftigungen nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 oder § 8a des Vierten Buches gemeldet oder die Zeitgrenzen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 des Vierten Buches überschritten sind, überprüft er unverzüglich diese Beschäftigungsverhältnisse. Stellen die Träger der Rentenversicherung fest, dass eine Beschäftigung infolge einer Zusammenrechnung versicherungspflichtig ist, sie jedoch nicht oder als versicherungsfrei gemeldet worden ist, teilen sie diese Beschäftigung mit den notwendigen Daten der Einzugsstelle mit. Satz 4 gilt entsprechend, wenn die Träger der Rentenversicherung feststellen, dass beim Zusammentreffen mehrerer Beschäftigungsverhältnisse die Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschriften über den Übergangsbereich nicht oder nicht mehr vorliegen.

(3) Der Träger der Rentenversicherung unterrichtet die Versicherten regelmäßig über die in ihrem Versicherungskonto gespeicherten Sozialdaten, die für die Feststellung der Höhe einer Rentenanwartschaft erheblich sind (Versicherungsverlauf).

(4) Versicherte sind verpflichtet, bei der Klärung des Versicherungskontos mitzuwirken, insbesondere den Versicherungsverlauf auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen, alle für die Kontenklärung erheblichen Tatsachen anzugeben und die notwendigen Urkunden und sonstigen Beweismittel beizubringen.

(5) Hat der Versicherungsträger das Versicherungskonto geklärt oder hat der Versicherte innerhalb von sechs Kalendermonaten nach Versendung des Versicherungsverlaufs seinem Inhalt nicht widersprochen, stellt der Versicherungsträger die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid fest. Bei Änderung der dem Feststellungsbescheid zugrunde liegenden Vorschriften ist der Feststellungsbescheid durch einen neuen Feststellungsbescheid oder im Rentenbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben; die §§ 24 und 48 des Zehnten Buches sind nicht anzuwenden. Über die Anrechnung und Bewertung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten wird erst bei Feststellung einer Leistung entschieden.

(1) Das während der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit bis zum 17. März 1990 maßgebende Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen wird höchstens bis zu dem jeweiligen Betrag der Anlage 6 zugrunde gelegt. Satz 1 gilt auch für das während einer verdeckten Tätigkeit als hauptberuflicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit bezogene Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, wenn während der Zeit der verdeckten Tätigkeit eine Zugehörigkeit zu dem Sonderversorgungssystem nach Anlage 2 Nr. 4 nicht bestand.

(2) Hauptberufliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die als Offiziere der Staatssicherheit im besonderen Einsatz oder in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zu dem Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit verdeckt tätig gewesen sind.

(3) Als Zeiten der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit oder als Zeiten einer Tätigkeit als hauptberuflicher Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit gelten auch Zeiten der Tätigkeit im Staatssekretariat für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern, nicht jedoch Zeiten der vorübergehenden Zuordnung der Deutschen Grenzpolizei, der Transportpolizei und der Volkspolizei-Bereitschaften zum Ministerium für Staatssicherheit oder zum Staatssekretariat für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern.

(1) Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die Vorschriften über Urteile gelten entsprechend.

(2) Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt.

(3) Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen.

(4) Wird mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das erstinstanzliche Klageverfahren nicht durch eine fiktive Klagerücknahme erledigt und das Verfahren beim Sozialgericht Halle fortzuführen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung, dass von ihnen beim Sozialgericht Halle (SG) betriebene Klageverfahren sei beendet, weil die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte.

2

Die anwaltlich vertretenen Kläger haben am 14. Juli 2010 Klage beim SG erhoben (Aktenzeichen: S 3 AS 4019/10) und als Klagegegenstand angegeben: "Endgültige Festsetzung des Leistungsanspruches nach SGB II; Leistungszeitraum 07 bis 12/2006". Als Antrag haben sie angekündigt: "1. den Bescheid vom 24.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2010, zugegangen am 17.06.2010, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach SGB II in gesetzlicher Höhe zu zahlen." Unter der Überschrift "Begründung" waren die in Kopie der Klageschrift beigefügten Bescheide aufgeführt und es wurde ausgeführt, die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 20. August 2010 den Antrag angekündigt, die Klage abzuweisen und ausgeführt, neue rechtserhebliche Gesichtspunkte seien nicht vorgetragen worden.

3

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 hat der Kammervorsitzende beim SG die Prozessbevollmächtigte der Kläger an die Übersendung einer Klagebegründung erinnert. In einem weiteren gerichtlichen Schreiben vom 25. Januar 2011 an die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat der Kammervorsitzende dann ausgeführt: " ... habe Sie trotz mehrfacher Aufforderung bzw. Erinnerungen bis heute die Klage nicht begründet. Dies lässt den Schluss zu, dass an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse besteht. Ferner führt dieses Nichtbetreiben des Verfahrens nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008, BGBl. I Seite 444, dazu, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Sollte innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zustellung dieser Aufforderung keine weitere Äußerung von Ihnen hier eingehen, wird das Verfahren daher abgeschlossen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass ein Antrag auf Fristverlängerung nicht als Betreiben des Verfahrens gilt." Am Ende des Schreibens befindet sich unter der Grußformel die Unterschriftszeile "gez. I. - Richter am Sozialgericht". Ausweislich des zur Akte gelangten Empfangsbekenntnisses ist dieses Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 20. Februar 2011 zugegangen.

4

Mit einem am 22. März 2011 beim SG eingegangenen Schreiben hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger mitgeteilt: Ein weiterer bisher neben ihr in der Kanzlei tätiger Rechtsanwalt, der fast ausschließlich die sozialrechtlichen Angelegenheiten bearbeitet habe, sei ausgeschieden. Sie müsse nun mit erheblichem zeitlichem Aufwand diese Mandate bearbeiten. Unter Beachtung dieser Situation bitte Sie, die gesetzte Frist bis zum 31. Mai 2011 zu verlängern. Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger dann den Antrag gestellt, die Frist noch einmal bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern: Es habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, mit den Klägern zu sprechen. Dies sei wegen totaler Arbeitsüberlastung noch nicht möglich gewesen.

5

Mit einer Verfügung vom 8. Juni 2011 hat der Kammervorsitzende beim SG dann die Erledigung des Verfahrens durch Rücknahme festgestellt und dies den Beteiligten mit Schreiben vom 21. Juni 2011 mitteilen lassen. Hiergegen hat sich für die Kläger deren Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 5. Juli 2011 gewandt und ausgeführt: Sie habe nach der Betreibensaufforderung unter Hinweis auf die besondere Situation ihrer Kanzlei und die extreme Arbeitsbelastung um Verlängerung der Frist für die Begründung der Klage gebeten. Ein Rechtsverlust für die Kläger, wie er bei fingierter Rücknahme eintreten würde, sei hier unverhältnismäßig.

6

Das SG hat daraufhin das Verfahren unter neuen Aktenzeichen (S 3 AS 3771/11 WA) wiederaufgenommen und nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 17. Januar 2012 festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Klagerücknahme am 21. Mai 2011 beendet worden. In den Gründen hat das SG ausgeführt, die nach der Betreibensaufforderung durch das Gericht in der Dreimonatsfrist erfolgten Verlängerungsanträge hätten kein Betreiben des Rechtsstreits dargestellt.

7

Gegen das ihr am 10. März 2012 zugestellte Urteil hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger am 22. März 2012 Berufung eingelegt und vorgetragen: Seitens des erstinstanzlichen Gerichts sei keine konkrete Aufforderung, z. B. bestimmte Unterlagen beizubringen, erfolgt. Es sei auch von ihr nach der Betreibensaufforderung dargelegt worden, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens bestehe. Das SG habe den Ausnahmecharakter der Regelung in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG verkannt.

8

Die Kläger beantragen sinngemäß,

9

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren nicht infolge einer nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz anzunehmenden Klagerücknahme beendet ist.

10

Der Beklagte hat sich in diesem Verfahren nicht inhaltlich geäußert.

11

Die Beteiligten haben sich jeweils mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

12

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Der Senat konnte nach den §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Berufung der Kläger hat Erfolg.

14

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie auch nach § 143 SGG statthaft. Die Berufung betrifft nicht eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt. Auch wenn das Begehren der Kläger letztlich auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gerichtet ist, ist Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren beendet ist. Deshalb greift die mögliche Beschränkung der Zulässigkeit nach § 144 Abs. 1 SGG nicht ein.

15

Die Berufung ist begründet, denn anders als vom SG angenommen, liegen die Voraussetzungen für die Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor. Nach dieser mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I 444) mit Wirkung vom 1. April 2008 in das SGG eingefügten Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Greift die Rücknahmefiktion ein, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG).

16

Voraussetzung für die Rücknahmefiktion ist zunächst eine Betreibensaufforderung durch das Gericht. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung muss - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - nach dem prozessualen Verhalten des klagenden Beteiligten hinreichend Anlass bestehen, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. Denn bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Unterfall des Wegfalls des Rechtsinteresses (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 58/09 R, zitiert nach juris, Rdnr. 15 und 46 mit weiteren Hinweisen).

17

Der Senat geht mit dem SG davon aus, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Klage auszugehen. Denn ausreichend sind hinreichend konkrete, auf sachlich begründeten Anhaltspunkten beruhende Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses. Diese können sich aus dem fallbezogenen Verhalten der Kläger, aber auch aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. August 2011, L 9 AS 61/10, zitiert nach juris, Rdnr. 28f.). Ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss ist nicht erforderlich (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom 7. Juli 2005, 10 BN 1/05, zur vergleichbaren Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), zitiert nach juris, Rdnr. 4). Aus der Klageschrift, mit der die Klage am 14. Juli 2010 erhoben wurde, ging zwar hervor, dass Klagegegenstand wohl der Anspruch auf (höhere) Leistungen nach dem SGB II sein sollte. In welchem Umfang und mit welcher Begründung höhere Leistungen begehrt wurden, war aber nicht erkennbar. Insofern wurde nicht deutlich, welche Interessen genau mit der Klage verfolgt werden sollten. Trotz der Aufforderung zur Klagebegründung Anfang Oktober 2010 war dann bis zu der mit Schreiben von 25. Januar 2011 ergangenen Betreibensaufforderung keine Reaktion der Prozessbevollmächtigen des Klägers erfolgt. Dies war geeignet, ein mangelndes Interesse der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens zu indizieren.

18

Letztlich kann aber hier offen bleiben, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die mit einer wirksamen Fristsetzung (zu den Formerfordernissen siehe das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 48f.) verbundene Betreibensaufforderung vorlagen. Denn innerhalb der ab Zugang der Betreibensaufforderung bei der Prozessbevollmächtigen der Kläger am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist haben die Kläger das Verfahren betrieben, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfüllt werden konnten.

19

Das SGG enthält keine Definition des Begriffs des Betreibens. Von der Wortbedeutung und dem Zusammenhang her liegt es nahe, unter einem Betreiben ein aktives Handeln zu verstehen, dass grundsätzlich geeignet ist, das Verfahren im Sinn auf eine Entscheidungsreife hin zu fördern. Allerdings muss die Auslegung des Begriffs auch dem besonderen Ausnahmecharakter der Rücknahmefiktion gerecht werden, die bei ihrer Auslegung und Anwendung zu beachten ist (siehe dazu das oben zitierte Urteil des BSG vom 1. Juli 2010, Rdnr. 42 mit weiteren Nachweisen). Die Betreibensaufforderung hat den Sinn, die Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses innerhalb der gesetzten Frist zu klären. Ein Betreiben innerhalb der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist liegt deshalb auch dann vor, wenn substantiiert dargetan wird, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, zur Auslegung des Begriffs des Betreibens in der vergleichbaren Regelung in § 33 Asylverfahrensgesetzes (AsylVfg) a. F., zitiert nach juris, Rdnr. 14 u. 16). Dies wurde auch vom Gesetzgeber bei der Schaffung des § 102 SGG so gesehen. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird ausgeführt, ein Nichtbetreiben im Sinne des Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift liege dann vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung des Gerichts nicht oder nur unzureichend innerhalb der drei Monate äußere, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt sei, dass das Rechtsschutzinteresse ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht (BT-DRs. 16/7716, S. 19 zu Nummer 17 (§ 102)). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es im Sinne der Vorschrift für ein Betreiben ausreicht, mit hinreichender Deutlichkeit darzulegen, dass ein Rechtsschutzinteresse trotz der zur Betreibensaufforderung führenden Umstände weiter besteht. Vor diesem Hintergrund werden für ein Betreiben ein unbegründeter Fristverlängerungsantrag oder die einfache Mitteilung, das Verfahren solle fortgeführt werden, nicht ausreichen. Ausreichend ist aber die Darlegung, warum aus den für die Betreibensaufforderung maßgeblichen Umständen im konkreten Fall nicht auf ein fehlendes Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits geschlossen werden kann. Welche Anforderungen dabei an die Substantiierung der Darlegung zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

20

Im konkreten Fall liegt jedenfalls eine ausreichend substantiierte Darlegung im oben bezeichneten Sinne vor. Aus dem am 22. März 2011 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger ergab sich eindeutig, dass ein Interesse der Kläger an der Fortführung des Verfahrens weiter bestand und eine inhaltliche Berufungsbegründung bisher nur aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Prozessbevollmächtigten der Kläger unterblieben war. Die hohe Arbeitsbelastung wurde nachvollziehbar mit der besonderen Situation der Kanzlei nach dem Ausscheiden des bisher die sozialrechtlichen Mandate betreuenden Rechtsanwalts begründet. Der Eingang dieses Schreibens lag auch innerhalb der am 20. Februar 2011 in Gang gesetzten Dreimonatsfrist.

21

Die Kostenentscheidung bleibt der erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten.

22

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

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Tenor

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Verfahren in der ersten Instanz durch Klagerücknahmefiktion nach § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt ist.

2

Mit Bescheid vom 03.11.2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 01.03.2009 bis 20.04.2009 teilweise in Höhe von 452,80 EUR auf und forderte diese von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe während des genannten Zeitraums Einkommen aus einer Beschäftigung in einem Café erzielt und sei daher nicht in bisher festgestellter Höhe hilfebedürftig i. S. d. § 9 SGB II.

3

Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Meldebescheinigung zur Sozialversicherung vom 27.04.2009 des Arbeitgebers J K , wonach die Klägerin vom 11.03. bis 30.04.2009 bei ihm beschäftigt gewesen sei und dafür 699,00 EUR erhalten habe, sowie auf eine weitere Auskunft von diesem, nach der die Klägerin im Café V gearbeitet und dafür im März 300,00 EUR und im April 399,00 EUR bekommen habe.

4

Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch. Bei einer persönlichen Vorsprache am 08.11.2010 gab sie gegenüber dem Beklagten an, sie habe nur im März 2009 in dem Café gearbeitet; im April nicht mehr. Im März habe sie ca 200,00 EUR bekommen, die ihr bar abends nach der Schicht ausgezahlt worden seien. Ab dem 20.04.2009 habe sie in Vollzeit eine Meisterschule besucht und in dem Café nicht mehr arbeiten können.

5

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 mit der Begründung zurückgewiesen, die Beschäftigung der Klägerin sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger bekannt geworden. Der Beklagte habe das von der Firma gemeldete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt.

6

Am 27.12.2010 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Speyer erhoben und nochmals darauf hingewiesen, dass sie im April 2009 nicht mehr gearbeitet habe. Durch gerichtliches Schreiben vom 22.02.2011 ist die Klägerin aufgefordert worden, bis zum 30.03.2011 zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Mit Schreiben vom 13.04.2011 ist sie nochmals daran erinnert worden. Mit Schreiben vom 17.05.2011 hat die Vorsitzende der 14. Kammer des Sozialgerichts Speyer letztmals aufgefordert, auf das Schreiben zu antworten. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Dieses Schreiben ist der Klägerin am 19.05.2011 zugestellt worden.

7

Am 01.09.2011 hat die Vorsitzende eine Verfügung unterzeichnet, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme am 22.08.2011 erledigt sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.09.2011 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden.

8

Am 28.09.2011 hat die Klägerin gegen den "Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 01.09.2011" Beschwerde eingelegt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klagerücknahmefiktion könne nicht greifen, nachdem die Auflage des Gerichtes, den Kontoauszug für April vorzulegen, am 17.03.2011 erfüllt worden sei. Der erkennende Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz hat die Beschwerde durch Beschluss vom 10.11.2011 wegen Fehlens einer beschwerdefähigen Entscheidung des Sozialgerichts als unzulässig verworfen.

9

Mit Schreiben vom 21.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Speyer den Antrag gestellt, das Verfahren fortzuführen.

10

Nach Anhörung zur geplanten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das Sozialgericht Speyer durch Gerichtsbescheid am 06.02.2012 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen worden ist. Die am 27.12.2010 erhobene Klage habe sich durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Danach gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibe. Ein Nichtbetreiben liege vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung innerhalb von 3 Monaten nicht oder nur unzureichend geäußert habe. Vorliegend sei die Klägerin aufgefordert gewesen zu belegen, dass sie im April 2010 kein Arbeitsentgelt bezogen habe. Entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten sei der Kontoauszug für April 2010 nicht eingegangen. Das Hinweisschreiben gemäß § 102 Abs. 2 SGG sei dem Prozessbevollmächtigten am 19.05.2011 zugestellt worden, sodass die Klagerücknahmefiktion mit Ablauf des 19.08.2011 eingetreten sei.

11

Gegen den ihr am 14.02.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10.03.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen.

12

Mit Schreiben vom 01.06.2012 ist der Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Berufung bestünden, da es in der Sache um einen Verwaltungsakt gehe, durch den Leistungen in Höhe von 452,80 EUR aufgehoben wurden. Es ist Gelegenheit gegeben worden, bis zum 01.07.2012 dazu Stellung zu nehmen sowie die Tatsache zu belegen, dass der erbetene Kontoauszug dem Sozialgericht vorgelegt worden sei. Am 06.06.2012 ist unter Bezugnahme auf den Hinweis der Antrag gestellt worden, die Berufung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Aktenzeichen L 3 AS 278/12 NZB geführt.

13

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

14

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 06.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 14 AS 1884/11 vor dem Sozialgericht Speyer fortzuführen ist.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

18

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der vorliegenden Prozessakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

20

Die Regelung § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG steht der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Danach bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Hier betrifft die von der Klägerin im Verfahren vor dem Sozialgericht verfolgte Klage zwar einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift, nämlich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.11.2012. Streitgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist aber nicht dieser Bescheid, sondern die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die gegen diesen Bescheid erhobene Klage durch die Rücknahmefiktion nach § 102 SGG erledigt ist. Nur über diese Frage hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden.

21

In einem solchen Fall greift § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) für den Fall der Untätigkeitsklage entschieden hat, dass auch diese im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (Beschluss vom 06.10.2011, B 9 SB 45/11 B, in juris), lassen sich diese Ausführungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Das BSG hat insoweit auf den Sinn und Zweck der Regelung verwiesen, wonach die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sogenannten Bagatellfällen) entlastet werden sollen. Die gewählte Klageart sei für die Anwendung der Vorschrift bedeutungslos, entscheidend sei, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betreffe.

22

Im vorliegenden Berufungsverfahren wird aber gerade nicht über einen vermögensrechtlichen Streit entschieden, sondern über die Vorfrage, ob das diesbezüglich angestrengte Klageverfahren durch Rücknahme erledigt ist. In dem anhängigen Verfahren stehen also Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffnen. Da damit der Schutzbereich des Grundrechtes auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes berührt ist, ist eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Dass eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, also über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides selbst, nicht mit der Berufung anfechtbar wäre, stellt im Hinblick auf die Bedeutung des Rechtes auf Gewährung gerichtliche Rechtsschutzes keinen Widerspruch dazu dar.

23

Die Berufung ist auch begründet. Die Klage gilt nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Deshalb ist das Klageverfahren noch anhängig und daher vom Sozialgericht Speyer fortzuführen. Das Sozialgericht wird in diesem Verfahren auch zu prüfen haben, ob die Klage zulässig, insbesondere fristgemäß erhoben ist.

24

Nach § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt; in der Aufforderung ist der Kläger auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Unter Beachtung der Rechtsprechung zur entsprechenden Regelung in § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) kommt eine Rücknahmefiktion nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Klägers vorliegen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.05.1993, 2 BvR 1972/92 in NVwZ 94, 62).

25

Zur Form der Betreibensaufforderung gilt nach der Rechtsprechung des BSG Folgendes: Wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden. Ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht. Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R). Ob diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist den Akten nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Das Schreiben vom 22.02.2011, durch das die Klägerin aufgefordert worden ist zu belegen, dass sie kein Arbeitentgelt bezogen hat, ist in dem in der Akte befindlichen Original lediglich mit einer Namensparaphe und nicht mit einer vollen Unterschrift versehen. Das erste Erinnerungsschreiben vom 13.04.2011 ist nicht von der Vorsitzenden, sondern mit dem Vermerk "Auf Anordnung" von einer Justizbeschäftigten unterschrieben. Das Schreiben vom 17.05.2011, in dem die Klägerin erstmals auf die Folgen des Nichtbefolgens dieser Aufforderung hingewiesen worden ist, weist in der Gerichtsakte wiederum nur eine Paraphe der Vorsitzenden auf.

26

Nähere Ermittlungen dazu, ob das versandte Schreiben die Originalunterschrift enthält, sind aber nicht erforderlich. Abgesehen von diesen formellen Voraussetzungen ist die Aufforderung auch ihrem Inhalt nach nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs. 2 SGG auszulösen.

27

Die Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG muss klar und konkret sein und dem Kläger deutlich machen, was von ihm erwartet wird. Daran fehlt es hier. Die Klägerin ist aufgefordert worden zu belegen, dass sie im Monat April 2010 kein Arbeitsentgelt erhalten hat. Unabhängig davon, dass hier wohl der April 2009 gemeint war, ist diese Aufforderung schon deshalb unklar, weil die Klägerin zum Beleg einer negativen Tatsache aufgefordert worden ist, ohne dass näher angeführt wird, welche Beweismittel das Gericht als ausreichend ansehen würde. Die Klägerin konnte der Aufforderung damit gerade nicht entnehmen, was genau von ihr verlangt wird. Sie hatte im Widerspruchsverfahren bereits vorgetragen, dass sie nur im März gearbeitet hat und dafür in bar entlohnt worden ist. Wie sie bei dieser Sachlage belegen sollte, im April nichts erhalten zu haben, erschließt sich nicht unmittelbar. Dass die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen ist, lässt von daher keine Zweifel am Rechtsschutzinteresse aufkommen, was aber Voraussetzung für den Eintritt der Rücknahmefiktion ist.

28

Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 103 SGG gilt. Die Klägerin hatte, wie oben dargelegt, bereits im Widerspruchsverfahren nähere Ausführungen zu ihrer Behauptung gemacht, im April 2009 kein Einkommen mehr gehabt zu haben. Dem sich daraus ergebenden Widerspruch zu den Angaben des Arbeitsgebers hätte das Sozialgericht näher nachgehen können, zB. durch Einholung einer weiteren Auskunft beim Arbeitgeber oder auch durch konkrete Fragen bei der Klägerin. Dass diese auf die unbestimmte und pauschale Aufforderung, die nicht erfolgte Zahlung zu belegen, nicht reagiert hat, lässt bei dieser Sachlage jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie an der Durchführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Die Aufforderung war damit auch nicht geeignet, die Folgen des § 102 Abs.2 SGG auszulösen.

29

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. September 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung. Mit der Revision wendet sie sich gegen die Feststellung der Beendigung des Verfahrens durch eine fiktive Berufungsrücknahme.

2

Mit Bescheid vom 31.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2004 lehnte die Beklagte den im Januar 2004 gestellten Antrag der 1959 geborenen Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung ab. Die auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beschränkte Klage hat das SG mit Urteil vom 9.3.2007 abgewiesen.

3

Im Berufungsverfahren hat das LSG ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. F. vom 23.1.2008 eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Leistungseinschränkungen vollschichtig auszuüben. Nachdem das LSG weitere Befundberichte eingeholt hatte, hat es der Klägerin mit Schreiben vom 2.5.2008 mitgeteilt, dass es derzeit keinen weiteren Aufklärungsbedarf im medizinischen Bereich sehe. Zugleich hat das LSG auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hingewiesen.

4

Auf einen entsprechenden Antrag der Klägerin hat das LSG mit Beschluss vom 23.6.2008 den Internisten Prof. Dr. S. zum Sachverständigen bestimmt. Den vorgesehenen Untersuchungstermin in Jena am 26.8.2008 hat die Klägerin nicht wahrgenommen, weil sie nicht reisefähig sei. Mit Schriftsatz vom 22.10.2008 hat die Klägerin Dr. W. als neuen Sachverständigen gemäß § 109 SGG benannt. Nachdem dieser mitgeteilt hatte, dass er sich nicht in der Lage sehe, den Gutachtenauftrag zeitgerecht auszuführen, hat die Klägerin auf Anfrage des LSG vom 26.11.2008 durch ihre Prozessbevollmächtigten unter dem 12.12.2008 mitgeteilt, dass sie sich um die Benennung eines anderen Sachverständigen bemühe; auf eine Sachstandsanfrage des Gerichts vom 6.1.2009 hat sie jedoch nicht reagiert.

5

Mit einem Schreiben der Geschäftsstelle des LSG-Senats vom 20.2.2009, das auf einer durch den Berichterstatter paraphierten Verfügung vom selben Tage beruhte und mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnet war, wurde die Klägerin aufgefordert, das Verfahren innerhalb von drei Monaten dadurch zu betreiben, dass sie zum Schreiben vom 26.11.2008 Stellung nehme und einen anderen Sachverständigen benenne. Sie wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Berufung nach § 153 Abs 1, § 102 Abs 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren nach Zustellung dieser Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben werde. Auf das ihren Prozessbevollmächtigten am 24.2.2009 zugestellte Schreiben hat die Klägerin mit am 25.5.2009 (Montag) bei Gericht eingegangenem Schreiben um Fristverlängerung bis zum 25.6.2009 gebeten.

6

Am 28.5.2009 hat der Berichterstatter in der Akte vermerkt, dass die Berufung nach § 153 Abs 1, § 102 Abs 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, dies den Beteiligten mitgeteilt und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Frist nicht habe verlängert werden können, weil es sich um eine gesetzliche Frist handele und die Fiktion der Rücknahme dementsprechend kraft Gesetzes eintrete. Das Schreiben vom 25.5.2009 könne nicht als Betreiben gewertet werden, weil die Bitte um Fristverlängerung nicht die erwartete Verfahrenshandlung (Benennung eines Sachverständigen) beinhalte.

7

Mit Schriftsatz vom 25.6.2009 hat die Klägerin gebeten, dem Verfahren Fortgang zu geben, und den Internisten Dr. K. gemäß § 109 SGG als Sachverständigen benannt.

8

Mit Urteil vom 24.9.2009 hat das LSG festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Berufungsrücknahme beendet sei. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Vorschrift des § 102 Abs 2 SGG gelte gemäß § 153 Abs 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Aus den Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich insoweit iS von § 153 Abs 1 SGG auch "nichts anderes". Nicht zu folgen sei der in der Literatur vertretenen Ansicht, wonach die § 92 Abs 2 VwGO nachgebildete Rücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Fiktion der Berufungsrücknahme enthalte. Offenbar habe der Gesetzgeber übersehen, dass auch im Berufungsverfahren fehlendes Betreiben vorliegen könne und hierfür eine gesetzliche Handhabe zu schaffen sei. Dafür spreche auch, dass das Problem in den Materialien keine Erwähnung gefunden habe. Es liege eine unplanmäßige Lücke vor, die mangels erkennbar entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei.

9

Die Voraussetzungen einer fingierten Berufungsrücknahme seien erfüllt. Der Fortgang des Verfahrens sei über Monate dadurch verzögert worden, dass nach umfangreichen medizinischen Ermittlungen in zwei Rechtszügen die gewünschte Anhörung eines Arztes nach § 109 SGG nicht zustande gekommen sei, indessen die Klägerin stets in Aussicht gestellt habe, sich um einen (anderen) Gutachter zu bemühen. In dieser Situation sei eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs 2 SGG in Betracht gekommen. Innerhalb der gesetzten Frist habe die Klägerin keine das Verfahren fördernde Äußerung durch Benennung eines Sachverständigen gemacht, um ihr weiter bestehendes Interesse an einer Entscheidung zu dokumentieren. Die bloße Bitte um Verlängerung der Frist stelle keine solche Äußerung dar. Eine Fristverlängerung sei nicht in Betracht gekommen, weil es sich um eine gesetzliche Frist handele.

10

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 102 Abs 2 SGG. Die in § 102 Abs 2 SGG geregelte Rücknahmefiktion gelte nicht für das Berufungs-, sondern ausschließlich für das Klageverfahren. Eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme sei nicht in das SGG aufgenommen worden, obgleich dem Gesetzgeber angesichts dieser Vorschrift der Regelungsbedarf bekannt gewesen sei. Entgegen der Ansicht des LSG sei nicht von einer unplanmäßigen Lücke auszugehen, die durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen sei. Durch den Fristverlängerungsantrag nach Zugang der gerichtlichen Aufforderung vom 20.2.2009 habe sie deutlich gemacht, dass sie das Verfahren betreiben wolle; dies habe sie auch innerhalb der von ihr beantragten verlängerten Frist durch Benennung des Sachverständigen belegt.

11

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 24.9.2009 aufzuheben und die Sache an das LSG zur Fortsetzung des Verfahrens zurückzuverweisen.

12

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.

13

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Revision der Klägerin hat iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

15

Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Berufung beendet sei. Denn dafür fehlt es im SGG an einer gesetzlichen Grundlage (1.). Auch eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG (Klagerücknahmefiktion) kommt iS einer Fiktion der Rücknahme der Berufung bei Nichtbetreiben nicht in Betracht (2.). Überdies wären die Voraussetzungen für den Eintritt einer - unterstelltermaßen entsprechend § 102 Abs 2 Satz 1 SGG möglichen - Rücknahmefiktion nicht gegeben (3.).

16

           

1. Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444) wurde mit Wirkung vom 1.4.2008 in Abs 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."

17

Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG). Eine Regelung zur Fiktion der Berufungsrücknahme hat der Gesetzgeber im SGG hingegen nicht getroffen.

18

2. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG ist nicht iS der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend anzuwenden.

19

Nach § 153 Abs 1 SGG gelten für das Verfahren vor den Landessozialgerichten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 SGG entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt (= Erster Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Bestimmungen über die Berufung in den §§ 143 bis 159 SGG umfasst) nichts anderes ergibt. Bei den in Bezug genommenen "Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" handelt es sich um die im Vierten Unterabschnitt des Ersten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG aufgeführten Vorschriften der §§ 87 bis 122 SGG(BSG Urteil vom 5.7.1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2 S 2). Danach ist zwar auch § 102 SGG grundsätzlich nicht von der Anordnung der entsprechenden Geltung im Berufungsverfahren ausgenommen. Die Vorschrift über die Fiktion der Klagerücknahme in § 102 Abs 2 SGG ist jedoch nicht gemäß § 153 Abs 1 SGG im LSG-Verfahren iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme entsprechend anwendbar.

20

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes (a), der Entstehungsgeschichte der Norm (b), dem Vergleich mit der Rechtslage nach der VwGO (c), einem fehlenden Bedürfnis für ein derartiges Rechtsinstitut (d) und dem Ausnahmecharakter der Klagerücknahmefiktion (e).

21

a) Schon der Wortlaut des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, wonach die "Klage" und nicht die "Berufung" als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, steht einer gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechenden Anwendung dieser Regelung auf die Berufung entgegen.

22

Über § 153 Abs 1 SGG kann nicht das Wort "Berufung" in § 102 Abs 2 SGG hineingelesen werden(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463). Denn auch andere Vorschriften über "das Verfahren im ersten Rechtszug", deren entsprechende Geltung § 153 Abs 1 SGG bestimmt und die Regelungen über die "Klage" enthalten, sind im Berufungsverfahren nicht derart erweiternd anzuwenden. Die entsprechende Geltung dieser Vorschriften (zB Klageänderung nach § 99 SGG oder Widerklage nach § 100 SGG) gemäß § 153 Abs 1 SGG umfasst keine Ersetzung des Begriffs "Klage" durch "Berufung". Ein Grund für eine unterschiedliche Auslegung je nachdem, welche Norm in Bezug genommen wird, ist nicht ersichtlich.

23

Überdies findet sich im Ersten Unterabschnitt des Zweiten Abschnitts des Zweiten Teils des SGG, der die Vorschriften für das Verfahren der Berufung umfasst, für die Berufung in § 156 SGG eine spezielle Regelung über ihre "Zurücknahme". Eine § 102 Abs 2 SGG entsprechende Bestimmung für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben enthält die Norm aber nicht. Schon von daher trifft die Ansicht des LSG nicht zu, aus den entsprechenden Vorschriften über das Berufungsverfahren ergebe sich "nichts anderes" iS des § 153 Abs 1 SGG(aA auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.10.2009 - L 33 R 290/09 WA - Juris RdNr 32, ohne eigenständige Begründung unter Hinweis auf das im Parallelverfahren B 13 R 58/09 R aufgehobene Urteil des LSG Hamburg vom 18.3.2009 ).

24

b) Aus den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren ergeben sich keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber die Regelung in § 102 Abs 2 SGG in entsprechender Anwendung gemäß § 153 Abs 1 SGG auf die Berufungsrücknahme ausdehnen wollte.

25

Ziel des SGGArbGGÄndG war es, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Dies sollte durch eine Vielzahl von Maßnahmen geschehen. Die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion zur Entlastung der Landessozialgerichte war aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13 f); insoweit sah dieser zur Entlastung der Sozialgerichte und Straffung des dortigen Verfahrens lediglich die Fiktion einer Klagerücknahme vor (BT-Drucks 16/7716 S 13). Eine fiktive Berufungsrücknahme wurde auch - soweit ersichtlich - im gesamten Gesetzgebungsverfahren weder im Bundesrat noch in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestags erörtert.

26

           

In der Einleitung der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG, der in seinem Satz 1 mit der späteren Gesetzesfassung übereinstimmt, wie folgt(BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>):

 "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen …"

27

           

Die Begründung schließt mit dem Hinweis (aaO, S 20):

 "… Die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme gelten auch im einstweiligen Rechtsschutz."

28

Demnach sollen zwar die Regelungen über die fiktive Klagerücknahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung finden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rücknahmefiktion - unabhängig davon, ob eine solche dort überhaupt praktische Relevanz haben kann (vgl hierzu Bienert, NZS 2009, 554, 559; Leopold, SGb 2009, 458, 462, ua mit dem Hinweis, dass das gerichtliche Abwarten der in § 102 Abs 2 Satz 1 SGG genannten Dreimonatsfrist nicht zum Eilcharakter des Verfahrens "passt") - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG zulässig ist(bejahend Bienert, aaO; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 102 RdNr 8; verneinend Leopold, aaO). Jedenfalls findet sich kein Hinweis dafür, dass § 102 Abs 2 SGG iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar sein soll. Vielmehr wird dort nur verlautbart, dass in § 102 Abs 2 SGG die "Fiktion einer Klagerücknahme … eingeführt" wird und diese "angelehnt" ist an § 92 Abs 2 VwGO; ersichtlich sollte somit der Regelungsgehalt der Parallelvorschrift des § 92 Abs 2 VwGO in das SGG "übernommen" werden. Die "Fiktion einer Berufungsrücknahme" wird nicht erwähnt; ebenso wird an keiner Stelle ein Bezug zur Regelung der Berufungsrücknahmefiktion in § 126 Abs 2 VwGO hergestellt. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen Materialien zum SGGArbGGÄndG (Stellungnahme des Bundesrats Drucks 16/7716 s 29 f>; Gegenäußerung der Bundesregierung ; zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag vom 17.1.2008, Plenarprotokoll 16/136 S 14417 - 14422 (Anlage 6); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 20.2.2008 ). Auch sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass nach dem "Willen" des Gesetzgebers eine "fiktive Berufungsrücknahme" in entsprechender Anwendung des § 102 Abs 2 SGG ermöglicht werden sollte.

29

c) Der Vergleich mit den in der VwGO normierten Rücknahmefiktionen spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fiktion der Berufungsrücknahme im SGG ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung.

30

Die Klagerücknahmefiktion in § 92 Abs 2 VwGO wurde durch das Sechste Gesetz zur Änderung der VwGO und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) mit Wirkung vom 1.1.1997 in Anlehnung an den bereits seit 1.7.1992 geltenden § 81 AsylVfG in die VwGO eingefügt(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 12 zu Nummer 10 <§ 92 VwGO>). Nach § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren länger als zwei Monate (in Verfahren nach dem AsylVfG gemäß § 81 Satz 1 AsylVfG länger als einen Monat) nicht betreibt.

31

Gleichzeitig wurde durch das 6. VwGOÄndG für die Berufung eine "gesetzliche Rücknahmefiktion" in § 126 Abs 2 VwGO aufgenommen und die Regelung in § 92 Abs 2 VwGO insoweit "ergänzt"(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. VwGOÄndG, BT-Drucks 13/3993 S 13 zu Nummer 17 <§ 126 VwGO>). Nach Satz 1 dieser Bestimmung gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

32

Die eigenständige gesetzliche Regelung der Fiktion einer Berufungsrücknahme in § 126 Abs 2 VwGO macht deutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeine Verweisung in § 125 Abs 1 VwGO auf die Vorschriften des Verfahrens im ersten Rechtszug der VwGO, zu denen auch § 92 Abs 2 VwGO gehört, als nicht ausreichend angesehen hat (vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 156 RdNr 16; Leopold, SGb 2009, 458, 463). Vielmehr hat er für die Einführung einer Berufungsrücknahmefiktion einen ausdrücklichen gesetzlichen Regelungsbedarf angenommen.

33

Der Verzicht des SGGArbGGÄndG auf eine Ergänzung des § 156 SGG um eine Rücknahmefiktion für die Berufung in Kenntnis des Umstands, dass eine solche in der Parallelvorschrift der VwGO zu § 156 SGG, nämlich in § 126 VwGO, ausdrücklich geregelt worden ist, bestätigt die Annahme, dass diese "Unvollständigkeit" beabsichtigt war und der Gesetzgeber im SGG lediglich die Möglichkeit einer Fiktion der Klagerücknahme eröffnen wollte, entgegen der Ansicht des LSG also gerade keine "planwidrige Regelungslücke" vorliegt. Hätte er die Berufungsrücknahmefiktion "gewollt", wäre gerade wegen der weitgehenden Parallelität zur VwGO eine dem § 126 Abs 2 VwGO entsprechende ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen(vgl in diesem Sinne auch Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16).

34

Sollte der Gesetzgeber gleichwohl - anders als in der VwGO - eine ausdrückliche Regelung im SGG für entbehrlich gehalten haben, hätte es zumindest eines deutlichen Hinweises bedurft. Dieser fehlt jedoch. Keinesfalls kann daraus jedoch, wie das LSG offenbar meint, ein "Wille" des Gesetzgebers für eine gemäß § 153 Abs 1 SGG entsprechende Anwendung des § 102 Abs 2 SGG für die Berufung iS einer Fiktion ihrer Rücknahme bei Nichtbetreiben hergeleitet werden. Vielmehr dürfte das "Schweigen" sowohl in § 156 SGG als auch in den Materialien zum SGGArbGGÄndG schon eher als "beredtes Schweigen" zu werten sein(vgl Leopold, SGb 2009, 458, 463).

35

Dem Gesetzgeber war im Übrigen der Regelungszusammenhang zwischen erst- und zweitinstanzlichem Verfahren durchaus bewusst; dies belegt die mit dem SGGArbGGÄndG erfolgte Einfügung des § 157a SGG für das Berufungsverfahren gleichzeitig mit der ebenfalls durch dieses Gesetz für das erstinstanzliche Verfahren eingeführten Bestimmung des § 106a SGG zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens(vgl auch Leopold, SGb 2009, 458, 463). Ausdrücklich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 16/7716 S 22 zu Nummer 27 <§ 157a>): "Folgeänderung wegen der Einführung der Präklusionsvorschrift in § 106a im erstinstanzlichen Verfahren. Dies zieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorschrift im Rechtsmittelverfahren nach sich …".

36

d) Dass der Gesetzgeber auf die Regelung einer Fiktion der Berufungsrücknahme verzichtet hat, mag möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass nach dem SGG eine Klagerücknahme ohne Zustimmung der/des Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erfolgen kann (so Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 16). Auf dieser Grundlage hält die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum auch eine Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren für zulässig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b und § 156 RdNr 1b; Roller, aaO; Eschner in Jansen, SGG, 3. Aufl 2008, § 102 RdNr 4; Hauck in Zeihe, SGG, Stand 2009, § 102 RdNr 12; Bienert, NZS 2009, 554, 558; kritisch Leopold, SGb 2009, 458, 463; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118).

37

Der Senat kann offen lassen, ob er sich dieser Rechtsansicht anschließt; denn das LSG hat nicht festgestellt, dass das Verfahren durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist. Er neigt jedoch dazu, ihr jedenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Denn § 102 Abs 2 Satz 1 SGG wird nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, sofern die Rücknahmefiktion in der zweiten Instanz die Klage betrifft. Der Übernahme einer § 126 Abs 2 Satz 1 VwGO entsprechenden Regelung bedurfte es insoweit nicht(Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12).

38

Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) klargestellt (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 6. SGGÄndG, BT-Drucks 14/5943 S 26 zu Nummer 38 <§ 102>), entsprach aber auch schon der Rechtsprechung des BSG zur früheren Fassung des § 102 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach der Kläger die Klage "bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung" zurücknehmen konnte(s hierzu BSG Beschluss vom 27.9.1983 - 8 BK 16/82 - SozR 1500 § 102 Nr 5 S 10). Der Kläger kann daher auch noch im Berufungsverfahren die Klage ganz oder - wenn der Streitgegenstand teilbar ist - teilweise (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 4; Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 4)zurücknehmen mit der Folge, dass die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 202 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 ZPO ganz oder - bei teilweiser Klagerücknahme - teilweise wirkungslos wird.

39

Ist aber eine Klagerücknahme nach § 102 Abs 1 Satz 1 SGG im Berufungsverfahren möglich und bestimmt § 102 Abs 2 Satz 2 SGG für die Klagerücknahmefiktion, dass Abs 1 entsprechend gilt, ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb die Fiktion der Rücknahme der Klage bei ganz oder teilweisem Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht (grundsätzlich) auch im Berufungsverfahren in Betracht kommen kann. Denn auch im Rechtsmittelverfahren muss das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der von ihm in erster Instanz erhobenen Klage stets fortbestehen.

40

Allerdings dürfte nach Einlegung einer Berufung gegen ein klageabweisendes erstinstanzliches Urteil ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, also ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen sein (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8b; Leopold, SGb 2009, 458, 463; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 12, mit dem Hinweis, dass im Rechtsmittelverfahren "eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen" seien; Schafhausen, ASR 2010, 112, 118). Dies gilt vor allem dann, wenn der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren teilweise Erfolg hatte, entzöge die Klagerücknahmefiktion im Berufungsverfahren doch dem zusprechenden Teil des erstinstanzlichen Urteils die Rechtswirkung. Die Annahme, dass ein Kläger, der ein Berufungsverfahren trotz Aufforderung nicht betreibt, durch das Nichtbetreiben auch die für ihn positiven Folgen der erstinstanzlichen Entscheidung zum Wegfall bringen und damit so gestellt werden möchte, als ob er die Klage nie erhoben hätte, dürfte nur schwerlich zu begründen sein (vgl Schafhausen, aaO; Leopold, aaO). In Betracht käme in diesen Fällen freilich eine Fiktion der teilweisen Klagerücknahme bezogen auf den klageabweisenden Teil der SG-Entscheidung.

41

e) Schließlich berücksichtigt nur die Rechtsauffassung, dass § 102 Abs 2 SGG nicht iS einer Fiktion der Berufungsrücknahme über § 153 Abs 1 SGG entsprechend anwendbar ist, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG für die Auslegung und Anwendung von gesetzlichen Regelungen über die Beendigung eines Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Vorschriften dieser Art haben nämlich strengen Ausnahmecharakter. Da sie einschneidende Rechtsfolgen für die betroffenen Beteiligten nach sich ziehen, bedürfen sie in besonderem Maße der Rechtsklarheit.

42

Das BVerfG (Kammer) hat in seinem Beschluss vom 27.10.1998 (2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167) darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art 19 Abs 4 GG jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat es festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist.

43

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser Rechtsgedanke in § 81 AsylVfG, § 92 Abs 2 VwGO, § 126 Abs 2 VwGO und in § 102 Abs 2 SGG gefunden. Denn diese Bestimmungen, die eine Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren zur Folge haben, unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht in hinreichendem Maße tätig geworden ist.

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Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass hiervon ausgehende Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art 19 Abs 4 GG vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl bereits BVerfG Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BVerfG Beschluss vom 15.8.1984 - 2 BvR 357/84 - DVBl 1984, 1005; BVerfG Beschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Auch in der Literatur besteht über den Ausnahmecharakter und ein von Verfassungs wegen gebotenes enges Verständnis gesetzlich fixierter Rechtsmittelrücknahmefiktionen Einigkeit (vgl zu § 102 Abs 2 SGG: Roller in Lüdtke, aaO, § 102 RdNr 17; Binder in Lüdtke, aaO, § 156 RdNr 16; Berchtold in Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 5 RdNr 586; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 102 RdNr 8a; Leitherer, NJW 2008, 1258, 1260; Hauck in Hennig, SGG, Stand: 2010, § 102 RdNr 29; Hauck in Zeihe, aaO, § 102 RdNr 8b; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VII RdNr 170a; Schafhausen, ASR 2010, 112, 115; Leopold, SGb 2009, 458, 459; Bienert, NZS 2009, 554, 555; Becker, SGb 2009, 267, 269; Tabbara, NZS 2008, 8, 10; Francke, ASR 2008, 127, 128; vgl zu § 92 Abs 2 VwGO: Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 92 RdNr 18; Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2009, § 92 RdNr 39).

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Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG(Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).

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Ist dies aber der Fall, verbietet es sich, § 102 Abs 2 SGG als Sonder- und Ausnahmeregelung über seinen ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich hinaus erweiternd auszulegen und anzuwenden. Vielmehr ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geradezu geboten, wollte man auch im SGG eine Fiktion der Rücknahme der Berufung wegen Nichtbetreibens ermöglichen, hierfür - wie in der VwGO durch Einfügung des § 126 Abs 2 VwGO geschehen - eine eigenständige gesetzliche Grundlage zu schaffen.

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3. Nach dem Vorstehenden braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob - wie vom LSG entschieden - die Voraussetzungen einer Fiktion einer Berufungsrücknahme bei unterstellter entsprechender Anwendbarkeit des § 102 SGG vorliegen. Gleichwohl weist der Senat darauf hin, dass, selbst wenn man der generellen Rechtsansicht des LSG folgen würde, die Feststellung der Beendigung des Verfahrens durch das LSG im Falle der Klägerin zu Unrecht erfolgt wäre.

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a) Eine Rücknahmefiktion setzt den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl § 102 Abs 2 Satz 1 SGG). Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend nicht erfolgt. Denn ein - wie hier - lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle vermag eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold SGb 2009, 458, 460; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, aaO, § 102 RdNr 11, mit dem Hinweis, die Betreibensaufforderung müsse "wenigstens die Form eines Richterbriefs" haben; s auch BGH Urteil vom 13.3.1980 - VII ZR 147/79 - BGHZ 76, 236, 241 - zur Frist gemäß § 273 Abs 2 Nr 1, § 275 Abs 1, § 296 ZPO).

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Die Betreibensaufforderung muss vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden, wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll. Ein - wie hier - den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (vgl Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Dies folgt schon aus den einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung. Erst die Beifügung der vollen Unterschrift des Richters macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss aber bei einer Betreibensaufforderung auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen. Deshalb muss sie nicht nur vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben sein, sondern auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift(vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 63 RdNr 3)diesen Umstand erkennen lassen, dh durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt.

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b) Fraglich ist vorliegend ferner, ob das vom BVerfG für gesetzliche Rechtsmittelrücknahmefiktionen aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG) geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt war, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bestanden (vgl BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; vgl ebenso Senatsurteil vom heutigen Tage - B 13 R 58/09 R).

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Solche Anhaltspunkte können sich im sozialgerichtlichen Verfahren - worauf auch in den Materialien zu § 102 Abs 2 SGG hingewiesen wird(vgl BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>) - aus einer Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers (§ 103 Satz 1 Halbs 2 SGG) ergeben. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen. Denn die Klagerücknahmefiktion ist "kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen" (so zutreffend BVerwG Beschluss vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918; BVerwG Beschluss vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - NVwZ 2000, 1297, jeweils zu § 92 Abs 2 VwGO).

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Damit aber genügt für eine Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungspflicht; vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Mitwirkungshandlungen erheblich, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam sind, die also für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl Bienert, NZS 2009, 554, 556; in diesem Sinne auch Krasney/Udsching, aaO, Kap VII RdNr 170a, wonach ein Nichtbetreiben nur vorliege, wenn der Kläger "einer vom Gericht zu Recht für notwendig gehaltenen Mitwirkung nicht nachkommt"; vgl auch BVerfG Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 168, wo ausdrücklich darauf abgestellt wird, ob bestimmte Erklärungen der Beschwerdeführer "für die weitere Förderung des Verfahrens notwendig" waren).

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Danach erscheint es im vorliegenden Fall aber als zweifelhaft, ob in der damaligen Verfahrenssituation eine Betreibensaufforderung durch das LSG hätte ergehen dürfen. Eine Mitwirkung der Klägerin war nämlich für das LSG nicht erforderlich, um in der Sache zu entscheiden. Denn die Aufforderung vom 20.2.2009, innerhalb von drei Monaten einen anderen medizinischen Sachverständigen zu benennen, bezog sich auf einen Antrag der Klägerin nach § 109 Abs 1 SGG. Ein solcher kommt aber erst dann zum Tragen, wenn das Gericht nicht mehr beabsichtigt, von Amts wegen (weiter) zu ermitteln (vgl Roller in Lüdtke, aaO, § 109 RdNr 1; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 109 RdNr 2; Krasney/Udsching, aaO, Kap III RdNr 78); dies hatte das LSG bereits mit Schreiben vom 2.5.2008 mitgeteilt. Damit hätte es einer weiteren Verfahrensverzögerung dadurch begegnen können, dass es nach Erledigung des Beweisbeschlusses vom 23.6.2008 und Setzung einer angemessenen Frist für die Benennung eines "bestimmten Arztes" den Antrag nach § 109 Abs 2 SGG abgelehnt und sodann eine Entscheidung in der Sache getroffen hätte. Das - weitaus mehr in die Rechte der Klägerin einschneidende - Vorgehen nach § 102 Abs 2 SGG war nicht erforderlich, zumal durchaus zweifelhaft sein kann, ob aus Verzögerungen bei der Benennung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs 1 SGG ohne Weiteres auf einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses, also auf ein Desinteresse an einer Rentengewährung, geschlossen werden kann.

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4. Nach allem war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

Das Gericht hat das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Die Anordnung hat auf den Lauf der im § 233 bezeichneten Fristen keinen Einfluss.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.